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Der Commissario auf der Spur eines düsteren Geheimnisses – Luca Brassonis zehnter Fall Die dunkle Gestalt schien sich über etwas zu beugen, doch plötzlich erhob sie sich und starrte in ihre Richtung. Die Signora wollte sich umdrehen und weglaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Der Druck auf ihrer Brust erhöhte sich und sie bekam kaum noch Luft. Unterdessen kam die Gestalt immer näher. Winter in Venedig. Während Commissario Luca Brassoni nach einer kurzen Elternzeit wieder in der Questura arbeitet, macht eine Bande von skrupellosen Räubern die Gassen Venedigs unsicher. Besonders Seniorinnen und Senioren sind betroffen. Eines Abends ist Lucas Nachbarin, Signora Vasconti, noch zum Einkaufen unterwegs und trifft sich mit einer Bekannten. Kurze Zeit später ist die wohlhabende Frau tot und Luca Brassonis Nachbarin liegt im Krankenhaus. In den Fokus der Ermittlungen gerät schnell der Neffe: Hatte er es auf das Erbe seiner reichen Tante abgesehen oder war sie ein Opfer eines weiteren Raubzuges der Diebesbande? Als dann auch noch die Vorgesetzte des Commissario, Signora Vice Questore, ernsthaft erkrankt und Brassoni die Leitung des Reviers übernehmen soll, wird es wirklich aufreibend. Ein weiterer Mord und auch noch ein Anschlag auf den verdächtigen Neffen müssen aufgeklärt werden. Verbrechen in den Gassen Venedigs – im Februar, kurz vor der Karnevalssaison, legt die Dunkelheit einen frostigen Mantel über die Dächer der Lagunenstadt und alles kann passieren…
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Daniela Gesing
Venezianisches Geheimnis
Krimi
Der Commissario auf der Spur eines düsteren Geheimnisses – Luca Brassonis zehnter Fall
„Die dunkle Gestalt schien sich über etwas zu beugen, doch plötzlich erhob sie sich und starrte in ihre Richtung. Die Signora wollte sich umdrehen und weglaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Der Druck auf ihrer Brust erhöhte sich und sie bekam kaum noch Luft. Unterdessen kam die Gestalt immer näher.“
Winter in Venedig. Während Commissario Luca Brassoni nach einer kurzen Elternzeit wieder in der Questura arbeitet, macht eine Bande von skrupellosen Räubern die Gassen Venedigs unsicher. Besonders Seniorinnen und Senioren sind betroffen. Eines Abends ist Lucas Nachbarin, Signora Vasconti, noch zum Einkaufen unterwegs und trifft sich mit einer Bekannten. Kurze Zeit später ist die wohlhabende Frau tot und Luca Brassonis Nachbarin liegt im Krankenhaus.
In den Fokus der Ermittlungen gerät schnell der Neffe: Hatte er es auf das Erbe seiner reichen Tante abgesehen oder war sie ein Opfer eines weiteren Raubzuges der Diebesbande?
Als dann auch noch die Vorgesetzte des Commissario, Signora Vice Questore, ernsthaft erkrankt und Brassoni die Leitung des Reviers übernehmen soll, wird es wirklich aufreibend. Ein weiterer Mord und auch noch ein Anschlag auf den verdächtigen Neffen müssen aufgeklärt werden.
Verbrechen in den Gassen Venedigs – im Februar, kurz vor der Karnevalssaison, legt die Dunkelheit einen frostigen Mantel über die Dächer der Lagunenstadt und alles kann passieren …
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1. Auflage 2025
Lektorat: Rainer Schöttle
Korrektorat: Angelika Wiedmaier
Satz/Layout: Alin Mattfeldt
Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt
Umschlagmotiv: KI generierter Inhalt unter der Verwendung von Adobe Firefly
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: CPI Books GmbH
Made in Germany
ISBN: 978-3-98679-068-4
Homepage: maximum-verlag.de
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Instagram: @maximumverlag
Für den Kleinsten - hab ein glückliches Leben!
Es war sechs Uhr abends, die Dunkelheit legte einen frostigen Mantel über die Dächer der Lagunenstadt. Es war Februar, kurz vor der Karnevalssaison. Klirrende Kälte hielt die Bewohner Venedigs in ihren Häusern. Nur wer musste, traute sich dick angezogen aus dem Haus.
