Vancouver Hope - Corinna Bach - E-Book

Vancouver Hope E-Book

Corinna Bach

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Beschreibung

Oliver hat die Liebe seines Lebens verloren. Nur schwer kommt er über den Verlust hinweg, wendet sich von Familie und Freunden ab und nistet sich auf Vancouver Island ein. Vielleicht kann die atemberaubende Natur ihm neue Hoffnung geben? Oder etwa Ethan, sein attraktiver neuer Nachbar? Ethan sprüht vor Lebenslust und schafft es tatsächlich Oliver aus seiner dunklen Welt zu befreien. Doch gerade als Oliver wieder an das Glück zu glauben beginnt, holt die Vergangenheit sie ein. Die beiden ahnen nicht auf welch unheilvolle Weise sie miteinander verbunden sind … Von Corinna Bach sind bei Forever erschienen: Vancouver Hope Vancouver Love

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Die AutorinCorinna Bach, geboren 1962, ist eines der Pseudonyme der Autorin Brunhilde Witthaut. Sie schreibt Krimis, historische Romane und Gay-Krimis, fand sich aber auch mit viel Schreibspaß ins Gay Romance-Genre ein. Sie veröffentlicht in diversen Verlagen. Mit ihrem Mann, dem letzten von drei Kindern sowie drei Hunden lebt sie ländlich in NRW und arbeitet in der Versicherungsbranche. Frankreich ist ihre zweite Heimat und viele ihrer Werke spielen dort. In ihrer Vancouver-Reihe jedoch agieren ihre Helden im fernen, faszinierenden Kanada.

Das BuchOliver hat die Liebe seines Lebens verloren. Nur schwer kommt er über den Verlust hinweg, wendet sich von Familie und Freunden ab und nistet sich auf Vancouver Island ein. Vielleicht kann die atemberaubende Natur ihm neue Hoffnung geben? Oder etwa Ethan, sein attraktiver neuer Nachbar? Ethan sprüht vor Lebenslust und schafft es tatsächlich Oliver aus seiner dunklen Welt zu befreien. Doch gerade als Oliver wieder an das Glück zu glauben beginnt, holt die Vergangenheit sie ein. Die beiden ahnen nicht auf welch unheilvolle Weise sie miteinander verbunden sind …

Corinna Bach

Vancouver Hope

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever. Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95818-108-3  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kapitel 1

Der dröhnende Lärm eines Wasserflugzeugs riss Oliver aus seinen Gedanken. Er hätte sie nicht benennen können, so flüchtig und wirr waren sie. Gedanken eben, mit denen man sich bestimmte Erinnerungen vom Leib hielt. Die Sonne blendete. Er hielt die Hand zum Schutz über die Augen und sah dem behäbigen Start der Maschine zu. Die schneeweiße Beaver glitt aus dem Hafenbecken von Victoria hinaus und löste sich mit einem knatternden Grollen von der blau funkelnden Wasseroberfläche. Ihr Schatten glitt über die nördlich des Hafens liegenden Appartementhäuser. Oliver ließ seine Hand wieder sinken. Die Passagiere hatten vorhin ihre Koffer selbst eingeladen, hinein in die Kabine, in die dicken Kufen und überall dorthin, wo Platz war.

Jetzt flogen sie wahrscheinlich nach Vancouver. In die Stadt, in der Oliver nie wieder sein wollte. Allein der Name entfachte erneut ein schmerzliches Gefühl, das vom Kopf bis in den Bauch rollte. Das geht vorbei, alles geht vorüber, es geht mir gut, dachte er beschwörend, während er versuchte, der Bahn des kleiner werdenden Flugzeugs mit seinen Blicken zu folgen.

Allmählich verebbte das Motorengeräusch und ließ Raum für den wehmütigen Gesang eines Straßenmusikers, der unterhalb des Touristenbüros stand. Gitarrenklänge streichelten seine Seele. Passanten hatten sich auf die Stufen der Hafenpromenade gesetzt, einige hielten mit geschlossenen Augen die Gesichter in die Sonne und lauschten der Melodie. Er schluckte den Kloß im Hals hinunter und warf zwei Dollarscheine, die er noch in der Hosentasche fand, in den Gitarrenkasten.

Aber nun sollte er aufhören mit dieser Melancholie. Er lebte doch im Hier und Jetzt.

Hier – das hieß Victoria, Hauptstadt von British Columbia, Kanada. Und Jetzt – das war Ende Juni, Semesterferien. Und leben – das hieß momentan Langeweile, die ihm gefährlich werden konnte. Es zog ihn nach Vancouver, und dann doch wieder nicht. Irgendwie hasste er diese Stadt mit der gleichen Intensität, mit der er sie früher geliebt hatte. Wegen dieser verdammten Sache war er ins beschauliche Victoria umgezogen, musste sich an neue Studienfreunde und fremde Viertel gewöhnen. Von wegen Hauptstadt – eigentlich war Victoria, so bunt und lebhaft es sich auch gerade zeigte, ein Schlafmützennest. Abends tote Hose auf weiter Flur. Diese Stadt trug in seinem Bewusstsein noch keine Patina, sie roch noch neu wie ein gerade gekaufter Pulli, den man vor dem Tragen erst waschen muss. Egal, er hatte sich selbst hier angekettet. Er konnte ohnehin nicht so einfach ins Auto steigen und von dieser Insel verschwinden. Aber dort, auf der anderen Seite der Meeresenge, in Vancouver, waren sie so verdammt glücklich gewesen, David und er.

Inzwischen war er weiter gegangen, an den belebten Straßen entlang, die den Hafen von Victoria säumten. Die Sonne schien, es war ein heiterer Tag. Belleville Street, Quebec Street und dann kam bereits der grüne Park in Sicht, Fishermans Wharf. Kein Zweifel, Vancouver Island war schön, er kannte die Gegend aus seiner Kindheit. Er mochte das beständige, gute Wetter, den blauen Himmel, die pralle Natur, die sich ihm in jeder Bucht, in jedem Tal zeigte. Hier konnte man vergessen, zu Atem kommen, in sich gehen. Auch er würde es bestimmt bald lernen, das Vergessen.

Er näherte sich der westlichen Hafenseite und betrachtete die Stege und Holzhäuser, in denen Andenken, Fast Food und Touren angeboten wurden. Er freute sich über die Geranien, die in den Blumenkästen eines Hausbootes leuchteten. An einem Kai hoben sich runde Köpfe aus dem Wasser, worauf einige Kinder vor Begeisterung kreischten: Zwei Seehunde fraßen sich hier Speck an, mit allem, womit sie gefüttert wurden. Oliver wollte schon über den unerwarteten und putzigen Anblick lächeln, als das nächste Wasserflugzeug seinen Motor aufheulen ließ. Wieder ein Flug nach Osten. Mit aller Kraft zog sein altes Leben an ihm, wollte ihn zurückzerren wie ein emotionales Gummiband, dem er nicht gewachsen war. Er starrte zum rot lackierten Flugzeug. Das Vergessen war weitaus schwerer als erwartet.

Eine Ablenkung musste her, einige neue Eindrücke würden ihm gut tun. Der Whale Watching-Anbieter, der rechts von ihm eine kleine Hütte in ein Büro umgewandelt hatte, war seine Rettung. Es standen bereits Touristen auf dem Steg, die auf die Fahrt warteten. Die Urlaubssaison hatte noch nicht begonnen, doch in vier Wochen würde es hier vor Amerikanern und reichen Chinesen nur so wimmeln. Er trat an den Schalter und löste eine Fahrt mit dem Katamaran. 75 Dollar, nun, das war es ihm wert. Einen halben Tag lang keine Erinnerungen.

»Haben Sie keine Jacke dabei, Sir?«, fragte die freundliche Angestellte.

Eine Jacke im schönsten Sommerwetter? »Wozu? Ist doch schön warm heute Morgen.«

Da zog sie nur die Augenbrauen hoch und lächelte wissend. Ein in wetterfeste Ausrüstung gekleideter Mann rief sie alle zusammen und ging ihnen voraus zu einem schicken Katamaran, schnittig und hell. Olivers Herz schlug schneller. Er war noch nie länger auf dem Meer gewesen, einerseits weil seine Eltern sofort seekrank wurden und sich kaum auf eine Fähre trauten, andererseits, weil er lieber mit seinem Motorrad unterwegs war und sich den Fahrtwind um die Nase wehen ließ. Doch das Bike stand leider noch in der Tiefgarage in Vancouver.

