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Am Anfang stand ein aussergewöhnlicher Quellenfund: Briefe einer bekennenden Nationalsozialistin, hunderte davon, aus der Feder der eigenen Grossmutter. 75 Jahre nachdem Hilde ihren Namen unter die letzte Zeile setzte, nimmt ihre jüngste Enkelin den Faden wieder auf. Sie schlüpft in die Schuhe ihrer Ahnin und führt uns ab 1921 über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg durch deren Alltag. So entsteht ein ungewöhnlicher Einblick in die damalige Nazi-Diktatur. Wir fühlen mit, obwohl wir doch Abscheu für Hildes Denken und Handeln empfinden. «Hätte auch ich mich damals so gnadenlos geirrt?», wird zur drängenden Leitfrage der Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Gnadenlos geirrt
Die Geschichte meiner Grossmutter
1907 – 1945
Barbara Bonhage
Gnadenlos geirrt
Die Geschichte meiner Grossmutter
1907 – 1945
© 2021 Barbara Bonhage, barbarabonhage.ch
Gestaltung: Anita Lussmann Aragão, luar.ch
Lektorat: Barbara Tänzler, textamwasser.ch
Korrektorat: Corinne Hügli
Verlag & Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Paperback 978-3-347-25876-1
ISBN Hardcover 978-3-347-25877-8
ISBN e-Book 978-3-347-25878-5
Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Dieses Buch erzählt von realen Personen und basiert auf reichhaltiger Dokumentation. Es gibt nach sorgfältiger Recherche die Interpretation der Autorin wieder. Alle verwendeten Materialien, die weiterführende Literatur, Übersichtstafeln und Verzeichnisse sind im Anhang aufgeführt. Alle Namen von lebenden Personen wurden geändert.
Titelbild: Hilde, etwa 31 Jahre alt. Das Bild entstand vermutlich 1938 anlässlich der Verleihung des Mutterehrenkreuzes. Hilde hat die «Ehrennadel für die kinderreiche Mutter» angesteckt.
Inhalt
Das Erbe ausschlagen
Den Anschluss finden (1921–1932)
«Heil Hitler! Dein Schwesterlein» (1932–1939)
Den Osten besiedeln (1939–1942)
«Gelernt ist gelernt» (1942–1943)
Krank und bitter enttäuscht (1943–1944)
Abschied nehmen (1945)
Nach 1945
Gestapeltes Schweigen
Dank
Personenübersicht
Zeittafel
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Bildnachweis
Das Erbe ausschlagen
Auf den folgenden Seiten erzähle ich die Geschichte meiner Grossmutter. Sie war eine Nazi. Das wusste ich schon lange – aber nichts Genaues. Niemand sprach davon. «Ich habe eigentlich kaum Erinnerungen an sie», sagte mein Vater immer.
Vor wenigen Jahren sind unerwartet Briefe aufgetaucht, die aus ihrer Feder stammen. Ich lernte die Sütterlinschrift lesen und entzifferte, was Hilde, so hiess sie, über zwei Jahrzehnte hinweg in mehreren hundert Briefen schrieb. Dann entschied ich mich, nachzuforschen. Ich folgte Hildes Lebensweg, fühlte mich ein in ihren Schmerz und die Freuden ihres kurzen Lebens. Aus der Distanz der Jahrzehnte und mit dem Wissen um das Verbrechen wollte ich herausfinden, wie sie das, was sie tat, für richtig halten konnte. Und ich begann zu verstehen, warum alle immer geschwiegen haben.
Schliesslich beschloss ich, Hildes Geschichte aufzuschreiben. Ich lieh mir ihre Stimme und wagte es, mich ihrer Denkweise anzunähern. Vieles, was sie nicht wahrnehmen wollte oder konnte oder schlicht leugnete, ergänzte ich. Oft bin ich an ihr schier verzweifelt. Ich konnte kaum fassen, wie verblendet sie war, wie rassistisch sie dachte und wie überheblich sie handelte.
Nicht selten war ich aber überrascht, wie sehr Hildes Leben meinem, unserem heute ähnelt. Wie fast jede und jeder, versuchte auch sie, voller Hoffnung für sich und ihre Kinder die Zukunft zu gestalten. Wie wir wohl alle, wollte auch sie zu einer besseren Welt beitragen. Sie wollte lieben, ehrlich ihren Anteil leisten und kam um bittere Enttäuschungen nicht herum. Das alles wird aus ihren vielen Berichten gut erkennbar. Sie schrieb hastig, oft unterbrochen von dem, was von ihr verlangt war in einem Alltag zwischen Arbeit, Windeln und Wehrmacht. Hilde glaubte immer, auf gutem Weg zu sein. Heute ist klar, dass dem nicht so war.
