Vaterlos auf Muttersuche - Barbara Bonhage - E-Book

Vaterlos auf Muttersuche E-Book

Barbara Bonhage

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Beschreibung

Das Pädagogische Zentrum Pestalozzihaus bei Winterthur betreut seit 125 Jahren Kinder und begleitet sie auf dem Weg ins Erwachsensein. Barbara Bonhage erzählt erstmals die bewegte Geschichte des Heims über vier Generationen hinweg. Sie zeigt auf, wie sich pädagogische Über­zeugungen veränderten und die Menschen, die hier ein- und ausgingen, prägten. Eine eindrückliche Zeitreise zwischen Dokumentation und Fiktion.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Vorwort

Kinder gehören in Familien. Das gilt und galt womöglich jederzeit, fast überall. Manchmal gibt es aber keine Familie. Auch keine Pflege- und keine Ersatzfamilie. Und manchmal tun die Familien, die es gibt, dem Kind nicht gut. Darum gibt es Kinderheime, früher «Anstalten» genannt, heute gerne als «sozialpädagogische Institutionen» bezeichnet. Es gibt sie schon seit Jahrhunderten. Das Pestalozziheim in Räterschen wurde 1900 gegründet. Wie vergleichbare Institutionen auch, versuchte es vor allem, Familienersatz zu sein. Es gab den Hausvater und die Hausmutter, man sprach von der «Heimfamilie». Gelebt wurde so familienähnlich wie nur irgend möglich. Inzwischen ist das anders.

Die Kinder sind jetzt Klientinnen und Klienten, nicht mehr «Zöglinge». Niemand spricht mehr von der «Anstalt», niemand mehr will den Kindern das geben, was ihnen angeblich fehlt. Heute orientieren sich Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen an dem, was da ist. Sie gestalten das Leben mit den Kindern und Jugendlichen in überschaubaren Gruppen. Die Fachleute sorgen dafür, dass die Kontakte und Beziehungen zu den leiblichen Eltern, zu Vater und Mutter oder anderen Bezugspersonen, wann immer möglich bestehen bleiben. Der Schulbesuch – sei dies in der internen Sonderschule oder extern in einer Regelschule – hat hohe Priorität.

In den «Anstalten» von früher hielt man Vater und Mutter oft den Spiegel des Versagens vor, sprach von Verwahrlosung, Unvermögen und Schlimmerem. Die Kinder schliefen in Mehrbettzimmern und hatten den obligatorischen Arbeitsdienst zu verrichten, zum Beispiel in der Landwirtschaft oder im Haushalt. Heute leben die Klientinnen und Klienten in Einzelzimmern, die sie selbst gestalten. Sie wohnen betreut in kleinen Gruppen, kommen in einem gemeinsamen Wohnzimmer zusammen, gehen zur Schule am Ort und sind Mitglieder in Sportvereinen. Sie kochen ihr Essen zuweilen selbst nach ihrem Geschmack. Das hat sich bewährt: kein Familienersatz, sondern eine andere Form des Aufwachsens, ausserhalb der Herkunftsfamilie und nur so lange wie sinnvoll und notwendig.

Fast immer gab und gibt es gute Gründe dafür, dass Kinder nicht in ihren Familien leben können. Krieg, Krisen und Krankheiten sind die Auslöser. Die Folgen sind zerstörte Familien. Armut, Gewalt, Vertreibung, Verletzungen, Süchte und Seuchen, Beeinträchtigungen am Körper und an der Seele, Schicksalsschläge des Alltags. Ausgehend von den damit verbundenen Nöten ergibt sich der Bedarf nach Institutionen. Immer schon. Es braucht sie auch in Friedenszeiten und in sogenannt prosperierenden Gesellschaften. Es braucht sie in der Schweiz ganz sicher, obwohl hier seit über 175 Jahren kein Krieg mehr ausgetragen wurde.

Das Pestalozzihaus in Räterschen gibt es seit 125 Jahren. Sein Vorstand hat sich entschieden, das Vergangene gegenwärtig zu halten. Zum bevorstehenden Jubiläum soll daher seine wechselvolle Geschichte erzählt werden, eingebettet in die Geschichte des 20.Jahrhunderts. «Heimkinder» und Mitarbeitende zeigen sich dabei als Teil der Gesellschaft, der uns so fremd gar nicht ist.

Die folgende Darstellung basiert auf einer umfassenden Recherche. Wichtigste Grundlage sind die Vorstandsprotokolle des Pädagogischen Zentrums Pestalozzihaus (PZP) in Elsau-Räterschen bei Winterthur im Kanton Zürich. Die Namen aller Klientinnen und Klienten, Familienmitglieder, Mitarbeitenden und pädagogischen Partner des PZP (Landwirte, Lehrmeister, Pfarrer, Ärzte, Berufsberater etc.) wurden verfremdet, soweit es sich nicht um öffentliche oder bekannte Persönlichkeiten handelt. Letztere sind mit Lebensdaten in Klammern versehen.

Als einzige fiktive Person hat die Autorin einen Erzähler, Richard, eingeführt. Durch seine Brille erfahren die Lesenden von den historischen Fakten und Ereignissen im und rund ums PZP.

Personen, die sich selbst oder ihre direkten Angehörigen im Text zu erkennen glauben, sowie solche, die aufgrund der Geschichte wahrnehmen, dass sie anderweitig mit dem PZP persönlich verbunden sind oder waren, sind willkommen, sich mit der Institution in Verbindung zu setzen.