Na ja, Meer konnte man die Straße von Georgia wohl auch nicht nennen, es war ja nur die Wasserstraße, die Vancouver Island vom kanadischen Festland trennte. Und doch wurde ihm mulmig, als der Angestellte des Anbieters nach den Sicherheitshinweisen erklärte, dass man sich keine Hemmungen auferlegen solle, wenn man sich übergeben müsse. Das sei nur menschlich und normal. Hm, mal sehen, was er so an Wellengang aushielt.

Da bemerkte er einen Mann in seinem Alter, der ihn beobachtete und wohl seine verblüffte Miene beim Zuhören gesehen hatte. Seine kurzen dunkelblonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen, kaum gebändigt von der Sonnenbrille, die er zurückgeschoben hatte. Er trug gerade eine Kiste und kam auf ihn zu. Das Lächeln des Mannes war Oliver ein wenig peinlich, auch wenn es ihm wider Erwarten gefiel. Er wandte seinen Blick ab, betrat fast als Letzter das Boot und sah sich um. Im windgeschützten Innenraum luden Polsterbänke zum Sitzen ein. An den beiden Seiten des Bootes führten schmale Leitern hinauf zum Steuerstand und nach vorne zum Bug. Als er ein wenig unentschlossen an seinen Lippen nagte, sah er den jungen Mann wieder, der nur zwei Schritte entfernt mit einer Leine hantierte. Wieder lächelte der Typ ihm zu. Er sah gut aus, braungebrannt, schlank und muskulös, einen halben Kopf kleiner als er selbst. Dachte der etwa, er sei zu feige, um nach oben zu klettern? Mitnichten. Kurz entschlossen enterte er die Leiter und kletterte in den Steuerstand, wo eine Handvoll Plätze frei war. Der Mann am Steuerrad trug eine Kappe und eine Windjacke und plötzlich wurde sich Oliver bewusst, dass er selbst wirklich etwas unpassend gekleidet war. Er würde notfalls wohl einen Schnupfen in Kauf nehmen müssen.

Sie legten ab, konzentriert steuerte der Mann das Boot aus dem Hafenbecken hinaus. Oliver lehnte sich zurück, genoss das leise Grollen des Motors und die Sonne auf seiner Haut. Zum Glück hatte er seine Sonnenbrille dabei, denn die Helligkeit brach die Wasseroberfläche in tausend Diamanten. Langsam umrundete das Boot die Halbinsel von James Bay, passierte eine in den Hafen einlaufende Fähre und gelangte allmählich in offene Gewässer. Eine Reihe weißer Wolken säumte den südlichen Horizont, doch der Gipfel des Mount Olympus stach weiß aus ihr hervor. Dort lag der US-Bundesstaat Washington, einmal spucken und er war in den USA. Der Wellengang nahm zu, das Boot schlingerte, so dass Oliver tatsächlich eine leichte Übelkeit zu spüren glaubte. Der Steuermann erklärte, dass die Ein- und Ausfahrt des Hafens wegen zweier Meeresströmungen eine kitzelige Angelegenheit sei. Plötzlich röhrte der Motor auf, denn der Steuermann zog einen Hebel zu sich heran und der Katamaran nahm Fahrt auf. Oliver fühlte den harten Wind auf seiner Haut und genoss das Prickeln der Gischt. Buchten, Felsen und kleine Inseln zogen an ihm vorbei. Nach wenigen Minuten gab der Steuermann noch einmal so richtig Gas, so dass Oliver in den Sitz gepresst wurde und vor Wonne beinahe gejauchzt hätte. Ein Wahnsinnsgefühl, fast wie auf seinem Bike. Er streckte den Kopf in den Wind, dann wurde er mutiger und stand auf. Beide Hände fest um das Geländer gekrallt, kletterte er eine Stufe weiter und ging vorsichtig zum Bug des Katamarans, wo er sich in den Wind stemmte und sich eins fühlte mit den Elementen. Er war nicht der einzige, der die Fahrt genoss. An einer der beiden Spitzen stehend, spürte er die Reling aus Edelstahl an seinen Hüften. Das dunkle Wasser unter ihm wurde vom Rumpf des Schiffes zerteilt. Oliver schloss die Augen, gab sich dem euphorischen Gefühl hin, einem Gefühl, das er lange Zeit nicht mehr empfunden hatte. Dabei war es nur ein halbes Jahr her, seit David und er eine ihrer schönsten Nächte erlebt hatten. Das knisternde Feuer im Kamin, das gemütliche, rustikale Bett. Winter in Alaska, flirrend vor Kälte und Sonnenstrahlen. David. Warum konnte Oliver nicht loslassen? Hastig wandte er sich um, ging langsam zurück. Ihm war tatsächlich kalt geworden, seine Arme zeigten eine Gänsehaut. Als er beim Hinabklettern der Stiege dem Schwung einer plötzlichen Lenkbewegung folgte, stieß er gegen den Typ mit dem kurzen Haar, der ihn sofort auffing.

»Sorry«, murmelte Oliver und verdrängte die überraschend lebendige Wärme des anderen Körpers. Mit einem verlegenen Lächeln floh er in den Innenraum. Doch auch hier war er nicht allein, um seinen Gedanken nachzuhängen. Die zumeist älteren Herrschaften saßen munter beisammen und betrachteten laminierte Fotos riesiger Walflossen. Auf jedem Bild war eine Nummer angegeben und Oliver erinnerte sich, gehört zu haben, dass man anhand der Flossen Wale identifizieren konnte.

»Das sind die Wale, die man hier öfter sieht«, sagte eine angenehme Stimme hinter ihm. Oliver hatte sich gerade setzen wollen, doch nun fuhr er herum und sah in das Gesicht des Mannes, in dessen Arme er gefallen war. Er roch nach Salz und einem Hauch von Rasierwasser. Unwillkürlich sog er den Duft noch tiefer ein, denn der Mann drückte sich nah an ihm vorbei, um in eine Kiste zu greifen, die in einem Regal stand. Er holte eine Fleecemütze heraus, setzte sie sich auf das wirre Haar und zog sich außerdem Handschuhe an. Dann drehte er sich um und warf Oliver eine graue Windjacke mit dem Logo des Anbieters zu.

»Hier. Wir leihen die aus. Auch Mützen und Handschuhe. Greif zu, wenn dir kalt wird.«

»Danke«, sagte Oliver perplex und zog sich die Jacke an. Sofort fühlt er sich wohl und warm, gestärkt durch einen Panzer, so schien es. Der Mann nickte zufrieden und verschwand nach draußen. Zögernd ging Oliver zum Regal und wühlte ein wenig in der Kiste herum, um eine passende Mütze zu suchen. Neu eingekleidet betrat er das Heck und setzte sich auf eine breite Bank, um den weißen Heckwellen nachzusehen. Sie zogen einen weiten Kreis, sobald der Steuermann das Boot verlangsamte und beidrehte, um den Gästen Robben und Seeadler zu zeigen. Klippen und Wald, Buchten und Fjorde, unzählige Inseln, auf denen niemand wohnte. Das Paradies.

Dann hörte er die Ansage durch den Lautsprecher, dass andere Boote bereits Wale gesichtet hätten, so dass sie sich nun auf den Weg machen würden, um sie ebenfalls zu erwischen. Es war die Stimme des jungen Mannes, erkannte er, und irgendetwas drängte Oliver, seinen Namen zu erfahren. Doch er wischte den Gedanken weg.

Es waren bestimmt zwei Stunden vergangen, die Zeit war nicht mehr wichtig. Oliver fühlte sich wohl. Er plauderte mit einer Frau aus Deutschland und einem älteren Mann aus England, dann wieder ging er zum Bug, um die sich verbreiternde Meeresenge zu betrachten, auf der bald große Fähren kreuzten. Vancouver – dort lag es, die großen Kräne des Hafens kamen schon in Sichtweite. So weit nach Norden waren sie gefahren, es schien, dass sie nur noch wenige Minuten bräuchten, um anzulegen. Doch die Stadt war nicht das Ziel der Tour, sein Herz war wieder mal schneller als seine Gedanken.