In den Gassen Venedigs hatten sich in diesem Monat schon mehrere Überfälle zugetragen, die in Signora Vascontis Magengrube ein Kribbeln verursachten, und zwar jedes Mal, wenn sie ihr Wohnhaus in der Calle del Degolin verließ. Die Signora, langjährige Nachbarin von Commissario Luca Brassoni, verfügte eigentlich über ein recht stabiles Nervenkostüm, zumal sie lange Jahre als Juristin gearbeitet hatte. Doch nun, im Alter, machte ihr der Gedanke, dass sie das Opfer eines dieser skrupellosen Verbrecher werden könnte, die vorzugsweise ältere Menschen ausraubten und dabei auch nicht vor körperlicher Gewalt zurückschreckten, etwas Angst. Seit einer Knieoperation war sie nicht mehr so gut zu Fuß, und wenn sie jetzt stürzte und sich einen Knochenbruch zuzog … Gedankenverloren schloss sie die Tür hinter sich, hielt ihre Einkaufstasche fest umklammert, versicherte sich, dass das Geld und die Kreditkarte in einem Brustbeutel unter ihrem Mantel gut versteckt waren, und machte sich mit klopfendem Herzen auf den Weg. Den warmen Schal dicht vor das Gesicht gezogen, trotzte sie der Kälte, den Kopf gebeugt, damit der eisige Wind ihr nicht allzu viel anhaben konnte. Der Weg zum Supermarkt war nicht sehr weit, und in Gedanken schalt Signora Vasconti sich dafür, dass sie den Einkauf nicht schon am Morgen erledigt hatte. Aber ihr fehlten Milch, Obst und Eier, etwas Aufschnitt konnte sie auch gebrauchen, ganz zu schweigen von einer Packung Tee, um ihre beginnenden Halsschmerzen zu kurieren. Und so kämpfte sie sich entschlossen durch die engen Gassen, umhüllt von Dunkelheit und der Angst im Nacken, dass hinter der nächsten Ecke einer der Verbrecher lauern könnte. Erleichtert und völlig außer Atem sah sie plötzlich die Lichter des Supermercato vor sich aufleuchten. Endlich traf sie auch auf ein paar Menschen, die ebenfalls noch rasch ihre Einkäufe erledigten.
„Ah,Signora Vasconti, buona sera, Sie auch hier?“, hörte sie plötzlich eine Stimme neben sich sagen. Sie sah sich um und erkannte Signora Donata, eine alte Bekannte, die genau wie sie regelmäßig die Zusammenkünfte der Gruppe Gattino nero – Schwarzes Kätzchen – besuchte. Die Mitglieder dieser Gruppe engagierten sich für notleidende Tiere, den Umweltschutz und die Wohnraumsituation in Venedig, ein Thema, das Signora Vasconti besonders am Herzen lag. Signora Donata war eine wohlhabende, immer perfekt gekleidete Dame, die in einem der schönsten Palazzi der Stadt wohnte, aber das Herz am rechten Fleck hatte und immer großzügig für notleidende Tiere und Menschen spendete.
„Signora Donata, wie schön, Sie zu sehen! Was für ein fürchterliches Wetter. Wenn ich nicht unbedingt rausgemusst hätte …“
Die weißhaarige alte Dame nickte.
„Mir geht es genauso. Aber ich habe ja niemanden, der mir helfen könnte. Mir ist das Brot ausgegangen und Kaffee hatte ich auch keinen mehr.“
Sie trat einen Schritt näher an ihre gute Freundin heran. Ihre Stimme zitterte etwas.
„Und wissen Sie, seit dem letzten Überfall habe ich richtig Angst, allein unterwegs zu sein. Man weiß ja nie, wen es als Nächstes trifft.“
Zustimmend zog Signora Vasconti eine Augenbraue hoch.
„Genau, das habe ich auch gedacht, als ich vorhin losging. Wir sind ja keine jungen Hühner mehr und können uns kaum wehren. Ich wünschte mir, die Polizei würde öfter in den Gassen Patrouille gehen. Dann würde ich mich sicherer fühlen. Aber ich weiß von meinem Nachbarn, Commissario Brassoni, dass dafür das Personal fehlt.“
Sie rieb sich frierend die Hände.
