Venezianische Schatten - Daniela Gesing - E-Book

Venezianische Schatten E-Book

Daniela Gesing

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Commissario Luca Brassoni auf Verbrecherjagd im winterlichen Venedig Winter in Venedig. Kalter Wind und Nebel fegen durch die dunklen Gassen. Commissario Luca Brassoni und seine Freundin, Gerichtsmedizinerin Carla Sorrenti, genießen es, die sonst von Touristen überlaufene Stadt für sich zu haben. Bei einem nächtlichen Spaziergang begegnet ihnen an den Stufen der Kirche Santa Maria del Rosario eine junge Frau. Sie ist völlig verstört, kaum ansprechbar und hat ihr Gedächtnis verloren. Brassoni findet heraus, dass sie einem gefährlichen Verbrecher entkommen ist. Ein brutaler Serienmörder treibt in Venedig sein Unwesen, und er fängt gerade erst an … Von Daniela Gesing sind bei Midnight in der Ein-Luca-Brassoni-Krimi-Reihe erschienen: Venezianische Verwicklungen Venezianische Delikatessen Venezianische Schatten Venezianisches Verhängnis Venezianische Intrigen Venezianische Rache

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Die AutorinDaniela Gesing, Jahrgang 65, hat nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin Komparatistik und Pädagogik studiert und bei einer örtlichen Familienzeitung gearbeitet. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihrem Hund in Bochum. Die Leser lieben ihre Venedigkrimis mit dem sympathischen Ermittler Luca Brassoni.

Das BuchCommissario Luca Brassoni auf Verbrecherjagd im winterlichen Venedig  Winter in Venedig. Kalter Wind und Nebel fegen durch die dunklen Gassen. Commissario Luca Brassoni und seine Freundin, Gerichtsmedizinerin Carla Sorrenti, genießen es, die sonst von Touristen überlaufene Stadt für sich zu haben. Bei einem nächtlichen Spaziergang begegnet ihnen an den Stufen der Kirche Santa Maria del Rosario eine junge Frau. Sie ist völlig verstört, kaum ansprechbar und hat ihr Gedächtnis verloren. Brassoni findet heraus, dass sie einem gefährlichen Verbrecher entkommen ist. Ein brutaler Serienmörder treibt in Venedig sein Unwesen, und er fängt gerade erst an …

Daniela Gesing

Venezianische Schatten

Luca Brassonis dritter Fall

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Für Ben, Sam, Janni und Chrissi

Prolog

Es herrschte eine gespenstische Stille in der kleinen Gasse in Mestre, weitab von der Piazza Ferretto, dem Herzen der Stadt. Kaum ein Tourist verirrte sich um diese Jahreszeit jemals hierher. Doch Elisa Battista, eine hübsche einundzwanzigjährige Studentin mit langen blonden Haaren, die gerade von ihrem Nebenjob in einer kleinen Osteria kam, war so in die Nachrichten auf ihrem Handy vertieft, dass sie gar nicht wahrnahm, dass sie ein ganzes Stück in die falsche Richtung gelaufen war.

Eigentlich war sie auf dem Weg zur Bushaltestelle, dem letzten Nachtbus für heute. Es war erst ihr zweiter Abend bei ihrem neuen Arbeitgeber, und sie hatte gedacht, wenn sie die Abkürzung durch das alte Wohngebiet nähme, wäre sie schneller an der Haltestelle. Doch in der unbekannten Gegend sah eine Straße wie die andere aus. Als Ortsunkundige hatte man es da schwer.

Elisa war kein ängstlicher Typ und fürchtete sich nicht davor, im Dunkeln alleine nach Hause zu gehen, deshalb hatte sie auch ohne zu zögern die Stelle als Kellnerin für zwei Abende die Woche angenommen. Eine Mitbewohnerin ihrer Wohngemeinschaft, die den Chef der Osteria kannte, hatte ihr den Job vermittelt. Selbst jetzt, in der kalten Jahreszeit, besuchten viele junge Leute und einheimische Stammgäste regelmäßig das gut geführte Lokal. Elisa tippte die SMS an ihren Freund zu Ende, steckte das Handy in ihre dunkelblaue Beuteltasche, gähnte und sah sich dann verwirrt um. Wo zum Teufel war sie hingelaufen? Sie musste in die falsche Gasse eingebogen sein. Hier war sie noch nie gewesen. Die Häuser rechts und links sahen verfallen und unbewohnt aus. Irgendwo quietschte ein Fensterladen, der durch den eisigen Wind wie von unsichtbarer Hand bewegt wurde.

Fröstelnd zog die junge Frau den Kragen ihres Mantels ein wenig höher. Eine dicke, fette Ratte huschte vor ihren Füßen von einer Häuserzeile zur anderen. Elisa stieß einen spitzen Schrei aus, trat mit dem Fuß nach dem widerlichen Tier und drehte sich hastig um. Sie musste einfach nur den Weg zurückgehen, dann würde sie in einer halben Stunde zu Hause sein. Doch im selben Moment hatte sie plötzlich das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Es war fast so, als ob sie die Augen des anderen Menschen in ihrem Nacken spüren konnte. Dieser Blick, der sich aus der Dunkelheit unerbittlich auf sie heftete. War da nicht auch ein heftiges Atmen, das die Stille durchbrach? Elisa spürte, wie ihr die Angst die Kehle hinaufstieg. Es waren nur noch etwa hundert Meter zurück in das beleuchtete Viertel, aber als sie loslief, kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie schließlich wieder unter dem Licht einer Laterne stand.

