Variante Tramper - Klaus Möckel - E-Book

Variante Tramper E-Book

Klaus Möckel

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Beschreibung

Ein Kind wird von einem PKW überrollt. Der Fahrer, ein Student, braust einfach weiter, bekommt dann allerdings Gewissensbisse. Seine Mutter aber hindert ihn daran, sich zu stellen. Sie will ihrem Sohn die Karriere nicht verderben und erpresst ihren Bruder, damit er ihnen aus der Patsche hilft. Ein teuflischer Plan wird ersonnen, ein Tramper zum Sündenbock erkoren. Die Kriminalisten, Bothe und Kielstein, sehen sich einem Geflecht aus Lügen und Korruption gegenüber, das sie zunächst nicht zerreißen können. Ein Krimi über Engpässe in der Versorgung und die daraus entstehende Bestechlichkeit. Bei der Aufklärung des raffiniert angelegten Falles werden aber auch das Prestigedenken bestimmter Schichten sowie Jugendprobleme zur Sprache gebracht. LESEPROBE: Er erwacht, weil ihn jemand am Arm rüttelt. Wind ist aufgekommen, der Himmel hat sich bewölkt, es sieht nach Gewitter aus. "Steh auf, wir müssen weg", sagt eine Stimme, die Jochen schon mal gehört hat, fürs erste aber nicht einzuordnen weiß. "Was ist, wo bin ich?" "Das mit meiner Frau klappt nicht, wir machen's anders." "Ach so", sagt Jochen, denn nun kommt ihm die Erinnerung. Er muss fast zwei Stunden geschlafen haben; seine Taschenuhr zeigt halb neun. Der Tisch, die Stühle stehen noch am Haus, aber die Bierflaschen sind bedauerlicherweise verschwunden. Der Mann, der offenbar schon eine Weile zurück ist, muss sie weggeräumt haben. "Pack deine Decke ein, beeil dich!" "Mensch, hab' ich gepennt." "Um so besser für dich." Die Stimme klingt im Gegensatz zu vorhin unfreundlich, dennoch sagt der Tramper: "Am liebsten würd' ich hier übernachten." "Das geht nicht. Es wird bald ein Gewitter geben, und wir können nicht ins Haus." "Irgendwie würden wir's schon schaffen." "Ich hab' gesagt, es geht nicht." "Und was soll nun werden?", brummt Jochen. "Nach Neustanwitz kann ich dich jetzt nicht fahren, das ist zu weit. Ich bringe dich zum nächsten Bahnhof, ein bisschen Geld hast du doch?" "Naja." Jochen nimmt sein Bündel, sie schieben das Tor zu und steigen in den Lada. Diesmal finden sie ohne Mühe durch den Wald. So oder ähnlich musste es ja kommen, denkt der Tramper. Aber als der erste Guss niederprasselt, ist er froh, wenigstens im Trockenen zu sitzen. Sie fahren einige Kilometer, ohne dass sich noch ein Gespräch ergibt. Der Mann scheint verstimmt zu sein, auf Jochens Frage, was seiner Frau dazwischengekommen sei, reagiert er ausweichend und unwirsch.

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Impressum

Klaus Möckel

Variante Tramper

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-471-1  (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1984 in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) des Verlages Das Neue Berlin.

Die kriminellen Sprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

DIE WICHTIGSTEN PERSONEN SIND:

Ralf Jonas: Ladabesitzer und Verkaufsstellenleiter mit wenig sauberen Vertriebsmethoden

Helma: seine Frau, ein feenhaftes, doch zuweilen recht kaltblütiges Wesen

Angela Kutscher: Angestellte in einem Transportbetrieb; setzt ihre Courage zu höchst fragwürdigem Zweck ein

Kai-Dieter: ihr Sohn, der sich in hässliche Schuld verstrickt

Jochen Pankaus: jugendlicher Tramper, wie geschaffen, diese Schuld auszubaden

Opa Krebs: Rentner mit Erpresserambitionen

Hauptmann Bothe, Leutnant Kielstein: dem Leser vielleicht schon bekannte Kriminalisten, wie immer bemüht, die verwirrende Schuldfrage zu klären