„So, jetzt muss ich aber in den Supermarkt. Diese Kälte macht einen krank. Kommen Sie gut nach Hause und geben Sie auf sich acht!“
Sie nickte der Freundin zu und bemerkte im selben Moment den wertvollen Schmuck, den Signora Donata trug. Diamantohrringe und eine Perlenkette über dem Rollkragenpullover, die man gut erkennen konnte. Dazu funkelte am Handgelenk ihre geliebte Cartier-Uhr.
„Das ist aber keine gute Wahl, Ihren teuren Schmuck so offen zu tragen“, sagte sie besorgt. „Sie sollten ihn lieber zu Hause in Ihrem Safe verstauen!“
Signora Donata zuckte mit den Schultern.
„Sie haben ja recht, aber ich trage diese Stücke schon seit Jahren. Mein verstorbener Mann hat sie mir geschenkt, ich hänge sehr daran!“
„Nun, dann verstecken Sie doch die Kette unter ihrem Pulli und verdecken mit dem Ärmel Ihres Mantels die Uhr. Geben Sie den Dieben keinen Anlass, auf dumme Gedanken zu kommen!“
Sie sah ihrer Bekannten eindringlich in die Augen.
„Wir sehen uns morgen beim wöchentlichen Treffen. Ich habe schon einige Ideen für den Flohmarkt, den wir im Frühjahr veranstalten wollen.“
Signora Donata nickte und winkte zum Abschied, bevor sie mit ihrem Einkaufswägelchen von dannen zog.
Kopfschüttelnd betrat Signora Vasconti den Supermarkt. Wie konnte ihre Freundin nur so nachlässig sein. Während sie ihre Lebensmittel einkaufte, musste sie die ganze Zeit an die alte Dame denken. Hoffentlich war sie gut an ihrem Wohnhaus angekommen.
Eine halbe Stunde später verließ auch Brassonis Nachbarin den Laden. Sie war jetzt fast die einzige Passantin, die im nun vorherrschenden Eisregen noch unterwegs war. Schützend wickelte sie sich ihren Schal wieder bis unter die Nase, denn die hart gefrorenen Wassertropfen peitschten ihr wegen des Windes schmerzhaft ins Gesicht. Signora Vasconti betete still ein Ave Maria, um sich selbst zu beruhigen, während sie die Kurve durch die enge Gasse nahm, die sie auf ihrem Weg nach Hause durchqueren musste. Auch Signora Donata musste diesen Weg genommen haben, als sie vorhin ihren Heimweg angetreten hatte. Brassonis Nachbarin blinzelte gegen die Dunkelheit und den Eisregen an, als sie plötzlich schemenhaft eine Gestalt am Ende der Häuserzeile wahrnahm. Vorsichtig blieb sie stehen und öffnete die Augen ein Stück weiter, um sich zu orientieren und zu sehen, was da hinten vor sich ging. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie überlegte, wo sie um Hilfe bitten könnte, falls es ein Räuber war, der dort auf sie lauerte. Einfach irgendwo schellen? Oder laut um Hilfe rufen? Aber bei dem Wetter würde sie niemand hören. Die dunkle Gestalt schien sich über etwas zu beugen, aber plötzlich erhob sie sich und starrte in die Richtung von Signora Vasconti. Die war vor Schreck wie gelähmt. Sie wollte sich umdrehen und weglaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Brassonis Nachbarin merkte, wie sich der Druck auf ihrer Brust erhöhte und sie kaum noch Luft bekam. Unterdessen kam die Gestalt immer näher. Signora Vasconti konnte eben noch erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, denn unter der dunklen Kapuze sah sie einen Bart, dann wurde sie ohnmächtig. Jemand zerrte an ihrer Tasche, aber im selben Augenblick ging im Haus gegenüber Licht an, eine Person öffnete ein Fenster, um zu lüften, und rief: „Hallo? Was ist denn da los?“
Augenblicklich rannte Signora Vascontis Angreifer in die Richtung, aus der sie gekommen war, und verschwand in der Dunkelheit.
Als Brassonis Nachbarin langsam wieder zu sich kam, hörte sie zahlreiche fremde Stimmen um sich herum. Jemand hatte ihr eine Decke unter den Kopf gelegt und eine zweite Decke schützte sie vor der eisigen Kälte, ein Arzt maß ihren Puls und ihren Blutdruck.
„Signora, können Sie mich hören?“, fragte der Arzt besorgt. „Einer der Anwohner hat die Ambulanz gerufen. Sie sind ohnmächtig geworden. Wie fühlen Sie sich jetzt?“
„Schwach und elend“, antwortete sie leise und schämte sich ein bisschen.