Mit einem Mal wurde die Stimmung aufgeregt, die Passagiere hoben ihre Ferngläser und suchten das Wasser ab. Zahlreiche Zodiacs und andere Aussichtsboote kamen heran und steuerten eine Stelle an, wo bereits drei Boote schaukelnd auf den Wellen warteten. Die Mitarbeiter hatten Megaphone umgehängt und suchten konzentriert mit dem Fernglas den Horizont ab. Da – Oliver hielt den Atem an. Eine Fontäne weißen Nebels erhob sich ungefähr 300 Meter entfernt von ihm in die Luft und zerfiel. Die Passagiere riefen und wiesen auf den Wal. Dann noch eine Fontäne – es waren zwei Buckelwale, wie der junge Mann mit leuchtenden Augen in die Flüstertüte rief. Entzückte Ausrufe erfüllten die Luft, als sich ein runder schwarzer Rücken aus den Wellen erhob, begleitet von einem anderen schwarzen Rücken. Der Anblick bescherte Oliver einen Schauder. Sie schwammen mitten durch die Fährschiffrouten. War das nicht gefährlich für die Tiere? Die Gäste schrien auf, als sich die zwei Fluken plötzlich steil stellten und in die Tiefe rasten – die Wale tauchten ab.

Das Klicken der Fotoapparate war allgegenwärtig, hochgereckte Arme mit Handys, Zeigefinger und Rufe überall.

»Nun tauchen sie ab und es kann eine Weile dauern, bis wir sie wiedersehen«, erklärte der junge Mann auf dem Bug, während seine Kollegin das Gleiche den Menschen am Heck verkündete.

»Wenn man ihre Rücken sieht, schwimmen sie voran, wenn man die Fluken sieht, tauchen sie.«

Diese und weitere Weisheiten erfuhr Oliver und als seine Augen schließlich vom Starren auf das Wasser wehtaten, drehte er sich um und betrachtete den Sprecher. Dieser schien in seinem Element zu sein. Immer wieder sah er sich um, erklärte gleichzeitig das Fressverhalten der Tiere, grinste über alle vier Backen und – zwinkerte ihm zu. Oliver drehte sich abrupt um. Nein, keine Anmache, nur das nicht! Er stellte sich an die Reling, starrte ins Wasser. Plötzlich schnaufte es laut unter ihm, er zuckte zusammen. Oliver riss die Augen auf und erkannte knapp unter der Wasseroberfläche eine dicke, anthrazitfarbene Haut, mit feinen Rissen und Pickeln übersät. Der Wal, fast direkt unter seinen Füßen! Nun hob der Rücken sich ihm entgegen! Ein Schauder lief über seinen Köper. Die Gäste quiekten um die Wette, alle stürzten auf die Backbordseite, um das Ungetüm zu fotografieren. Doch Oliver hatte keinen Blick für die Aufregung hinter ihm. Ihn berührte der Zauber dieses lebenden Urgesteins, mit dem er fast Auge in Auge gestanden hatte. Er bewunderte die Stärke und Kraft, die Lässigkeit, mit welcher der Wal sich nun wieder vom Boot entfernte. Kraftvolles Leben schwamm dort, geleitet von einem sicheren Instinkt, kaum von Zweifeln und Ängsten geplagt. Mit einem Mal stand der junge Mann neben ihm, sein begeisterter Blick hing an dem Tier, der Mund war leicht geöffnet vor Erregung. Wieder ein Schnaufen, da kam der zweite Wal hinzu. Oliver glaubte, die feinen Tröpfchen aus dem Luftloch auf seiner Haut zu spüren. Wal-Spucke!

»Unglaublich«, flüsterte er.

»Ja, nicht wahr?«, sagte der Mann, ohne ihn anzusehen.

Drei Stunden später umklammerte Oliver die Tüte, die er bei einem späten Einkauf mit Tomaten und einem Kopfsalat gefüllt hatte, und wandte sich vom Supermarkt des Bay Centers aus nach Norden. Langsam schlenderte er durch die Straßen, in denen sich der Lärm an den hohen, glänzenden Fassaden der Bürogebäude und Shopping Malls brach. Er war erschöpft, doch die Bilder des Tages wirkten immer noch nach. Luft, Sonne, Wasser, Wale! Es war schön gewesen und er bereute keine Sekunde seines Ausflugs. Bei Tim Hortons war es wieder voll und er verdrängte seinen Kaffeedurst. Lieber in seinem Appartement eine Tasse aufbrühen und die Beine hochlegen.

Es war noch ein weiter Weg bis zur Pandora Avenue. Seine Zunge nahm den salzigen Geschmack der pazifischen Luft wahr. In Gedanken versunken ging er die Straße entlang. Auspuffgase lösten den Salzgeschmack ab und er war froh, als er endlich vor dem Appartementhaus stand und die Tür aufschloss. Leider empfing ihn im Treppenhaus fast ebensolcher Lärm wie auf der Government Street zur Rush Hour.

Die Granitstufen waren mit Reißwolfmaterial bedeckt und im ersten Stock schimpfte der Hausmeister, ein Native mit brauner Haut und tiefdunkler Stoppelfrisur. Sein breites Gesicht glühte vor Erregung.

»Mr. Grover, was ist denn hier passiert?«

»Ach verdammich, Mr. Scott, kaum ist der neue Mieter da, geht der Ärger los. Die Umzugskartons sind kaputt und die Füllungen herausgefallen. Überall diese Sauerei. Und ich darf es wegmachen.«

»Das tut mir wirklich leid«, murmelte Oliver und drückte sich an Mr. Grover vorbei, der sich den Nacken rieb und auf die Stufen starrte. Er sah die indianischen Tätowierungen auf dem Handrücken aufblitzen und überlegte für einen Moment, ob er nicht einen Besen holen und helfen sollte. Doch dann ging Mr. Grover hinaus, so dass Oliver die letzten Stufen zu seinem Appartement hinaufstieg. Der Tag war doch anstrengender gewesen als gedacht. Was ihn aber interessierte, war die Identität des neuen Nachbarn, der seit einem Tag versuchte, all seinen Kram unterzubringen. Er warf einen Blick in den Spalt, den die angelehnte Tür bot, konnte aber nur helle Wände erkennen und eine offene Werkzeugkiste. Er schloss seine Tür auf und trat ein. Sicher war der Typ von nebenan ein Angestellter oder ein langweiliger Beamte, der bei irgendeiner der zahlreichen Behörden arbeitete. Diese Wohnungen waren nicht billig, daher schied ein Student wohl aus. Grandpas Erbteil war es zu verdanken, dass er sich über diese Dinge keine Sorgen machen musste. Er hatte vor zehn Wochen auch gar nicht ernsthaft versucht, eine günstigere Wohnung zu finden. Ihm war alles egal gewesen, nach Davids Tod vor vier Monaten.

Verflucht, warum dachte er nach einem so schönen Erlebnis wieder ständig an David? Wahrscheinlich, weil ihm aufgegangen war, dass er nie wieder Dinge mit ihm teilen konnte. Deshalb war er ja aus Vancouver geflohen: vor den Erinnerungen. Er wollte alles hinter sich lassen, neu beginnen, sich ablenken von dem tiefen Schmerz, der sich in seine Brust gefressen hatte. Noch merkte er nichts von einer Veränderung in seinem Empfinden. Er fühlte sich immer noch dünnhäutig, verletzlich und manchmal so hilflos. Gut, er musste sich Zeit lassen. Bald würde sich eine gewisse Gewohnheit einstellen, doch bis dahin konnte man schon mal etwas durcheinander sein. Eine leise Welle der Zuversicht erfüllte ihn. Er stellte den Kaffeeautomaten an, der sich ratternd reinigte und Bereitschaft signalisierte.

Mit dem Kaffee in der Hand legte er die Füße auf den Balkontisch, streckte sich aus und starrte in die weißen Wolken. Hier und da die Spitzen von Zedern oder Kiefern, manchmal zerschnitt ein Kondensstreifen den Himmel. Dann prüfte er auf dem Handy den Eingang neuer Nachrichten. Seine Mum, seine Schwester Jessica, allgemeine Fragen zum aktuellen Befinden. Sein Vater rief nur hin und wieder mal an, wenn es sein Job als Bankdirektor in Vancouver zuließ, aber dann plauderten sie umso länger, als spürte er Olivers Heimweh. Die restlichen Kontakte zu Freunden hatte er schweren Herzens gelöscht. Er hatte Sorge, dass sie ihn ständig fragen würden, wie es ihm ginge. Wenn es ihm besser ging, würde er sich wieder melden, hatte er ihnen gesagt.