Hildes Geschichte zeigt auch, dass das Schweigen über das Verbrechen nicht erst nach Kriegsende begann. Das Verschweigen gehörte von Anfang an dazu, zum infamen Auftrag, den sich die Nazis selbst gegeben hatten. Danach haben Kinder und Kindeskinder weitergeschwiegen, den Auftrag weitergeführt – bewusst oder unbewusst.
So kann es sein, dass das lange Schweigen nach drei Generationen in Vergessen übergeht. Das sollte nicht sein. Wenn wir die Geschichten schon kennen, sollten wir von solchen, wie Hilde eine war, erzählen – auch dann, wenn es unsere eigenen Grosseltern sind. Es ist wichtig, dieses Erbe endlich auszuschlagen.
Barbara Bonhage, im April 2021
Hilde (2. v. l.) im Alter von elf Jahren zusammen mit ihrem Vater Paul, ihrer Mutter Hedwig und ihrer Schwester Elle in Holland 1918.
Den Anschluss finden 1921–1932
Noch einmal zählte Hilde nach, ob genügend Stühle da waren. Auch an diesem Nachmittag, es war im Sommer 1921, würden alle wieder in ihrem Garten zusammenkommen. Der Tisch war gedeckt, das Dortmunder Wetter dem hübschen, 14-jährigen Mädchen gewogen. Erstmals, seit sie in Deutschland lebte, fühlte sich Hilde richtig dazugehörig. Dank der Treffen ihrer Jugendgruppe war sie endlich angekommen.
Erst vor Kurzem hatte Hilde das freistehende Haus in der Gartenstadt mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester bezogen. Umgeben von einem parkartigen Garten, stand es von der Strasse etwas zurückversetzt. Wenige Stufen führten hinauf zum Eingang. Sein überdachter Vorplatz war von vier weissen Säulen eingefasst. Das Portal verlieh dem Haus etwas Herrschaftliches. Es war stattlich und mit seinen beiden Stockwerken geräumig ausgefallen. Der Estrich könnte später ausgebaut werden. Hilde und ihre Schwester, Elsbeth, genannt Elle, hatten beide nun wieder ein eigenes Zimmer.
Hilde kam aus einer gebildeten und wohlhabenden Familie, die international positioniert und gleichzeitig deutschnational eingestellt war. Ihre Eltern hatten sich kurz vor der Jahrhundertwende in London niedergelassen, wo Hilde 1907 geboren wurde. Dort kam sie früh mit Kunst, Musik und Büchern in Berührung. Gelehrte, Diplomaten und Geschäftsleute gingen bei ihnen im Haus «Glückauf» ein und aus. Hildes Vater, Paul Danneel, führte mit seinem englischen Geschäftspartner, einem Mr. Dubleday, den Ableger des Hamburger Stammsitzes der Familie. Er handelte «mit Tuchen und Seiden». Das Geschäft lief gut und erlaubte dem Londoner Familienzweig ein mondänes Leben.
Ganz so gross und vornehm, wie Hildes Geburtshaus war ihr neues Zuhause im Ruhrgebiet nicht mehr ausgefallen. Auch fehlte der Blick in die weite Landschaft. Dafür war der Garten grosszügiger angelegt. Hildes Vater würde nun hier Blumen und Sträucher, Obst und Gemüse gedeihen lassen. Das hatte er ihr versprochen. Sie erinnerte sich gut daran, wie sie ihm schon als kleines Mädchen im Garten hatte helfen dürfen. Als dann in London überraschend alles zu Ende ging, war sie erst sieben. Mitten im Krieg musste nicht nur der Vater, sondern 1916 – getrennt von ihm – auch Hilde mit ihrer Mutter und Schwester England für immer verlassen.
Nach einer Odyssee und dutzendfachen Umzügen kamen sie 1919 nach Dortmund. Zuerst kamen sie nur provisorisch unter, in einer möblierten Wohnung des «schaurigen» und «dreckigen Bürgerhauses», einer städtischen Einrichtung. Einige Monate wohnten sie dort, bis es Hildes Eltern gelang, ein kleines Haus in der ruhigen Gartenstadt zu erstehen. Nun, zwei Jahre später, waren sie eine Strasse weiter an die Freiligrathstrasse gezogen, wo Hilde ihren Freundinnen ein repräsentatives Haus vorzeigen konnte.