„Hat man Sie überfallen?“, fragte der Arzt, der die Schlagzeilen über die Räuber kannte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete die Signora wahrheitsgemäß. „Da war jemand, eine Person, die kam auf mich zu, aber ich weiß nicht mehr …“
„Schon gut, regen Sie sich nicht auf. Ich nehme Sie erst mal mit ins Krankenhaus. Sie haben einen Schock und sind unterkühlt.“
Signora Vasconti nickte und warf einen vorsichtigen Blick auf ihre Tasche. Es schien alles noch da zu sein, auch den Brustbeutel mit dem Geld und der Kreditkarte konnte sie ertasten. Dann erst bemerkte sie, dass am Ende der Gasse weitere Sanitäter und ein zweiter Arzt beschäftigt zu sein schienen.
„Was ist da los?“, fragte sie mit bangem Herzen und wies in die Richtung, in die auch sie hätte gehen müssen.
„Da hat jemand nicht so viel Glück gehabt wie Sie“, erwiderte der Arzt und packte seine Sachen zusammen. „Eine schreckliche Geschichte. Wie die alte Frau aussah …“
Signora Vasconti stiegen vor Schreck die Tränen in die Augen. Ihr Puls begann zu rasen.
„Es ist doch nicht … ist es Signora Donata? Ich kenne sie, sie ist eine meiner Freundinnen. Wir haben uns beim Einkaufen getroffen. Was ist passiert?“
Die Sanitäter hatten Brassonis Nachbarin inzwischen auf eine Trage gelegt und mit einer warmen Decke und einer Wärmefolie versorgt. Der Arzt bemerkte, dass seine Worte die Patientin unnötig aufgeregt hatten, und schwieg. Signora Vasconti packte ihn verzweifelt am Handgelenk.
„Bitte, sagen Sie es mir, ich muss es wissen.“
„Tut mir leid, ich kann Ihnen keine Details nennen. Ich weiß nicht, wie die Person heißt. Aber für sie kam jede Hilfe zu spät.“
Signora Vasconti begann am ganzen Körper zu frösteln. Das konnte nur ein Abtraum sein. Um ein Haar wäre sie auch ein Opfer dieser brutalen Bande geworden. Der Arzt legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Signora, denken Sie nicht so viel nach. Ich gebe Ihnen jetzt eine leichte Beruhigungsspritze, und Sie versuchen, sich zu entspannen. Sie können Ihrer Freundin jetzt nicht mehr helfen. Haben Sie Verwandte, die wir informieren sollen?“
Signora Vasconti gab dem Arzt die Adresse ihrer Schwester und die der Questura, damit Luca Brassoni und seine Kollegen informiert würden.
„Die Polizei ist doch schon vor Ort“, sagte er ruhig.
„Aber Commissario Brassoni ist mein Nachbar, bitte geben Sie ihm auch Bescheid“, bat die alte Dame mit schwacher Stimme, bevor die Beruhigungsspritze wirkte. Dann sank ihr Kopf auf die Trage und sie schloss die Augen.
In der Questura war es Zeit für einen Schichtwechsel. Luca Brassonis Elternzeit war seit zwei Tagen vorbei, und er hatte noch allerlei Papierkram zu bewältigen. Sein Arbeitseifer hielt sich in Grenzen. Er ärgerte sich, dass er sich nicht noch länger freigenommen hatte, aber er würde im Spätsommer noch einmal zwei Monate dranhängen. Die kleine Valentina war jetzt bald drei Monate alt, ein aufgewecktes, munteres Mädchen, das seine Eltern und ihren Bruder Luis ganz schön auf Trab hielt. Seine kleine Familie fehlte dem Commissario, und selbst Picco, der wuschelige Familienhund, lag betrübt in seinem Körbchen in Brassonis Dienstzimmer. Ihm hatte es gefallen, den ganzen Tag mit seinem gesamten „Rudel“ zu verbringen. Seufzend heftete Brassoni eine Akte ab und sah auf die Uhr. So langsam sollte er sich auf den Heimweg machen. Maurizio Goldini, sein junger Kollege, hatte schon seit dem Nachmittag frei. Dessen kleine Tochter hatte Windpocken, und Mauro wollte sich um seine Familie kümmern. In diesem Augenblick schwang ohne jegliches Klopfen die Bürotür auf und Silvia Patrizia Bertuzzi, meistens nur Silvia genannt, die Signora Vice Questore, trat ein. Auf ihrer Stirn hatten sich feine Schweißtröpfchen gebildet, denn die Heizungen liefen seit dem Nachmittag auf vollen Touren, und sie war wie immer im Stress.