1. Kapitel

Ralf Jonas gibt Gas und schaltet in den vierten Gang hoch. Der kurvenreiche Teil der Strecke liegt hinter ihm, ab jetzt wird die Straße besser. Er hat es nicht mehr weit bis zum Grundstück, keine acht Kilometer, er kennt bis dorthin jeden Busch. Als die Tachonadel bereits zwischen siebzig und achtzig pendelt, taucht links am Wegrand ein Tramper auf, der mit müder Daumenbewegung nach vorn zeigt. Langes, ungepflegtes Haar, abgeschabte Kordjacke, ein Bündel neben sich am Boden. Er steht gewiss schon eine Weile da, hat sich die dümmste Stelle ausgesucht, um ein Auto anzuhalten. Wo hier jeder beschleunigt, denkt Jonas, und die meisten sowieso die Abkürzung durchs Mühlental nehmen. Außerdem sind die Leute um diese Zeit längst zu Hause oder in ihren Gärten, für wen beginnt das Wochenende denn erst um fünf. Er tritt stärker aufs Gaspedal und prescht vorbei. Auch wenn er bis zur nächsten Stadt oder weiter fahren würde, hätte er nicht angehalten. Solche Typen kann er gerade leiden.

Im Rückspiegel sieht er, dass sich der Bursche resigniert ein paar Meter von der Straße weg ins Gras setzt. Einfach auf den Hosenboden, mit dem er die Polster des nächsten Shiguli oder Mazda drücken will. Aber nicht bei mir, denkt Jonas. Dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Jonas wohnt und arbeitet in Reintal, fährt aber jetzt, im Sommer, fast jeden Abend aufs Grundstück. Meist zusammen mit seiner Frau, die etwa um die gleiche Zeit Schluss hat. Nur heute ist es anders, sie hat schon eher aufgehört und den Mittagsbus genommen. Nach einem Zahnarztbesuch konnte sie das so einrichten.

Er biegt von der Straße ab, Fährt die hundert Meter am Waldrand entlang hinunter zum See. Vor dem schmiedeeisernen, erst kürzlich gesetzten Gartenzaun hält er an und hupt kurz. Seine Frau kommt im Bikini hinter einem kleinen Anbau hervor und öffnet. Sie ist vierzig Jahre alt, wirkt aber jünger, fast mädchenhaft. Neben ihrem eher vierschrötigen Mann sieht sie ein wenig zerbrechlich aus.

Jonas, zufrieden, dass er angelangt ist, stellt den Wagen in die Garage. Als er das Gartentor geschlossen hat, hört er im Haus das Telefon klingeln. "Ich geh' schon 'ran", ruft er seiner Frau zu, die sich an einem Blumenbeet zu schaffen macht, und steht bereits auf der Veranda.

Das Telefon schrillt ununterbrochen - die lassen einen selbst am Wochenende nicht in Frieden. Insgeheim fühlt sich Jonas jedoch geschmeichelt. Seine Frau wollte den Anschluss nicht haben, behauptete, dass sie wenigstens hier draußen ihre Ruhe brauche, er aber ließ alle Verbindungen spielen, boxte die Sache durch. Es musste sein, schließlich ist er nicht irgendwer, sondern Leiter einer Verkaufsstelle, die den ganzen Kreis mit Siedler- und Gartenartikeln versorgt. "Was mir zuviel wird, wimmle ich schon ab." Und in der Tat, darauf versteht er sich.

Wahrscheinlich Brinkmann, denkt Jonas, der wartet auf seine Dachrinnen, na, soll er ruhig noch 'ne Weile zappeln. Fast heiter gestimmt, hebt er ab. Zu seiner Überraschung meldet sich seine Cousine, Angela Kutscher.

"Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dass niemand da ist." Ihre Stimme, die sonst männlich fest ist, bebt. Jonas sagt erstaunt: "Du, Angela? Was ist los? Ich komme gerade zur Tür 'rein."

"Ich brauche deine Hilfe. Kai-Dieter... Was Schreckliches ist passiert"

"Na, na." Jonas ist keineswegs auf Tragik eingestimmt. Vielleicht wird der Junge Vater, denkt er amüsiert.

"Es ist kein Spaß. Kai-Dieter hat... ein Mädchen überfahren."

"Was!"

"Ein kleines Mädchen. Vorhin... Bei der Eisenbahnbrücke.''

"Was heißt überfahren? Ist sie... tot?"

"Das weiß er nicht. Er ist doch weiter mit dem Wartburg. Es ging alles so schnell."

Fahrerflucht, denkt Jonas, hat aber den Ernst der Nachricht noch immer nicht voll erfasst. Oder genauer, sein Inneres, aufs Wochenende ausgerichtet, wehrt sich dagegen, eine solch hässliche Realität zur Kenntnis zu nehmen.

"Du musst etwas für uns tun", sagt die Stimme wie aus einer anderen Welt. "Du bist unsere ganze Hoffnung."

"Ich? Wie stellst du dir das vor? Da gibt's nur eins, der Junge muss zur Polizei."

"Nein!" Die Antwort der Frau ist ein Schrei.

"Aber das Kind! Und er ist abgehaun!"

"Ein Unfall. Es lässt sich nicht mehr ändern. Ich will nicht, dass sein Leben daran kaputtgeht."

"Scheiße", sagt Jonas, "seine verdammte Raserei." Er ist wütend, und zugleich tut ihm der Junge leid, von dem er einiges hält. Kai-Dieter ist begabt, aus ihm könnte was werden.

"Du wirst ihm helfen", Angelas Stimme bebt stärker, "sonst... "

"Was sonst?"

"Du verstehst mich schon."

Jonas ist nun völlig da. Dieses Gespräch eignet sich nicht fürs Telefon, denkt er und sagt vorsichtig: "Du würdest dich auch selber hereinlegen."

"Das wär mir egal. Wenn du uns im Stich lässt, garantier ich für nichts."

"Was verlangst du?"

"Der Junge braucht jemanden, bei dem er zum entsprechenden Zeitpunkt gewesen ist."

Darum geht es ihr also, fein hat sie sich das ausgedacht. Verzweifelt überlegt Jonas, was er entgegensetzen kann.

"Du musst sofort herkommen", sagt Angela.

"Du bist verrückt. Wozu soll das gut sein?"

"Damit wir die Einzelheiten absprechen können."

"Wann ist es passiert, und was habt ihr seither getan?" Jonas versucht Zeit zu gewinnen.

"Vor einer halben Stunde erst. Kai-Dieter kam dann sofort nach Hause, und wir haben den Wagen in Lias Garage gestellt. Sie ist nicht da, macht Urlaub."

Sie hat alles vorbereitet, denkt Jonas, sie lässt mich nicht raus. Aber was sie vorhat, ist viel zu gefährlich und auch zu durchsichtig. Doch innerlich ist er schon bereit mitzuziehn. Plötzlich, fast gegen seinen Willen, kommt ihm ein Bild in den Sinn. Das des Anhalters auf der Landstraße. "Ist Kai-Dieter gesehen worden?"

"Nein. Jedenfalls glaubt er's nicht."

"Und der Wagen? Ist er beschädigt?"

"Nur wenig. Du hast doch sicher einen neuen Scheinwerfer."

"Hör mal", sagt Jonas energisch, "das alles ist zwar heller Wahnsinn, trotzdem werd ich dir vielleicht helfen. Aber nicht so. Weder mit einem Scheinwerfer noch mit einem Alibi, das ist viel zu leicht widerlegbar. Lass den Wagen, wie er ist, und sag, man hat ihn gestohlen. Erfinde was, sag, dass der Junge im Kino war, was weiß ich. Aber erst, wenn sie euch fragen. Sie kommen bestimmt, so auffällig, wie der alte Wartburg ist"

"Aber du und ich, wir sollten..."

