Unwiderstehlich - Adam Alter - E-Book

Unwiderstehlich E-Book

Adam Alter

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Beschreibung

Etwa die Hälfte der westlichen Bevölkerung ist nach mindestens einer Verhaltensweise süchtig. Wie unter Zwang hängen wir an unseren E-Mails, Instagram-Likes und Facebook-Posts; wir schießen uns mit Fernsehserien ins Koma, können das Online-Shoppen nicht lassen, arbeiten jedes Jahr noch ein paar Stunden länger; wir starren im Schnitt drei Stunden am Tag auf unsere Smartphones. Ein Grund dafür liegt im suchterzeugenden Design dieser Technologien. Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung, doch immer deutlicher wird, wie sehr es sich um ein gesellschaftlich relevantes Problem handelt – mit zerstörerischer Wirkung auf unser Wohlergehen und besonders die Gesundheit und das Glück unserer Kinder. Der Psychologe Adam Alter zeigt, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und was wir tun müssen, damit wir und unsere Kinder es einfacher haben, ihnen zu widerstehen. Denn die gute Nachricht lautet, dass wir den Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind. »Adam Alter hat den Heiligen Gral erlangt: ein wichtiges Buch voller Einsicht, das zu lesen ein Vergnügen ist und auf aktuellster Forschung beruht.« Charles Duhigg  

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.berlinverlag.de

Für Sara und Sam

Übersetzung aus dem Englischen von Stephan Pauli

ISBN 978-3-8270-7968-8

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Irresistible.

The Rise of Addictive Technology and the Business of Keeping Us Hooked bei Penguin Press, New York.

© Adam Alter, 2017

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Future Publishing / Kontributor / Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Prolog

Was ist Verhaltenssucht und woher kommt sie?

Der Aufstieg der Verhaltenssucht

Die Sucht in uns allen

Die Biologie der Verhaltenssucht

Die Zutaten der Verhaltenssucht(oder wie man suchterzeugende Erlebnisse entwickelt)

Ziele

Feedback

Fortschritt

Steigerung

Cliffhanger

Soziale Interaktion

Die Zukunft der Verhaltenssucht(und einige Lösungsvorschläge)

Süchte mit der Muttermilch aufsaugen

Gewohnheiten und Architektur

Gamification

Epilog

Dank

Anmerkungen

Prolog

Never get high on your own supply – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst

Auf einem Apple-Event im Januar 2010 stellte Steve Jobs der gespannten Öffentlichkeit das iPad vor:

Was dieses Gerät kann, ist wirklich einzigartig … Besser kann man im Netz nicht surfen; besser noch als mit einem Laptop und viel besser als auf einem Smartphone … ein unglaubliches Erlebnis … Es eignet sich hervorragend für E-Mails; darauf zu tippen ist ein Traum.

Neunzig Minuten lang erklärte Jobs, warum es nichts Besseres als das iPad gebe, um Fotos anzusehen, Musik zu hören, Universitätskurse auf iTunes U zu belegen, auf Facebook zu gehen, Spiele zu spielen und Tausende von Apps anzusteuern. Er glaubte, jeder solle ein iPad besitzen.

Seinen Kindern aber verweigerte er hartnäckig die Benutzung des Geräts.

Ende 2010 erzählte Jobs dem New York Times-Journalisten Nick Bilton, dass seine Kinder das iPad noch nie benutzt hätten. »Zuhause beschränken wir den Technikkonsum unserer Kinder auf ein Minimum.« Bilton fand heraus, dass auch andere Helden der Hightech-Branche ihre Kinder vor den eigenen Erfindungen schützten. Chris Anderson, vormals Herausgeber des Technologie-Magazins Wired, führte für alle technischen Geräte im Haushalt strenge Restriktionen ein, »schließlich haben wir mit eigenen Augen gesehen, welche Gefahr von den neuen Technologien ausgeht«. Seine fünf Kinder durften in ihren Zimmern keine Geräte mit Bildschirm benutzen. Evan Williams, einer der Gründer von Blogger, Twitter sowie der Online-Publishing-Plattform Medium, kaufte seinen beiden Söhnen Hunderte von Büchern, er weigerte sich jedoch, ihnen ein iPad zu schenken. Und Lesley Gold, Gründerin einer Web-Controlling-Firma, führte für ihre Kinder ein strenges Bildschirmverbot an Werktagen ein. Erst als die Kinder in der Schule Computer brauchten, lockerte sie die Regel. Walter Isaacson, der während der Recherchen zu seiner Steve-Jobs-Biografie oft mit Jobs’ Familie zu Abend aß, verriet Bilton: »Ich habe die Kinder nie mit einem iPad oder einem Computer gesehen. Sie wirkten von technischen Geräten jeder Art ganz und gar unbeeindruckt.« Es schien so, als würden die Menschen, die Hightech-Produkte herstellen, die Grundregel aller Drogendealer beherzigen: Never get high on your own supply (so Michelle Pfeiffer in Scarface – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst).

Das ist beunruhigend. Warum verhalten sich ausgerechnet die bekanntesten Persönlichkeiten der digitalen Führungsriegen in ihrem Privatleben derart technikfeindlich? Man stelle sich nur den Aufschrei vor, wenn religiöse Führer ihren Kindern die Ausübung der eigenen Religion versagten. Viele Experten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hightech-Welt, haben ähnliche Entscheidungen getroffen. Mehrere Spieledesigner erzählten mir, sie würden das extrem schnell süchtig machende Online-Spiel World of Warcraft tunlichst meiden. Eine Psychologin mit Spezialisierung auf Fitnesssucht erklärte Fitnessuhren für gefährlich – »die dümmsten Dinger der Welt« – und schwor, sich niemals eine zu kaufen; und die Gründerin einer Klinik für Internetsucht sagte mir, sie vermeide alle Gadgets, die nicht mindestens drei Jahre auf dem Buckel hätten. Ihr Mobiltelefon hat sie stumm gestellt, sie »verlegt« es sogar absichtlich, um nicht ständig ihre E-Mails abrufen zu müssen. (Ich habe zwei Monate versucht, sie über E-Mail zu erreichen, doch erst über ihr Festnetztelefon kam der Kontakt zustande.) Ihr Lieblingscomputerspiel ist Myst. Es stammt aus dem Jahr 1993, einer Zeit, da Computer noch zu schwerfällig waren, um mit Videografiken zurechtzukommen. Auf Myst, so erzählte sie mir, habe sie sich nur eingelassen, weil ihr Computer dabei jede halbe Stunde einfriere und es ewig dauere, bis sie ihn neu starten könne.

Greg Hochmuth, einer der Instagram-Gründer, begriff schnell, dass er eine Suchtmaschine baute. »Immer findet man einen weiteren Hashtag, auf den man klicken könnte«, sagte Hochmuth. »Und dann entwickelt sich wie bei einem Organismus ein hashtaggetriebenes Eigenleben, das Menschen obsessiv macht.« Instagram ist, wie so viele Social-Media-Plattformen, bodenlos. Die Timeline von Facebook ist endlos; Netflix startet die nächste Folge einer Serie automatisch; Tinder ermutigt seine Nutzer, auf der Suche nach immer besseren Partner-Optionen weiterzuklicken. Nutzer profitieren zwar von diesen Apps und Websites, tun sich aber sehr schwer damit, sie nur in Maßen zu benutzen. Der »Design-Ethiker« Tristan Harris glaubt, dies liege nicht an mangelnder Willenskraft, doch kämpfe man gegen »ein ganzes Heer auf der anderen Seite des Bildschirms, dessen Job einzig darin besteht, jegliche Selbstdisziplin zu unterminieren«.

Diese Technikexperten haben gute Gründe, besorgt zu sein. Denn bei ihrer Arbeit am äußersten Rand des Möglichen entdeckten sie zwei Dinge. Erstens, dass unsere Vorstellungen von Sucht zu beschränkt sind. Wir neigen dazu, Sucht bestimmten Menschen mit bestimmten Anlagen zuzuschreiben – jenen, die wir als Süchtige abstempeln. Heroinsüchtige in leerstehenden Häusern. Ketterauchende Nikotinsüchtige. Pillenschmeißende Rezeptsüchtige. Die Bezeichnung »Süchtiger« unterstellt, dass Betroffene anders seien als der Rest der Menschheit. Es mag sein, dass sie sich eines Tages über ihre Sucht erheben, doch bis dahin gehören sie einer besonderen Kategorie an. Doch in Wahrheit entsteht Sucht vor allem aus einer Mischung aus Umwelteinflüssen und Umständen. Steve Jobs wusste das. Er hielt das iPad von seinen Kindern fern, weil er wusste, dass sie trotz aller gesellschaftlichen Privilegien, die eine Sucht wenig wahrscheinlich erscheinen ließen, für die Reize des iPads anfällig waren. Diese Unternehmer erkennen, dass die auf Unwiderstehlichkeit hin konstruierten Tools, für die sie werben, Nutzer aller Couleur verführen können. Es gibt keine klare Linie zwischen Süchtigen und uns anderen, weil wir alle nur eine App, ein Produkt oder eine Erfahrung von unserer eigenen Sucht entfernt sind.

Zweitens entdeckten Biltons Technologie-Experten, dass die Lebensumstände des digitalen Zeitalters viel direkter in die Sucht führen als alles, was wir aus der Geschichte kennen. Noch in den 1960er Jahren bewegten sich Menschen in einer Welt, in der nur wenige Köder ausgelegt waren: Nikotin in Zigaretten, Alkohol und Drogen, die aber teuer und im Allgemeinen unzugänglich waren. In den 2010er Jahren ist dieselbe Welt von Ködern verseucht. Es gibt den Facebook-Köder. Den Instagram-Köder. Den Porno-Köder. Den E-Mail-Köder. Den Online-Shopping-Köder. Und so weiter. Die Liste ist lang – viel länger als sie in der Geschichte der Menschheit je war. Und wir fangen gerade erst an, die Macht dieser Köder zu verstehen.