„Commissario Brassoni“, fing sie mit einem unheilvollen Unterton an. „Es ist etwas passiert. Ich weiß, Sie haben Feierabend, aber ich dachte, Sie wollten es wissen …“
Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer dunkelblauen Anzughose und tupfte sich die Stirn ab.
„Was um Himmels willen meinen Sie?“, fragte Brassoni besorgt, der sofort an seine Familie oder einen seiner Kollegen dachte.
Doch Dottoressa Bertuzzi winkte ab.
„Nein nein, nichts mit Ihrer Familie. Diese Räuber haben wieder zugeschlagen, Sie wissen schon, die, die vorrangig Senioren überfallen und ausrauben. Eines der Opfer ist Ihre Nachbarin, Signora Vasconti.“
Sie fächelte sich mit dem Papiertuch Luft zu und Brassoni überlegte kurz, ob er ihr ein Glas Wasser anbieten sollte.
„Signora Vasconti?“, fragte der Commissario bestürzt. „Ist sie schwer verletzt? Und was heißt das: Sie ist eines der Opfer?“
„Keine Sorge, nur ein Schwächeanfall und ein paar blaue Flecke. Die andere Dame hatte nicht so viel Glück wie Ihre Nachbarin. Der Täter ist diesmal äußerst brutal vorgegangen. Ungewöhnlich, wenn Sie mich fragen. Wobei ich nicht verstehen kann, dass die Seniorinnen trotz unserer Warnung bei diesem Wetter in der Dunkelheit noch unterwegs waren. Ich würde Ihnen den Fall gern übergeben. Oder wären Sie zu sehr persönlich davon betroffen? Immerhin kennen Sie die alte Dame schon seit Jahren …“
Brassoni schüttelte den Kopf.
„Nessun problema“, versicherte der Commissario. „Natürlich will ich den Fall übernehmen. Bisher lag er ja bei den Kollegen vom Dezernat für Einbruch und Diebstahl. Wenn jetzt ein Mord hinzukommt, sind wir zuständig. Ich werde alles tun, um die Straßen in Venedig wieder sicher zu machen. Es kann doch nicht sein, dass alleinstehende ältere Menschen sich fürchten müssen, wenn sie einkaufen oder spazieren gehen.“
Und erst recht, wenn es meine Nachbarin oder gar demnächst meine Eltern trifft, fügte er in Gedanken hinzu. Sein Ehrgeiz war wieder geweckt.
Die Dienststellenleiterin nickte zufrieden.
„Das habe ich mir gedacht. Lassen Sie sich die Unterlagen von den Kollegen geben und machen Sie sich schlau, was heute Abend genau passiert ist. Mit den Ermittlungen fangen Sie morgen früh an. Nach dem Täter wird ohnehin bereits gefahndet, auch wenn die Beschreibung, die Ihre Nachbarin gegeben hat, äußerst dürftig ist.“
„In Ordnung. Ich werde von zu Hause aus im Krankenhaus anrufen und mich nach der Signora erkundigen.“
Der Commissario ließ sich von den Kollegen auf den neuesten Stand bringen, sobald seine Chefin gegangen war. Er war erschüttert darüber, wie brutal der oder die Täter vorgegangen waren. Wobei es bisher nach einem Einzeltäter aussah, was insoweit ungewöhnlich war, als bei den bisherigen Fällen immer mindestens zwei Verdächtige involviert gewesen waren.
Brassoni machte sich so schnell er konnte auf den Heimweg. Den restlichen Papierkram konnte er auch morgen noch erledigen. Picco, der unbedingt an jeder Ecke und jedem Baum schnüffeln wollte, ließ sich beleidigt durch die Gassen ziehen. Was war heute bloß los mit seinem Herrchen? Normalerweise war gerade der abendliche Heimweg durch San Marco und Dorsoduro eine Erholung für Brassoni und den Hund, den sie langsam und gemütlich absolvierten. Doch heute hatte der Commissario keine Zeit für Muße. Besorgt kramte er sein Handy aus der Jackentasche und rief seine Eltern an, während er zügig weiterlief. Sophia Brassoni war überrascht, dass ihr Sohn sich um diese Zeit meldete.