Hilde war ein grossgewachsenes, manchmal vorlautes Mädchen. Ihre dunkelblonden Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten. Aus der Schule brachte sie gute Noten nach Hause. Oft war sie auf dem Nachhauseweg schon von Weitem zu hören, wenn sie mit ihrer Schwester lachend und voller Energie Pläne für den Nachmittag schmiedete. Seit 1921 gehörte Hilde dem Jungnationalen Bund an, den alle «Junabu» nannten. Die Jugendgruppe war Teil der politisch engagierten Bündischen Jugend, die zur Zeit der Weimarer Republik die Tradition der vormaligen Wandervogel- und Pfadfinderbewegung weiterführte. Möglichst weit weg von zu Hause suchten sie die Freiheit.
Hildes Eltern hatten ihre beiden Töchter zum Beitritt ermutigt. Der neu gegründete Bund hatte sich vom rechtskonservativen und monarchistisch geprägten «Deutschnationalen Bund» abgespalten. Er schloss Juden von einer Mitgliedschaft aus. Der Junabu wollte die Erneuerung. Er lehnte die Prinzipien der parlamentarischen Demokratien, wie sie etwa in England, Frankreich und den USA im Entstehen begriffen waren, strikt ab. Hilde war «Junabuerin» von ganzem Herzen.
Mit den Mädchen ihrer Gruppe verbrachten Hilde und ihre Schwester etliche lange Nachmittage. Manchmal versuchten sie Bruchstücke dessen zu wiederholen, was sie aus den Gesprächen ihrer Eltern über die politische Lage herausgehört hatten. Gemeinsam lasen sie die Artikel der Verbandszeitschrift Jungnationale Stimmen. Nickend stimmten sie zu, wenn die Demokratie der Weimarer Republik destruktiv und volksfeindlich genannt wurde. Sie verhandelten das Weltgeschehen wie Erwachsene und glaubten fest daran, dass die Führer des Jugendbundes zusammen mit Politikern einen neuen Weg für Deutschland finden würden. Hilde und ihre Freundinnen hatten gelernt, die Bedingungen des Versailler Vertrags als unerträglich zu empfinden. Die Siegermächte hatten Deutschland gedemütigt.
Nach ernsthaften Gesprächen bei Kaffee und Kuchen schlugen sie Rad auf der Wiese oder spielten Fangen. Sie tuschelten miteinander, kicherten oder sangen deutsche Lieder. Einige Jahre später gingen sie zusammen mit den Junabu-Jungs aus der Nachbarschaft «auf Fahrt». Sie zogen wandernd über die Hügel der Umgebung und streiften durch weiter entfernte Wälder. Hilde in ihrem über die Knie reichenden Rock, den ihre Mutter unzählige Male waschen musste. Er passte perfekt zum blaugrauen Fahrtenhemd mit der blauen und silbernen Kordel. Nicht nur die Jungs, auch die Mädchen trugen die Uniform. Ausgangspunkt für ihre Streifzüge war oft ihr «offenes Haus» in der Dortmunder Gartenstadt.
Im Juni 1925, Hilde war 18 Jahre alt, durfte sie zusammen mit Elle und drei Junabu-Jungs für vier Wochen verreisen. Sie zogen gen Süden in den Schwarzwald, bereisten Schaffhausen, sahen zum ersten Mal den tosenden Rheinfall und verweilten einige Tage am Bodensee. Als Junabuer und Junabuerinnen waren sie gut vernetzt. Oft kamen sie bei Bundesbrüdern und -schwestern unter, sie schliefen in Jugendherbergen, auf Heuhaufen, in Waldhütten wie auch völlig abenteuerlich unter freiem Himmel. Sie reisten streckenweise ohne Ziel und in zuweilen strömendem Regen. Als sie eines Abends in einem Stall untergekommen waren, rätselten die fünf, ob nun erst Freitag oder schon Samstag sei. Als der Bauer am nächsten Morgen den Stall in «feinem Sonntagszeug» betrat, nickten sie sich zu und erlaubten sich, ebenfalls die frischen Kleider anzuziehen. Die Jungs legten ein neues Hemd und «den ‹guten› Schillerkragen» an, während Hilde und Elle «voller Wonne» in reine Wäsche stiegen. Der Tradition der Wandervogel-Bewegung folgend, zogen sie ihre weissen, «sauberen Inselkleider» an. Ein festliches Gefühl, das Hilde mit der «Sauberkeit des Sonntags» ihrer Kindheit verband.