Im Zuge der Aufarbeitung dieser Geschichte hat der Vorstand des PZP mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass es in der Institution vereinzelt zu sexuellen Übergriffen gegenüber Klientinnen und Klienten gekommen ist. Er ist sich zudem bewusst, dass Strafen und Schläge möglicherweise Verletzungen hervorgerufen haben und als Gewalt oder Übergriff erlebt wurden, deren Folgen kaum je heilten. Es muss etliche Vorfälle gegeben haben, die im Text nicht erwähnt sind: Vieles wurde gar nie aktenkundig. Andererseits wurde viel Positives und Erfreuliches, das Kinder und Jugendliche im Pestalozziheim erlebt haben, genauso wenig dokumentiert. Über Jahrzehnte hinweg haben sich manche der Mitarbeitenden für die Klientinnen und Klienten mehr eingesetzt, als es ihre Pflicht gewesen wäre. Ihnen gilt unser grösster Dank. Für das geschehene Unrecht, für körperliche oder seelische Versehrung jeder Art entschuldigt sich der Vorstand bei den Betroffenen in aller Form. Er setzt zusammen mit der Institutsleitung alles daran, einen menschenwürdigen Umgang zu gewährleisten, sodass kein weiteres Unrecht geschieht und weder seelischer noch physischer Schmerz verursacht wird.

Inhalt

Auf Muttersuche

Der Vorstand

Der «Felsenhof»

Walter Wobmann, der Hilfsknecht

Die «Zöglinge» Heinrich, Karl, Ferdinand, Hans, Gustav und Ernst

Robert Hofer, Hausvater, Kommissionsmitglied, Vormund

Heidi Baldegger, eine Hausmutter an der Front

Hans Kleist, der Meisterknecht

Berta Bodmann, die Inspektorin

Thomas Gehrig, neuer Hausvater und Bruder des Meisterknechts

Edith Erni, Köchin und Erzieherin

Günter Altenbeck, kein «Schweizerlehrer»

Die Lehrer Bauer, Ziegler, Noll und Camenisch

Vaterlos

Nachwort und Dank

Literatur und Quellen

Auf Muttersuche

Lose liegt eine alte Postkarte auf dem Dokumentenstapel. Richard nimmt den vergilbten Karton zur Hand und betrachtet die Schwarzweissfotografie. Da sind Häuser, Wiesen, Bäume und Wege. Mit dem rechten Zeigefinger streicht er den Büttenrand entlang, dann dreht er die Karte mit seiner Linken um. «Flugaufnahme, Pestalozzihaus Räterschen, 1909» steht da. Das ist es also, das Heim. Richard ist eine Stunde lang mit dem Zug von Basel nach Zürich angereist. Ein Tram fuhr ihn quer durch die Stadt auf die Anhöhe. Dann führten ihn ein paar Treppenstufen hinauf zum Universitätscampus. Hier befindet sich das Staatsarchiv, werden Originaldokumente aus über 1000 Jahren Kantonsgeschichte aufbewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Richard hatte zu Hause sorgfältig ein Bestellformular für seine Akten ausgefüllt.

Zum ersten Mal im Leben sitzt er in einem Archiv. Der Lesesaal ist schöner, als er sich das vorgestellt hat, viel Holz, grosse Fenster, Tageslicht. Sein Platz ist mit einer Schreibtischunterlage und einer Steckdose ausgestattet, genauso wie die übrigen, in Reihen aufgestellten Pulte. Die Akten hat man ihm auf einem Rollwagen bereitgestellt. Vermutlich lagerten sie in einem dunklen Keller, waren lange Flure entlanggekarrt worden. Die längste Zeit seines Lebens ahnte Richard nichts von diesen Dokumenten, hatte nicht gewusst, dass hier Protokolle liegen, die ihn interessieren könnten. Es sind die Akten des Heims, in welchem seine Mutter einst gearbeitet hatte. Früher, vor seiner Geburt. Die Postkarte, die er noch immer in Händen hält, ist leer. Niemand hat aus dem Heim Grüsse geschickt, niemand hat notiert, was gerade vor sich ging.

Richard dreht den Karton um und betrachtet die Fotografie genauer. Das Flugzeug, das die Aufnahme gemacht haben muss, wird eines Nachmittags langsam und brummend über das Areal geflogen sein. An der Winterthurer Stadtgrenze wird es abgedreht haben, um in der Nähe irgendwo zu landen. Im Zentrum zeigt das Bild ein Ensemble von drei Häusern. Links ein grosses, lang gestrecktes Riegelhaus mit weit geöffnetem Scheunentor. Parallel dazu duckt sich dahinter ein zweites, langes Dach. Vielleicht ein Stall. Rechts neben den beiden offenbar landwirtschaftlich genutzten Gebäuden steht ein zweistöckiges, herrschaftliches Haus, ganz in Weiss. Ein Kamin ist gut erkennbar auf dem Walmdach mit Gaube und zwei Fenstern. Drei bewohnbare und zumindest teilweise beheizbare Stockwerke also. Eine Strasse führt im Vordergrund entlang und am rechten Bildrand um das Areal herum, Wege durchkreuzen die Wiesen.

Richard erkennt, dass die Kamera im Flugzeug zwei Menschen erwischt hat. Sie stehen vorne, dort, wo der von Obstbäumen gesäumte Fussweg vom Haus auf die Strasse trifft. Offenbar verabschieden sich die beiden gerade. Zu sehen sind eine dunkle Gestalt und eine helle, wohl mit weisser Schürze. Um die Häuser herum breiten sich Wiesen und Felder aus, ebenso wie Beete, Sträucher und Bäume. Eine Anlage im Grünen. Hinter dem Haus beginnt die Obstplantage, Hochstämmer, vermutlich Apfelbäume, vielleicht Birnen oder Kirschbäume, sicher waren auch Zwetschgen dabei. Nahe am Haus sind gepflegte Gärten und viel Buschwerk erkennbar.