Biltons Experten waren so vorsichtig, weil sie wussten, dass sie unwiderstehliche Technologien entwickelten. Verglichen mit der klobigen Technik der 1990er und 2000er Jahre sind moderne Geräte effizient und machen süchtig. Hunderte Millionen von Menschen teilen ihr Leben in Echtzeit über Instagram-Posts, und genauso schnell werden diese Leben in Form von Kommentaren und »Gefällt mir«-Angaben bewertet. Songs, für deren Download man einst eine Stunde benötigte, stehen heute innerhalb von Sekunden zur Verfügung; die Zeitverzögerung, die viele Leute erst gar nicht auf die Idee kommen ließ, Musik herunterzuladen, gibt es nicht mehr. Neue Technologien versprechen Bequemlichkeit, Geschwindigkeit und Automatisierung, doch der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch. Menschliches Verhalten wird zum Teil von einer Abfolge reflexiver Kosten-Nutzen-Rechnungen gesteuert, die festlegen, ob eine Handlung einmal, zweimal, Hunderte Male oder überhaupt nicht ausgeführt wird. Wenn der Nutzen die Kosten aber weit übersteigt, wird es schwer, eine Handlung nicht ständig zu wiederholen, vor allem, wenn der richtige Nerv getroffen wird.

Ein »Gefällt mir« auf Facebook und Instagram trifft diesen Nerv genauso wie die Belohnung für eine erfolgreich beendete Mission in World of Warcraft oder ein hundertfach geteilter Tweet. Die Leute, die Hightech-Geräte, Computerspiele und interaktive Erlebnisse entwickeln und verfeinern, sind sehr gut in dem, was sie tun. Sie führen Tausende Tests mit Millionen von Nutzern durch, nur um herauszufinden, welche Feinjustierungen gut funktionieren und welche nicht – welche Hintergrundfarben, Schrifttypen und Töne maximale Hingabe bei minimaler Frustration versprechen. Wird eine solche Erfahrung immer weiterentwickelt, entsteht schließlich eine unwiderstehliche, hochexplosive Version jener Erfahrung, die sie einst war. 2004 war Facebook Spaß, 2016 ist das Netzwerk eine Droge.

Suchtverhalten gibt es seit langem, doch in den letzten Jahrzehnten hat es sich extrem verbreitet, es wird immer schwieriger zu widerstehen und es gehört immer mehr zum Mainstream. Die neuen Süchte kommen ohne die Einnahme von Substanzen aus. Sie führen dem Organsystem keine Chemikalien zu, produzieren aber dieselben Wirkungen, indem sie die Nutzer fesseln, weil sie so gut gemacht sind. Einige, wie Glücksspiel und Sport, gib es schon lange; andere, wie Bing Watching (der exzessive Konsum von Filmen und vor allem Serien) und übertriebener Smartphone-Gebrauch, sind relativ neu. Doch allen ist gemein, dass man ihnen immer schwerer widerstehen kann.

Zudem haben wir das Problem selbst verschärft, weil wir starr auf das Versprechen blicken, gesetzte Ziele zu erreichen, ohne die Nachteile zu sehen. Zielsetzung war in der Vergangenheit ein nützliches Motivationswerkzeug, weil der Mensch meist so wenig Zeit und Energie wie möglich aufwenden will. Wir sind nicht von Natur aus fleißig, rechtschaffen und gesund. Doch das Blatt hat sich gewendet. Wir sind heute so darauf fixiert, mehr in weniger Zeit zu schaffen, dass wir komplett vergessen haben, eine Notbremse einzubauen.

Ich habe mit mehreren klinischen Psychologen gesprochen, die das Ausmaß des Problems erkannt und beschrieben haben. »Jede einzelne Person, die zu mir kommt, hat mindestens eine Verhaltenssucht«, sagte mir eine Psychologin. »Ich habe Patienten, die aber auch nichts auslassen: Glücksspiel, Shopping, soziale Netzwerke, E-Mail und so weiter.« Sie beschrieb mehrere Patienten, die alle hochangesehene Berufe mit sechsstelligen Jahreseinkommen hätten, aber von ihren Süchten geplagt werden. »Eine der Frauen ist sehr schön, klug und erfolgreich. Sie hat zwei Studienabschlüsse und arbeitet als Lehrerin. Aber sie ist süchtig nach Online-Shopping und hat es geschafft, 80 000 Dollar Schulden anzuhäufen. Ihre Sucht verbirgt sie erfolgreich vor fast allen Menschen, die sie kennt.« Diese Art des Doppellebens ist typisch. »Es ist sehr einfach, Verhaltenssüchte zu verbergen – viel einfacher als Drogenmissbrauch. Doch gerade das macht sie so gefährlich, denn so bleiben sie über Jahre unbemerkt.« Eine weitere Patientin, auch sie beruflich sehr erfolgreich, verheimlichte vor ihren Freunden ihre Facebook-Sucht. »Sie hatte eine schreckliche Trennung hinter sich und verfolgte ihren Exfreund jahrelang im Netz. Facebook macht es viel schwieriger, sich am Ende einer Beziehung sauber voneinander zu trennen.« Einer ihrer Patienten checkte seine E-Mails Hunderte Mal am Tag. »Er kann sich selbst im Urlaub nicht entspannen und das Leben genießen. Doch würde man das nie von ihm denken. Er ist zutiefst besorgt, und dennoch macht er auf die Welt einen absolut gesunden Eindruck; er hat eine beeindruckende Karriere im Gesundheitswesen gemacht, und man sollte es nicht für möglich halten, wie sehr er leidet.«

»Die Wirkung sozialer Netzwerke ist gewaltig«, erzählte mir ein anderer Psychologe. »Soziale Netzwerke haben die Gehirne meiner jüngeren Patienten komplett umgeformt. Deshalb achte ich während einer Therapiesitzung immer öfter darauf, folgenden Sachverhalt zu klären: Nachdem ich fünf bis zehn Minuten mit einer jungen Person über ihren Streit mit ihrem Freund oder ihrer Freundin gesprochen habe, frage ich sie, ob das Streitgespräch über SMS, Telefon, soziale Netzwerke oder von Angesicht zu Angesicht stattgefunden habe. Und immer öfter lautet die Antwort ›SMS‹ oder ›soziale Netzwerke‹. Doch am Anfang, wenn sie mir die Geschichte erzählen, ist das für mich alles andere als klar. Für mich hört es sich an, als sprächen sie von einer ›echten‹ Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht. Ich halte daraufhin kurz inne und denke nach. Die Person unterscheidet nicht auf dieselbe Weise wie ich zwischen verschiedenen Kommunikationsformen … und das Ergebnis ist eine Landschaft voller Unverbundenheit und Sucht.«

Dieses Buch spürt dem Aufstieg der Verhaltenssüchte nach, es untersucht, wo ihr Ursprung liegt, wer sie herstellt, welche psychologischen Tricks sie so fesselnd machen, wie man gefährliche Verhaltenssüchte möglichst klein halten kann und das Wissen über sie für positive Ziele nutzbar machen kann. Wenn App-Designer Menschen dazu bringen können, mehr Zeit und Geld für Smartphone-Spiele aufzuwenden, lassen sich auf ähnliche Weise Menschen vielleicht auch dazu bewegen, mehr Geld für ihre Rente zurückzulegen oder mehr Geld für wohltätige Zwecke zu spenden.

Technologie an sich ist nicht böse. Als mein Bruder und ich 1988 mit unseren Eltern nach Australien zogen, blieben unsere Großeltern in Südafrika zurück. Wir sprachen mit ihnen vielleicht einmal die Woche über teure Festnetzanrufe und schickten Briefe, die eine Woche später ankamen. Als ich 2004 in die Vereinigten Staaten zog, schrieb ich meinen Eltern und meinem Bruder fast täglich E-Mails. Wir sprachen oft am Telefon und winkten uns über Webcams, sooft wir konnten, zu. Technologie verkleinerte die Entfernung zwischen uns. Im Nachrichtenmagazin Time schrieb John Patrick Pullen 2016, wie ein emotionaler Faustschlag aus der virtuellen Welt ihn zu Tränen rührte:

Meine Mitspielerin Erin schoss mit einer Schrumpfstrahlenpistole auf mich. Plötzlich waren alle Spielsachen riesig, und Erins Avatar thronte wie ein gewaltiger Riese über mir. Sogar ihre Stimme hatte sich verändert, als sie durch die Kopfhörer strömend mit einem tiefen Ton meinen Kopf flutete. Für einen Augenblick war ich wieder Kind, und diese riesige Person spielte zärtlich mit mir. Ich gewann einen so überwältigenden Einblick davon, wie es sich anfühlen musste, mein eigner Sohn zu sein, dass ich anfing, in das Headset zu schluchzen. Es war ein unschuldiges und wunderschönes Erlebnis, das meine Beziehung zu ihm völlig neu formte. Ich war meiner riesigen Spielkameradin schutzlos ausgeliefert und fühlte mich dennoch völlig sicher.