"Gar nichts sollten wir. Wir machen jetzt Schluss, das ist am besten. Ruf auch nicht mehr an. Ich hab da eine Idee. Ich melde mich wieder. Spätestens in einer Stunde."

Er legt entschlossen auf, das Gespräch hat schon viel zu lange gedauert. Seine Frau steht an der Tür, hat offenbar was mitgekriegt. Aber das ist ihm nicht unrecht. Wenn der Plan, der sich schemenhaft in seinem Hirn abzuzeichnen beginnt, Gestalt annehmen soll, wird sich nicht umgehen lassen, sie bis zu einem gewissen Grad einzuweihen.

"Wir müssen weg", sagt er, "sofort. Komm, ich erklär' dir's."

"Was Schlimmes?"

"Gemeiner hätt's uns nicht erwischen können."

Obwohl Helma kaum den ganzen Ernst der Situation erfasst haben kann, fragt sie sowohl sachlich als auch ahnungsvoll: "Und uns bleibt nicht viel Zeit?"

"Sehr wenig."

"Ich hab immer gewusst, dass es irgendwann mal auf uns zurückschlägt, immer", sagt sie.

2. Kapitel

Jochen Pankaus ist bestimmt nicht übermäßig mit Geistesgaben ausgestattet, doch könnte sich auch ein Klügerer nur schwer einen Reim auf die Dinge machen, die ihm an diesem Tag widerfahren. Er ist nach einem Besuch bei einem Kumpel in Erfurt auf dem Nachhauseweg. Per Anhalter, denn er hat wenig Geld, aber eine Menge Zeit. Bis Berlin hat es auch gut geklappt, doch dann wurde er von einem alten Krauter mitgenommen, der vom Fahren so viel verstand wie Jochens Großmutter von Rockmusik. Als er ein Moped beim Überholen fast in den Graben drückte und das Mädchen, das drauf saß, noch beschimpfte, konnte Jochen nicht mehr an sich halten. Er wusste, dass man als Tramper Leuten am Steuer nie widersprechen soll, aber hier ging's nicht anders. Es kam zum Streit, und der Alte setzte ihn 'raus. An einer Ecke, wo kaum Verkehr war und die paar Autos, die auftauchten, nicht anhielten. Jochen hat es mehrfach versucht und sich schließlich für eine Weile hinter einen Busch gehaun. Ist ein Stück weitermarschiert und hat es erneut erfolglos probiert. Bis der Lada mit dem grünen Aufkleber stoppt. Das Eigenartige ist, dass er nach Jochens Meinung schon vor einer halben Stunde mal vorbeibrauste; aus derselben Richtung, aber ohne anzuhalten.

Jochen rennt dem Wagen hinterher; der Fahrer hat bereits die Tür geöffnet. Er ist mittleren Alters, trägt eine getönte Brille und ein kariertes Hemd. Er macht eine einladende Geste. "Richtung Neustanwitz?", fragt der Anhalter.

"Jaja."

"Endlich. Hier klebt man ja fest wie Vogeldreck."

"Stehst wohl schon einige Zeit?"

"Kann man sagen. Wenn ich nicht zwischendurch am Rasen gehorcht hätte..."

"Wie lange wartest du genau?", fragt der Mann, was Jochen komisch findet. Kann dem doch schnuppe sein. Aber er will endlich weiter.

"Bald zwei Stunden."

"Steig ein!"

Das lässt sich der Tramper nicht zweimal sagen. Er wirft seinen Beutel auf den Rücksitz und klemmt sich daneben. Mit einem Ruck fährt der Wagen an.

"Schon 'ne Weile unterwegs, was?"

"Seit heut morgen. Mittags war ich in Berlin."