Genau in der Bildmitte, wohl am Hinterausgang des Herrschaftshauses, breitet ein grosser Laubbaum seine Äste aus. Er überragt alle Dächer. Sein Stamm dürfte den Hinterhof zu den Wiesen hin abgeschlossen haben. Die übrigen Hofseiten ergeben sich durch die Anordnung von angrenzender Scheune, Stall und Herrschaftshaus. In seinem Schatten müssen sich Menschen, die aus den Häusern kamen, begegnet sein. Auf die Kinder gibt das dichte Laub keinen Blick frei. Möglich, dass da im Freien eine Bank stand. Ist es eine Linde? Ahorn, Esche, Eiche, Platane, Nussbaum? Oder eine Edelkastanie, überlegt Richard. Dann hätten die Kinder aus den glänzenden, braunen Kastanien, die im Herbst aus der stachlig hellgrünen Schale springen, kleine Tierchen basteln können. Machte man so etwas schon immer? Auch in einem Heim? Richard zuckt mit den Schultern. Hinter dem zweiten lang gestreckten Dach, vermutlich das Stalldach, erkennt er noch ein weiteres, kleines Häuschen, mehr ein Bretterverschlag, für Hühner vielleicht, oder ein Hasenstall.

Richard legt die Karte beiseite. Was gibt es noch? Da liegt eine Zeitschrift, kaum weniger vergilbt als die Karte. «Fachblatt für Schweizerisches Heim- und Anstaltswesen» liest er, 1971. Da war er gerade mal 13 Jahre alt. Er blättert die erste Seite auf. Es brauche «Kraft», liest er im Editorial, den «Kopf oben zu behalten und trotz allem die Zuversicht nicht zu verlieren». Es schliesst ein Bericht an, wonach sich ehemalige «Zöglinge» mit Heimleitungen über ihre Zeit im Heim unterhalten hatten. Die Ehemaligen hatten sich offenbar bitter beklagt: Die «Vorbereitung auf draussen» sei in den Heimen «mangelhaft», stand da, der Ton gegenüber den «Zöglingen» herablassend. Drinnen in einem Heim ist Richard nie gewesen. Das hätte, wie ihm inzwischen klar ist, auch anders sein können.

Er legt das Heft beiseite. Das ist nicht, was er sucht. Seine Mutter will er finden. Sie hatte, so viel ist ihm bekannt, das Heim im Sommer 1957 verlassen, ihrer Hochzeit wegen. Im Januar 1958 war dann er, Richard, zur Welt gekommen. Sie muss bei der Trauung in der Kirche bereits schwanger gewesen sein. Und war dann, nach ihrem Austritt, wohl nie mehr ins Heim zurückgekehrt. Warum eigentlich nicht? Sie war doch so zufrieden gewesen, damals und dort. Das hatte sie mehrfach geäussert. Wenn sie vom Heim sprach, huschte immer ein Lächeln über ihr Gesicht. Zuerst hatte sie dort als Köchin, später als Erzieherin gearbeitet. Das war auch die Zeit, in der sie schwanger wurde.

Was war danach passiert? Warum war sie im Leben später nicht mehr froh geworden? Zwei Jahre nach der Hochzeit hatte ihr Ehemann sie verlassen. Er war nicht Richards leiblicher Vater. Richard wusste von beiden, dem leiblichen und dem rechtlichen, so gut wie nichts. Nur, dass er vom einen den Vornamen und vom anderen den Nachnamen trug. Die Mutter hatte ihn, den Sohn, im Leben noch mehr als vierzig Jahre lang begleitet. War immer für ihn da gewesen, immer liebevoll. Aber sie war eine stille Person geworden, hatte sehr zurückgezogen gelebt. Jahrzehntelang hatte sie später im Hotel gearbeitet, war im grossen Gasthaus für die ganze Wäsche verantwortlich gewesen. Vermutlich hatte sie noch sehr viel mehr geleistet für das regional bekannte Restaurant und Hotel, einem beliebten Ausflugs- und Tagungsort. Auch Mitarbeiter des Volkschulamtes waren dort bisweilen zu Beratungen zusammengekommen. Vielleicht tagten sie dann zusammen mit dem Jugendamt und dachten darüber nach, wie die kantonale Aufsicht über die Zürcher Kinder- und Jugendheime, darunter auch das Pestalozzihaus, ausgestaltet werden sollte.

Wie seine Mutter es geschafft hatte, ihre Arbeitszeiten und Betreuungspflichten unter einen Hut zu bringen und ihn auch in kritischen Momenten nie allein zu lassen, war Richard, heute Vater von vier inzwischen erwachsenen Kindern, schleierhaft. Vielleicht würde er im Archiv mehr über sie erfahren, etwas über die Zeit vor seiner Geburt. Daher stand dieser Aktenberg nun neben ihm. Man hatte ihm gesagt, es sei nicht mehr allzu viel vorhanden. In den ersten Jahren nach ihrem Tod, das waren jetzt etwas mehr als zwei Jahrzehnte, hatte er keine Zeit gehabt für Nachforschungen. Die Kinder waren da noch recht klein gewesen. Er und seine Frau hatten alle Hände voll zu tun gehabt, den Kopf besetzt von den Herausforderungen des Alltags. Jetzt, da er pensioniert war, war das anders. Er hatte sich frühpensionieren lassen, war im Guten gegangen, fühlte sich entlastet und erleichtert.