Als es an der Wohnungstür klingelte, zuckte er zusammen. Wer würde ihn um diese Zeit besuchen? Niemand, den er kannte, wohnte in Victoria. Vermutlich Mr. Grover. Er seufzte und hievte sich aus dem Liegestuhl, so unbeholfen, als wäre er plötzlich um 20 Kilo schwerer geworden. Schwer wie ein Wal, dachte er und bereitete sich innerlich darauf vor, nun doch den Besen in die Hand nehmen zu müssen. Ohne durch den Spion zu sehen, öffnete er die Tür. Vor ihm stand nicht der Hausmeister, sondern ein Mann. Mittelblondes, verstrubbeltes Haar, ein Streifen Dreck oder Staub zog sich über seinen rechten Wangenknochen. Blaue Augen blitzten aus einem schmalen Gesicht. Er trug ein oranges Muskelshirt, doch auch ohne Windjacke und Sonnenbrille erkannte Oliver ihn sofort – der Bootsjunge, ja, das war eine gute Bezeichnung.

»Ach, du?« Der Mann hielt inne und leckte sich über die Lippen. »Hm, sorry, ich wollte nicht stören, aber du bist bestimmt Oliver Scott, oder?«

Seine Stimme hatte ihm schon auf dem Boot gefallen. Sofort legte er innerlich den Rückwärtsgang ein. Der Kerl interessierte ihn nicht die Bohne, nein, natürlich nicht.

»Na so was«, gab Oliver lapidar zurück. »Was ist denn?« Hatte er vergessen, die Windjacke abzugeben? Nein, alles war an Bord geblieben, auch die Mütze.

Der Bootsjunge presste mit beiden Händen Werbebroschüren und Briefe an seine Brust. »War eben auf dem Postamt. Die haben wohl versehentlich falsch sortiert. Post für dich.« Er hantierte umständlich mit den Briefen herum, legte einen Schraubenschlüssel auf Olivers Kommode im Eingangsbereich und konnte dann endlich zwei Umschläge überreichen.

»Oh … Danke.«

Das durfte ja wohl nicht wahr sein – er war der neue Nachbar! Definitiv kein Regierungsbeamter.

»Ich habe Mr. Grover gefragt und der sagte, dass du hier wohnst. Ich bin Ethan, von nebenan. Ethan Clark.« Als er auf die Tür hinter ihm wies, erblickte Oliver ein kleines Wal-Tattoo auf der Innenfläche von Ethans Handgelenk, ein Orca, dessen Fluke seltsamerweise mit drei Zacken versehen war. Der Schweiß brach ihm aus, aus heiterem Himmel. Eine Panikattacke konnte er jetzt nicht gebrauchen, doch davon abgesehen: Was hatte sie ausgelöst?

»Oliver«, presste er seinen Namen heraus und atmete tief ein. Die Panik ebbte langsam ab. »Aber das weißt du ja schon.«

Sie schüttelten sich kurz die Hand. Ethans Handfläche war ein wenig verschwitzt. Oliver sah auf die Briefe in seiner Hand. Auf den ersten Blick erkannte er auf einem das Logo des VPD. Sofort setzte der Schwindel wieder ein, sein Atem ging schneller. Ein Brief von der Polizei – wegen Davids Tod. Sollte er eine weitere Aussage machen? Die Nachricht, dass man den Täter gefunden hatte? Er hielt sich an der Türklinke fest. Seine Knie wurden weich.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ethan voll Anteilnahme und fixierte ihn mit seinem Blick.

»Ja, nur – schlechte Neuigkeiten, denke ich«, sagte Oliver und hob ermattet die Briefe hoch. Ein kläglicher Scherz. Das dachte wohl auch Ethan, denn dieser griff ihm unter den Arm. »Geh lieber und setz dich. Hast du genug getrunken?«

»Ja ja, es ist alles gut. Nochmals Danke und Bye!«

Oliver wandte sich ab, warf die Tür ins Schloss und lehnte sich an den Türrahmen. Was fiel diesem Ethan überhaupt ein? Er brauchte doch nicht den Aufpasser zu spielen! Oliver beruhigte sich und spürte, dass die Verärgerung über Ethans Einmischung seinen Schwächeanfall verdrängt hatte. Sein Atem ging ruhiger und als er den Brief mit dem Zeigefinger öffnete, zitterte seine Hand kaum noch. Der Umschlag enthielt nur die Kopie eines teilweise geschwärzten Polizeiberichtes, um den er gebeten hatte, und einen kurzen Vermerk des leitenden Detective Peter Madison: »Wir bleiben am Ball, viele Grüße aus Vancouver.«

Er seufzte. Seit Februar war David nun tot und es gab keine neuen Erkenntnisse. Er konnte die Hoffnung allmählich aufgeben. Worauf sollte er auch hoffen? Es würde David nicht wieder lebendig machen.

Da hörte er ein leises Klopfen an der Tür. Er verdrehte die Augen und riss die Tür auf. Vor ihm stand Ethan mit einer Flasche Sekt und zwei Sektgläsern.

»Hm, es tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gehe, aber hier ist ein kleiner Kreislaufanreger. Magst du?«

Mit einem leisen Prickeln schoss der Sekt in das erste Glas, die Perlen hüpften und tanzten über den Rand hinaus. Mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet. Oliver konnte nicht anders, als verwundert das Glas entgegenzunehmen, so dass Ethan lächelte und das zweite füllte. »Auf gute Nachbarschaft.«

Zum Glück verzichtete sein neuer Nachbar auf das Anstoßen, es wäre ihm auch peinlich gewesen. Oliver ertappte sich dabei, sein Gegenüber zu mustern, während der erste Schluck seine Kehle hinunter rann und einen süßen Geschmack hinterließ. Ethan wirkte wie ein gut gebautes, sehniges Wiesel. Und jetzt sah er auch, dass seine Augen eine indianische Anmutung hatten, kaum spürbar, irgendwie entzückend. Nun schloss Ethan die Lider, um das Glas zu leeren, und mit einem Mal spürte Oliver ein leises Verlangen, während er die langen Wimpern betrachtete. Sein Atem ging heftiger und schnell drückte er Ethan das noch halb volle Glas in die Hand. Dann stieß er ein heiseres »Danke« aus, warf erneut die Tür zu und ging ins Wohnzimmer, aufgewühlt, verwirrt und wütend auf sich selbst. Er legte einige Schritte zurück, hin und her, immer über den langflorigen Teppich, während er sich einredete, dass die Empfindungen, die er gerade gespürt hatte, dummes Zeug waren. Sowohl die Angstzustände wegen Davids gewaltsamen Todes als auch die seltsame Erregung beim Anblick von Ethans sanften, geschlossenen Augen. Alles Unsinn. Er lebte und er lebte gut. Er war jung und unabhängig, nagte nicht am Hungertuch und war gesund. Was wollte er mehr? Sofort flüsterte ihm die innere Stimme wieder einen Namen zu: David. Ja, er wollte David. Und es war normal, dass er selbst mit zeitlichem Abstand noch trauerte. Völlig normal. Doch das mit Ethan, das war nicht normal, und er wollte dieses Gefühl nie wieder spüren. Sein Blick fiel in die Küche, wo ihm rote Tomaten entgegenleuchteten. Er würde sich jetzt ein paar Croutons rösten und Salat essen. Und dann würde er warten, bis es Abend wurde, und sich mit einem netten Antidepressivum ins Bett begeben. Eine tolle Aussicht.