Technologie ist weder moralisch gut noch böse, solange sie nicht von Unternehmen vereinnahmt wird, die sie für den Massenkonsum umformen. Apps und Internetplattformen können so gestaltet werden, dass sie reichhaltige soziale Verbindungen fördern; oder sie können, wie Zigaretten, so gestaltet werden, dass sie süchtig machen. Leider fördern heutzutage viele technische Entwicklungen Sucht. Sogar Pullen sagte, als er sein Erlebnis in der virtuellen Welt besang, er habe »angebissen«. Immersive Technologien wie virtuelle Realitäten, die das völlige Eintauchen in eine andere Welt begünstigen, wecken derart tiefe Gefühle, dass Missbrauch kaum zu vermeiden ist. Sie stecken allerdings noch in den Kinderschuhen, und es lässt sich noch nicht vorhersagen, ob sie verantwortlich genutzt werden.

Substanz- und Verhaltenssüchte ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Sie aktivieren dieselben Gehirnregionen und werden von einigen derselben menschlichen Grundbedürfnisse befeuert: soziales Engagement und gegenseitige Unterstützung, geistige Anregung und das Gefühl von Effizienz. Bleiben diese Bedürfnisse im Alltag unerfüllt, dann entstehen sowohl Süchte nach Substanzen als auch nach Erlebnissen umso schneller.

Verhaltenssüchte haben in den folgenden sechs Zutaten ihren Anfang: erstrebenswerte Ziele, die nur knapp verfehlt werden; ein unwiderstehliches und zugleich unvorhersehbares positives Feedback; das Gefühl schrittweiser Fortentwicklung und Verbesserung; Aufgaben, die mit der Zeit langsam schwieriger werden; ungeklärte Spannungen, die nach einer Lösung verlangen; und starke soziale Bindungen. Trotz ihrer Verschiedenheit enthalten alle heutigen Verhaltenssüchte wenigstens eine der sechs Zutaten. Instagram etwa macht süchtig, weil einige Fotos sehr viele »Gefällt mir«-Angaben generieren, während andere nahezu unbeachtet untergehen. Nutzer jagen dem nächsten großen »Gefällt mir«-Hit hinterher, sie posten ein Foto nach dem anderen und kehren immer wieder auf die Website zurück, um ihre Freunde bei deren Jagd zu unterstützen. Video-Gamer spielen bestimmte Spiele tagelang ohne Unterbrechung, weil sie davon besessen sind, eine Mission zu erfüllen, und weil sie starke soziale Verpflichtungen eingegangen sind, die sie an andere Spieler binden.

Was wäre also die Lösung? Wie können wir mit süchtig machenden Erlebnissen leben, die eine zentrale Rolle in unserem Leben spielen? Millionen von ehemaligen Alkoholikern schaffen es, Bars ganz zu meiden, doch trockene Internetsüchtige müssen nun mal von Zeit zu Zeit eine E-Mail verschicken. Ohne E-Mail-Adresse kann man sich weder um einen Job noch ein Reisevisum bewerben. Immer weniger Jobs sind ohne Computer und Smartphones zu erledigen. Suchtgefährdende Technologien sind schon heute so sehr in der Mitte unserer Gesellschaft verankert, wie es süchtig machende Substanzen nie sein werden. Abstinenz ist keine Lösung, doch es gibt andere Auswege. Man kann suchtgefährdende Erlebnisse auf einen streng abgegrenzten Bereich des Alltags beschränken und stattdessen positive Gewohnheiten pflegen, die gesundes Verhalten fördern. Sobald man verstanden hat, wie Verhaltenssüchte wirken, kann man ihren Schaden lindern oder sie sogar zum Guten wenden. Dieselben Prinzipien, die Kinder zu Computerspielen animieren, könnten sie auch dazu verleiten, für die Schule zu lernen, und die Ziele, die Menschen dazu bewegen, exzessiv Sport zu betreiben, könnten sie auch dazu bringen, Geld für die Rente zu sparen.

Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung. Doch Anzeichen, dass es sich hier um ein gesellschaftlich relevantes Problem handeln könnte, mehren sich. Süchte schaden deshalb so sehr, weil sie andere wichtige Betätigungsfelder in den Hintergrund schieben, von Arbeit und Spiel bis hin zu grundlegender Hygiene und zwischenmenschlichem Austausch. Die gute Nachricht lautet, dass wir Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind. Es gibt vieles, das wir tun können, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, in dem wir vor dem Zeitalter von Smartphones, E-Mails, tragbarer Technologien, sozialer Netzwerke und Cloud-TV lebten. Das Wichtigste ist, zu verstehen, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und wie wir die Abhängigkeiten bekämpfen, die uns schaden, während wir diejenigen, die uns weiterhelfen, gewinnbringend einsetzen.

Der Aufstieg der Verhaltenssucht

Vor ein paar Jahren empfand der App-Entwickler Kevin Holesh, dass er viel zu wenig Zeit mit seiner Familie verbrachte. Schuld war die Technologie, und sein Smartphone war der größte Missetäter. Holesh wollte daraufhin wissen, wie viel Zeit er täglich mit seinem Smartphone beschäftigt war, und entwickelte die App Moment. Moment zeichnete Holeshs tägliche Zeit am Smartphone auf und addierte die Minuten, die er wirklich täglich auf sein Display starrte. Es kostete mich Monate, bis ich Holesh erreichen konnte, er meinte es mit seiner Smartphone-Diät wirklich ernst. Auf der Moment-Website schreibt er, dass es eine Weile dauern könne, bis er E-Mails beantworte, da er versuche, möglichst wenig Zeit online zu verbringen. Auf meinen dritten Versuch hin entschuldigte sich Holesh höflich und stimmte einem Treffen zu. »Die App schaltet ab, wenn man etwa nur Musik hört oder telefoniert«, sagte mir Holesh. »Sie zeichnet aber weiter auf, sobald man auf das Display schaut – etwa um E-Mails zu verschicken oder im Internet zu surfen.« Holesh hing täglich eine Stunde und 15 Minuten an seinem Smartphone, was viel zu sein schien. Einigen seiner Freunde ging es ähnlich, sie hatten aber keine genaue Vorstellung, wie viel Zeit sie wirklich mit ihren Telefonen verbrachten. Deshalb begann Holesh, seine App zu teilen. »Ich bat Leute, ihre tägliche Zeit am Smartphone zu schätzen, und sie lagen fast immer 50 Prozent zu niedrig.«

Auch ich habe mir Moment vor einigen Monaten heruntergeladen. Davor ging ich davon aus, dass ich mein Smartphone höchstens eine Stunde am Tag benutzen und es vielleicht zehnmal in die Hand nehmen würde. Ich bildete mir auf diese Zahlen nichts ein, aber ich dachte, sie wären einigermaßen korrekt. Doch nach einem Monat meldete Moment, dass ich mein Telefon drei Stunden pro Tag nutzen und es im Schnitt 40 Mal in die Hand nehmen würde. Ich war fassungslos. Ich habe keine Spiele gespielt und auch nicht stundenlang im Internet gesurft, doch irgendwie schaffte ich es, jede Woche 20 Stunden auf mein Telefon zu starren.

Ich fragte Holesh, ob meine Zahlen typisch seien. »Auf jeden Fall«, sagte er. »Wir haben Tausende von Nutzern, und ihre durchschnittliche Zeit am Smartphone liegt bei knapp drei Stunden. Dabei nehmen sie ihre Telefone im Schnitt 39-mal zur Hand.« Holesh machte mich darauf aufmerksam, dass es sich bei diesen Leuten immerhin um jene handele, die ihre Smartphone-Nutzung wenigstens so weit hinterfragten, dass sie sich überhaupt erst eine Tracking-App herunterluden. Darüber hinaus gebe es Millionen von Smartphone-Nutzern, denen es gar nicht erst in den Sinn komme, ihre Nutzungszeiten zu messen, oder denen sie schlichtweg egal seien – die Wahrscheinlichkeit, dass gerade diese Gruppe noch länger als drei Stunden täglich am Telefon hinge, sei mit Sicherheit nicht gering.

Vielleicht handelte es sich nur um eine kleine Gruppe von Nutzern, die jeden Tag den ganzen Tag an ihrem Telefon verbringe und so die durchschnittlichen Nutzerzeiten in die Höhe treibe. Doch Holesh wertete die Nutzerdaten von 8000 Moment-Nutzern aus, um zu zeigen, dass dies ganz und gar nicht der Fall ist.

Die meisten Menschen verbringen zwischen einer und vier Stunden täglich an ihrem Smartphone – doch viele weitaus mehr Zeit. Es handelt sich hier also nicht um das Problem einer Minderheit. Wenn wir uns, wie die Empfehlung gemäß unterschiedlichen Richtlinien lautet, weniger als eine Stunde täglich mit unseren Telefonen beschäftigen sollen, dann nutzen 88 % von Holeshs Usern ihr Telefon über die Maßen. Sie verbringen im Schnitt ein Viertel ihrer Wachzeit mit ihren Telefonen – so viel wie sonst mit keiner der täglichen Routinen, Schlafen einmal ausgenommen. Jeden Monat gehen fast hundert Stunden für E-Mails-Checken, SMS-Schreiben, Spiele-Spielen, im Internet Surfen, das Lesen von Nachrichten, Überprüfen von Bankkonten und so weiter verloren. Bei durchschnittlicher Lebenserwartung addiert sich dies auf niederschmetternde elf Jahre. Im Schnitt nahmen sie ihr Telefon zudem etwa dreimal pro Stunde in die Hand. Diese Form der extremen Nutzung ist so verbreitet, dass Forscher den Begriff der »Nomophobie« geprägt haben: der Angst, ohne Mobiltelefon dazustehen (nach der Abkürzung für no-mobile-phobia).