Erst 71 Jahre alt war seine Mutter gewesen, als sie nicht mehr zu leben vermochte. Das war für heutige Verhältnisse ein früher Tod. Sie hatte kaum noch Lebensfreude gehabt. Die ersten Jahre mit den Enkeln, die hatte sie genossen. Dann hatte ihr aber die Kraft gefehlt, um weiterzuleben. Und ins Altersheim wollte sie sowieso nicht. Getrauert hatte Richard eigentlich gar nicht, als sie starb. Gemeinsam waren sie als Familie an der Beerdigung gewesen, hatten sich umarmt. Sonst war kaum jemand gekommen. Freundinnen hatte seine Mutter nur wenige gehabt. Er machte das anders, liebte es, Freundschaften zu pflegen. Bisweilen meldete er sich nach Jahren bei Bekannten, um noch einmal zu prüfen, ob sie nicht Freunde hätten werden können. Er schrieb dann eine Postkarte, wie altmodisch, manchmal auch eine Textnachricht auf dem Handy und wartete, ob etwas zurückkam.

Richard war ständig auf der Suche nach Menschen, mit denen er unterwegs sein konnte, die mit ihm wanderten oder sonst etwas unternahmen. In Bewegung bleiben, nach draussen gehen, Zeit in der Natur verbringen, die Beine auf eine Bank legen, das tat ihm gut. Was seine Mutter betrifft, will er jetzt nachholen, was noch möglich ist. Er atmet tief durch und schiebt mit der Rechten seinen linken Jackenärmel ein Stück nach oben. Plötzlich stört ihn seine Armbanduhr, er nimmt sie ab und legt sie neben sich auf die schwarze Schreibtischunterlage.

*

Neben den lose auf dem Stapel liegenden Dokumenten stehen mehrere offenbar von Hand beschriftete und gebundene Bücher. Sie sind säuberlich mit Jahreszahlen gekennzeichnet. Richard nimmt den ältesten Band aus den 1920er-Jahren vom Rollwagen und legt ihn sorgfältig vor sich auf den Tisch. Er streicht mit der flachen Hand über den blauen Karton, fährt mit dem Finger über den Rand der vorgefertigten Etikette. Da ist handschriftlich eingetragen: «Protokolle der Kommission für Kinderversorgung Band V,1922–1928». Er klappt den harten Kartondeckel auf. Die Bände I bis IV müssen irgendwann verloren gegangen sein. Alle folgenden stehen aber in der Reihe, ein letzter offenbar mit Protokollen aus den 1960er-Jahren. Die will er später anschauen, genauso wie die losen, noch neueren Protokollblätter, die in der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden sein müssen.

Richard beginnt, im ersten Vorstandsprotokoll des aufgeschlagenen Bandes zu lesen. Es ist die 256. Sitzung der Kommission. Sie fand am 18.Januar 1922 statt. Zufall, sein Geburtstag ist auch am 18.Januar, bloss 36 Jahre später, rechnet Richard. Getagt wurde damals, wie er der ersten Zeile entnimmt, in einem Sitzungszimmer des Gasthauses zur Krone in Winterthur-Töss. Daran würde sich die nächsten vierzig Jahre nichts ändern. Viele der umliegenden Vereine nutzten das Gasthaus am Stadtrand für ihre Sitzungen oder als Veranstaltungslokal. Das Heim war damals und ist bis heute als Verein organisiert. Die Kommission amtete als Vereinsvorstand. Die Sitzungsteilnehmenden entschieden über das Schicksal ihrer «Zöglinge», die im fast zehn Kilometer entfernten Räterschen wohnten, in der Gemeinde Elsau, vor den Toren der Stadt Winterthur. Viele schulpflichtige Kinder aus der Stadt wurden hier platziert. Ein eigenes Schulheim gibt es bis heute in der Stadt Winterthur nicht.

Vermutlich waren die Herren im dunklen Anzug und mit Schlips gekommen, es regnete an diesem Dienstag wie so oft im Januar 1922. Geschneit hatte es noch gar nicht, viel zu warm war es in der letzten Zeit gewesen. Hut und Schirm hatten die Herren am Eingang deponiert, die Damen mitten in der Woche ihre Schürzen abgelegt und ein frisches Kleid angezogen. Der Aktuar unter ihnen, ein Pfarrer, war etwas früher eingetroffen. Er sass mit Feder, Tinte und Löschblatt ausgerüstet schon bereit. Seine regelmässige Handschrift ist bis heute gut lesbar. Fein säuberlich hatte er wohl nach der letzten Sitzung die Voten und Ergebnisse ins Reine geschrieben, sodass diese nun, nach der Begrüssung der Anwesenden und Entschuldigung der Abwesenden, laut vorgelesen werden konnten. Dann wurde das letzte Protokoll, diesmal ohne Korrekturen und Änderungen, gutgeheissen und verdankt.

Die Kommission war von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Winterthur, die sich seit 1836 der Armutsbekämpfung und Bildungsförderung in der Region verschrieben hatte, ins Leben gerufen worden. In voller Länge hiess sie seit 1889 «Kommission für die Versorgung verwahrloster Kinder im Bezirk Winterthur». Sie bestand in der Regel aus elf Personen. Ihr erster Präsident war der reformierte Pfarrer Edgar Keller (gest. 1894) aus Winterthur. Im Gründungsjahr waren zudem ein Arzt, ein Lehrer, ein Kantonsrat und noch ein reformierter Pfarrer neben weiteren Herren im zunächst 7-köpfigen Gremium vertreten gewesen. Inzwischen, 1922, erkennt Richard, waren zu den Herren auch Frauen und «Fräuleins» hinzugestossen. Mit einer Ausnahme kamen sie alle aus den soeben in die Stadt eingemeindeten Orten Töss, Wülflingen, Veltheim, Oberwinterthur und Seen.