Atemlos verschnaufte sie dort für einen kurzen Moment. Von Weitem sah sie nun auch wieder ein paar andere Menschen, die zu dieser späten Zeit noch unterwegs waren. Erleichtert zog sie eine Zigarette aus der Schachtel in ihrer Handtasche und suchte mit zittrigen Fingern nach dem Feuerzeug, als auf einmal eine kleine Flamme vor ihrem Gesicht aufleuchtete.

»Brauchst du Feuer?«, fragte eine angenehme, tiefe Stimme. Erschrocken blickte Elisa in die dunklen Augen eines Mannes, der vielleicht zehn Jahre älter als sie selbst sein mochte. Er war gut gekleidet, trug Jeans und eine dicke graue Daunenjacke, lächelte freundlich und machte einen vollkommen ungefährlichen Eindruck. Dies war zumindest ihr erster Gedanke.

»Si, grazie, das ist wirklich nett«, antwortete sie schließlich, zündete sich die Zigarette an der Flamme an und sog den Tabakrauch gierig ein.

»Ich habe mich dummerweise gerade verlaufen, ich bin echt froh, dass mir nichts passiert ist«, erzählte sie ihm mit wiedergewonnener Selbstsicherheit.

»Da drüben ist ja der Hund begraben. Keine Menschenseele weit und breit.«

Sie zeigte mit ihrem Finger in die Richtung der dunklen Gasse.

»Ja, man kann nie wissen, wer hinter der nächsten Ecke auf einen lauert«, hörte sie den Mann sagen. Sie hielt diesen Satz für einen schlechten Scherz, bis sie das seltsame Aufblitzen in seinen Pupillen bemerkte. Nervös schaute sie sich nach den anderen Leuten um, die sie vor zwei Minuten noch gesehen hatte. Doch die letzten Spaziergänger in dieser Nacht waren aus ihrer Sichtweite verschwunden. Als sie ihr Gesicht noch einmal dem Unbekannten zuwandte, um abzuschätzen, ob es Sinn machte, einfach loszulaufen, um den letzten Bus noch zu erreichen, wurde ihr plötzlich klar, dass sie heute Nacht nicht mehr nach Hause kommen würde.

Sein veränderter, kalter Blick und seine nunmehr bedrohliche Körperhaltung sprachen für sich. Ohne ein Wort zu sagen, bot er ihr einen Schluck heißen Tee aus einer kleinen Warmhalteflasche an, die er aus der Innentasche seiner Jacke gezogen hatte. Doch dies war kein freundliches Angebot mehr, sondern eine Aufforderung, ein stummer Befehl. Vermutlich hat der Mann etwas in den Tee gemischt, um mich wehrlos zu machen, dachte Elisa. Der kalte Schweiß brach ihr aus. Verzweifelt überlegte sie nach einem Ausweg. Als er aber dann auch noch langsam seine Jacke ein Stück öffnete und sie in einer Seitentasche ein silbern glänzendes Messer aufblitzen sah, wurde die Ahnung für die junge Frau zur Gewissheit. Mit zitternden Händen griff sie nach dem dampfenden Getränk.

Knapp drei Monate später

Kapitel 1

Es war einer der letzten Winterabende kurz vor Frühlingsbeginn. Luca Brassoni und seine Lebensgefährtin, die Rechtsmedizinerin Carla Sorrenti, flanierten dick vermummt am Zattere, Venedigs beliebtester Uferpromenade, entlang. Der Wind trieb ihnen weiße Flocken ins Gesicht, unter ihren Füßen knirschte der Schnee, der auf dem gefrorenen Boden liegengeblieben war.

Luca Brassoni ging in Gedanken noch einmal das vorzügliche Mahl durch, das Carla an diesem Abend für ihn gekocht hatte. Als Vorspeise hatte sie ihm ein Rinderfiletcarpaccio serviert, das seinesgleichen suchte. Zartes Fleisch, das auf der Zunge zerging, in harmonischer Zweisamkeit mit Parmesan und frisch gemahlenem Pfeffer. Danach war ein kleiner Teller Pasta mit Tomaten und Venusmuscheln gefolgt, und schließlich hatte als Hauptgang eine Komposition von feinen Kalbsrouladen, gefüllt mit Pilzen und Schinken, serviert mit Polenta, die geschmackliche Sinfonie gekrönt. Als Abschluss schwelgten der Commissario und seine Freundin in selbstgemachter Panna Cotta mit Himbeermus. Anlass dieses festlichen Mahls war der Halbjahrestag ihrer Beziehung. Frauen nahmen solche Daten ja immer sehr ernst, was Brassoni in diesem Fall mit Freude registrierte, weil er als engagierter Hobbykoch ansonsten die meiste Zeit selbst am Herd stand. Umso glücklicher machte es ihn, dass auch seine Liebste mit hervorragenden Kochkünsten ausgestattet war.