***

Klarer hätte die Abfuhr kaum sein können. Mit einem Seufzer klemmte Ethan sich die Sektflasche unter den Arm, um mit der freien Hand nach seinem Schlüssel zu greifen. In seiner kahlen, ungemütlichen Wohnung angekommen, stellte er den Sekt, den er von Freunden zum Einzug geschenkt bekommen hatte, in den summenden Kühlschrank der Einbauküche. Wenigstens etwas, das funktionierte. Er grinste vor sich hin. Der frierende Mann vom Boot, der Mann, der ein wenig einsam und verloren gewirkt hatte. Das war ja eine Überraschung gewesen. Er sah immer noch nett und äußerst appetitanregend aus. Die Sache mit dem Sekt hatte zunächst auch funktioniert, doch dann hatte Oliver verdammt arrogant reagiert. Als wäre Ethan nur ein Bootsjunge, der die Planken schrubbt. Naja, das war er ja auch. Trotzdem, nach einer guten Nachbarschaft, geschweige denn Freundschaft sah das nicht aus. Nachdem er auch Olivers Glas mit einem Schluck geleert hatte – nur nichts verkommen lassen – raffte er seine letzte Motivation zusammen und wuchtete die Tischplatte in die Ecke, die er als Essbereich vorgesehen hatte. Er musste nur noch die Beine anschrauben, also die Platte sofort richtig herum legen, damit er an die Löcher herankam. Er kniete sich auf das Parkett. Bein ansetzen, Schraube durchstecken, Mutter eindrehen, Schraubenschlüssel – nein, diese Größe fehlte plötzlich in seiner Werkzeugkiste. Dabei hatte er ihn vorhin noch in der Hand gehabt. Er überlegte, was er mit ihm angestellt hatte – und ließ sich auf die Fersen sacken. Nein, das konnte jetzt nicht wahr sein. Das Werkzeug, das er am häufigsten benötigte, befand sich auf der Kommode in Olivers Flur. Mit einem Stöhnen rappelte er sich auf. Nochmal klopfen? Oliver würde ihm den Kopf abreißen. Doch was hatte er für eine Wahl? Dann war es eben endgültig vorbei mit der freundlichen Nachbarschaft. Da kam ihm Mr. Grover in den Sinn. Er lauschte im Flur nach dem brummenden Hausmeister. Doch dieser hatte seine Aufräumarbeiten, die er Ethan zu verdanken hatte, hinter sich gebracht und war offenbar heimgegangen. Ethan konnte ihn also nicht um das Werkzeug aus seinem Bestand bitten. Wahrscheinlich hätte Mr. Grover ihm sowieso nichts geliehen.

Ethan musterte die weiße Türfläche, hinter der Oliver vielleicht vor sich hin grübelte. Verdammt, was war so schlimm daran, noch einmal zu klingeln? Der Typ war zwar definitiv eigenartig, aber er sah ganz und gar nicht übel aus mit seinen dunklen Haaren und dem Anflug von Bartstoppeln am Kinn. Und mit welcher Faszination er die Wale betrachtet hatte – das war ihm sympathisch gewesen. Eine Weile dachte er an ihre Begegnung. Dann trat er einen Schritt nach vorn, und noch einen. Nun hätte er klopfen können. Er lockerte seine Finger und sandte ein dezentes Trommeln durch das Holz. Keine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen. Hatte Oliver etwa vor der Tür gewartet? Ihn die ganze Zeit beobachtet?

»Was willst du?!«, rief Oliver und sah definitiv verärgert aus. Seine braunen Augen waren drohend zusammengekniffen. Ethan konnte nicht anders, seine jähzornige Ader sprang sofort in den Full Pull-Modus. Dieser Idiot! Er versetzte Oliver einen Stoß vor die Brust.

»Jetzt reicht's«, motzte Ethan. »Ich lasse mich nicht von dir anschnauzen, nur weil du schlechte Laune hast!«

Er machte einen Schritt nach vorn und wollte gerade nach seinem Schraubenschlüssel greifen, als Oliver, der sich das Kinn hielt, leicht in die Knie ging und ihn mit einem Bodycheck so stark rammte, dass er ins Treppenhaus zurückstürzte und auf die Fliesen prallte. Vor seinen Augen tanzten Sterne und er rang nach Luft, die der Anprall ihm genommen hatte. Doch sofort hechtete er wieder nach vorn, halb auf den Knien, umfasste Olivers Oberschenkel wie einen Baumstamm und riss an ihnen. Im Nu lagen sie beide auf dem Boden, versetzten sich Schläge und kniffen sich, rollten hin und her und versuchten, sich gegenseitig in den Schwitzkasten zu nehmen.

»Arschloch!«, keuchte Oliver.

»Mistkerl«, krächzte Ethan, der gerade in Bedrängnis kam, weil sich Olivers Arm um seinen Hals schlängelte. »Ich wollte nur meinen Schraubenschlüssel holen, Mann.«

»Vergesslich bist du auch noch«, hörte er Oliver, doch er spürte, wie der Griff nachließ und sein Gegner sich halb auf ihm sitzend aufrichtete. Die Wärme von Olivers Beinen konnte er deutlich an seinen Schenkeln spüren, sie durchdrang sein Innerstes und wenn er nicht gerade in der Defensive gewesen wäre, hätte er sich erlaub, für einen Moment genüsslich die Augen zu schließen. Oliver wischte sich über die Stirn, seine Gesichtszüge waren verzerrt und er atmete heftig. Der Junge war stark, aber irgendwie nicht mehr im Training, befand Ethan. Er hob ergeben die Hände. Oliver betrachtete ihn immer noch ein wenig misstrauisch. Verdutzt würde es vielleicht besser treffen. Dann trat für einen kurzen Moment Verlegenheit in seinen Blick. Oliver trug eine Narbe am Kinn, die ihn verwegen wirken ließ. Ob er auch schwul war? Sein Radar hatte bereits auf dem Boot einen Treffer angezeigt, doch man konnte sich auch mal irren. Trotzdem musste er sich vorsehen. Vielleicht war Oliver ja durchgeknallt, einsam, paranoid, ein verrückter Totschläger, der einen auf tierlieb machte und jetzt die Pistole aus dem Hosenbund holte.

»Kriege ich jetzt den Schraubenschlüssel?« Ethan setzte sich auf den Hosenboden, als Oliver sich zu seiner Erleichterung von ihm löste und aufstand. Er langte durch die Tür und warf ihm das Werkzeug vor die Füße. Ethan nahm es an sich, ohne auf die missbilligende Geste zu reagieren, und erhob sich.

»Mann, du bist vielleicht drauf. Mir einfach eine zu knallen. Du spinnst wohl! Hast du jetzt alles? Ist dein Kopf noch dran oder hast du den auch vergessen?«, knurrte sein Nachbar.

»Ich denke, beim nächsten Mal werde ich mit deinen Briefen den Kamin anzünden. Dafür sind sie vielleicht noch zu gebrauchen«, gab Ethan zurück und drehte den Schlüssel in seiner Hand, um nicht wieder auszuholen.

»Mach doch. Sind ja nur Rechnungen.« Sie standen einen Meter auseinander und sahen sich an. Olivers Lippen zuckten verärgert. Plötzlich wurde sich Ethan der unmöglichen Situation bewusst. Sie standen hier herum und spielten Kindergarten. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Ohne dass er es verhindern konnte, musste er grinsen. Oliver starrte ihn an und atmete tief ein, dann senkte er den Kopf und nickte vor sich hin.

»Na, dann kann ich ja jetzt weitermachen«, sagte Ethan, um dieses unglückliche Treffen abzuschließen. Er warf den Schraubenschlüssel in die Luft, fing ihn gekonnt wieder auf und ging zur Tür.

»Wenn du Hilfe brauchst …«, hörte er Oliver sagen und hielt erwartungsvoll im Türrahmen inne. Halb drehte er sich um, lauschte. »… dann klingle woanders!« Peng, Olivers Tür war zu.

Kapitel 2

Oliver stand auf, als er von lauter Musik geweckt wurde. Dass die Wände so dünn waren, hätte er nicht vermutet. Ethans Wohnzimmer grenzte an sein Schlafzimmer, doch warum man sich schon um 9 Uhr irgendwelche Heavy Metal-Klänge reinzog, verstand er nicht. Hatte Ethan noch nie etwas von Rücksichtnahme gehört?

Oliver vergaß unter der Dusche seinen Groll. Das warme Wasser löste seinen Unmut auf und entspannte ihn. Er rubbelte sich trocken, zog sich an und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne schien, wie meistens um diese Jahreszeit. Auf dem Balkon eines anderen Nachbarn machte sich gerade ein Kolibri über das Zuckerwasser her und war so schnell wieder verschwunden wie er gekommen war. Diese Winzlinge waren blitzschnell. Dass sie sich bis hierher in die Innenstadt wagten, erschien ihm bemerkenswert, und er beneidete diese Vögel um ihre Freiheit.