Nur der reformierte Pfarrer, Hermann Dütschler (geb. 1873), 49 Jahre alt, stammte aus Elsau. Er war es, der als Aktuar das Protokoll verfasste. Richard hat bereits recherchiert, dass der Dorfteil Räterschen, in dem das Heim bis heute steht, zusammen mit Schottikon zur Gemeinde Elsau gehört. Würde er sich bei einem der Vorstandsmitglieder erkundigen, könnte er erfahren, dass sich das Pestalozzihaus bis heute darum bemüht, einen ihrer Vorstandssitze an einen Elsauer oder eine Elsauerin zu vergeben. Richard versucht, das Protokoll noch besser zu entschlüsseln. Er erkennt, dass jeweils ganz am Anfang einzelne Stichworte eine Übersicht über Traktanden und Themen leisten. Winterthur am Anfang des 20.Jahrhunderts? Wie war das damals? Das will er einordnen können: Im Zuge einer kurzen Recherche wird ihm klar, dass das Milieu dieser gehobenen Herren und Damen die ausgeprägte Arbeiterstadt kaum repräsentierte. Vielmehr wird die Erinnerung an den Landesstreik von 1918 und die damit verbundene Bedrohung der öffentlichen Sicherheit sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Damen und Herren am Tisch noch höchst präsent gewesen sein.

Die drei grossen Winterthurer Industrien waren damals nicht unbeteiligt gewesen. In der ansässigen Metall- und Maschinenindustrie arbeitete ein Drittel aller Erwerbstätigen der Region. In der Textilmaschinenfabrik Rieter, die in unmittelbarer Nähe des Gasthauses zur Krone lag, war der Arbeitsfrieden inzwischen immerhin genauso wiederhergestellt worden wie in der Giesserei Sulzer AG und der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik, der «Loki», wie sie im Volksmund hiess. Die Arbeitszeiten der Angestellten waren reduziert worden. Viele der Kinder im Pestalozzihaus hatten Väter, die tagsüber in den Werkhallen arbeiteten, Mütter, die nach Betriebsschluss putzten. Vorausgesetzt, dass beide Elternteile noch lebten.

Im ausgehenden 19.Jahrhundert waren Zwölfstundentage und Kinderarbeit nichts Aussergewöhnliches. Dann kam das Anstellungsverbot für schulpflichtige Kinder, die hohe Arbeitslast für die Eltern blieb zunächst aber bestehen. Meistens waren die Grosseltern, welche die Kinder früher in den bäuerlichen und gewerblichen Familien betreut hatten, nicht in die Stadt mitgekommen. Die massive Zuwanderung hatte hier, insbesondere in den Aussenbezirken, aber zu Wohnungsnot und überteuerten Mieten geführt. In Winterthur-Töss, wo die Fabriken standen, lebten bis zu zehn Personen in einer Dreizimmerwohnung. Die Schulen waren überfüllt. Die ohnehin schon mit bis zu fünfzig Pulten ausgestatteten Klassenzimmer waren überbelegt, in etlichen der Bänke hatten die Kinder zusammenrücken müssen. Ausserhalb der Unterrichtszeit standen immer mehr Kinder unbetreut auf der Strasse. Verwahrlosung und städtische Armut waren für alle, die es sehen wollten, längst zum gut sichtbaren Problem geworden. Gemeinnützige Organisationen, unter ihnen die Gemeinnützige Gesellschaft des Bezirks, hatten damit begonnen, sich systematisch mit den «verwahrlosten» Menschen zu beschäftigen. Richard fährt mit seiner Lektüre des Protokolls fort. Den «allgemeinen Informationen» kann er zunächst wenig abgewinnen. Weiter unten folgen aber erste Einträge zu Kindern. Richard blättert. Ganz oben auf der zweiten Seite steht: «Walter Wobmann, der bei Familie Gattiker in Räterschen versorgt war, muss dort wieder weg.» Richard stutzt. Walter Wobmann. Den Namen kennt er. Ja, so hatte sein Vater geheissen, der leibliche. Richard liest weiter. Wobmann sei nicht ganz normal. Offenbar musste das Kind deswegen von den Gattikers wieder weg. Plötzlich hört er die tiefe, etwas kratzige Stimme seiner Mutter im Kopf: «Walter hiess er», hatte sie immer gesagt. «Sonst fällt mir nichts mehr ein. Wobmann zum Nachnamen.» Und dann: «Walter, wie du ja zum zweiten Namen heisst.» Und dann war nichts mehr zu erfahren gewesen. Eisern hatte seine Mutter geschwiegen, ihr Wissen schliesslich mit ins Grab genommen. Warum sie ihm nie von seinem leiblichen Vater erzählt hatte, verstand er bis heute nicht. Mit seinem zweiten Vornamen verband Richard nichts. Wer hatte noch gewusst, dass der Mann, dem seine Mutter in der Kirche das Jawort gegeben hatte, nicht der Vater ihres ungeborenen Kindes war? Wusste es der Bräutigam? Hatte er die Mutter, weil er erst nachträglich vom Kuckuckskind erfuhr, deswegen verlassen? Oder hatte Richard, ihm, so still und sanft, wie er war, nicht gepasst? Er konnte es nicht wissen. Richard hatte eigentlich nicht mehr daran geglaubt, je noch einmal etwas über seinen leiblichen Vater zu erfahren. Der rechtliche war ihm immer egal gewesen.