Als er gedankenverloren in den düsteren Abendhimmel schaute,

fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass laut Wetterbericht in den nächsten Tagen zunehmend Sonne und Wärme die Stadt überfluten sollten. Der Commissario konnte es jedes Jahr kaum erwarten, seine geliebten Rosen in dem kleinen Garten hinter seinem Wohnhaus endlich wieder blühen zu sehen.

Carla, die sich bei ihm eingehängt hatte, blieb plötzlich abrupt stehen und wies mit ihrer Hand, die in einem Wollhandschuh steckte, auf eine Gestalt, die reglos auf den Stufen der Kirche Santa Maria Rosario saß.

»Luca, sieh mal, die Frau dort drüben. Mit der stimmt doch irgendetwas nicht. Sie trägt nicht mal eine Jacke. Ihre Lippen sind schon blaugefroren.«

Luca Brassoni wandte seinen Kopf in die Richtung der Kirche. Er war so vollkommen entspannt seinen Gedanken nachgegangen, dass er seine Umwelt gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Nun fegte ihm eisige Kälte ins Gesicht. Zum Glück trug er eine Mütze, die seinen kahlgeschorenen Schädel bedeckte. Er musste ein paarmal blinzeln, ehe er durch den Schnee die Frau auf der Treppe entdeckte.

Tatsächlich, die junge Frau machte trotz ihrer hochwertig aussehenden Kleidung einen verwahrlosten, verwirrten Eindruck. Als er einen Schritt näher trat, konnte er Schürfwunden in ihrem Gesicht erkennen. Sie trug einen dünnen, mitternachtsblauen Rock mit hoher Taille und schwingendem Saum, dazu einen leichten, figurbetonten Rollkragenpullover in hellem Beige. An ihrem linken Arm befand sich eine silberfarbene Uhr, deren Zifferblatt zertrümmert war. Von einer Jacke oder einem Mantel war weit und breit nichts zu sehen.

Der Commissario räusperte sich, beugte sich zu der Frau hinunter und sprach sie freundlich an:

»Signorina, geht es Ihnen nicht gut? Können wir Ihnen helfen?«

Überraschenderweise verströmte ihre Kleidung einen Hauch von Parfüm, einen Duftcocktail aus Beeren, Kokosnuss und Vanille. Brassoni sog den angenehmen Geruch ein und musterte die junge Frau mit wachen Augen. Sie starrte weiter mit leerem Blick vor sich hin, die frierenden schlanken Finger krampfhaft ineinander verschränkt. Bei aufmerksamer Betrachtung sah man, dass ihre Kleidung an mehreren Stellen Risse und Schmutz aufwies.

»Können Sie mir vielleicht Ihren Namen sagen?«, versuchte es Brassoni in einem weiteren Anlauf.

Doch die Frau wich nur ängstlich vor dem Commissario zurück. Als er seinen Schal abwickelte, den er ihr zum Schutz vor der Kälte anbieten wollte, stieß sie einen leisen, spitzen Laut aus und hielt die Hände schützend vor ihr Gesicht.

Carla stieß ihren Freund unsanft in die Rippen.

»Luca, lass uns bitte die Ambulanz rufen. Du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht. Vielleicht ist sie Opfer eines Verbrechens geworden. Außerdem ist mein erster Eindruck als Ärztin, dass sie unter Schock steht und bald völlig unterkühlt sein wird. Ich versuche, sie dazu zu bringen, in den Innenraum der Kirche zu gehen, bis die Ambulanz sie weiterversorgen kann.«

Behutsam setzte sie sich zu der jungen Frau auf die Stufen und redete beruhigend auf sie ein, während Brassoni telefonierte. Nach ein paar Minuten nahm sie die verwahrloste Frau wortlos in den Arm und zog sie entschlossen von der Treppe hoch. Die Rechtsmedizinerin ignorierte das leises Wimmern, das dabei aus dem Mund der Frau kam, denn es war jetzt erst mal wichtiger, dass sie aus der eisigen Kälte herausgeholt wurde. Während Carla Sorrenti die Eingangstür zur Kirche öffnete, die aufgrund einer späten Messe noch nicht geschlossen war, stammelte die junge Frau wirre, unzusammenhängende Worte, die Carla nicht alle verstand.