Beim Frühstück störte ihn ein Hämmern und Klopfen, das aus der bekannten Richtung kam. Mein Gott, war Ethan denn noch nicht fertig mit seiner Einrichtung? Offenbar konnte er sich keine Handwerker leisten und bastelte sich alles selbst zurecht. Das würde wohl noch ein paar Tage so weitergehen. Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihm der Gedanke, Ethan seine Hilfe anzubieten, doch sofort schnaubte er empört. Dabei fegte sein Atem einen Toastkrümel vom Teller. Seltsam, dass er Ethan, der es doch eigentlich gut meinte, so schlecht machte. Hatte er unbewusst Angst vor ihm und seiner unbekümmerten Art?

Eine halbe Stunde später hörte er eine Tür schlagen und Schritte im Flur. Er schlich zum Türspion und sah hindurch. Ethan hatte eine Arbeitstasche umgehängt und schloss die Tür ab, dann verschwand er im Treppenhaus. Wahrscheinlich unternahm er jeden Tag eine Tour auf das Meer. Beneidenswert.

Oliver begann, die Küche aufzuräumen und das Bett zu machen. Die Blumen verlangten nach Wasser und als er auf dem Balkon stand, atmete er tief die warme, nach Bäumen duftende Luft ein. Um 12 Uhr fiel ihm auf, dass er nicht ein einziges Mal an David gedacht hatte. Prompt zerriss es ihn, all die Erinnerungen überschwemmten sein Empfinden, als sei David dort oben im Himmel stinksauer darüber, dass er ihn für ein paar Stunden vergessen hatte. Unruhig legte Oliver seine üblichen Schritte über den Teppich zurück, um seine Gedanken zu ordnen. Da war etwas in ihm, was ihn seit Davids Tod nicht in Ruhe ließ. Ein Bild, verschwommen und unklar, düster und bedrohlich. Es hatte etwas mit dem gewaltsamen Tod seines Geliebten zu tun, das wusste er genau. Ein Blitz, ein Schock – er wusste weder, was er fühlen sollte, noch, was er überhaupt dort vor sich sah, obwohl er sich immer wieder das Hirn zermarterte. Er hatte schon mit seiner Therapeutin über diese seltsame Vision, die immer wieder mit gleicher Intensität auf ihn einstürzte, gesprochen. Diese sprach von einer verschütteten Erinnerung, einem Trigger gleich, der etwas in ihm auslösen würde, wenn das Bild eines Tages richtig an die Oberfläche gelangte. Je besser er Davids Tod verarbeitete, umso klarer würden auch die Erinnerungen wieder auftauchen. Doch dieses Bild war so mit Schrecken und Angst behaftet, dass er es gar nicht wiedersehen wollte. Hin und her, hin und her, der Teppich wies bereits eine Laufspur auf. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag. Er sah auf seine Uhr und bemerkte, dass er eine ganze Stunde lang auf und ab gegangen war. Sein Hemd war durchgeschwitzt, er fühlte sich ausgelaugt und verwirrt. Kein Wunder, er hatte vor lauter Gedanken an Ethans Musikgeschmack und Handwerkskunst vergessen, seine Tablette zu nehmen und sich für seine Therapiestunde vorzubereiten. Ethan – was er wohl gerade tat? Und warum zum Teufel interessierte ihn das? Verärgert ging er ins Bad und drückte die Tablette aus der Packung, die im Regal lag. Nachdem er sie mit einem Schluck Wasser eingenommen hatte, sah er sich im Spiegel an. Dunkle Ringe unter den Augen, blasse, feuchte Haut. Da konnte er ja sofort wieder duschen. Doch dafür war keine Zeit, und mit einem Seufzer rief er sich ein Taxi und verließ das Haus.

Dr. Anne Murrays Praxis lag im Esquimalt-Viertel auf einer Halbinsel westlich vom Stadtkern, in einer Sackgasse mit Blick auf die Meeresenge Gorge Water. Nachdem er das Taxi bezahlt hatte, stieg Oliver aus und tauchte sofort ein in den warmen, sommerlichen Duft von Rosen und Oleander. Mrs. Murray pflegte ihren Garten kaum merklich, so dass das mit niedrigen Hecken begrenzte Land eher einem verwunschenen Park glich, in dem sich Schmetterlinge an Brennnesseln gütlich taten und Bienen die üppig wuchernden Stauden befruchteten. Dieser Duft begleitete ihn in das Haus, das von mächtigen, rötlichbraun gestrichenen Zederstämmen getragen wurde. Hier und dort versteckten sich geschnitzte indianische Motive im Holz, was noch mehr zu der seltsam unwirklichen, aber stets entspannenden Atmosphäre des Anwesens beitrug.

Wie immer trug die schmale, etwa 40 Jahre alte Psychologin indianische Mokassins mit Perlenstickerei und eine dunkle Brille, die sie in das kurze Haar zurückgeschoben hatte. Die Leinenbluse war zerknittert. Zerstreut reichte die Therapeutin ihm die Hand und ging in den Raum voran, in dem Oliver sich bereits drei Mal befunden hatte.

»Wie geht es Ihnen, Oliver? Schon ein bisschen eingelebt?«

Er setzte sich in einen bequemen Ledersessel, der seine Arme wie von selbst aufnahm. Sogar den Kopf konnte er anlehnen. Sein Blick fiel auf ein Gemälde, ein Sternenhimmel irgendeines europäischen Malers, dessen Blau einen angenehmen Kontrast zu den in mattem Orange gestrichenen Wänden bildete.

»Eingelebt? Ja, es geht. Hab einen neuen Nachbarn.«

»Nett?«

»Hm. Ganz ok. Ist so alt wie ich.«

»Sie haben schon miteinander gesprochen?«

Sprechen konnte man es nicht nennen, dachte Oliver, doch er nickte.

»Wie sind die Nächte? Schlagen die neuen Medikamente an?«

»Noch nicht so richtig. Ich habe immer noch Alpträume und diesen immer gleichen Erinnerungsfetzen.«

»Möchten Sie wirklich nicht, dass wir mal eine Hypnose versuchen?« Dr. Murray sah ihn herausfordernd an, sie schien regelrecht begierig darauf zu sein, ihr Können unter Beweis zu stellen, und er hatte auch schon ermutigende Berichte gehört. Doch etwas in ihm sperrte sich.

»Nein, ich will das nicht. Nicht noch mehr …« Er suchte nach Worten. »… Kontrollverlust. Ich will das im Griff haben, immer, verstehen Sie? Nicht loslassen, nicht vergessen. Ich will das alles manchmal gar nicht verarbeiten und abhaken, auch wenn ich dafür hergekommen bin. Ich habe solche Angst, dass es sonst umso schlimmer wird mit mir.«

Allein der Gedanke an seine Hilflosigkeit machte ihn verrückt. Schweiß trat auf seine Stirn und er knetete seine Finger. Dr. Murray, die nah bei ihm auf einem Stuhl saß, legte ihm die Hand auf den Unterarm. Sie trug einen breiten silbernen Ring mit einem hellblauen Stein. Die Berührung linderte seine Erregung, er atmete langsamer und sah in ihr ruhiges, von leichten Augenfalten geziertes Gesicht.

»Sie versetzen sich in eine starre Kontrollhaltung. Das ist nicht gut. Sie können es nicht beherrschen und werden daran zerbrechen, wenn Sie es versuchen.«

»Aber ich kann die Träume nicht gewinnen lassen.«

»Surfer lassen sich von großen Wellen überrollen und reiten dann auf der nächsten«, entgegnete Dr. Murray.

Eine schöne Vorstellung, doch es war undenkbar, sich von Träumen, Bildern und Panikattacken überrollen zu lassen.

»Ich bin noch nicht soweit«, sagte Oliver und ließ seinen Kopf hängen.

»Sie wollen David nicht loslassen und auch nicht den Schmerz, der sie miteinander verbindet.«

»Nein«, flüsterte Oliver und wischte sich über die Stirn. Trotzdem tat es gut, darüber zu reden. Dr. Murray sah ihn aus braunen Augen prüfend an und lächelte.

»Ist der Erinnerungsfetzen klarer geworden?«

Oliver sah auf. »Ja. Ich sehe nun einen Blitz oder ein Licht und eine Hand. Ich bekomme Herzrasen bei ihrem Anblick.«

»Greift sie nach Ihnen? Hält die Hand etwas fest?«

Oliver runzelte vor lauter Anstrengung die Stirn, doch er konnte das Bild nicht fassen. »Ich weiß es nicht. Es ist auch eher ein Gefühl als ein Bild. Es ist – nicht zu beschreiben. Denken Sie, das geht vorbei, wenn ich erst einmal meine Kurse besuche und andere Menschen kennenlerne?«

»Die Zeit ist ein nicht unwichtiger Faktor, ebenso wie die Ablenkung. Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Behalten Sie die Dosierung noch ein paar Tage bei. Wenn es nicht wirklich besser wird mit den Träumen und Attacken, muss ich die Dosierung erhöhen.«

»Gut, warten wir es ab.« Oliver fand die Vorstellung, in den nächsten Jahren von Chemikalien gesteuert zu werden, abstoßend. Hatte das alles überhaupt noch einen Sinn?