"Kein Mädchen angemacht?"

Bei dem Alten klingt diese Art zu reden drollig, Jochen grinst. "Die Miezen können mich mal; meine Letzte...", er verstummt.

"Na", ermuntert ihn der Mann.

"Ach, ist schon vergessen."

Sie fahren ein paar Kilometer, da biegt der Lada plötzlich von der Landstraße ab, in einen ziemlichen Holperweg ein. Der Tramper, der nicht weiß, was das bedeuten soll, fragt: "Ist das 'ne Abkürzung?"

"Nicht ganz. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich hab' auf meinem Grundstück ein Boot ans Wasser zu bringen. Dauert fünf Minuten, aber allein schafft man's schlecht. Dann legen wir eine Pause ein, trinken was."

Darum geht's, er braucht 'nen Handlanger, denkt Jochen. Dinger erlebt man. "Und was wird mit Neustanwitz?", fragt er.

"Meine Frau fährt dich hin, die muss sowieso 'rüber. Oder hast du's sehr eilig?"

"Es geht"

"Hast ja gemerkt, dass man in unserer Ecke Geduld braucht."

Das stimmt, Jochen fügt sich. Ist vielleicht gar nicht schlecht, mal einen Blick auf ein Grundstück hier zu werfen. Und Bekanntschaft mit einem zu schließen, der anscheinend dickes Moos macht.

Sie zuckeln den Weg entlang und danach auf einem zweiten quer durch den Wald. Biegen rechts ab, dann wieder links, eine richtige Wildnis ist das. Eigenartig, dass der Fahrer, der doch Bescheid weiß, offenbar selber Schwierigkeiten hat, ans Ziel zu gelangen. Einmal müssen sie sogar wenden und ein Stück zurück. Wahrscheinlich ist er unkonzentriert; er redet viel, fragt den Tramper nach allen Regeln der Kunst aus. Wie alt er ist, was er arbeitet, wo er wohnt. Ein wenig mürrisch gibt Jochen Auskunft, und mit einem Mal sind sie angelangt. Ein verrotteter Lattenzaun, ein kleines Holzhaus, von dem die Farbe abblättert. Der Tramper ist enttäuscht. Er hat sich ganz was anderes vorgestellt.

Sie steigen aus, und der Mann im karierten Hemd sagt: "Verdammt, jetzt hab' ich die Schlüssel zu Hause liegenlassen. Na, wir kommen auch so 'rein. Warte einen Augenblick."

Er verschwindet um die Ecke und taucht gleich danach drinnen im Garten wieder auf. Er ist durch eine Lücke im Zaun gekrochen oder drübergeklettert. Dann macht er sich am Tor zu schaffen, hebt den Eisenhaken aus, der es abstützt, und zieht die beiden Flügel mit Gewalt nach innen. Jochen hilft außen mit Drücken nach, und durch ein wenig Anheben öffnet sich das Tor, ohne dass sie das Schloss zu beschädigen brauchen.

Der Mann fährt den Wagen in den Garten, und Jochen nähert sich dem Haus. Alles sieht verwildert aus, so als wäre längere Zeit keiner da gewesen.

"'rein können wir nicht", sagt der Mann, "ich will nur hoffen, dass meine Frau den Schlüssel mitbringt, wir sehn inzwischen mal nach dem Boot."

Sie staksen durch hohes Unkraut zu einer Art Kanal. "Der führt in den See da hinten."

Das Boot, ein alter Holzkahn, liegt umgestürzt an Land unter einem Weidenbaum.

"Sie kommen wohl selten her?", fragt der Tramper.

"Ich? Wieso? Ach ja, in der letzten Zeit gab's so viel im Betrieb zu tun."

"Ich dachte, Sie hätten was Moderneres."

"Seh ich so aus?" Der Mann lacht. "Bin eben trotz allem Romantiker."

Das leuchtet Jochen ein. Zurück zur Natur - er ist dafür. Dem da hätte er's freilich nicht zugetraut.