»Non posso« und »Lasciami!«, das hörte sie heraus, also »Ich kann nicht« und »Lass mich«. Dann weinte sie heftig. Offensichtlich hatte die Frau Schreckliches durchgemacht, dachte die erfahrene Gerichtsmedizinerin. Besser, man ließ sie erst einmal in Ruhe, bevor man ihr weitere Fragen stellte. Als Luca Brassoni kurz darauf die Kirche betrat, hielt sie ihn deshalb mit dem ausgestreckten Arm davon ab, die Unbekannte anzusprechen, die inzwischen wieder völlig in sich selbst versunken war. »Sie braucht jetzt Ruhe!«, formte sie geräuschlos mit den Lippen. Brassoni verstand sofort, zog sich zurück und wartete vor der Kirche auf die Ambulanz. Carla setzte sich mit der Unbekannten in eine der hinteren Bänke, zog ihre eigene Jacke aus und legte sie der Frau über die Schultern. Hier war es wärmer als draußen, doch selbst in der Kirchenluft hinterließ jeder Atemzug eine dampfende Kondenswolke.

Carla Sorrenti hatte die dunkle Ahnung, dass dies der Beginn eines der längsten und schwierigsten Fälle ihres Lebensgefährten werden könnte.

Kapitel 2

»Maurizio, beeil dich, wir müssen zum Krankenhaus. Die Ärztin vom Ospedale Civile hat mich gerade angerufen. Die junge Frau, die Carla und ich heute Nacht in Dorsoduro aufgegriffen haben, leidet unter einer schweren Amnesie. Die Dottoressa wird uns Näheres dazu erzählen.«

Brassoni hatte den jungen Commissario schon auf dem Flur abgefangen.

Maurizio Goldini, Luca Brassonis gutaussehender Kollege, ein studierter Kriminologe wie sein Chef, schüttelte seinen Kopf mit den glänzend schwarzen Locken.

»Lentamente, Luca. Du weißt doch noch gar nicht, ob diese verwahrloste Unbekannte Opfer eines Verbrechens geworden ist. Vielleicht hatte sie einen kleinen Unfall. Wer weiß!«

Luca Brassonis markantes Gesicht wurde rot bis unter die kahlrasierte Schädeldecke.

»Ich bin mir sicher, dass hinter dieser Geschichte mehr steckt. Nach meinem ersten Eindruck sah diese Person nicht aus, als hätte sie einen Unfall gehabt. Der Notarzt und die Sanitäter haben die junge Frau untersucht und versorgt.

Keine Kopfwunde, keine Knochenbrüche, nur oberflächliche Verletzungen, die sie sich womöglich auf einer Flucht zugezogen haben kann. Ihr Verhalten spricht für ein traumatisches Erlebnis.

Sie war sehr mager, völlig ausgezehrt, als hätte sie lange nichts gegessen. Möglicherweise wurde sie irgendwo gefangen gehalten. Ich war heute Morgen schon ganz früh im Büro, da bin ich die Vermisstenmeldungen der letzten zwei Jahre durchgegangen. Kannst du dich erinnern, erst Anfang des Jahres ist eine Studentin unter ungeklärten Umständen nach ihrer Arbeit in Mestre verschwunden, und ein paar Monate zuvor ist das Gleiche mit einer deutschen Touristin passiert. Sie wohnte mit Freunden in einer Ferienwohnung in Cannaregio, wollte spätabends noch Getränke besorgen. Auch sie ist nicht wieder aufgetaucht. Alle Opfer sind jung, hübsch und blond. Genau wie die Unbekannte heute Nacht vor der Kirche. Und bei keiner der Frauen gab es Lösegeldforderungen oder Ähnliches.«

Goldini zuckte mit den Schultern.

»Va bene, Luca, du hast mich überzeugt. Da könnte wirklich was dran sein. Ich werde mir die Unterlagen über die Vermisstenfälle gleich nachher mal ansehen. Lass uns losgehen, jetzt bin ich doch gespannt, was man uns im Krankenhaus zu sagen hat.«

Luca Brassoni, der als Commissario Capo einen Rang über seinem Kollegen stand und deswegen die Verantwortung für etwaige Ermittlungen innehatte, seufzte erleichtert auf. Schon während er in der Nacht vor der Kirche auf die Ambulanz gewartet hatte, waren ihm die Vermisstenfälle der letzten Zeit in den Sinn gekommen. Wenn diese junge Frau demselben Entführer entkommen war, könnten ihre Aussagen von unschätzbarem Wert sein. Es würde sich zeigen, wie lange die Amnesie andauerte.

Die beiden Kommissare verließen ihre Dienststelle genau gegen acht Uhr dreißig am Morgen. Die Questura befand sich in der Nähe des Campo San Fantin, des kleinen Platzes mit der Renaissancekirche San Fantin aus dem 16. Jahrhundert. Dort konnte man auch die Scuola aus dem 17. Jahrhundert und an der Westseite das berühmte Opernhaus »La Fenice« bewundern. Die feine Schneeschicht, die in der letzten Nacht noch an einigen Stellen den Boden der Lagunenstadt bedeckt hatte, war fast vollständig verschwunden. Mit ganzer Kraft schob sich die Sonne zwischen den auflockernden Wolken hervor, und es schien tatsächlich ein verheißungsvoller Tag zu werden. Brassoni atmete die würzige Vorfrühlingsluft mit großer Genugtuung ein. Endlich war die Zeit des großen Frierens und der dicken Winterjacken vorbei. Der stattliche, zweiundvierzigjährige Commissario, dem seit einem Unfall in seiner Jugend der kleine Finger der linken Hand fehlte, wohnte privat in der Calle del Degolin im Stadtteil Dorsoduro. Er besaß dort eine großzügige Dreizimmerwohnung, zu der ein kleiner Garten gehörte, eine Rarität in Venedig.