„Luca? Ist etwas passiert? Warum atmest du so schwer? Müsstest du nicht noch in der Questura sein?“
„Nein, Mama, ich bin auf dem Nachhauseweg. Das Wetter ist ziemlich ungemütlich. Wir haben uns doch letztens über diese Raubüberfälle unterhalten, die seit geraumer Zeit in unserer Stadt passieren. Ich wollte euch nur noch einmal eindringlich bitten, nicht allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Am besten geht ihr die nächste Zeit abends gar nicht mehr raus.“
Der Commissario senkte den Kopf, denn eine eisige Windböe erfasste ihn und den Hund.
„Das weiß ich doch, mein Junge. Aber du würdest mich nicht anrufen, wenn es nicht einen aktuellen Anlass dafür gäbe.“
„Ich will dich nicht beunruhigen, doch Signora Vasconti und eine ihrer Freundinnen sind heute Abend überfallen worden. Unsere Nachbarin ist wohl mit einem Schock und kleineren Verletzungen glimpflich davongekommen, aber ihre Freundin …“
„Santa Maria“, stieß Sophia Brassoni hervor. „Sie ist doch nicht …?“
„Doch, Mama, leider.“
Stille in der Leitung.
„Wie ist ihr Name?“
„Signora Donata, du weißt schon, die reiche Witwe …“
„Natürlich kenne ich sie. Um Gottes willen. Sie war so eine nette Frau. Sie hat immer ein bisschen dick aufgetragen mit ihrem Schmuck, aber ich glaube, sie hat einfach an ihm gehangen. Ich habe ihr auch schon gesagt, sie solle ihn nicht so offen zur Schau tragen. Bestimmt hatten es die Täter darauf abgesehen.“
„Das ist möglich“, antwortete Brassoni. „Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen.“
Ein unangenehmer, heftiger Schneeregen setzte ein, und Brassoni hatte das Gefühl, dass ihm die Finger abfroren.
„Ich muss Schluss machen, ich bin gleich zu Hause. Passt bitte auf euch auf! Und grüß Papa! Ich melde mich morgen wieder!“
Brassoni steckte das Handy in seine Jackentasche und kämpfte auf den letzten Metern zu seinem Haus weiter gegen das Unwetter an. Mit einem flauen Gefühl im Magen betrachtete er die dunklen Fenster der Wohnung seiner Nachbarin. Hoffentlich war sie wohlauf und verkraftete das Geschehen einigermaßen. Picco schüttelte sich, bevor die beiden in den Hausflur traten. Mit etwas Glück würde Brassoni gleich mit Signora Vasconti persönlich sprechen können.
Nachdem er sich in der Wohnung seiner feuchten, kalten Kleidung entledigt hatte und in eine bequeme Jogginghose geschlüpft war, gönnte Brassoni sich ein paar Minuten mit seiner Familie. Luis hing an seinem Hosenbein, um ihn zum Spielen aufzufordern, während er Valentina auf dem Arm hielt, die müde vor sich hin nörgelte. Fasziniert betrachtete er das kleine Geschöpf, das sich so schnell entwickelte. Carla war in der Küche mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt. Heute war einer der Tage, an dem sie ihm ungefragt das Baby in den Arm drückte, sobald er von der Arbeit kam. Sie war erschöpft, denn Valentina schlief schlecht und schrie auch tagsüber plötzlich sehr viel. Eine ganz normale Verdauungsumstellung, hatte der Kinderarzt gemeint. Das half den Eltern nur leider nicht sehr viel. Carla stillte die Kleine noch, und sie achtete jetzt noch mehr als sonst darauf, was sie zu sich nahm.
„Das ist wirklich schrecklich mit Signora Vasconti“, rief Carla aus der Küche. „Ich hoffe, sie kommt bald wieder auf die Beine. Dass es ausgerechnet sie und ihre Freundin treffen musste … Bislang ist doch keines der Überfallopfer zu Tode gekommen, oder?“
„Nein, das ist schon sehr ungewöhnlich“, antwortete Brassoni, der langsam ungeduldig wurde. „Ich muss noch in der Klinik anrufen, cara mia. Meinst du, du kannst Valentina jetzt wieder nehmen?“
Ein unwilliges Brummeln ertönte aus der Richtung seiner Frau. Luis stampfte wütend mit den Füßen auf.