Als Jugendlicher und junger Erwachsener in den späten 1970er-Jahren hatte er sich oft gefragt, was für einer sein Vater, der leibliche, gewesen sein mochte. Ein Name allein gab nicht viel her. Wobmann, da gab es viele, das war Richard klar. Zuletzt hatte einer seiner Kunden so geheissen. Ein Wahlkampfporträt hatte er für den gedreht. Der frisch gewählte Kantonsrat war ihm danach dankbar gewesen. Das Video habe bei seiner Wahl eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Richard mochte diese Arbeit. Schon einige Jahre vor seiner Pensionierung hatte er damit begonnen, eine Website aufgebaut und sich dann mittels Mund-zu-Mund-Propaganda und sorgfältiger Arbeit einen kleinen Kundenstamm erarbeitet. Wobmann. Beim Filmen damals war es ihm gar nicht aufgefallen, dass er den Namen kannte. Richard hatte sich nie damit identifiziert. Als Kind hatte er wie seine Mutter geheissen. Beide hatten sie den Namen ihres geschiedenen Ehemanns getragen. Später hiess er wie seine Frau. Sie gehörten zu den Ersten, die von der Möglichkeit Gebrauch machten, den Namen der Frau zum Familiennamen zu erklären. Er wollte endlich auch eine richtige Familie sein. Eine, die nicht sofort Anlass bot zu Rückfragen.

Geheissen hatten sie daher alle sechs gleich. Das war Richard wichtig gewesen. Seine Frau wäre zudem niemals bereit gewesen, ihren Namen abzugeben. Schon damals arbeitete sie an der Universität, Medizinaltechnik. Zu viel, sagte sie immer, habe sie schon unter ihrem Namen publiziert. Später hatte sie es tatsächlich geschafft, einen der begehrten Lehrstühle zu ergattern. Kennengelernt hatte er sie in einem überfüllten Zug, als sie beide verschwitzt aus den Bergen von einer Wanderung nach Hause zurückgekehrt waren. Er hatte ihr angeboten, sich auf seinen Rucksack zu setzen, so waren sie ins Gespräch gekommen. Inzwischen ist sie eigentlich ebenfalls in Rente. Länger schon sogar als er. Aber sie arbeitet weiter, hat ein Büro an der Uni behalten dürfen. Sie will oder kann nicht loslassen. Auch das versteht Richard nicht. Er hat aber längst gelernt, dass er sie nicht ändern kann. Er lässt sie und ja, fühlt sich oft einsam in seiner Ehe.

Jeden Abend kocht er für sie, das ist seit ihrer ersten Begegnung so geblieben. Und es war auch nicht anders gewesen, als sie zu sechst als Familie um einen Tisch gesessen hatten. Richard hatte es geliebt, allabendlich für die ganze Familie sorgen zu dürfen. Jetzt waren es, wie am Anfang, nur noch sie beide. Immer schon hat er sich mehr nach Zuneigung und Nähe gesehnt als sie. Ob sie eine normale Familie geworden waren? Bei all den Streitereien darüber, wer welche Aufgaben im Haushalt zu übernehmen hätte? Vielleicht war das ja normal. Wenn er ehrlich gewesen wäre und wenn er je gelernt hätte, so etwas zu formulieren, dann hätte er ihr längst gesagt, dass sie ihm oft fehle. Die Einsamkeit mit ihr ist dieselbe, die er schon als Kind empfunden hat. Seit die vier Kinder alle ausgeflogen sind, spürt er sie wieder.

Noch immer sitzt Richard vor dem Protokolleintrag, der von einem Walter Wobmann handelt. Er starrt auf den Namen, geht die fremden Buchstaben einzeln durch. Nein, er hat sich nicht geirrt. Könnte es denn sein, dass dieser sein Vater war? Der Genannte hat Jahrgang 1902, wäre bei Richards Geburt also 56 gewesen. Unwahrscheinlich.

Richard klappt seinen Laptop auf. Im Telefonverzeichnis gibt er den Namen Walter Wobmann ein. Das ergibt über 100 Treffer in der Schweiz und dürfte damals nicht viel anders gewesen sein. Im «Familiennamenbuch der Schweiz» könne er nachschlagen, erklärt ihm die Archivarin. Da stösst er auf über ein Dutzend Familien, die den Namen in den letzten beiden Jahrhunderten trugen. Ursprünglich aus Luzern, leben sie heute verteilt über die ganze Schweiz. Das Pflegekind im Protokoll muss also keinesfalls sein Vater gewesen sein. Als seine Mutter 2001 starb, daran erinnert er sich gut, war ihm erst eingefallen, dass ja vermutlich auch sein Vater nicht mehr lebte. Sicher konnte er sich nicht sein. So jung, wie sie gewesen war. Ihm war aber klar geworden, dass er ihn ohne ihre Hilfe noch viel weniger würde finden können. Und jetzt, auf der Suche nach ihr, steht er plötzlich vor einem, der wie sein Vater heisst. Wer auf die Jagd geht, sollte nicht erschrecken, wenn er auf einen Tiger trifft.

«Nicht normal» sei Walter Wobmann, liest Richard. «Beeinträchtigt» würde man heute sagen. Könnte seine Mutter diesen Walter Wobmann gekannt haben, während sie im Heim gearbeitet hatte? 1957 muss sie schwanger geworden sein. Das Protokoll war über dreissig Jahre älter. Kaum möglich, dass ein «Zögling» so lange geblieben wäre. Mit der Volljährigkeit mussten sie raus. Das war heute nicht anders. Bloss, dass diese schon mit 18 eintritt, früher erst mit 20 Jahren. Alle seine vier Kinder, erinnert sich Richard, wurden mit 18 erwachsen. Er selbst hatte noch 20 werden müssen, um frei zu sein. Allerdings, erinnert er sich, war es bei seinen Kindern eigentlich nicht anders gewesen als bei ihm selbst. Sie brauchten im jungen Erwachsenenalter noch etliche Jahre lang jemanden, der ihnen zur Seite stand. In Ausbildungsfragen, bei Amtskorrespondenzen, Bankgeschäften, Gesundheitsbelangen oder Steuerfragen hatten sie immer zuerst bei ihm nachgefragt. Es erfüllt ihn bis heute mit Stolz, dass er für seine Kinder da gewesen ist. Der Wobmann im Protokoll hätte der Vater seiner Mutter sein können. «Debil» und viel zu alt für sie. Das kann nicht sein. Allerdings, denkt Richard, wären es zwei gute Gründe für ihr späteres Schweigen.