Seitdem er mit der Gerichtsmedizinerin Carla Sorrenti liiert war, verlief sein Leben in ruhigeren Bahnen als zuvor. Einmal unglücklich geschieden, hatte er sein Dasein als Single lange Zeit mit gelegentlichen Affären gewürzt, ohne sich fest binden zu wollen. Aber jetzt war alles anders. Carla war bei ihm eingezogen, und gemeinsam hatten sie sich entschlossen, das Dachgeschoss seines Apartmenthauses zu erwerben und zur Vergrößerung des Wohnraums auszubauen. In der untersten Etage des Hauses wohnte nur noch eine weitere Nachbarin, Signora Visconti. Eine freundliche, pensionierte Richterin, mit der Brassoni sich gut verstand.

Sein Leben war wieder voller Pläne und Vorfreude auf das, was es ihm noch bringen würde. Als Nächstes hatte er vor, endlich den Verlobungsring für Carla zu besorgen. Obwohl sie mit keinem Wort mehr zu ihm über diese Geschichte gesprochen hatte, wusste er doch, dass sie sich riesig über seinen Antrag freuen würde. Die Chemie zwischen den beiden stimmte einfach, und Brassoni hatte das Gefühl, als wenn das Glück und die Liebe täglich wachsen würden. Wozu also noch lange warten? Beschwingt durch diese Gedanken, summte er leise vor sich hin, was ihm einen amüsierten Blick seines Kollegen Goldini einbrachte.

»So gut gelaunt, Luca? Ich würde übrigens gerne mit dem Polizeiboot zum Krankenhaus fahren, ich bin müde, der Wetterumschwung drückt mir auf den Kreislauf. Gestern kalt, heute warm … Wer kennt sich da noch aus!«

Der Commissario nickte zustimmend, obwohl er auch während seiner Dienstzeit am liebsten zu Fuß durch seine schöne Stadt ging. Eine Fahrt mit dem Boot auf dem azurblauen Wasser der Lagunenstadt wäre jedoch ein guter Einstieg in den Arbeitstag.

Die Scuola Grande di San Marco, seit 1815 der Haupteingang des städtischen Krankenhauses Santi Giovanni e Paolo, lag in Castello, im Nordosten der Stadt. Es herrschte schon ein geschäftiges Treiben auf den Kanälen Venedigs, aber der Verkehr war bei Weitem noch nicht so stark wie zu den Zeiten der touristischen Hauptsaison. Deswegen konnte der Bootsführer schon nach kurzer Fahrtzeit in den Rio dei Mendicanti einbiegen und die beiden Kommissare an der Promenade aussteigen lassen.

Als Brassoni und Goldini vor dem Krankenhaus standen, das sie während ihrer Ermittlungsarbeit schon viele Male aufgesucht hatten, fragte Goldini mit ernsthafter Stimme: »Wie geht es eigentlich deinem Cousin? Ich habe Caruso jetzt schon lange nicht mehr gesehen.«

Stefan Mayer, von Freunden auch Caruso genannt, weil er es liebte, Arien sowie gute Rockmusik lautstark mitzusingen, ein deutscher Journalist, der ebenfalls in Venedig lebte, war im letzten Herbst von einem Verdächtigen angeschossen und schwer verletzt worden. Zuvor hatte er ab und zu für Luca Brassoni recherchiert und ihm bei komplizierten Fällen geholfen, aber in besagtem Fall war er beim Observieren überrascht und fast getötet worden. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte Caruso sich zurückgezogen und seine Wunden geleckt, wobei seine psychische Genesung eindeutig länger gedauert hatte als die physische.

»Es scheint ihm wieder ganz gut zu gehen. Aber du weißt ja, dass ich ihn aus meinen Ermittlungen in Zukunft lieber heraushalten möchte. So etwas wie letztes Jahr darf nicht wieder passieren.«

Goldini zweifelte daran, dass der neugierige und gut vernetzte Journalist sich wirklich nie wieder in einen von Brassonis Fällen einschalten würde. Außerdem waren seine Tipps immer Gold wert gewesen. Doch er hielt sich mit seiner Meinung lieber zurück. Er wusste, wie nahe Brassoni der Vorfall damals gegangen war.

»Eine Dottoressa Alberta Trufino erwartet uns in der neurologischen Abteilung«, wechselte Brassoni das Thema.