»Kommen Sie. Haben Sie Ihre Badehose dabei?« Dr. Murray stand auf, griff zu einem Handtuch, das in einem Regal lag, und reichte es ihm.

»Ja, die habe ich schon an. Wie ist das Wasser heute?«

»Sehr angenehm. Aber passen Sie heute auf die Strömung auf.«

Sie verließen das Haus durch die Vorhalle, in der eine Standuhr die Stunde schlug. Gemeinsam gingen sie zum Ufer der Meeresenge, wo ein breiter Grünstreifen auslief. Als Dr. Murray ihre Brille abnahm und auf ihr Handtuch warf, wirkte sie um zehn Jahre jünger. Ihre Augen blitzten vor Übermut und Oliver musste anerkennen, dass die Therapeutin, die sich die Bluse auszog, durchtrainiert war. Oliver tat es ihr gleich und wie bei jedem seiner Besuche stieg er langsam in das durch die Sonne erwärmte dunkelgrüne Wasser. Es gehörte nicht zur Therapie, sondern war auf Einladung der sportlichen und gesund lebenden Dr. Murray erfolgt und beibehalten worden.

»Sie sind wirklich der einzige Mann, der mit mir quer durch diesen Fjord schwimmt«, sagte sie und nahm bereits mit langsamen Schwimmbewegungen Fahrt auf. Oliver folgte ihr und schwamm weit ins Wasser hinaus. Ihre Bahn wurde heute nicht von kleinen Booten gestört, nur ein Weißkopf-Seeadler, betrachtete sie aus der Luft.

Mitten auf der Strecke drehte sich Oliver auf den Rücken und ließ sich treiben, während Dr. Murray weiter davonzog. Er schmeckte Salz auf seinen Lippen. Über ihm einige Möwen, gegenüber das grüne Band des Gorge Park mit seinen Büschen und Bäumen, am Horizont die weißen Wolken, stechend klar und sich deutlich vom blauen Himmel abhebend. Oliver schloss seine Augen, gab sich dem Wasser hin und dachte an die Welle, die einen Surfer überrollte, um danach von ihm beherrscht zu werden. Was beherrschte er in diesem Augenblick? Seinen Körper, die Wasseroberfläche, seinen Atem. Es brauchte nur eine Unachtsamkeit, nur einen falschen Atemzug, um zu ertrinken. Er trieb auf der Grenze zum Tod. Sein Herz war bereits gestorben, doch sein Körper war ihm noch nicht gefolgt. Mit einer unbedeutenden Handlung konnte er sterben, es war ganz einfach. Nicht mehr die Luft in der Lunge zurückhalten, sondern ausatmen und sich sinken lassen. Funktionierte das? Er stieß seinen Atem aus, atmete nicht mehr ein. Sofort begann er zu sinken. Krampfhaft bemühte er sich, nicht den Mund zu öffnen. Sein Körper verließ die Oberfläche, sein Kopf tauchte unter. Und nun krümmte er sich, stieß sich mit einem Schwimmzug ab, um weiter nach unten zu tauchen. Die Strahlen der Sonne griffen ins Wasser, doch je tiefer er hinabstieg, umso dunkler wurde es. Es rauschte und blubberte um ihn herum, die letzten Luftblasen kamen aus seiner Nase. Nun war er leer, konnte sterben, wenn er denn wollte. Ein schwerer Druck lastete auf seiner Brust, er ignorierte ihn. Seine Muskeln wurden steif und kalt, er konnte sich kaum noch bewegen. Eine Bewegung im Wasser erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte den Kopf und starrte in die dunklen Augen eines Seehundes, der um ihn herumschwamm und dann in der Tiefe verschwand. Seehund, Hafen, Wale – er wollte schreien, bekam Wasser in den Mund und schloss ihn schnell wieder. Warum war das Leben so schwer? Warum war er ein Feigling? David – Ethan – was sollte er tun? Nicht sterben, rief David ihm zu. Er sah Ethans schöne Augen vor sich. Völlig wirr und benommen im Kopf machte er eine letzte Anstrengung und holte zu einer langen Schwimmbewegung aus, die ihn halb nach oben trieb. Noch einmal und dann die letzte, unendlich schwere Armbewegung. Das Licht kam näher, warme Bereiche im Wasser taten ihm wohl, Algen zogen an ihm vorbei und ein Schwarm winziger Fische, bevor sein Kopf wieder über der Oberfläche auftauchte. Seine Brust gierte nach Luft, sein Mund war weit geöffnet und sein Herz pumpte das Blut zurück in seine Glieder. Als er sich das Wasser aus den Augen strich, sah er Dr. Murray, die ihm vom anderen Ufer aus zuwinkte. Er hob plump seinen Arm, winkte zurück und ließ sich wieder treiben, um zu Atem zu kommen. Nach einigen Minuten erfüllte ihn die Wirkung des Adrenalins. Er hatte den Tod beherrscht, war stärker gewesen als seine Todessehnsucht. Das Wasser umschmeichelte seinen Körper, der seinem Herzen noch nicht in den Tod folgen würde. Ein kleiner Fortschritt? Oder nur die Probe zum nächsten Selbstmordversuch?

***

Als er erwachte, war es fünf Uhr am Nachmittag. Das Schwimmen hatte ihn müde gemacht, denn auf dem Rückweg vom anderen Ufer war er mit Dr. Murray um die Wette geschwommen. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte er verloren.

Was hatte ihn geweckt?

Lachen auf dem Flur. Ethan! Im Nu war Oliver auf den Beinen und flitzte zum Türspion, ohne zu wissen, was ihn eigentlich antrieb. Ethan sprach mit jemandem, der nun in sein Blickfeld geriet. Ein Mann, rötliche Haare, schlank. Sie lachten gemeinsam, während Ethan die Tür aufschloss. Oliver glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er sah, wie der Fremde Ethan in den Hintern kniff, als er vor ihm eintrat. Und bevor die Tür geschlossen wurde, konnte Oliver genau erkennen, dass Ethan den Fremden an die Wand drückte und ihn voller Lust küsste. Dann fiel die Tür ins Schloss und Olivers Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es seine Brust sprengen. Ein ähnliches Gefühl wie sein innerer Kampf unter Wasser.

Auch das noch! Das, was er bei ihrer Rangelei geahnt hatte, bestätigte sich: Ethan war schwul.

Oliver hielt es nicht mehr in der Wohnung. Er riss seine Jeansjacke vom Haken und lief die Treppe hinunter, als wäre jemand hinter ihm her. Vor dem Haus drehte er sich um und betrachtete die Gebäudefront. Bewegte sich da die Gardine in Ethans Wohnzimmer? Nein, sicher lag er schon im Bett mit diesem Rotfuchs. Das alles ging ihn ja auch gar nichts an. Ethan war ein Fremder, der zufällig neben ihm wohnte. Worüber regte er sich so auf? Darüber, dass er sich insgeheim vorstellte, wie er Ethans nackte Hüften mit seinen Armen umfing? Mein Gott, so war das nun mal mit dem Sex. Man dachte ständig an Sex. Sex mit diesem, Sex mit jenem, mit dem Paketboten, mit dem Kellner, mit jedem, den man traf und der sympathisch und heiß aussah. Oliver versuchte, tief einzuatmen und sich zu beruhigen. Etwas gärte in ihm, etwas Schlimmes braute sich zusammen, er spürte es ganz deutlich. Er war doch gerade erst bei Dr. Murray gewesen und konnte sie nicht schon wieder mit einem Anruf nerven. Sie konnte ihm sowieso nicht sofort helfen gegen diese Unrast, gegen die wirren Wünsche und Sehnsüchte in ihm anzukommen, die er nicht einmal benennen konnte. Wie gern hätte er jetzt Davids Hand umfasst, um sich getröstet zu fühlen. Wieder tauchte dieses verrückte Bild auf, der Blitz, der Geruch nach Schießpulver, die Hand eines Mannes, die Panik. Ihm wurde schwindelig, er hielt sich schnell an einer Hauswand fest. Er hatte doch seine Betablocker genommen, warum spielte sein Körper so verrückt? Wahrscheinlich hatte er sich bei seinem Tauchgang überanstrengt. Dr. Murray hatte nichts von seinem Kampf gegen das Leben bemerkt. Allmählich ließ das Herzrasen nach, langsam ging er weiter, ziellos, ratlos.