Smartphones stehlen unsere Zeit, und schon ihre reine Gegenwart ist schädlich. Im Jahr 2013 schickten zwei Psychologen paarweise Fremde in ein kleines Zimmer und baten sie, sich zu unterhalten. Um ihnen den Einstieg zu erleichtern, schlugen die Psychologen ein Thema vor: Sie sollten sich über ein interessantes Ereignis unterhalten, dem sie im letzten Monat beigewohnt hatten. Einige Paare sollten sich unterhalten, während ein Smartphone unbenutzt danebenlag, bei anderen Paaren lag statt des Smartphones ein Notizbuch auf dem Tisch. Die Paare kamen zwar ins Gespräch, doch alle, die sich neben einem Smartphone kennenlernten, hatten Mühe, Vertrautheit herzustellen. Sie beschrieben die neu gebildeten Beziehungen als von minderer Qualität und schätzten ihre Gesprächspartner im Schnitt weniger emphatisch und zuverlässig ein als jene, bei denen nur ein Notizblock auf dem Tisch lag. Telefone spalten allein durch ihre Anwesenheit, selbst wenn sie nicht aktiv gebraucht werden. Sie stören, weil sie uns an die Welt hinter der gerade stattfindenden Unterhaltung erinnern, und die einzige Lösung besteht darin, so die Forscher, sie ganz wegzulassen.

Smartphones sind allerdings nicht die einzigen Schuldigen. Bennett Foddy hat Tausende Videospiele gespielt, doch er weigert sich, World of Warcraft zu spielen. Foddy ist ein brillanter Denker mit unterschiedlichsten Interessen. Er arbeitet als Spielentwickler und ist Professor am Game Center der New York University. Foddy stammt aus Australien und war Bassist der Band Cut Copy – die mehrere Bestseller-Singles veröffentlichte und eine Reihe australischer Musikpreise gewann –, bis er zunächst nach Princeton und später nach Oxford in England ging, um Philosophie zu studieren. Foddy hat einen Heidenrespekt vor WoW, wie World of Warcraft unter Insidern genannt wird, doch er selbst wird es nie spielen. »Ich sehe es als Teil meiner Arbeit, alle kulturell relevanten Spiele zu testen. Aber dieses eine habe ich nie gespielt, ich kann mir den zu erwartenden Zeitverlust einfach nicht leisten. Dazu kenne ich mich zu gut, und ich befürchte, es wäre extrem schwer für mich, davon wieder wegzukommen.«

Auf dem ganzen Planeten gibt es wohl nur wenige Erlebnisse, die so schnell süchtig machen wie WoW. Es ist ein Massen-Multiplayer-Online-Rollenspiel mit Millionen von Spielern aus aller Welt. Sie erstellen Avatare, mit denen sie durch Landschaften streifen, Monster bekämpfen, ganze Missionen erfüllen und mit anderen Spielern interagieren. Die Hälfte der Spieler bezeichnet sich als »süchtig«. Ein Artikel im US-Magazin Popular Science beschrieb WoW als »erste Wahl«, wenn es um das suchtgefährdendste Spiel der Welt geht. Es gibt Selbsthilfegruppen mit Tausenden Mitgliedern, und über eine Viertelmillion Menschen haben sich dem kostenlosen Online-Suchttest zu World of Warcraft unterzogen. In zehn Jahren wurden mit dem Spiel mehr als 10 Milliarden Dollar eingenommen und mehr als 100 Millionen Abonnenten gewonnen. Würden sie sich zu einem eigenen Staat zusammenschließen, wäre er der zwölftgrößte der Erde. WoW-Spieler wählen einen Avatar, der für sie Missionen in einer virtuellen Welt namens Azeroth erfüllt. Viele Spieler schließen sich zusammen, um Gilden zu bilden – Mannschaften verbündeter Avatare –, und genau das ist einer der Hauptgründe, warum das Spiel so süchtig macht. Es fällt unglaublich schwer, nachts ins Bett zu gehen, während sich in New York, Tokio oder Mumbai drei deiner Gildebrüder ohne dich auf eine heroische Suche begeben. Während unseres Gesprächs überraschte mich Foddys positive Leidenschaft für Spiele. Er glaubt ohne jeden Zweifel, dass sie alles in allem eine Macht für das Gute in der Welt darstellen – und dennoch weigert er sich, dem Charme der fiktionalen Welt Azeroth nachzugeben, aus Angst, Monate oder gar Jahre seines Lebens zu verlieren.

Spiele wie WoW ziehen Millionen von Teenagern und jungen Erwachsenen in ihren Bann, und eine nicht zu unterschätzende Minderheit – bis zu 40 Prozent – wird süchtig. Vor einigen Jahren taten sich eine Programmiererin und eine klinische Psychologin zusammen, um in den Wäldern bei Seattle ein Zentrum zur Behandlung von Spiel- und Internetsucht zu eröffnen. Das Zentrum namens reSTART behandelt heute etwa ein Dutzend junge Männer stationär, die nach WoW oder anderen Spielen süchtig sind. (reSTART versuchte zu Beginn, auch eine kleine Gruppe Frauen aufzunehmen, doch viele Internetsüchtige entwickeln zusätzlich eine Sexsucht, was das Zusammenleben unmöglich machte.) Computer hatten nie zuvor Speicherkapazitäten, wie sie für Spiele wie WoW nötig sind, die viel schneller, immersiver und filigraner als noch im 20. Jahrhundert daherkommen. Heute ermöglichen es Computer, mit anderen Menschen in Echtzeit zu interagieren, und das ist einer der Hauptgründe, warum sie so süchtig machen.

Technologie hat auch die Art verändert, wie wir Sport treiben. Vor 15 Jahren kaufte ich mir ein frühes Modell einer Fitnessuhr von Garmin, ein mammutgroßes, rechteckiges Zwittergerät zwischen Uhr und Gewichtsmanschette. Es war so schwer, dass ich in meiner anderen Hand eine Wasserflasche tragen musste, um den Gewichtsunterschied auszugleichen. Alle paar Minuten verlor die Uhr ihr GPS-Signal, und ihre Batterie war so schnell leer, dass sie auf längeren Laufstrecken nicht zu gebrauchen war. Heute gibt es billigere und kleinere Geräte, die jeden Schritt aufzeichnen. Das ist fantastisch, aber gleichzeitig ein Rezept für Obsessionen. Fitnesssucht ist zu einer psychiatrischen Fachbezeichnung geworden, weil Sportler heute ständig an ihre Aktivitäten und, schlimmer noch, an ihre Passivität erinnert werden. Menschen, die Fitnessuhren tragen, finden sich in einer Spirale ständig zu erbringender Leistungssteigerungen wieder. Zehntausend Schritte mögen letzte Woche noch das Nonplusultra gewesen sein, doch diese Woche sind hierfür elftausend vonnöten. Und nächste Woche zwölftausend, und dann vierzehntausend. Diese Leistungsexplosion kann nicht für immer anhalten, doch viele Menschen riskieren Ermüdungsbrüche und andere schwere Verletzungen, nur um dieselbe Menge an Endorphin abzubekommen, für die vor wenigen Monaten noch deutlich gemäßigtere Übungen ausreichten.

Aufdringliche Technologien machen es uns auch schwerer, Einkaufen, Arbeit oder Pornografie zu meiden. Einst war es so gut wie unmöglich, zwischen spätabends und frühmorgens einzukaufen oder zu arbeiten, heute kann man zu jeder Tag- und Nachtzeit online einkaufen oder sich von zuhause auf seinem Arbeitsplatz einloggen. Vorbei sind auch die Zeiten, als man den Playboy vom Zeitschriftenständer klauen musste; alles, was es heute braucht, ist ein WLAN-Anschluss samt Webbrowser. Das Leben ist angenehmer denn je, doch Annehmlichkeiten sind auch hochexplosive Verlockungen.

Aber wie ist es eigentlich so weit gekommen?

Die ersten »Verhaltenssüchtigen« waren zwei Monate alte Babys. Im Dezember 1968 fanden sich 41 Psychologen, die das menschliche Sehvermögen erforschten, in New York zum Jahrestreffen der Association for Research in Nervous and Mental Disease ein, um darüber zu diskutieren, warum unsere visuelle Wahrnehmung manchmal versagt. Anwesend war die Crème de la Crème der akademischen Welt. Roger Sperry würde dreizehn Jahre später der Nobelpreis für Medizin verliehen werden. Der Neurowissenschaftler Wilder Penfield wurde einmal als der »größte lebende Kanadier« bezeichnet, und William Dement von der Stanford University gilt als »Gründungsvater der Schlafmedizin«.

Anwesend war auch der Psychologe Jerome Kagan, der ein Jahrzehnt zuvor an der Harvard University das erste Institut für Entwicklungspsychologie gegründet hatte. Als er ein halbes Jahrhundert später emeritiert wurde, rangierte er in einer Liste der 100 bedeutendsten Psychologen aller Zeiten auf Platz 22 – noch vor Giganten wie Carl Gustav Jung, Iwan Pawlow und Noam Chomsky.

Auf dem Kongress berichtete Kagan über die visuelle Aufmerksamkeit bei Säuglingen. Wie, so fragte er, könnten zwei Monate alte Babys wissen, was sie wahrnehmen und was sie ignorieren sollten? Die wachsenden Gehirne würden von einem Kaleidoskop visueller Informationen geradezu bombardiert, und doch lernten sie, sich auf bestimmte Bilder zu fokussieren, während sie an anderen vorbeischauten. Kagan hatte bemerkt, dass Neugeborene von bewegten, scharfkantigen Objekten angezogen wurden. Sie konnten einfach nicht wegschauen, wenn etwa ein Forscher in ihrem Blickfeld einen Holzblock bewegte. Laut Kagan zeigten die Säuglinge »eine Verhaltenssucht nach Kontur und Bewegung«.