»Ich bin gespannt, ob wir die junge Frau bald vernehmen können.«

»Erwarte nicht zu viel, Luca. Wenn sie ihr Gedächtnis verloren hat, ganz gleich aus welchem Grund, muss man Geduld haben«, entgegnete Goldini mit besorgtem Gesichtsausdruck. «Wichtig ist es jetzt erst mal, die Frau zu identifizieren. So bekämen wir ein Stück mehr Transparenz in den Fall. Wenn wir wissen, woher sie kommt, wie sie heißt und wo sie womöglich entführt wurde, haben wir Ansatzpunkte, um die Ermittlungen zu beginnen.«

Brassoni wusste, dass sein Kollege recht hatte. Ihm war selber noch nicht klar, warum er sich so in die Vorstellung verbissen hatte, die junge Frau wäre ein Opfer des Mädchenfängers geworden. Abgesehen davon, dass er dem Vice Questore, Dottor Roberto Morandi, stichhaltige Beweise für seine Vermutung, ein Verbrechen liege vor, auf den Tisch legen musste.

Kapitel 3

Im hell gekachelten Sezierraum winkte Carla Sorrenti, Gerichtsmedizinerin von hervorragendem Ruf und Lebensgefährtin von Luca Brassoni, Pietro Gavaldo, ihren jungen Assistenten, mit der freien Hand zu sich. Sie hatte gerade eine Obduktion an einer älteren Dame vorgenommen, deren Angehörige an ihrem natürlichen Tod gezweifelt hatten.

Sie beschuldigten die langjährige Pflegekraft, die reiche Witwe mit einem Herzmedikament zu Tode gespritzt zu haben, um schneller an das versprochene Erbe zu kommen, das die Frau ihr aus Dankbarkeit überschrieben hatte.

»Die alte Dame ist zweifelsfrei eines natürlichen Todes gestorben. Keine verdächtigen Einstiche, keine erhöhte Konzentration irgendeines unnötigen Medikamentes im Blut. Sehen Sie hier, es ist ein Wunder, dass sie überhaupt einundneunzig geworden ist.«

Carla wies mit dem Skalpell auf die völlig maroden Herzkranzgefäße der alten Frau.

»Sie hatte einen Herzanfall. Wir können die Akte abschließen und der Staatsanwaltschaft übergeben. Ich habe alle wichtigen Untersuchungsergebnisse in mein Aufnahmegerät diktiert. Wenn Sie so nett wären, den Bericht zu Ende zu schreiben? Ich nähe die arme Frau wieder zu, anschließend muss ich rasch zu einer aktuellen Leichenbeschau. Vor ein paar Minuten haben nämlich Passanten die Polizei informiert, dass eine leblose Person im Osten Castellos liegt. Anscheinend wurde sie notdürftig im Park unter einem Baum verscharrt. Eine Passantin mit Hund ist auf die Leiche gestoßen. Bestimmt kein schöner Anblick beim Morgenspaziergang.«

Pietro Gavaldo sah seine Chefin missmutig von der Seite an. Jetzt musste er schon wieder einen langweiligen Bericht schreiben. Viel lieber wäre er zu dieser spannenden Untersuchung mitgekommen. Wie konnte diese elfengleiche, blonde Pathologin mit ihrem so sanften Gesicht derart bestimmend sein? Castello, den größten Stadtteil Venedigs, hatte er erst einmal zur Zeit der Biennale aufgesucht, um sich die Ausstellungen in den Pavillons der verschiedenen Nationen in der Parkanlage, die 1810 während der französischen Herrschaft über Venedig angelegt wurde, anzuschauen. Mit einem barschen Handgriff nahm er sich das Aufnahmegerät und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Carla Sorrenti schmunzelte angesichts der Reaktion ihres Assistenten. Sie wusste genau, was in ihrem neuen Kollegen vorging. Er war jung, ehrgeizig und schoss allzu oft über die Ziellinie hinaus, deshalb hielt sie es für nötig, ihn ab und zu auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Er musste lernen, dass auch die unliebsamen Schreibarbeiten und andere scheinbar unwichtige und unangenehme Tätigkeiten zu seinem Beruf gehörten.

Während sie sich die Hände wusch, ging ihr der Gedanke an die junge Frau heute Nacht vor der Kirche nicht aus dem Kopf. Hoffentlich ging es ihr bald besser. Luca hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die Unbekannte womöglich ein Opfer des Serienentführers geworden war. Dieser geisterte wie ein unsichtbares Gespenst durch die Akten der Questura, denn bisher war es nur reine Vermutung, dass die verschwundenen jungen Frauen entführt oder gar ermordet worden waren. Zum Leidwesen des Commissarios gab es momentan nur unbrauchbare Hinweise. Alle Ermittlungen waren im Sande verlaufen. Die Frauen waren einfach nicht mehr aufgetaucht. Es war aber auch kein einziges der Mädchen tot aufgefunden worden. Das ließ zumindest die Angehörigen hoffen, dass ihre Töchter noch lebten.

Carla seufzte erschöpft. Sosehr sie ihren Beruf liebte und ihn auch mit einer konsequenten professionellen Distanz ausübte, die Schicksale der Verblichenen ließen sie nicht immer kalt. Die Tote, die sie gleich zu begutachten hatte, sollte auch eine junge Frau sein, und die Gerichtsmedizinerin hatte die ungute Vorahnung, als ob sich die ungeklärten Vermisstenfälle langsam, aber sicher zu einer schrecklichen, unaufhaltsamen Lawine entwickelten, die eine Spur des Bösen durch Venedig zog.