Einer der mitreisenden jungen Männer war Heinz Rustmeier. Hilde war über Jahre in ihn verliebt und entsprechend am Boden zerstört, als er ihr ein Jahr später schrieb, sie solle bitte davon absehen, ihm weitere Briefe zukommen zu lassen. Sein Vater wünsche keine Damenbekanntschaft, begründete er kühl. Hilde war verletzt. Heinz’ Abfuhr war schroff und sein Ton so ganz anders als sonst. «Ein so feiner Mensch!», seufzte Hilde in der Umarmung ihrer kleinen Schwester, die sie tröstete. Im gleichen Brief hatte Heinz Hilde wissen lassen, dass er seine Gruppe auflösen würde. Es wurde auch das Ende von Hildes eigener glücklichen Junabu-Zeit. Der enge Kontakt zu Heinz blieb aber bestehen.
1926 bestand Hilde im Dortmunder Goethe-Gymnasium ihr Abitur. Ihre Klassenkameradinnen nannten sie in der Zeit «Elefantenküken», da sie nicht nur gross gewachsen, sondern auch kräftig gebaut war. Ausserdem war sie oft zu schnell unterwegs oder bewegte sich ungeschickt. Dann stolperte sie über eine Stufe oder Kante und stürzte. Zu Hause fiel sie wiederholt die Treppe hinunter. Einmal zerbrach dabei ihre Füllfeder, mit der sie so gerne ihre viele Seiten langen Briefe schrieb.
Im Sommer vor ihrem Abitur trat Hilde erstmals eine grosse, internationale Reise an. Am 29. Juli 1925 machte sie sich auf den Weg nach London, in ihre Geburtsstadt. In der Früh nahm sie in Dortmund den Zug bis Duisburg, wo sie in den «noblen Luxuszug, ‹fürnehm› II. Klasse, grün gepolstert» umstieg, um an die Küste zu gelangen. Um 11 Uhr schiffte sie sich in Hoek van Holland zur Überfahrt über den Kanal ein.
Hilde blieb lange an der Reling stehen und verbrachte auch «die halbe Nacht» auf Deck. Es war Vollmond bei stürmischer See. Salz lag in der Luft. Vor neun Jahren hatte sie diese Reise in umgekehrter Richtung getan. Unfreiwillig damals, verzweifelt. Dieses Mal strotzte sie vor Selbstbewusstsein. In einem Brief an ihre Schwester liess sie die Stunden ihrer Reise Revue passieren. «Stolz wie Oskar» sei sie schon an der holländischen Grenze gewesen. Ihren Koffer musste sie zwar öffnen, ihr Pass wurde aber nur durchgeblättert und sie durchgewinkt. Am Hafen angekommen, nannte sie am Schalter ihren Namen und bekam sogleich eine bereits beschriftete «Kajütkarte» ausgehändigt. Auch gab sie hier «vertrauensvoll» ihr Gepäck ab, das sie dann später tatsächlich in der Kajüte wieder vorfand: «Ich schmiss die Sache.» Sie fühlte sich als geborenes Organisationstalent ganz in ihrem Element.
Nach wenigen Stunden Schlaf in der Kajüte schlich sich Hilde in der Früh um 4.30 Uhr wieder auf Deck. Sie wollte, in ihren Mantel gehüllt, den Sonnenaufgang miterleben und beobachten, wie sich die Küste von Dover langsam näherte. Um 6 Uhr hatte sie wieder festen Boden unter den Füssen und ging «kühl lächelnd» durch die Passkontrolle. «Ich bin eben ein Glückskind», schrieb sie ihrer Schwester.
«Liverpool Station» in London beeindruckte die junge Frau schwer. Der ganze Bahnhof schien in Bewegung, Menschen strömten in alle Richtungen. Ein brummender Lärm herrschte, Bremsen quietschten und Händler schrien, dazwischen wimmelte das Personal in verschiedenen Berufsuniformen herum. Einen so grossen Bahnhof gab es in Deutschland nicht. Hilde war gespannt auf die Metropole, ihren Onkel und die englische Tante, die sie beide seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie sah der Begegnung mit ihrem Cousin Roland aufgeregt entgegen und war dann erstaunt, wie vertraut er ihr nach den vielen Jahren noch war.