In der Yates Street hielt er unwillkürlich vor einer Kneipe an, die ihm gemütlich genug schien, um sie zu betreten. Er hörte die Autos vorbeifahren, spürte die stickige Luft, die sie produzierten und umherwirbelten. Eigentlich war er kein Kneipengänger, doch alles war besser, als in der Stadt umherzuirren, weil der Nachbar gerade am Vögeln war. Er wollte sich erst gar nicht vorstellen, wie die Lustschreie durch die dünnen Wände drangen. Stattdessen beschloss er, sich ein paar Bier zu gönnen, vielleicht rebellierte sein Verstand ja nur, weil er ausgetrocknet war. Ein ausgewogener Mineralienhaushalt würde ihm helfen. Im Inneren empfing ihn Popmusik und eine Theke aus Eichenholz, urige Sitzgruppen aus schwarz gestrichenem, groben Holz, golden glänzende Brauerei-Logos, zwei junge Männer in Muskelshirts und zwei Beamte in leichten Kurzarmhemden. Nichts Besonderes. Der glatzköpfige Wirt war ausnahmsweise nicht tätowiert. Auf dessen Nicken bestellte er ein Budweiser und hockte sich an die Theke. Beim dritten Bier bekam er Gesellschaft, denn ein Mann um die Vierzig trat ein, setzte sich zu ihm und ließ, halb an ihn, halb an den Wirt gewandt, seinen Kummer vom Stapel. Es dauerte nur drei weitere Bier, bis er das erste Glas Whiskey in den Händen hielt und dem Mann zuprostete. Nach dem dritten Whiskey wollte er aufstehen, doch seine Beine waren so schwer. Also blieb er sitzen. Lange.

Das Nächste, an was er sich erinnerte, war sein wütender Schrei, als Ethan ihn aus seiner eigenen Kotze vor der Haustür fischte.

***

Oliver roch wie ein ganzes Whiskeyfass. Ethan schüttelte den Kopf und seufzte, bevor er sich zu ihm kniete und ihn vorsichtig an den Schultern aus der Brühe zog.

»Puh, du stinkst vielleicht!« Nun lag Oliver halb auf seinem Schoß und blinzelte in das karge Deckenlicht. Er schien endlich zu merken, wo er sich befand. Er stieß einen lauten Schrei aus, der im ganzen Treppenhaus zu hören war, und fing an zu zappeln. Ethan hielt ihn fest, unerbittlich presste er ihn an sich.

»Jetzt pass doch auf! Willst du deine Klamotten noch mehr versauen?«, rief Ethan. Es war ohnehin zu spät, Olivers Hugo Boss-Jeans dürfte reif sein für die Waschmaschine.

»Wo ist dein Schlüssel? Oliver, hörst du mich überhaupt?«

Sein Nachbar starrte ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Seine blauen Augen erschienen ihm wieder verdammt reizvoll. Die Wut war einer gewissen Hilflosigkeit gewichen, was ihn verletzlich wirken ließ. »Verloren«, murmelte Oliver. Ja, in deinen Augen verloren, dachte Ethan verzaubert, doch Oliver tastete seine Jacke ab und suchte den Schlüssel. Immer noch lag er halb auf Ethans Knien. Ethan konnte nicht widerstehen. Er fühlte die Jackentaschen ab, arbeitete sich zu Olivers Hosentaschen vor, wobei er versuchte, dem Erbrochenen auszuweichen. »He, fingere nicht an mir rum«, nuschelte Oliver, gab aber den Widerstand auf und ließ den Kopf sogar an Ethans Brust sinken. Es war schön, an Oliver herumzufingern, den fremden Stoff zu spüren, hier und da warme Haut. Ethans Herz klopfte in einer Mischung aus Erregung und Vorsicht.

»Kein Schlüssel zu sehen. Komm, steh auf, wir gehen zu mir.«

Behutsam schob er ihn von sich hinunter und stand auf. Mit seiner Hilfe gelang es Oliver, auf die Beine zu kommen. Widerstandslos ließ er sich in Ethans Wohnung ziehen. »Wo ist denn .. wo ist denn … dein Fliegenpilz?«, lallte er. Ob er damit Patrick meinte? Bei diesem Vergleich musste er lachen. »War nur eine schnelle Nummer.« Doch da taumelte Oliver bereits in sein Schlafzimmer.

»Halt, erst duschen!«, rief Ethan und zog ihn am Arm zurück. Mist, was meinte er überhaupt damit? Erst duschen, dann Sex? Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Mit spitzen Fingern zog er ihm die dreckige Jacke aus und bugsierte ihn ins Badezimmer. Oliver hielt still, die Augen waren geschlossen, als Ethan ihm langsam an den Bund griff und den Knopf der Jeans öffnete. Und plötzlich war die Schlichtheit des weiß gefliesten Raumes vergessen, ebenso wie der Stapel Wäsche, der vor der Waschmaschine lag. Die Nähe des ungewohnten Körpers machte Ethan fast schwindelig. Olivers Lippen schwebten vor seinen Augen, luden ihn fast ein zu einem zärtlichen Kuss. Warum hielt Oliver so still? Wie sollte Ethan sich verhalten? Da öffnete Oliver die Augen und schenkte ihm diesen durchdringenden Blick, der ihm bereits kurz vor der Prügelei aufgefallen war. Ethan lief es kalt und heiß den Rücken hinunter. Was dachte Oliver jetzt?

»Bissu fertig?«, nuschelte dieser und grinste dreckig.

»Noch ein bisschen.« Ethan hatte Knopf und Gürtel an Olivers Hose geöffnet und schob den Stoff langsam an festen Muskeln entlang nach unten. Feine Haare kitzelten seine Finger. Verdammt, sein bestes Stück meldete sich zum Dienst.

»Bist ja noch angezogen.« Oliver wankte ein wenig hin und her und es schien Ethan, dass er darauf aus war, noch ein wenig seine Hand an den Beinen zu spüren.

»Und das gedenke ich auch zu bleiben«, gab Ethan zurück. Nur nichts überstürzen, nur nicht Olivers Hilflosigkeit ausnutzen, ermahnte er sich und schluckte sein Verlangen hinunter. Oliver trug eine entzückende Unterhose aus der David-Beckham-Kollektion, schlicht, schwarz, edel. Edel war auch sein Penis, halb erigiert und von ordentlicher Beschaffenheit verbarg er sich unter dem Stoff. Oliver hielt sich an ihm fest, als er erneut taumelte. »Verdammter Whiskey.«

Ohne hinzusehen, schob Ethan ihm den Slip hinunter. »Den Rest schaffst du alleine?«

Oliver nickte und strampelte sich Jeans und Unterhose von den Beinen. Ethan atmete auf, als er sich umdrehen und die Dusche anstellen konnte. Er schob Oliver unter den warmen Strahl. Seine Hinterbacken waren fest und glatt und luden zum Kneifen ein. Ethan ballte schnell seine Hand, jetzt nichts wie raus hier.

»Ich lege dir ein Handtuch und einen Jogging-Anzug hin. Und wenn du fertig bist, rufen wir Mr. Grover.«

Doch Oliver schien nichts zu hören. Er stand unter der Dusche und ließ sich vom Wasser umspülen. Dann drehte er sich um. Ethan hielt den Atem an. Dieser Körper haute ihn um. Die Brust war muskulös und dezent behaart. Er stand auf leichte Brustbehaarung, er liebte es, mit den Fingern durch diese samtige Masse zu fahren. Die Hüften waren schmal, die Haut durchgehend gebräunt. Die Figur wirkte wie die Skulptur eines Renaissance-Bildhauers – Michelangelo, da Vinci, wer auch immer. Ethans Mund war längst trocken geworden.

»Dann bis gleich«, krächzte er und verließ fluchtartig den Raum, in dem sich bereits die Schwaden des heißen Wasserdampfes ausbreiteten und zu seiner Erleichterung die Sicht auf den schönen Mann verdeckten.

***