Als sie aus dem Krankenhaus trat, hielt sie für einen Moment in der Sonne inne.

Das Wasser des Kanals glitzerte mit den silbernen Beschlägen der Boote um die Wette. Carla fühlte eine Wärme auf der Haut, die sie unwillkürlich lächeln ließ.

Endlich wurde das Wetter besser, der Frühling kündigte sich mit aller Kraft an, vergessen waren die langen, kalten Wintertage.

Einen kurzen Augenblick dachte sie an Luca, wie glücklich er sie machte. Seine kleine Affäre mit der Chefsekretärin der Questura, Maria Grazia Malafante, war längst vergessen. Das war vor ihrer Zeit, und die schöne Angestellte war seit ein paar Tagen im Mutterschaftsurlaub, denn sie erwartete in Kürze ein Kind.

Zum Glück nicht vom Commissario, sondern von ihrem Ehemann, einem Anwalt. Fast wäre Carlas und Lucas eigene Beziehung an der Vermutung zerbrochen, die Chefsekretärin und Brassoni fühlten sich immer noch zueinander hingezogen. Doch das hatte sich schnell als falsch erwiesen. Die Rechtsmedizinerin atmete tief ein.

Vielleicht würde aus ihr und dem Commissario in naher Zukunft sogar ein Ehepaar mit kleiner Familie werden. Wer weiß!

Schnellen Schrittes ging sie auf das Polizeiboot zu, das schon auf sie wartete.

In etwa zehn Minuten würde sie wissen, was es mit der neuen Leiche auf sich hatte.

Luca Brassoni und seine Freundin hatten sich nur knapp vor dem Ospedale verpasst. Energisch durchquerte der Commissario den Haupteingang, wartete zusammen mit Goldini vor dem Aufzug und ließ sich in die neurologische Abteilung fahren.

Vor dem Schwesternzimmer erkundigte er sich nach Dottoressa Alberta Trufino. Die junge Frau hinter der Anmeldung wies mit dem Arm den Flur entlang, auf dem ihnen die Ärztin bereits winkend entgegenkam. Brassoni erkannte sie anhand der präzisen Personenbeschreibung der netten Schwester sofort.

Alberta Trufino trug eine auffällige rote Brille, hatte kurzgeschnittenes, schwarzes Haar und wirkte mit ihrer burschikosen, schlanken Figur eher wie eine Athletin als eine erfolgreiche Ärztin. Aber man sollte ja nie vom Äußeren auf die inneren Werte schließen, dachte Brassoni.

So war er denn auch nicht überrascht, dass Alberta Trufino überaus freundlich und kompetent wirkte. Sie bat die beiden Kommissare in ihr Sprechzimmer, damit man sich in Ruhe über die Patientin unterhalten könne.

»Commissario Brassoni, Commissario Goldini, Sie wurden mir ja schon angekündigt. Nehmen Sie doch bitte Platz!«

Folgsam ließen sich die beiden Kriminalbeamten auf den modernen Schwingstühlen nieder. Die Einrichtung des Sprechzimmers bestand aus einem Schreibtisch, zwei orangefarbenen Besucherstühlen und weißen Einbauschränken an den Wänden.

Einzig das gerahmte Foto auf dem Tisch der Ärztin, die Brassoni auf Mitte dreißig schätzte, verriet eine private Komponente. Es zeigte einen kleinen Jungen im Grundschulalter, vermutlich Trufinos Sohn.

»Dottoressa Trufino, wie steht es um die Gesundheit der jungen Frau, die heute Nacht vor der Kirche Santa Maria Rosario aufgegriffen wurde? Kann sie sich zu den Umständen äußern, unter denen sie gefunden wurde?«

Die Ärztin schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

»No, Signori, das wird nicht so bald möglich sein. Wir haben die junge Frau sämtlichen Untersuchungen unterzogen – Kernspintomographie, Elektroenzephalographie …

Es konnten keine körperlichen Ursachen für ihre ausgeprägte Amnesie gefunden werden. Keine Blutergüsse, Tumore oder etwa ein Blutgerinnsel im Gehirn. Deshalb nehme ich an, dass ihr Gedächtnisverlust durch ein belastendes, traumatisches Ereignis herbeigeführt wurde. Allerdings hat die junge Frau einige oberflächliche Verletzungen und einen schlecht verheilten Knochenbruch im linken Unterschenkel. Auf ihrer Brust konnten wir Verbrennungen durch Abdrücke einer glimmenden Zigarette ausmachen.«

»Sie wurde also … gefoltert?«, fragte Brassoni erschüttert.

Die Ärztin sah dem Commissario mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck in die Augen.

»Das würde ich annehmen. Aber es kommt noch mehr hinzu. Sie wurde auch vergewaltigt. Und sie ist in einem schlechten Allgemeinzustand. Wenn sie irgendwo gefangen gehalten worden ist, dann hat ihr die Flucht vermutlich das Leben gerettet. Durch die Unterleibsverletzungen ist es zu einer Infektion gekommen, die sich ohne ärztliche Behandlung immer weiter ausgebreitet hätte. Wir behandeln sie seit heute morgen mit Antibiotika und Beruhigungsmitteln.«

Brassoni und Goldini wechselten einen schnellen Blick. Beide waren aufgewühlt durch die aufschlussreichen Neuigkeiten.