Sie tragen das Boot ins Wasser, was keine große Mühe ist, und gehen dann zu dem Holzhaus zurück. Von hinten holt der Mann zwei Gartenstühle und einen wackligen Klapptisch. Jetzt machen wir's uns erst mal gemütlich." Aus dem Kofferraum seines Wagens schleppt er Bier an.

Sie trinken, und Jochen beginnt sich wohl zu fühlen. Hier lässt sich's aushalten, da hat er mal Glück gehabt. Der Mann scheint ein Kumpel zu sein, ribbelt sich nicht an seiner Mähne und der Kluft auf wie die andern Spießer. Nur im Quatschen ist er Weltmeister. Was der alles wissen will. Anfangs antwortet der Tramper einsilbig, aber das Bier löst die Zunge. Eigentlich ist's mal ganz schön, sich den Ärger von der Seele zu reden, den man so hat. Bei einem Fremden, der wenigstens nichts weitertratscht.

Eine Stunde mag verstrichen sein, da wird der Mann unruhig. "Meine Frau müsste längst hier sein", sagt er, "ich versteh' das nicht."

Obwohl ihm Jochen versichert, dass er sich seinetwegen keine Gedanken zu machen braucht, rennt er mehrfach zum Gartentor, um Ausschau zu halten. Letztlich hält er es nicht mehr aus.

"Ich muss mal weg, telefonieren, es kann eine Weile dauern. Bleib ruhig hier, ich komm' auf jeden Fall zurück."

Jochen ist es recht, zumal noch ein paar Flaschen Bier in Reserve stehen. Er hat schon befürchtet, dass der Hausherr ihn mitnehmen und wieder irgendwo an dieser dämlichen Landstraße absetzen will. Als der Mann abgezischt ist, holt er eine Decke aus seinem Bündel und macht sich's im Gras bequem. Eine einmalige Stille herrscht hier, das Grundstück dehnt sich, und rechts wie links scheinen Wald oder versumpfte Wiesen zu sein. Jochen, der in den vorangegangenen Nächten kaum ins Bett gefunden hat, nimmt noch einen langen Zug aus der Flasche, dreht sich auf die Seite und schläft ein.

3. Kapitel

Er erwacht, weil ihn jemand am Arm rüttelt. Wind ist aufgekommen, der Himmel hat sich bewölkt, es sieht nach Gewitter aus.

"Steh auf, wir müssen weg", sagt eine Stimme, die Jochen schon mal gehört hat, fürs erste aber nicht einzuordnen weiß.

"Was ist, wo bin ich?"

"Das mit meiner Frau klappt nicht, wir machen's anders."

"Ach so", sagt Jochen, denn nun kommt ihm die Erinnerung. Er muss fast zwei Stunden geschlafen haben; seine Taschenuhr zeigt halb neun. Der Tisch, die Stühle stehen noch am Haus, aber die Bierflaschen sind bedauerlicherweise verschwunden. Der Mann, der offenbar schon eine Weile zurück ist, muss sie weggeräumt haben.

"Pack deine Decke ein, beeil dich!"

"Mensch, hab' ich gepennt."

"Um so besser für dich."

Die Stimme klingt im Gegensatz zu vorhin unfreundlich, dennoch sagt der Tramper: "Am liebsten würd' ich hier übernachten."

"Das geht nicht. Es wird bald ein Gewitter geben, und wir können nicht ins Haus."

"Irgendwie würden wir's schon schaffen."

"Ich hab' gesagt, es geht nicht."

"Und was soll nun werden?", brummt Jochen.

"Nach Neustanwitz kann ich dich jetzt nicht fahren, das ist zu weit. Ich bringe dich zum nächsten Bahnhof, ein bisschen Geld hast du doch?"

"Naja."

Jochen nimmt sein Bündel, sie schieben das Tor zu und steigen in den Lada. Diesmal finden sie ohne Mühe durch den Wald. So oder ähnlich musste es ja kommen, denkt der Tramper. Aber als der erste Guss niederprasselt, ist er froh, wenigstens im Trockenen zu sitzen.