„Aber Papa, du hast noch gar nicht mit mir gespielt! Ich wollte dir doch mein neues Lego-Polizeiauto zeigen!“
Brassoni schüttelte den Kopf.
„Das geht jetzt nicht, mein Schatz. Papa muss noch kurz telefonieren. Danach bin ich ganz für dich da, versprochen! Was hältst du davon, wenn du Mama hilfst, den Tisch zu decken? Du bist doch schon ein großer Junge!“
Luis verzog schmollend seinen Mund, tippelte dann aber doch zu Carla, die ihm das Brotkörbchen in die Hand drückte und Brassoni das Baby abnahm.
„In fünf Minuten ist die Lasagne fertig“, gab sie ihm mit strengem Blick zu verstehen. „Die habe ich unter erschwerten Bedingungen zubereitet. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen!“
Kurz war der Commissario erschreckt von den harschen Worten seiner Frau, doch dann zwinkerte sie ihm belustigt zu.
„Geh schon, ich komme klar!“
Brassoni drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwand mit seinem Handy im Arbeitszimmer. Nervös wählte er die Nummer des Krankenhauses und ließ sich mit der zuständigen Station verbinden.
„Pronto?“, fragte die Krankenschwester am anderen Ende der Leitung.
„Commissario Brassoni von der venezianischen Polizei. Mein Anruf wurde angekündigt. Es geht um Signora Vasconti, das Opfer des Überfalls. Wie geht es ihr? Kann ich mit ihr persönlich sprechen?“
„Das geht jetzt nicht, Commissario“, antwortete die Schwester. „Sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen und schläft. Vor morgen früh können Sie nicht mit ihr reden.“
„Wie schwer sind ihre Verletzungen?“, wollte Brassoni wissen. „Die Dame ist nicht nur Gegenstand meiner Ermittlungen, sie ist zudem auch noch meine Nachbarin“, setzte er erklärend hinzu.
„Keine Sorge, sie kommt wieder auf die Beine! Ein paar Prellungen und ein kleiner Schock. Ihr Kreislauf hat wegen der Aufregung schlappgemacht, aber es geht ihr schon viel besser!“
Erleichtert atmete der Commissario auf.
„Grazie, vielen Dank! Ich werde morgen früh dann gleich vorbeikommen“, verabschiedete er sich. Das hörte sich zum Glück nicht ganz so schlimm an. Aber ein traumatisches Erlebnis war es bestimmt für die Signora. Doch jetzt hatte seine Familie wieder Priorität. Die Ermittlungen würde er am nächsten Tag weiterführen!
Völlig übermüdet wachte Brassoni am nächsten Morgen auf. Wieder einmal war Valentina alle zwei Stunden wach gewesen und hatte sich damit schwergetan, wieder einzuschlafen.
„Ich hatte schon ganz vergessen, wie anstrengend es mit einem Säugling sein kann“, sagte er gähnend, während er das Baby in seinen Armen schaukelte.
„Luis war viel pflegeleichter. Die junge Dame hier will nichts verpassen und hat sich offenbar vorgenommen, uns in den Wahnsinn zu treiben“, seufzte Carla theatralisch. „Zum Glück kommt deine Mutter gleich vorbei. Sie ist mir eine echte Hilfe. Manchmal sehne ich mich geradezu nach den kühlen Räumen der Gerichtsmedizin. Da ist es ruhig, niemand schreit und ich kann essen, wann ich möchte!“
„Wolltest du nicht ab dieser Woche wieder einen Tag in den Job einsteigen?“, fragte Brassoni interessiert. „Oder hast du es dir anders überlegt?“
Das Baby gluckste. Carla schüttelte energisch den Kopf.
„Natürlich mache ich das, und zwar gleich heute. Ich liebe Valentina und Luis über alles, aber ich brauche meinen Beruf und ab und zu eine Kinderpause. Ich denke, dieser eine Vormittag wird Valentina nicht schaden. Ich pumpe Milch ab, Sophia und Ernesto spielen ein bisschen mit ihr und kümmern sich um alles. Was soll da schiefgehen?“
„Das denke ich auch! Ich melde mich dann später, wenn ich bei Signora Vasconti war. Jetzt hüpfe ich schnell unter die Dusche und frühstücke eine Kleinigkeit. Soll ich Luis auf dem Weg zum Ospedale in den Kindergarten bringen?“
Carla sah aus dem Fenster.