Nach heutigem Ermessen wäre es übertrieben, die Babys als Verhaltenssüchtige zu bezeichnen. Sicher, sie konnten nicht wegsehen, doch hat das damit, wie wir heute über Verhaltenssucht nachdenken, nicht viel zu tun. Verhalten geht über reine Instinkte, die wir nicht steuern können und zu denen Blinzeln und Atmen gehören, hinaus. (Versuchen Sie, Ihren Atem so lange anzuhalten, bis Sie ohnmächtig werden. Spätestens in diesem Augenblick wird Ihr Gehirn Sie dazu zwingen, weiter zu atmen. Die Tatsache, dass wir gar nicht anders können, als ein- und auszuatmen, bedeutet, dass wir höchstwahrscheinlich nicht sterben werden, weil wir zu atmen vergessen haben.) Neuere Definitionen gehen davon aus, dass Sucht etwas Schlechtes ist. Ein Verhalten gilt nur dann als Sucht, wenn die Vorteile, die es im Moment bringt, von den schädlichen Konsequenzen überwogen werden. So unwiderstehlich Atmen und Auf-Holzklötze-Starren auch sein mögen, es ist dennoch kein Suchtverhalten, weil es harmlos ist. Sucht hingegen ist eine starke Bindung an Erlebnisse, die schädlich und dennoch unwiderstehlich sind.

Zu den Verhaltenssüchten gehören weder Essen, Trinken, Rauchen noch das Spritzen von Substanzen. Eine Sucht entsteht dort, wo eine Person einem Verhalten selbst nicht widerstehen kann, das, so schön das unmittelbare Erlebnis auch sein mag, auf lange Sicht erhebliche Schäden verursacht.

Obsessionen und zwanghaftes Verhalten sind mit der Verhaltenssucht nahe verwandt. Obsessionen sind Gedanken, die eine Person nicht unterdrücken, Zwänge sind Verhaltensmuster, die eine Person nicht beenden kann. Zwischen Verhaltenssüchten und Obsessionen sowie Zwängen gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied. Süchte versprechen unmittelbare Belohnungen oder positive Rückmeldungen. Dagegen ist es extrem unangenehm, Obsessionen und Zwängen nicht nachzugeben. Sie versprechen Erleichterung – auch negative Verstärkung genannt –, ohne die angenehmen Belohnungen einer gerade genossenen Sucht. (Da sie sich so sehr ähneln, benutze ich in diesem Buch alle drei Begriffe.)

Verhaltenssucht ist auch mit obsessiver Leidenschaft verwandt. Im Jahr 2003 schrieben sieben kanadische Psychologen unter der Leitung des Wissenschaftlers Robert Vallerand eine Abhandlung, in der sie zwischen zwei Formen von Leidenschaft unterschieden. »Leidenschaft«, sagten sie, »zeichnet sich durch eine ausgeprägte Vorliebe für Aktivitäten aus, die Menschen mögen, die sie wichtig finden und in die sie Zeit und Energie stecken.«Harmonische Leidenschaften sind gesunde Aktivitäten, für die Menschen sich entscheiden, ohne daran zwanghaft festhalten zu müssen – dazu gehört die Modelleisenbahn, an der ein älterer Herr seit seiner Kindheit immer weiterbaut, oder die abstrakten Gemälde, die eine Frau mittleren Alters in ihrer Freizeit malt. »Die Individuen sind nicht gezwungen, dieser Tätigkeit nachzugehen«, sagten die Forscher, »sie entscheiden sich freiwillig, sie auszuüben. Bei Menschen, die diesen Formen von Leidenschaft nachgehen, besetzen die entsprechenden Aktivitäten einen wichtigen, aber keinen überwältigenden Raum in ihrer Identität und vertragen sich mit anderen Aspekten im Leben der Person.«

Obsessive Leidenschaften dagegen sind ungesund und manchmal sogar gefährlich. Von einem Bedürfnis getrieben, das über reinen Genuss hinausgeht, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie eine Verhaltenssucht auslösen. Mit den Worten der Forscher: Das Individuum »kann nicht anders, es muss sich der leidenschaftlich betriebenen Aktivität ausliefern. Die Leidenschaft bricht sich Bahn und beherrscht die Person. Weil die Hingabe an diese eine Aktivität außerhalb der Kontrolle der Person steht, nimmt sie in der Identität dieser Person einen überproportionierten Raum ein und gerät mit anderen Aktivitäten im Leben der Person in Konflikt.« Dies kann das Videospiel sein, das ein Teenager die ganze Nacht spielt, statt zu schlafen oder seine Hausaufgaben zu machen. Oder es kann die Läuferin betreffen, die früher einmal aus reiner Freude laufen ging und sich nun gezwungen sieht, mindestens zehn Kilometer am Tag nicht unter einer bestimmten Geschwindigkeit zu laufen, selbst wenn schädigende Überlastungsverletzungen auftreten. Sie wird so lange weiterlaufen, bis sie flach auf dem Rücken liegt, unfähig, überhaupt noch zu gehen, weil ihre Identität und ihr Wohlbefinden auf Gedeih und Verderb mit dieser nicht zu unterbrechenden Reihe zu absolvierender Läufe verknüpft ist. Harmonische Leidenschaften »machen das Leben lebenswert«, obsessive Leidenschaften zermartern das Gehirn.

Sicher gibt es Menschen, die der These, man könne allein nach Verhalten süchtig werden, nicht zustimmen. »Wo sind die Drogen?«, fragen sie. »Wenn man nach Videospielen und Smartphones süchtig sein kann, warum dann nicht auch süchtig danach, an Blumen zu riechen oder rückwärtszulaufen?« In der Theorie kann man auch von diesen Dingen abhängig werden. Sobald sie ein tief empfundenes Bedürfnis erfüllen, sobald man nicht mehr auf sie verzichten kann und beginnt, diese Dinge zu tun, ihnen nachzugehen und andere wichtige Aspekte seines Lebens zu vernachlässigen, hat man eine Verhaltenssucht nach Blumenriechen oder Rückwärtslaufen entwickelt. Es gibt wahrscheinlich nicht viele Menschen mit diesen speziellen Süchten, aber sie sind nicht unvorstellbar. Auf der anderen Seite gibt es viele, sehr viele Menschen, die ähnliche Symptome zeigen, wenn man sie mit Smartphones, einem fesselnden Videospiel oder dem Konzept von E-Mail bekannt macht.

Es gibt Menschen, die behaupten, der Begriff »Sucht« könne unmöglich einer Bevölkerungsmehrheit zugesprochen werden. »Entwertet das nicht den Suchtbegriff? Macht es ihn nicht bedeutungslos und leer?«, fragen sie. Als 1918 eine Grippe-Pandemie 75 Millionen Menschen tötete, hat niemand behauptet, die Diagnose »Grippe« sei bedeutungslos. Dieses Thema verlangte gerade deshalb erhöhte Aufmerksamkeit, weil es so viele Menschen betraf. Das Gleiche gilt für Verhaltenssucht. Smartphone und E-Mail ist heute schon schwer zu widerstehen – weil beide mittlerweile fest in unsere zwischenmenschliche Alltagsstruktur eingebunden sind und psychisch fesselnde Erlebnisse versprechen. Und die kommenden Jahrzehnte werden noch viele neue suchtgefährdende Erlebnisse mit sich bringen. Wir sollten keine verharmlosenden Begriffe benutzen, um sie zu beschreiben; wir sollten anerkennen, dass sie sehr ernst zu nehmen sind, dass der Schaden groß ist, den sie unserem kollektiven Wohlbefinden zufügen, und dass sie jede Aufmerksamkeit verdienen. Schon heute ist die Beweislage besorgniserregend, und aktuelle Trends lassen befürchten, dass wir immer tiefer in gefährliche Gewässer geraten.

Dennoch ist es wichtig, den Begriff »Verhaltenssucht« mit Vorsicht zu gebrauchen. Bestimmte Bezeichnungen können Menschen dazu ermutigen, überall Störungen zu sehen. Bei schüchternen Kindern wurde plötzlich, kaum war der Begriff eingeführt, das »Asperger-Syndrom« diagnostiziert; Menschen mit schwankenden Gefühlen bekamen das Etikett »bipolar« ab. Dem Psychiater und Suchtexperten Allen Frances bereitet der Begriff »Verhaltenssucht« Sorgen. »Wenn 35 Prozent der Menschen an einer Störung leiden, dann gehört sie ganz einfach zur Natur des Menschen«, sagt er. »Es ist ein Fehler, Verhaltenssucht mit Medikamenten zu behandeln. Wir sollten es wie in Taiwan und Korea halten. Dort wird Verhaltenssucht unter sozialen statt medizinischen Gesichtspunkten betrachtet.« Ich stimme ihm zu. Nicht jeder, der sein Smartphone länger als 90 Minuten am Tag nutzt, muss behandelt werden. Aber was macht Smartphones überhaupt so reizvoll? Sollen wir strukturelle Kontrollinstanzen einführen, die die Rolle, die sie in unserem kollektiven Leben spielen, prüfen? Ein Symptom, das so viele Menschen betrifft, ist nicht weniger real oder inakzeptabel, weil es zu einer neuen Norm wird; wir müssen das Symptom verstehen lernen und dann entscheiden, ob und wie wir mit ihm umgehen.