Hildes Brief an Elle und Heinz, verfasst nach der Überfahrt nach London, datiert auf den 1. August 1925.
Im Haus wurde Hilde mit «bacon and egg» empfangen und begann sofort damit, ihr Englisch auszuprobieren. Im Radio wurde gerade darüber berichtet, dass die Stadt Essen im Ruhrgebiet nach zweijähriger Besatzung durch französische Truppen wieder frei und deutsch sei. Das galt es doch zu feiern!
Hilde war «happy» in ihrem London, sie las englische Zeitungen und versuchte Kreuzworträtsel zu lösen. Sie besuchte Verwandte und alte Freunde der Familie. Die Londoner hatten ein eigenes Auto, mit dem sie gemeinsam Ausflüge in die nahe Umgebung, nach Oxford oder an einen See unternahmen. Abends im Bett, wenn alle zur Ruhe gekommen waren, wurde Hilde bewusst, dass es dem Londoner Familienteil besser ging als ihnen in Dortmund. Ein Auto konnten sich Hildes Eltern nicht leisten. Hilde hatte ihren Eltern nicht einmal erzählt, dass sie ihren neuen Mantel im Zug hatte hängen lassen. Erst nachdem sie ihn im Fundbüro von Liverpool Station wiederbekommen hatte, berichtete sie vom Malheur.
Hilde war als Sechsjährige 1913 in die «Craydon High School for Girls» eingeschult worden. Mit dem Kriegsausbruch erfuhr ihr glückliches Leben aber ein jähes Ende. Ihr Vater, Paul Danneel, wurde als Angehöriger einer Feindesmacht interniert. Er kam auf der Isle of Man in ein Lager. Hilde blieb mit ihrer Mutter und der Schwester im grossen Haus alleine zurück. Die Briten beschlagnahmten das Vermögen, gaben aber monatlich Beträge für den Lebensunterhalt der Familie frei. Als eines Tages ein Pflasterstein durchs Fenster flog und auf dem Wohnzimmerteppich liegen blieb, realisierte Hildes Mutter, Hedwig Danneel, dass sie als Deutsche in England zwar noch geduldet, aber nicht mehr geschätzt waren.
Trotzdem kam der Landesverweis des britischen Geheimdienstes 1916 überraschend. Hildes Mutter hatte von einem bekannten, ebenfalls internierten deutschen Offizier auf Urlaub einen Brief erhalten – versteckt in einer Pralinenschachtel. Der Offizier wollte fliehen und bat um einen Zugfahrplan. Hildes Mutter ahnte, wie gefährlich die Sache ausgehen könnte und unterliess jede Reaktion. Als der Offizier aber tatsächlich einen Fluchtversuch unternahm und verhaftet wurde, nannte er seine Kontakte. So kam es, dass das «War Office» Hildes Mutter mit den Mädchen ohne jede weitere Anhörung auswies. Die Möbel aus dem Haus mussten eingelagert werden. Die neunjährige Hilde sass im leeren Haus neben ihrer weinenden Mutter auf der Treppe und versuchte hilflos, sie zu trösten. Wenig später fuhren sie alle «im ‹Cab› den Hügel hinunter» und nahmen in «Victoria Station» Abschied von ihren Freunden und, wie sie befürchteten, für immer von London. Ein Auto brachte sie zur Küste nach Southampton, wo Hildes Mutter, mit je einem der Mädchen rechts und links an der Hand, den Pier entlang zum bereitstehenden Schiff ging.
Die kleine Elle schluchzte laut. Sie mussten zwischen zwei Reihen von «Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten» hindurchgehen. Das machte der Sechsjährigen Angst. Hilde riss sich zusammen. Erst an Deck des bereitstehenden Schiffs liefen auch ihr die Tränen übers Gesicht. Während der Überfahrt wurde sie furchtbar seekrank. Es stank entsetzlich in der grossen Kabine. Und weil das Schiff im Ärmelkanal von deutschen U-Booten hätte torpediert werden können, bekamen alle Passagiere Schwimmgürtel. Die Rettungsinseln standen bereit. Gegen Abend kam ihnen endlich ein holländisches Lazarettschiff entgegen, das sie zum Hafen eskortierte und sie in Hoek van Holland in Sicherheit brachte.