Sie fahren einige Kilometer, ohne dass sich noch ein Gespräch ergibt. Der Mann scheint verstimmt zu sein, auf Jochens Frage, was seiner Frau dazwischengekommen sei, reagiert er ausweichend und unwirsch. Schließlich biegen sie in eine Nebenstraße ein und steuern ein dunkles, flach gestrecktes Gebäude an, das einsam in der Landschaft liegt. Im Licht einer flackernden Lampe sieht man Eisenbahngleise blitzen.

Der Regen hat aufgehört; der Fahrer hält an: "Dort ist der Bahnhof, in einer halben Stunde muss ein Zug gehn. Die paar Meter kannst du zu Fuß zurücklegen, ich bin in Zeitdruck."

Jochen steht draußen, er hat sich kaum verabschieden können. Der Wagen rast davon, als ging's um den Großen Preis von Monaco.

War ja wie ausgewechselt, der Onkel, denkt der Tramper, komische Typen gibt's. Missmutig schaut er um sich, die Gegend liegt ausgestorben da. Bis hier mal ein Auto vorbeikommt, faulen einem die Füße ab. Er nimmt sein Bündel über die Schulter und stapft auf das Bahnhofsgebäude zu.

Doch hier erwartet ihn erneut eine Überraschung: Die Türen des kleinen Hauses sind verrammelt; es sieht nicht so aus, als wären in den letzten Monaten Reisende hindurchgegangen. Ein Fahrplan von vor zwei Jahren klebt an der Wand, über ein Fenster sind zwei Bretter genagelt. Jochen stellt verdutzt sein Bündel ab und setzt sich auf die Überreste einer Bank.

Das ist ja eine schöne Bescherung. Entweder hat der Alte völlig den Verstand verloren, oder er hat ihn, Jochen, kalt lächelnd abgeschoben, mit Absicht hereingelegt. Aber warum sollte er das? Weil's für ihn, nachdem das mit der Frau nicht geklappt hat, so am bequemsten war? Der und romantisch, denkt der Tramper, ein ganz hinterhältiger Drecksack ist das.

Er lässt sein Gepäck auf der Bank und geht ums Gebäude herum zu den Gleisen. Sie haben Rost angesetzt, zwischen den Schwellen wuchert Gras. Nein, hier fahren keine Züge mehr. Was da vorhin im Lampenlicht geglänzt hat - immerhin gibt's ja die Funzel neben dem Gebäude -, das war die Regennässe auf dem Eisen.

Es fängt erneut an zu tröpfeln, nicht mal unterstellen kann man sich. Der Tramper läuft wieder nach vorn, er überlegt gerade, ob er nicht auf irgendeine Weise ins Gebäude und damit ins Trockene gelangen kann, als er einen PKW die Straße entlangkommen sieht. Mit leicht schielenden Scheinwerfern und langsam, der Fahrer scheint etwas zu suchen. "Hallo", ruft Jochen und rennt dem Wagen entgegen. Er winkt mit beiden Armen.

Das Auto hält, die Scheinwerfer erlöschen. Noch geblendet, tritt der Tramper an die Fahrertür heran, die sich öffnet. "Können Sie mich ein Stück mitnehmen?"

"Weshalb nicht, steig ein. Ich hab' mich allerdings verfahren."

"Wo wollen Sie denn hin?"

"Nach Waldburg."

"Das ist genau meine Richtung", sagt Jochen erleichtert. "Gemeinsam werden wir die Landstraße schon wieder finden."

"Ist gut, steig ein."

Jochen rennt nach seinem Beutel, zumal es stärker zu regnen beginnt. Eine Frau, denkt er, auszukennen scheint sie sich nicht in der Gegend, aber das ist mein Glück. Wird Zeit, dass ich endlich aus dieser Ecke wegkomme.