Doch wie verbreitet sind Verhaltenssüchte? Massive Süchte, die Menschen ins Krankenhaus bringen oder es ihnen unmöglich machen, ein halbwegs normales Leben zu führen, sind relativ selten und betreffen nur wenige Prozent der Bevölkerung. Doch leichtere Verhaltenssüchte sind extrem verbreitet. Diese Süchte machen das Leben weniger lebenswert, sie mindern unsere Effektivität sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit und schmälern unsere Interaktionen mit anderen Menschen. Sie fügen weniger harte Traumata zu als starke Süchte, doch selbst leichte Traumata addieren sich zu einer Summe, die das Wohlergehen einer Person entscheidend mindert.

Herauszufinden, wie viele Menschen tatsächlich an Verhaltenssüchten leiden, ist schwierig, da die meisten dieser Süchte nicht erfasst werden. Dutzende von Studien sind der Frage nachgegangen, doch die umfassendste Antwort gab der englische Psychologieprofessor Mark Griffiths, der seit mehr als zwanzig Jahren zu Verhaltenssüchten forscht. Er spricht so schnell und leidenschaftlich, wie man es von einem, der im Laufe seiner Universitätslaufbahn bereits über 500 Artikel veröffentlicht hat, erwartet. Griffiths machte seinen Doktor mit 23 – wenige Jahre vor dem Internetboom. »Es war das Jahr 1994«, sagt Griffiths, »ich habe beim Jahrestreffen der British Psychological Society über Technologie und Sucht gesprochen, anschließend gab es eine Pressekonferenz. Damals sprach man über die Suchtgefahr von Spielautomaten, Videospielen und Fernsehen, und jemand fragte mich, ob ich von dem neuen Ding, man nannte es Internet, gehört habe, und ob es zu neuen Suchttypen führen könne.« Anfangs wusste Griffiths nicht, was er vom Internet halten sollte, doch die Möglichkeit, dass es süchtig machen könnte, faszinierte ihn sofort. Er bewarb sich um staatliche Fördermittel und begann, zum Thema zu forschen.

Journalisten fragten Griffiths oft, wie normal Verhaltenssüchte seien, doch er tat sich schwer damit, ihnen eine eindeutige Antwort zu geben. Die Daten waren einfach nicht zugänglich. Deshalb tat er sich mit zwei Forschern der University of Southern California zusammen, um genau das zu ändern. Sie veröffentlichten 2011 eine lange und umfassende Metastudie, in die sie Dutzende von sorgfältig überprüften Studien aufnahmen. Studien wurden nur aufgenommen, wenn sie mehr als 500 Probanden umfassten, sowohl männliche als auch weibliche, im Alter zwischen 16 und 65 Jahren. Ihre Messmethoden mussten verlässlich und von sorgfältiger Forschung begleitet sein. Das Ergebnis waren beeindruckende 83 Studien mit einer Gesamtmenge von 1,5 Millionen Probanden aus vier Kontinenten. Die Studien konzentrierten sich einerseits auf Spiel-, Liebes-, Sex-, Shopping-, Internet-, Fitness- und Arbeitssucht, andererseits auf Alkohol-, Nikotin-, Drogensucht und andere auf Substanzen basierende Süchte.

Die Bilanz: Niederschmetternde 41 Prozent der Bevölkerung litten in den letzten zwölf Monaten an wenigstens einer Verhaltenssucht. Hier geht es nicht um triviale Störungen; Griffiths und seine Kollegen fanden, dass fast die Hälfte der Bevölkerung Erfahrung mit folgenden Symptomen gemacht hat:

Der Verlust der Fähigkeit, frei zu entscheiden, ob ein Verhalten beendet werden soll (Kontrollverlust), und das Erlebnis negativer, mit dem Verhalten zusammenhängender Konsequenzen. Es ist der Person nicht möglich vorherzusagen, wann das Verhalten auftreten wird, wie lange es anhalten wird, wann es enden wird oder welche weiteren Verhaltensmuster mit dem Suchtverhalten in Verbindung gebracht werden. In der Folge gibt die Person andere Aktivitäten auf oder empfindet sie, falls sie sie doch weiter betreibt, als weniger angenehm. Zu den weiteren negativen Folgen des Suchtverhaltens können Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Lebensrollen (zum Beispiel Arbeit, soziale Kontakte oder Hobbys), Schädigung zwischenmenschlicher Beziehungen, kriminelle Energie, Probleme mit der Justiz, gefährliche Situationen, physische Verletzungen und Beeinträchtigungen, finanzielle Verluste sowie emotionale Traumata gehören.

Einige dieser Süchte werden mit dem technologischen Fortschritt und den sozialen Veränderungen immer verbreiteter. Eine neuere Studie weist darauf hin, dass bis zu 40 Prozent der Bevölkerung an der einen oder anderen Form einer internetbasierten Sucht leiden, sei es E-Mail, Online-Spiel oder Pornografie. Einer anderen Studie zufolge sind 48 Prozent der befragten US-Studenten »internetsüchtig« und weitere 40 Prozent standen an der Grenze zur Sucht oder waren potentiell gefährdet. Wenn sie über ihr Netzverhalten befragt wurden, bezogen sich die meisten Probanden auf negative Konsequenzen und erklärten, dass ihre Arbeit, ihre Beziehungen und ihr Familienleben ärmer seien, weil sie zu viel Zeit im Internet verbrachten. An diesem Punkt fragen Sie sich vielleicht, ob Sie oder Ihre Freunde und Angehörige eigentlich auch »internetsüchtig« sind. Deshalb folgt eine Auswahl von fünf Fragen aus dem zwanzigteiligen Internetsucht-Test, einem vielfach benutzten Maßstab zur Internetsucht. Nehmen Sie sich kurz Zeit und beantworten Sie die Fragen mit einem Wert von 0 bis 5:

Wenn Sie auf sieben oder weniger Punkte kommen, zeigen Sie keine Anzeichen einer Internetsucht. Eine Punktzahl von 8 bis 12 deutet auf eine leichte Internetsucht hin – vielleicht verbringen Sie bisweilen zu viel Zeit im Netz, doch im Allgemeinen haben Sie Ihr Surfverhalten gut unter Kontrolle. Eine Punktzahl von 13 bis 20 entspricht einer moderaten Internetsucht, was bedeutet, dass Ihre Beziehung zum Internet »gelegentlich bis häufig zu Problemen« führt. Eine Punktzahl von 21 bis 25 Punkten weist auf eine schwere Internetsucht hin und bedeutet, dass das Internet für »signifikante Probleme in Ihrem Leben« verantwortlich zeichnet. (Ich werde im zweiten Teil dieses Buches auf die Frage zurückkommen, wie man mit einer hohen Punktzahl umgehen soll.)

Über die Internetsucht hinaus sagen 46 Prozent der Befragten, sie könnten ohne ihre Smartphones nicht mehr leben (einige würden vor einer Schädigung ihrer Telefone lieber physische Verletzungen ihrer selbst auf sich nehmen), und 80 Prozent der Teenager sehen mindestens einmal pro Stunde auf ihre Smartphones. Während im Jahr 2008 Erwachsene durchschnittlich 18 Minuten am Tag mit ihren Telefonen beschäftigt waren, waren es 2015 schon jeden Tag zwei Stunden und 48 Minuten. Diese Verlagerung zu den mobilen Endgeräten ist deshalb so gefährlich, weil ein Gerät, das man immer bei sich hat, ein besseres Vehikel für Sucht darstellt. In einer Studie berichten 60 Prozent der Befragten von exzessivem Serienkonsum, bei denen sie Dutzende von Folgen am Stück sahen, obwohl sie damit viel früher hatten aufhören wollen. Bis zu 59 Prozent der Befragten sagen, sie seien von Social-Media-Plattformen abhängig und dass sie ihre Sucht letztlich unglücklich mache. Aus dieser Gruppe berichtet die Hälfte, dass sie diese Plattformen wenigstens einmal in der Stunde besuchen müssten. Nach einer Stunde würden sie ängstlich, aufgeregt und könnten sich unmöglich konzentrieren. Zu diesem Zeitpunkt – 2015 – gab es etwa 280 Millionen Smartphone-Süchtige. Würden sie sich zusammenschließen, um die »Vereinigten Staaten von Nomophobia« zu gründen, wären sie mit einem Schlag Bürger des Landes mit der weltweit viertgrößten Bevölkerungszahl – hinter China, Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika.

Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen, heißt es in einem Bericht des kanadischen Zweigs von Microsoft, habe im Jahr 2000 zwölf Sekunden betragen; bis zum Jahr 2013 sei dieser Durchschnittswert auf acht Sekunden gefallen. (Zum Vergleich: Nach Angaben von Microsoft beträgt die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches neun Sekunden.) »Das menschliche Aufmerksamkeitsvermögen schwindet«, behauptet der Bericht. 77 Prozent der 18- bis 24-Jährigen sagten, dass sie nach ihren Smartphones griffen, sobald sonst nicht passiere. 87 Prozent sagen, sie würden oft abdriften und eine Folge einer Serie nach der anderen schauen. Und was noch besorgniserregender ist: Microsoft bat 2000 junge Erwachsene, ihre Aufmerksamkeit auf Ziffern- und Buchstabenfolgen zu lenken, die auf einem Computerbildschirm erschienen. Diejenigen, die weniger Zeit auf Social-Media-Plattformen verbrachten, schnitten bei dem Test deutlich besser ab.