Sofort reiste Hildes Mutter, Hedwig, mit den Mädchen weiter nach Hamburg zu ihrem Vater, wo sie vorübergehend bleiben konnten. Dann nahm sich Lisa, eine Cousine Hedwigs, in Berlin der kleinen Familie an und organisierte in Charlottenburg eine winzige möblierte Wohnung. Die Briten gaben ihnen weiterhin «etliche Pfund» aus ihrem Vermögen frei. So hatten Hilde, Elle und ihre Mutter nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern konnten sich mit Ida sogar ein «Mädchen» als Haushaltshilfe leisten. Allerdings waren die Nahrungsmittel knapp. Die Deutschen hungerten. Alle sprachen nur vom Essen.
Hildes Mutter versuchte, ihre beiden Mädchen, so gut es ging, zu Hause zu unterrichten. Meistens waren sie allerdings zu hungrig dazu. Einmal durfte Hilde für ein paar Wochen zu einer Freundin auf ein Landgut mitfahren. Dort gab es ausnahmsweise nicht nur viel Platz und eine Freundin zum Spielen, sondern auch genug zu essen. Zum Abschied durfte sie sich eine dicke Wurst einstecken.
Nach Jahren der Ungewissheit in Berlin kam im März 1917 völlig unerwartet eine Nachricht von Hildes Vater. Paul Danneel war im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Hattem bei Zwolle in die neutralen Niederlande gelangt. Er lebte dort in einem offenen Gefangenenlager. Sie durften zu ihm. Hildes Mutter beschaffte die nötigen Reisedokumente. Mit der Bahn gelangten sie durch vom Krieg völlig zerstörtes deutsches Gebiet nach Holland. Die ausgehungerten Deutschen wurden mit einem üppigen Frühstück empfangen. Es gab Milch, Schinken und Eier. Hildes Vater war viel dünner geworden. Er sprach nur noch das Nötigste.
Die Familie blieb zwei Jahre lang in den Niederlanden. Zunächst wohnte Hilde mit ihrer Mutter und Schwester bei Bauern, wo sie sich mit Strohsäcken als Schlafplatz begnügen mussten. Dann bekamen sie ein kleines Arbeiterhaus zugewiesen. Hilde lernte fliessend Niederländisch und fand in den holländischen Schwestern Inecke und Mienje Cramer neue Freundinnen.
Im Januar 1919 wurde Paul Danneel freigelassen. Er fand Arbeit in Dortmund, wo er für die Firma Thörl, die Palm- und Kokosöle verarbeitete, einen Kleinwarenhandel aufbaute.
Ihre Ankunft in Dortmund fiel mit dem Märzaufstand im Ruhrgebiet zusammen. Direkt vor dem «Bürgerhaus» plünderten Aufständische Geschäfte. Dann marschierte die Reichswehr auf und skandierte: «Alle Fenster schliessen – weg von den Fenstern!» Soldaten begannen in der Strasse zu schiessen. Wieder – und nun auch in Deutschland – erlebte Hilde, wie ihre Eltern vor Angst und Schrecken erstarrten.
Einige Monate später erhielt die Familie ihr in London eingestelltes Mobiliar zurück. Und ausserdem das von den Briten beschlagnahmte Vermögen. Damit kaufte Hildes Vater ein kleines Haus in der Dortmunder Gartenstadt am Kettelerweg. 1921 bezogen sie das selbst gebaute stattliche Haus an der Freiligrathstrasse. Grosse Teile des restlichen Familienvermögens gingen Anfang der 1920er-Jahre durch die Inflation vollständig verloren. Hilde erlebte die Wut ihrer Eltern auf die Politiker der Weimarer Zeit, die sie dafür verantwortlich machten, hautnah. Gleichzeitig waren ihre Eltern dankbar, dass sie es geschafft hatten, in Dortmund Fuss zu fassen. Sie schöpften wieder Hoffnung. Am Haus prangte der Schriftzug «Sonneck». Über den Kamin hängten sie als Grundwerte der Familie die Wörter: «Friede, Freude, Freundschaft!»