Aber das Heim stimmt. Richard sucht die Mutter schon am richtigen Ort. Eigentlich hätte er gleich den Band mit den Protokollen aus den 1950er-Jahren aufschlagen können. Aber er will sich einen Überblick verschaffen. Und er hat Zeit. Daher fängt er ganz vorne an. Das Heim als solches interessiert ihn sowieso, das Aufwachsen der Kinder, die Erziehung in einer anderen Zeit, die Gründe dafür, warum sie ins Heim gekommen waren. Er sitzt noch immer wie gelähmt vor dem Eintrag. Ein geistig Behinderter, der den Namen seines Vaters trägt, auf den er gestossen ist, wo er seine Mutter vermutete, allerdings im völlig falschen Jahrzehnt.

Dieser Walter hier, rechnet Richard weiter, war 1916 eingetreten, mit 14 Jahren also, war zuerst ins Pestalozzihaus gekommen, dann zu Gattikers, wo er sechs Jahre lang bis 1922 blieb. Am 22.August 1922 würde Wobmann volljährig werden. Walter musste wohl auch deswegen von Gattikers weg. Richards Mutter würde erst 1930 zur Welt kommen, acht Jahre später, und war dann bei Richards Geburt 28 Jahre alt.

Richard schiebt seinen Stuhl zurück, steht auf, geht die paar Schritte zur Tür und verlässt den Saal. Hinter sich hört er den Signalton des Sicherheitsschlosses und wie die Türe zuschnappt. Hier muss es doch irgendwo Kaffee geben.

Der Vorstand

Richard kehrt in den Lesesaal zurück, er fühlt sich frischer. Im nachfolgenden Protokoll stösst er erneut auf einen Eintrag zu Walter Wobmann. Es ist der 29. März 1922. In diesem Jahr würde der Vorstand fünf Sitzungen abhalten, im Januar, März, Juni, Oktober und Dezember je eine. Heute sind es noch vier Sitzungen, die jährlich durchgeführt werden. Dienstagabend, um viertel nach sechs Uhr, beginnen sie. Seit Jahrzehnten finden sie vor Ort statt, in einem Büro auf dem Areal in Räterschen.

Zuletzt, es war der Märztermin, dunkelte es bei Sitzungsbeginn gerade ein. Die Linde am Hinterausgang des «Felsenhofs» war noch kahl. Vorne, dort, wo der obstbaumgesäumte Zugang zum Haus auf die Strasse trifft, Zwetschgen wachsen hier, sind inzwischen vorschriftsgemäss Parkfelder entstanden. Um diese Zeit sind die meisten frei. Aufmerksam nehmen einige der Vorstandsmitglieder beim Ankommen das neue Elektroauto wahr, es wurde für den Hausdienst angeschafft und an einer früheren Sitzung so bewilligt. Aus der frisch betonierten Ladestation hängt noch ein Kabel. Vom Spielplatz hinten auf dem Areal dringen Kinderstimmen. Die zahnlose Katze kommt im Laufschritt heran, miaut, lässt sich bereitwillig streicheln. Dann zieht sie mit erhobenem Schwanz Richtung Stall wieder ab. Das lang gezogene Riegelhaus, die Scheune, wurde vor wenigen Jahren zur Mehrzweckhalle umgebaut. Alles riecht noch neu. Unten im Foyer findet die Sitzung statt. Die Institutsleitung hat den Sitzungstisch vorbereitet. Wassergläser stehen bereit, der Projektor läuft. Die Vorstandsmitglieder begrüssen sich gegenseitig. Ein Letzter stösst knapp vor Beginn dazu. Durch die Gartentür betritt er den Raum, kommt, wie die meisten, gerade von der Arbeit. Es geht gleich los. Gläser werden gefüllt, man nickt sich zu, im Wissen, dass nach der Sitzung Zeit zum Gespräch ist. Es wird einen kleinen Imbiss aus der Heimküche geben. Einige kennen sich seit Jahren, sogar Jahrzehnten, andere sind ganz neu hinzugestossen. Auch der Vertreter aus Elsau ist dabei, ein reformierter Pfarrer.

Die Präsidentin eröffnet, begrüsst die Anwesenden, erläutert die Traktanden. Es werden Entscheidungen fallen zum Schulraum und die Leitung informiert über Personelles. Oberhalb des Foyers, im Dachstuhl der ursprünglichen Scheune, wurde eine Turnhalle eingebaut. In den alten Balken ganz oben hängt ein Volleyball fest. Hier oben lagerten früher Heu und Stroh, unten waren die Pferde untergebracht, im Stall gegenüber die Kühe. Das Kinderheim, die «Anstalt», wurde 1900 gegründet. Heute sprechen die Fachleute von einer «sozialpädagogischen Institution». Heim und Landwirtschaft auf dem gleichen Areal, das wollte die Kommission so, die sich im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens, noch vor der Gründung des Heims, ausschliesslich um die Unterbringung von «verwahrlosten» Kindern in Pflegefamilien gekümmert hatte. Weil für einige keine Familie gefunden werden konnte, sollte ausserhalb der Stadt die «Anstalt» entstehen. Die Kinder sollten mit der Natur und mit Tieren in Berührung kommen. Das würde ihnen guttun, fanden die Herren.