Addiction, das englische Wort für Sucht, bezeichnete ursprünglich eine ganz andere Art von starker Bindung: Im alten Rom hieß addicere, jemandem den zahlungsunfähigen Schuldner als Schuldknecht oder Sklaven zuzuerkennen. Wer Geld schuldete und die Schulden nicht zurückzahlen konnte, wurde vom Prätor in die addictio verurteilt. Die Person wurde gezwungen, so lange als Sklave zu arbeiten, bis ihre Schuld beglichen war. So wurde das Wort addiction zuerst verwendet, später beschrieb es jegliche Form von Fessel, die schwer zu lösen war. Wer gerne Wein trank, wurde als wineaddict bezeichnet, wer gerne Bücher las, galt als book addict. Es war nicht grundsätzlich verkehrt, ein addict zu sein; manche addicts waren einfach Leute, die wirklich gerne aßen, tranken, Karten spielten oder lasen. Ein addict zu sein hieß, etwas mit Leidenschaft zu tun, und die Bedeutung des Wortes addiction wurde mit den Jahrhunderten immer unschärfer.

Doch im 19. Jahrhundert hauchte die Medizin dem Begriff neues Leben ein. Er erlangte unter Ärzten besondere Aufmerksamkeit, als Chemiker Ende des 19. Jahrhunderts begannen, Kokain synthetisch herzustellen, und es immer schwieriger wurde, die Konsumenten von der Droge wegzubekommen. Zunächst schien Kokain eine Art Wunderdroge zu sein, die es Älteren ermöglichte, meilenweit zu gehen, und Erschöpfte mit neuen, frischen Gedanken versorgte. Doch letztlich wurden die meisten vom Kokain abhängig, und viele starben an der Droge.

Um den Aufstieg der Verhaltenssucht zu verstehen, hilft es, sich zunächst mit der Abhängigkeit von Substanzen zu beschäftigen. Das Wort addiction bezog sich nur zwei Jahrhunderte auf die Bedeutung Drogenmissbrauch, und doch waren Hominiden für Tausende von Jahren nach Substanzen süchtig. Spuren in der DNA der Neandertaler deuten darauf hin, dass sie bereits vor über 40 000 Jahren ein Gen namens DRD4–7R trugen. DRD4–7R ist für Verhaltensweisen verantwortlich, die Neandertaler von anderen Hominiden unterschied. Dazu gehörten Risikobereitschaft, Neugier und Sensationslust. Waren die Vorfahren der Neandertaler noch ängstlich und vermieden jedes Risiko, machten sich diese ständig auf die Suche nach Entdeckungen und waren nie oder nur selten zufrieden. Eine Variante des DRD4–7R-Gens, bekannt als DRD4–4R, ist noch in etwa zehn Prozent der heutigen Weltbevölkerung gegenwärtig. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei diesen zehn Prozent um Draufgänger und extrem suchtgefährdete Personen handelt, ist deutlich erhöht.

Es ist unmöglich, den ersten süchtigen Menschen genau zu lokalisieren, doch viele Daten sprechen dafür, dass er oder sie vor mehr als 13 000 Jahren gelebt haben muss. Die Erde war damals ein völlig anderer Ort. Neandertaler waren schon lange ausgestorben, doch die Erde war noch von Gletschern überzogen, das wollige Mammut sollte noch 2000 Jahre existieren, und der Mensch begann gerade erst, Schafe, Schweine, Ziegen und Kühe zu domestizieren. Auch Ackerbau und Viehzucht würden noch Jahrtausende auf sich warten lassen, doch auf der südostasiatischen Insel Timor stieß jemand auf die Betelnuss.

Die Betelnuss ist der uralte und natürliche Cousin der heutigen Zigarette. Sie enthält eine geruchlose, ölige, unter dem Namen Arecoline bekannte Flüssigkeit, die so ähnlich wie Nikotin wirkt. Wenn man auf einer Betelnuss kaut, weiten sich die Blutgefäße, atmet man leichter, fließt das Blut schneller und hebt sich die Stimmung. Manche behaupten, sie könnten nach dem Kauen einer Betelnuss klarer denken, bis heute ist sie in Teilen Süd- und Südostasiens eine beliebte Droge.

Betelnüsse haben allerdings eine widerliche Nebenwirkung. Wer sie zu häufig kaut, bekommt schwarze, faulige Zähne, die ausfallen können. Trotz der offensichtlichen kosmetischen Nachteile, die das Kauen der Nuss mit sich bringt, kauen viele Konsumenten selbst dann weiter, wenn sie ihre Zähne verlieren. Als der chinesische Kaiser Zhou Shenjingwang vor über 2000 Jahren Vietnam besuchte, fragte er seine Gastgeber, warum ihre Zähne schwarz seien. Sie erklärten ihm, »Betel-Kauen sorgt für gute hygienische Verhältnisse im Mund; deshalb werden ihre Zähne schwarz«. Das ist brüchige Logik vom Feinsten. Wenn sich Teile des Körpers pechschwarz färben, braucht es schon eine äußerst unvoreingenommene Einstellung, um daraus zu schließen, dass diese Wandlung gesund sein soll.

Süd- und Südostasiaten waren nicht die einzigen Süchtigen alter Zeiten. Auch andere Zivilisationen verbissen sich in alles, was vor Ort wuchs. Mehrere Tausend Jahre lang kauten die Bewohner der Arabischen Halbinsel und des Horns von Afrika die Blätter des Khatstrauchs, ein Aufputschmittel, das wie Speed oder Methamphetamin wirkt. Khatkonsumenten sind gesprächig, euphorisch und hyperaktiv. Ihre Herzfrequenz steigt, als hätten sie mehrere Tassen starken Kaffee getrunken. Etwa zur selben Zeit stießen die Aborigines Australiens auf die Pituripflanze, und ihre Zeitgenossen in Nordamerika entdeckten die Tabakpflanze. Beide Pflanzen können sowohl geraucht als auch gekaut werden und enthalten hohe Dosen an Nikotin. In den südamerikanischen Anden begannen die Bewohner vor 7000 Jahren, bei großen Stammessitzungen die Blätter der Kokapflanze zu kauen. Eine Hemisphäre entfernt lernten die Samariter, Opium zuzubereiten, das ihnen derart zusagte, dass sie das Rezept auf kleine Lehmtafeln gravierten.

Der uns bekannte Drogenmissbrauch ist relativ neu, weil er von einer hochentwickelten Chemie samt teurer Ausrüstung abhängt. In der Fernsehserie Breaking Bad ist der zum Meth-Koch umgepolte Chemielehrer Walter White von der Reinheit seines Produkts besessen. Er stellt »Blue Sky« her, das zu 99,1 Prozent rein ist, und erntet dafür weltweit Respekt (und Millionen von drogenbehafteten Dollar). Doch tatsächlich würden Meth-Junkies alles kaufen, was sie finden können, weshalb Meth-Dealer das Rohprodukt mit Füllmaterial strecken und so seine Reinheit mindern. Unabhängig von der Betonung auf Reinheit ist der Herstellungsprozess der Droge kompliziert und erfordert technisches Knowhow. Dasselbe gilt für viele andere Drogen, die sich chemisch deutlich von den ursprünglichen Pflanzen unterscheiden, aus denen sie ihre wichtigsten Wirkstoffe ziehen.

Bevor Drogen zu einem riesigen Geschäft werden konnten, mussten Ärzte und Chemiker ihre Wirkungen durch Versuch und Irrtum oder durch Zufall entdecken. Im Jahr 1875 wählte die Britisch Medical Association den 78-jährigen Sir Robert Christison zu ihrem 44. Präsidenten. Christison war groß gewachsen, unbeugsam und exzentrisch. Er begann fünfzig Jahre zuvor als Arzt zu praktizieren, in einer Zeit, als mordlustige Engländer anfingen, sich gegenseitig mit Arsen, Strychnin und Zyanid zu vergiften. Christison fragte sich, wie diese und andere Gifte den menschlichen Körper schädigten. Weil es nicht so einfach war, an Freiwillige heranzukommen, schluckte er über Jahrzehnte selbst gefährliche Giftstoffe, würgte sie wieder hoch und hielt ihre unmittelbaren Wirkungen so lange in Echtzeit fest, bis er das Bewusstsein verlor.

Zu den von ihm untersuchten Giftstoffen zählte auch ein kleines grünes Blatt, das in Christisons Mund Taubheitsgefühle auslöste, ihm einen langanhaltenden Energieschub versetzte und dem 80-Jährigen das Gefühl gab, mehrere Jahrzehnte jünger zu sein. Christison fühlte sich so belebt, dass er sich auf einen langen Spaziergang machte. Neun Stunden und 25 Kilometer später war er wieder zuhause und schrieb, dass er weder Hunger noch Durst verspüre. Am nächsten Morgen erwachte er bei besten Kräften und war bereit, den neuen Tag in Angriff zu nehmen. Christison hatte auf einem Kokablatt gekaut, der Pflanze, die für die Herstellung eines berühmten Aufputschmittels verantwortlich zeichnen sollte – Kokain.

Etwa tausend Kilometer weiter südöstlich experimentierte zur selben Zeit ein junger Neurologe mit Kokain. Viele denken bei Sigmund Freud vor allem an seine Theorien über die menschliche Psyche, Sexualität und Träume, doch war er seinerzeit auch als Apologet von Kokain bekannt. Chemiker hatten die Droge erst drei Jahrzehnte zuvor synthetisiert, und Freud las mit großem Interesse über Christisons wundersamen 25-Kilometer-Marsch. Er fand heraus, dass Kokain ihm nicht nur Energie verlieh, sondern auch seine wiederkehrenden Schübe von Depression und Verdauungsstörungen milderte. In einem seiner über 900 Briefe an seine Verlobte Martha Bernays schrieb Freud:

Wenn es gut ausgeht, dann will ich meinen Aufsatz darüber schreiben und vermute dann, dass das Mittel sich seinen Platz in der Therapie erobert, neben und über dem Morphium, ich habe noch andere Hoffnungen damit, ich nehme es regelmäßig gegen Verstimmungen und gegen Druck im Magen mit dem glänzendsten Erfolg in sehr kleinen Dosen.