Hildes frühe Erwachsenenjahre waren von etlichen weiteren Reisen geprägt. Im Juli 1926, ein Jahr nach ihrem Londoner Besuch, reiste sie mit der ganzen Abitur-Klasse nach Estland und Lettland. Osteuropa war als Ziel kein Zufall. Vielmehr galt es, den Schülerinnen am Beispiel der hier lebenden deutschen Minderheiten verständlich zu machen, was den Kern einer wahren «deutschen Rasse» ausmache. Hilde war hingerissen von der Reise und allem, was sie im Baltikum antraf. Was andere Klassenkameradinnen dachten oder zu Hause erzählten, ist nicht dokumentiert.
Die Reise führte über Estland nach Reval (Tallinn), Dorpat (Tartu) und weiter ins lettische Riga. Dr. Brenner, Hildes Lehrerin, hatte «deutschstämmige» Verwandte in der Nähe von Laisholm (Jõgeva). Der Gutshof war derart gross, dass die Klasse zunächst zwei Stunden lang durch eine «wunderbare, weite Landschaft» wanderte. Einige Schülerinnen sangen lautstark deutschnationale Lieder wie Nach Ostland gehtunser Ritt und In den Ostwind hebt die Fahnen. In aller Deutlichkeit proklamierten sie so ihren Anspruch, dass diese Gebiete – genauso wie Polen – einst wieder ganz deutsch werden sollten.
Hilde zeigte sich in den Briefen nach Hause begeistert darüber, dass es in Estland gelungen war, eine nach «völkischen» Prinzipien gestaltete «Volksgemeinschaft ohne Klassenkonflikte» und ohne «Fremde» zu schaffen. Sie erzählte, Armut zu Urtümlichkeit und Naturverbundenheit verklärend, dass es gleich nach ihrer Ankunft zum Abendbrot «Hirten-Grütze mit dicker Milch» und «ganz wundervolles Schwarzbrot» gegeben habe. Am nächsten Morgen hätten sie alle vor dem Frühstück im nahen Fluss gebadet. Milch gab es danach so viel sie wollten, auch Eier, Brot und Früchte. «Was für prächtige Menschen die Deutschen hier alle sind!» Besonders beeindruckt war sie vom «Stammesgefüge der Deutschen» untereinander. Sie hätten sich dadurch «ganz rein in ihrer Rasse» gehalten und wären alle «rein nordisch» geblieben, schrieb Hilde weiter. Trotz Mangels und ausgeprägter Schlichtheit verstünden es die Deutschen, sich vornehm einzurichten; «nicht mehr, als was gerade nötig» sei. «Es ist ihnen wirklich gelungen, ihr Deutschtum zu verteidigen, obwohl sie doch unter so schwierigen Bedingungen leben.» Der Klasse wurde vermittelt, dass die Deutschen als Minderheit von den Esten und früher von den Russen stark dominiert worden seien. Eine programmatische Bildungsreise, die keine Ambivalenzen zuliess.
In Estland fand Hilde das bestätigt, was sie und ihre Freundinnen in ihrer Junabu-Gruppe in Dortmund bereits diskutiert hatten: Wie sehr unterdrückt lebten doch so viele Deutsche ausserhalb der Reichsgrenzen, die ihnen der Versailler Vertrag aufgezwungen hatte. Nun sah sie es «mit eigenen Augen».
Hilde war von der Idee eines deutschen Neubeginns im ländlichen Raum des Ostens fest überzeugt. Mithilfe der Arbeitslosen aus den Städten, durch Umsiedlung der in ihren Augen unterdrückten «Volksdeutschen» aus den europäischen Ländern und durch den Einsatz eines noch zu entwickelnden Reichsarbeitsdienstes sollte der Osten wieder deutsch werden.
Nach ihrer Junabu-Zeit abonnierten Hilde und ihre Schwester weiterhin die Verbandszeitschrift Jungnationale Stimmen. Mehrere Reiseberichte dokumentierten darin die Erfahrungen der deutschen Minderheiten im Baltikum, aus Siebenbürgen oder dem Banat, einer Region in Südosteuropa, namentlich im heutigen Rumänien, Serbien und Ungarn. Besonders interessiert war Hilde an den Ausführungen zur «rassischen Grenzlehre». Die parlamentarischen Demokratien mit ihrer materialistischen und individualistischen Denkungsart seien schädlich für die sittliche Gemeinschaft des «deutschen Volkstums», fand sie wiederholt.