Das Gut zum Felsenhof in Räterschen schien der Kommission, die eine Weile lang nach einem geeigneten Standort gesucht hatte, passend. Es lag unweit der Stadt und war trotzdem ländlich geprägt. Die Kommission kaufte das stattliche Anwesen damals für 68000 Franken. Im Haupthaus, dem «Felsenhof», ehemaliges Amtshaus der Gemeinde, würden etwa zwanzig Kinder wohnen können. Der angrenzende, schöne Riegelbau mit Wohnung für die Landwirte, Ökonomiegebäude genannt, und der Stall gehörten dazu. Die Heimeltern würden mit den Kindern im «Felsenhof» wohnen, der damals, genauso wie die Scheune, schon 150 Jahre lang dort stand. Verkehrstechnisch lag die Anlage gut, direkt an der Achse Winterthur–St.Gallen. Zum Bahnhof Räterschen, den die Bundesbahnen schon 1855 eröffnet hatten, waren es bloss zehn Minuten zu Fuss. Das ist heute nicht anders. Eine kurze Zugfahrt später, heute sind es ein paar Minuten mit der S-Bahn, erreichen Kinder, Jugendliche, ihre Eltern, Mitarbeitende, Vorstandsmitglieder und Gäste den Bahnhof Winterthur in der Stadt.

Innerhalb Winterthurs fuhr seit der vorletzten Jahrhundertwende ein Tram, zuerst nur vom Bahnhof bis zur Textilmaschinenfabrik Rieter in Töss. Allerdings war etlichen der rund 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter das moderne Transportmittel zu teuer. Sie nutzten stattdessen ein Fahrrad, das nun in Massenproduktion hergestellt wurde. Später wurde das Tramnetz ausgebaut. Mitte der 1950er-Jahre lösten dann Busse den innerstädtischen Schienenverkehr wieder ab. Bis heute ist die Institution in Räterschen, in der seit inzwischen fast 125 Jahren täglich mehrere Dutzend Menschen ein- und ausgehen, verkehrstechnisch gut gelegen.

Die bestehenden Gebäude des Landgutes mussten 1900 für den neuen Zweck baulich nur geringfügig angepasst werden. Hier würden die «Zöglinge» bekommen, «was ihnen fehlt», davon waren die Verantwortlichen überzeugt, und so würde es eine der «Hausmütter» später formulieren. Der «Hausvater» war verantwortlich für Erziehung, Schule und Landwirtschaft in einem. Er unterstand direkt der Kommission. Die Hausmutter war zuständig für die Hauswirtschaft und Küche. Ihr Lohn war in jenem des Hausvaters eingerechnet. Heute gibt es je eine Heimleitung für die Bereiche Schule und Wohnen. Zwei Frauen sind als Co-Leiterinnen eingesetzt. Der Landwirtschaftsbetrieb ist verpachtet. Eine enge Zusammenarbeit zwischen dem pädagogischen und dem landwirtschaftlichen Betrieb ist über die Jahrzehnte hinweg bestehen geblieben.

Richard hatte nachgeschaut: Das Pestalozzihaus, wie es von Anfang an genannt wurde, gibt es als kantonales Kinder- und Jugendheim bis heute. Die Institution heisst nach mehrfacher Namensänderung «Pädagogisches Zentrum Pestalozzihaus, Räterschen». Amtshaus, Scheune, Stall und Bauernhaus erfuhren bauliche Änderungen, werden aber weiterhin genutzt. Mit den Jahren sind weitere Gebäude hinzugekommen, neue Wohn- und Schulhäuser. Über 1000 Kinder sind es inzwischen, die hier einmal gewohnt haben oder hier leben und zur Schule gehen. Einige Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren oder sind hier tätig. Aus der Kommission wurde der Vorstand. Behörden überwachen die Qualität und das Geschehen.

Während der laufenden Vorstandssitzung in der ehemaligen Scheune ist es draussen dunkel geworden. Die Kinderstimmen sind ganz verstummt. Mit ihren Betreuerinnen und Betreuern sitzen die Mädchen und Jungen jetzt beim Abendessen in ihren Wohngruppen. Oder sie sind beim Training im Sportverein. Es wiehert ein Pferd. Ein Vater, der mit einem Lehrer gesprochen hat, verabschiedet sich gerade. Die Sitzung ist beim letzten Traktandum angelangt. Der Vorstand plant, zum 125-Jahr-Jubiläum eine Geschichte zu veröffentlichen. Es ist aber aus dieser langen Zeit ausser Erinnerungen und Gebäuden nicht viel übrig geblieben. Immerhin, die Kommissionsprotokolle und die Jahresberichte gibt es noch. Jedoch keine Kinderakten, keine Personaldossiers, keine Baupläne und auch keine Bücher aus der Finanzabteilung. Auch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind noch da. Viele Hundert von ihnen. Die allermeisten leben noch, einige liessen sich allenfalls befragen. Ehemalige allen voran, auch Kinder, die hier aktuell wohnen natürlich. Dann Lehrer, Hauseltern, Erzieherinnen, Köchinnen, Knechte, Hauswarte, Praktikantinnen, Eltern, Pfarrer, Ärzte, Berufsberater, Behördenmitglieder oder Verwaltungsmitarbeiterinnen des Kantons. Doch das vorhandene Material bleibt bruchstückhaft. Erinnerungen sind unvollständig, Protokolle auch. Darüber haben sich die Vorstandsmitglieder gerade den Kopf zerbrochen.

Was, wenn man aus dem Erinnerten eine Geschichte schreiben würde? Es wären Sequenzen aus Biografien derer, die einst vor Ort gewesen sind. Schnipsel aus ihrem Leben.