Freuds Leben war voller Höhen und Tiefen, doch das Jahrzehnt, das auf diesen Brief an Martha folgen sollte, war besonders turbulent. Und es begann mit einem Höhepunkt: der Veröffentlichung seines Aufsatzes mit dem Titel »Über Coca« 1884. »Über Coca« war in den Worten Freuds ein »Loblied auf dieses Zaubermittel«. Freud übernahm im Drama »Über Coca« alle Rollen selbst: Er war Versuchsleiter, Versuchsobjekt und angeregter Autor.

Wenige Minuten nach der Einnahme stellt sich eine plötzliche Aufheiterung und ein Gefühl von Leichtigkeit her. Man fühlt dabei ein Pelzigsein an den Lippen und am Gaumen, dann ein Wärmegefühl an denselben Stellen … Die psychische Wirkung des [Kokain] besteht in einer Aufheiterung und anhaltenden Euphorie, die sich von der normalen Euphorie des gesunden Menschen in gar nichts unterscheidet.

»Über Coca« lässt auch die dunkleren Seiten von Kokain anklingen, doch Freud schien eher fasziniert als besorgt:

Bei diesem ersten Versuch trat ein kurzes Stadium toxischer Wirkungen auf, die ich später vermißte. Die Atemzüge wurden verlangsamt und vertieft, ich fühlte mich matt und schläferig, musste häufig gähnen und fand mich etwas eingenommen … Wenn man im Cocainzustand intensiv arbeitet, tritt nach 3 – 5 Stunden ein Nachlaß des Wohlbefindens ein, und man bedarf einer weiteren Gabe Coca, um sich von Ermüdung fernzuhalten.

Viele Psychologen haben Freud kritisiert, weil seine berühmtesten Theorien nicht in Tests zu beweisen sind (beschäftigen sich Männer, die von Höhlen träumen, wirklich zwanghaft mit dem Mutterleib?), aber er befürwortete gründliche Kokainexperimente. Wie seine Briefe zeigen, entdeckte Freud, dass sich Kokain, wie viele suchtgefährdende Reizmittel, abnutzte und seine Wirkungen mit der Zeit schwächer wurden. Die einzige Möglichkeit, das ursprüngliche Hoch zu reproduzieren, waren wiederholte, sprunghaft erhöhte Dosierungen. Er nahm mindestens ein Dutzend hohe Dosen und wurde letztlich süchtig. Er versuchte, ohne die Droge zu denken und zu arbeiten, und war nur noch mehr davon überzeugt, dass seine besten Ideen unter ihrem Einfluss entstanden. 1895 entzündete sich seine Nase, und er musste zur Wiederherstellung seiner Nasenflügel mehrere Operationen über sich ergehen lassen. In einem Brief an seinen Freund und Vertrauten, den Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten Wilhelm Fließ, beschrieb Freud en détail die Wirkungen von Kokain. Paradoxerweise gab es nur ein Mittel, das seine Nasenbeschwerden linderte, und das war eine weitere Dosis Kokain. Wurden die Schmerzen besonders schlimm, bestrich er seine Nase mit einer Lösung aus Wasser und Kokain. Ein Jahr später schloss er entmutigt, dass Kokain mehr Schaden anrichtete als Nutzen brachte. 1896, zwölf Jahre nachdem er Kokain für sich entdeckt hatte, sah Freud sich gezwungen, den Konsum der Droge komplett aufzugeben.

Wie kam es, dass Freud zwar alle Vorteile, nicht aber die gravierenden Nachteile von Kokain sah? Zu Beginn seiner Kokain-Verblendung dachte er, es sei die entscheidende Antwort auf Morphinsucht. So beschrieb er den Fall eines Patienten, der Morphin abrupt absetzte und sich einer »plötzlichen Entwöhnung«, begleitet von Schüttelfrost und Depressionsschüben, aussetzte. Erst als der Mann anfing, Kokain einzunehmen, erholte er sich völlig und konnte mit Hilfe einer hohen täglichen Dosis Kokain seinen Verpflichtungen nachgehen. Freuds größter Fehler lag darin, zu glauben, dass diese Wirkung von Dauer sein könne:

Nach 10 Tagen konnte er das [Coca] bei Seite lassen. Es handelt sich bei der Morphinentziehung durch Coca also nicht um einen Tausch … sondern nur um einen temporären Cocagebrauch.

Freud ließ sich zum Teil deshalb vom Kokain verführen, weil er in einer Zeit lebte, in der man glaubte, dass Sucht nur Menschen betreffe, die über eine schwache geistige und körperliche Konstitution verfügten. Genie und Abhängigkeit waren unvereinbar, er (wie auch Robert Christison) entdeckte Kokain für sich auf der Höhe seiner intellektuellen Schaffenskraft. Freud missverstand die Droge gründlich, er dachte, er könne mit ihrer Hilfe die Morphinsucht heilen. Doch war er nicht der Einzige, der das glaubte. Zwei Jahrzehnte bevor Freud »Über Coca« schrieb, wurde ein Oberst der Konföderierten süchtig nach Morphin. Er war bei der letzten Schlacht des Amerikanischen Bürgerkriegs verwundet worden. Auch er glaubte, seine Morphinsucht mit einer kokaingesättigten Tinktur überwinden zu können. Er irrte sich, doch seine Medizin wurde letztlich zu einem der meistgetrunkenen Suchtmittel der Welt.

Der Amerikanische Bürgerkrieg endete am 16. April 1865, am Abend vor Ostern, mit einer kurzen, aber blutigen Schlacht. Die Unions- und Konföderierten-Armeen trafen am Chattahoochee River, einem Fluss in der Nähe von Columbus (Georgia), aufeinander und kämpften auf Pferden in der Nähe von zwei Brücken, die den Fluss überspannten. Ein unglücklicher Soldat der Konföderierten, John Pemberton, fand sich von einer Mauer aus Kavalleristen der Union umzingelt, als er versuchte, die Brücke zu sperren, die in das Zentrum von Columbus führte. Pemberton schwang seinen Säbel, doch bevor er ihn gebrauchen konnte, wurde er angeschossen. Als er sich unter großen Schmerzen zurückzog, versetzte ihm ein Unionssoldat einen schweren Säbelhieb auf Schulter und Bauch. Er sackte zusammen, wurde aber, dem Tode nahe, von einem Freund in Sicherheit gebracht.

Pemberton überlebte, doch die Säbelwunde brannte monatelang. Wie Tausende anderer verwundeter Soldaten behandelte er seine Schmerzen mit Morphin. Am Anfang verschrieben Militärärzte kleine Dosen im Abstand von vielen Stunden, doch mit den Wochen ließ die Wirkung der Droge nach. Pemberton verlangte immer häufiger nach ständig höheren Dosierungen und entwickelte eine ausgemachte Sucht. Die Ärzte taten ihr Bestes, um ihn von der Droge zu entwöhnen, doch wurden ihre Bemühungen auf Schritt und Tritt untergraben – Pemberton war vor dem Krieg Chemiker gewesen, und seine früheren Zulieferer halfen aus, als die Gaben der Militärärzte immer kleiner wurden. Doch seine Freunde machten sich zunehmend Sorgen, und Pemberton musste letztlich zugeben, dass Morphin seinem Körper mehr Schaden zufügte, als dass es ihm guttat.

Wie alle guten Wissenschaftler – und wie Freud nach ihm – fing Pemberton an zu experimentieren. Sein Ziel war es, ein Ersatzmittel für Morphin zu finden, das nicht süchtig machte und seine chronischen Schmerzen milderte. In den 1880er Jahren fand Pemberton nach mehreren Fehlversuchen das perfekte Produkt: Pemberton’s French Wine Coca war eine Mischung aus Wein, Kokablättern, Kolanüssen und aromatischen Damianablättern. Da es in den 1880er Jahren in den USA noch keine Nahrungs- und Arzneimittelbehörde gab, stand es Pemberton frei, seine lyrischen (und grammatikalisch falschen) Ergüsse über die medizinischen Eigenschaften seines Stärkungsmittels zu verbreiten, obwohl er nicht genau wusste, wie es wirkte. Eine Zeitungsanzeige aus dem Jahr 1885 las sich folgendermaßen:

French Wine Cola wird von mehr als 20 000 der kenntnisreichsten und wissenschaftlichsten Mediziner der Welt unterstützt …

Amerikaner sind die nervösesten Menschen der Welt … Allen, die unter nervösen Beschwerden leiden, empfehlen wir das wunderbare und entzückende Mittel French Wine Cola, unfehlbar bei der Kur jeglicher Form nervlicher Probleme, Dyspepsie, mentaler und physischer Erschöpfung. Alle chronischen Auszehrungskrankheiten, gastrische Reizungen, Verstopfungen, Migräne, Nervenschmerzen etc. werden mit dem Coca-Wein schnell geheilt …

Coca ist der wunderbarste Erneuerer der Sexualorgane und heilt Samenschwäche, Impotenz etc. auch dann, wenn alle anderen Mittel versagen …

Ende der Leseprobe