Im Herbst 1927, Hilde war 20 Jahre alt, verbrachte sie noch einmal einen Abend mit ihrer Jugendliebe Heinz. Er nahm sie zum Nikolausfest der studentischen Burschenschaft Alemannia nach Bonn ins Verbindungshaus «Auf die Schanze» mit. Hilde hatte sich fein gemacht, sie trug ein kurzes, schlichtes, hellgelbes Seidenkleid mit einem weissen, leichten Schal um die Schultern. Sie tanzte viel an diesem Abend und war voller Hoffnung, Heinz doch noch für sich gewinnen zu können. Doch es kam anders: Statt mit Heinz festigte sich an dem Abend die noch flüchtige Bekanntschaft mit Andreas, der in Bonn Jurisprudenz studierte. Heinz und Andreas gehörten beide der Alemannia an. Jahre später erzählte Andreas ihr vom Arrangement mit Heinz, wonach Hilde an diesem Abend ausschliesslich Andreas’ «Tischdame» sein sollte. Sie hatten über sie bestimmt, ohne dass sie davon wusste. Das verletzte Hilde auch nachträglich zutiefst. Als Heinz Jahre später, 1935, Inge heiratete, ging ihr dies noch immer sehr «an den Kragen». Auch hatte sie danach das Gefühl, nur noch «durch einen harten Panzer» zu Heinz vordringen zu können.
Zur eigenen Studienvorbereitung absolvierte Hilde nach dem Abitur ein Praktikum. Sie arbeitete in der Dortmunder Kinderklinik. Dort sah sie sehr schnell so vieles, was man in ihren Augen besser machen konnte. Als sie aber Veränderungen einbrachte oder gleich umsetzen wollte, wurde ihr klargemacht, sie solle sich strikt an die Vorgaben halten. Vor lauter Ärger über die Zurechtweisung hätte sich Hilde fast mit der Leiterin angelegt. Sie fügte sich, fand sich aber in ihrem Entschluss bestärkt, selbst Medizin zu studieren. Sie wollte die Dinge verändern.
Zu Semesterbeginn 1927 zog Hilde nach Bonn, wo auch Heinz und Andreas studierten. Jeden Tag lernte sie lateinische Vokabeln. Nur freitags erlaubte sie sich, freizunehmen. Sie hatte ihr eigenes Zimmer gemietet, fühlte sich zum ersten Mal erwachsen und stellte sich vor, wie es wäre, dereinst als Ärztin zu arbeiten.
Neben ihrem Studium wollte Hilde in Bonn einen Mann zum Heiraten kennenlernen. Zunächst legte sie es so an, dass sie sich von neuen Bekanntschaften in Latein unterstützen liess. Darunter war ein Herr, den Hilde in ihren Briefen an ihre Schwester als «Doktor W. aus Düsseldorf» bezeichnete. «Eigentlich Dr. rer. pol. ziemlich schick, Knickerbockers usw.» Neben solchen Bekanntschaften wollte sich Hilde bei der Burschenschaft der Alemannen umsehen. Die waren doch «etwas Besseres», schrieb sie. Dass die Alemannen auch jüdische Mitglieder zuliessen, schien Hilde nicht zu stören.
Hilde genoss ihre als Studentin neu gewonnene Freiheit in vollen Zügen. Zu den Vorlesungen kam sie oft absichtlich zu spät und setzte auf Kommilitonen, die ihr einen Platz freihielten. Wöchentlich ging sie ins Hallenbad zur «Reinigung und als Ertüchtigung». Montags von 7 bis 8 Uhr belegte sie Schwimmen als Semesterkurs. Bei jedem Wetter sauste sie mit ihrem Rad durch die Stadt, abends «mit Laterne». Mittags und abends ass sie in der Mensa für 80 Pfennige oder ausnahmsweise «feudal im Löwenbräu», wenn sie mit Kommilitoninnen und Kommilitonen unterwegs war.
Bereits vor dem schicksalhaften Tanzabend «Auf der Schanze» spazierte sie mit Bundesbruder Andreas, der kein Jude war und zudem auch noch blond und blauäugig, gerne dem Rhein entlang. Sie gingen zusammen mal in eine Weinstube, zum Essen oder zu einem Konzert. Mehr war da nicht.
Ins erste Studiensemester gehörte ein «Präparierkurs». So kam es, dass Hilde in den Kellerräumen der Universität ihre ersten Leichen sah, 14 Stück. «Man konnte leicht das Grausen kriegen!» Es stank «wie die