»Und die Frau kann sich an nichts erinnern? Auch nicht an ihren Namen?«, hakte Goldini noch einmal nach.

Die Ärztin schüttelte energisch den Kopf.

»Wie ich schon sagte, die unbekannte junge Patientin leidet an einer dissoziativen Amnesie. Ihre Erinnerungen fehlen ganz oder zumindest teilweise. So schützt sich ihre Psyche vor den schrecklichen Erlebnissen, die sie vermutlich durchlitten hat. Wie lange diese Amnesie dauert, kann man nicht voraussagen. Möglicherweise hält dieser Gedächtnisverlust sehr lange an.«

»Dann können wir nur versuchen, sie anhand eines Fotos zu identifizieren. Irgendjemand muss sie ja kennen. Sie gehört auf jeden Fall nicht zu den uns bekannten vermissten Frauen«, warf Goldini ein.

Die Ärztin nickte zustimmend und stand auf.

»Dann wünsche ich Ihnen beiden viel Erfolg. Wenn ihre Familie gefunden wird, könnte das von Vorteil für die Genesung der jungen Frau sein. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie bei der Suche weitergekommen sind!«

Brassoni versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun. Ein kurzes, freundliches Händeschütteln beendete das Gespräch. Auf Goldinis Nachfrage, der nicht locker lassen wollte, erlaubte die Ärztin den beiden Kommissaren nach gründlicher Abwägung zu guter Letzt doch noch, einen Blick auf die Patientin in ihrem Krankenzimmer zu werfen.

»Aber Sie dürfen Sie nicht ansprechen. Sie braucht absolute Ruhe«, ermahnte Trufino die Männer.

»Was ist eigentlich mit ihrer Kleidung? Alles, was sie bei sich hatte, gehört nun in die Hände der Spurensicherung«, bemerkte Brassoni.

»Keine Sorge, wir haben die Kleidungsstücke sorgfältig aufbewahrt. Sie können einen ihrer Kollegen zum Abholen schicken. Ich bringe Sie noch zu der jungen Frau. Bitte bleiben Sie nur kurz. Ich muss jetzt zu einer Untersuchung.«

Brassoni versprach, sich an die Vorgaben zu halten, und er und Goldini bedankten sich herzlich.

Nachdem die Tür zum Krankenzimmer geöffnet war, standen die beiden Kommissare mit einem unbehaglichen Gefühl vor dem Bett der jungen Frau. Sie schien zu schlafen. Ihr Gesicht war blass und hager. Ihr langes blondes Haar ergoss sich über das Kopfkissen.

»Sie ist keine der Frauen von unseren Fahndungsfotos. Also im Zweifelsfall ein bislang nicht als vermisst gemeldetes Opfer. Wer weiß, was ihr dieser psychopathische Entführer alles angetan hat!«, flüsterte Goldini.

Brassoni nickte stumm. Er biss sich angestrengt auf die Unterlippe. Ab jetzt mussten sie jeder Spur noch einmal nachgehen, die sich in den Vermisstenfällen ergeben hatte. Vielleicht hatten seine Kollegen, die bisher für die Fälle zuständig waren, ja etwas übersehen. Die Kommissare lauschten noch ein paar Sekunden den gleichmäßigen Atemzügen der schlafenden Frau, dann verließen sie das Zimmer.

Kapitel 4

»Permette?«, fragte Carla Sorrenti höflich und schob einen der neugierigen Passanten beiseite, die vor der Absperrung standen.

Dann erblickte sie den Chef der Spurensicherung, Nunzio Sposato. »Wo sind Luca und Maurizio?«, rief sie ihm zu. Der graugesträhnte Kriminaltechniker, der in einem Schutzanzug steckte, der eine Kontaminierung und Verunreinigung des Tatorts verhindern sollte, zuckte mit den Schultern.

»Sie kümmern sich um die Vernehmung der Frau, die ihr heute Nacht aufgegriffen habt. Signora Cerano, Maria Grazias Vertretung, hat die beiden bereits informiert.

Der Vice Questore persönlich begutachtet inzwischen die Lage, zusammen mit Ispettore Colludi.«

Sposato wies auf Roberto Morandi, der mit dem Rücken zur Gerichtsmedizinerin stand. Nun hatte sie ihn auch erkannt und grüßte zuerst den Ispettore, der sich soeben zu ihr umdrehte, mit einem Kopfnicken. Dann wandte der Polizeichef sich ebenfalls neugierig in ihre Richtung. Er lächelte der Ärztin mit ernstem Gesichtsausdruck zu.

»Dottor Morandi, Sie nehmen sich selber der Sache an? Das ist sehr ungewöhnlich«, stellte Carla Sorrenti nüchtern fest, nachdem sie dem Polizeichef die Hand geschüttelt hatte.