„Oh ja, das wäre lieb. Bei dem Wetter ist es für Valentina zu kalt, sie hat sowieso schon ein wenig Schnupfen. Morgen soll zum Glück die Sonne scheinen, da können deine Eltern sie unbesorgt ein Stündchen spazieren fahren.“
Brassoni reichte seiner Frau das Baby. Luis, der zu seinen Eltern ins Bett gekrochen war, weigerte sich, sich anzuziehen und die Zähne zu putzen.
„Warum soll ich immer in den Kindergarten gehen, wenn Valentina hierbleiben darf?“, maulte er. „Ich will auch hier bei dir bleiben, Mama!“
Carla rollte genervt mit den Augen. Doch ihr Blick war weich und voller Liebe. Sie nahm Luis in den Arm. Wenn er bockig seine Unterlippe vorschob, glich er sehr seinem Vater, fand sie.
„Ich muss heute arbeiten, mein Schatz.“
Brassoni hob fragend die Hände. Er wusste, dass seine Mutter nichts dagegen haben würde, beide Kinder zu betreuen. Seine Eltern waren verrückt nach den beiden. Carla zuckte müde mit den Schultern und gab schließlich nach.
„Gut, ich frage Oma Sophia, ob sie heute ausnahmsweise auf dich und Valentina aufpasst. Aber nur dieses eine Mal und weil im Kindergarten gerade Scharlach umgeht. Das wollen wir ja nicht haben!“
Sie wuschelte dem Kind über den Kopf und zog ein Bilderbuch aus der Kiste neben dem Bett.
„Ich lese euch beiden noch etwas vor und wir kuscheln. Ist das in Ordnung?“, fragte sie ihren Sohn, der begeistert nickte.
„Prima, Mama, das ist toll!“, jubelte er. Carla strahlte. Manchmal war es so einfach, ein Kind glücklich zu machen!
Luca Brassoni schob die Hände in die Jackentasche, als er nach draußen in die Gasse trat. Es war grau und neblig, Regen nieselte unaufhörlich auf die Stadt, dazu wehte ein unbarmherzig kalter Wind. Der Commissario schüttelte sich frierend. Den Hund hatte er heute zu Hause gelassen, denn zum einen war das Wetter zu ungemütlich, zum anderen konnte er ihn ja nicht mitnehmen ins Ospedale. Er zog sich den Schal enger um den Hals und machte sich auf den Weg. Maurizio, sein Kollege, war schon in der Questura und hatte ihm mitgeteilt, dass es keinerlei neue Hinweise auf den Täter gäbe. Sie tappten vorerst im Dunkeln. Seltsam fand Brassoni es allerdings, dass diesmal nur ein Täter für das Geschehen verantwortlich sein sollte, während bisher immer eine ganze Bande von Verbrechern in die Überfälle involviert gewesen war. Aber vielleicht hatte Signora Vasconti vor lauter Schreck die anderen Personen übersehen oder sie waren schon vom Tatort geflohen. Während er zusammen mit anderen Fahrgästen in das Vaporetto stieg, das ihn zum Ospedale Giovanni e Paolo bringen sollte, ging er in Gedanken die Protokolle zu den letzten Überfällen durch. Eigentlich fielen diese Taten in ein anderes Ressort, aber nach dem Tod der alten Dame hatte sich die Lage geändert. Immer waren es zwei oder drei junge Männer gewesen, die die alten Leute überfallen hatten. Einer lenkte die Zielperson ab, ein anderer rempelte sie an und manchmal kam noch ein dritter dazu, der einer Seniorin die Handtasche entriss oder einem Rentner die teure Armbanduhr und die Geldbörse klaute. Brassoni war nicht ganz klar, warum es diesmal zu einem Todesfall gekommen war. Hatte die alte Dame sich gewehrt? Hatte einer der Täter die Beherrschung verloren? Er musste die Obduktion abwarten, um mehr zu wissen. Carlas Kollegin Romina Zarti, die ihre Chefin in der Elternzeit vertrat, war eine erstklassige Gerichtsmedizinerin, und sie würde Carla, wenn die nicht selbst vor Ort war, sicher unterrichten, falls sich neue Erkenntnisse ergaben, die bei der Aufklärung des Verbrechens hilfreich sein konnten. Brassoni hatte sich in den wärmeren Innenraum des Vaporettos gesetzt. Nur wenige Menschen waren an diesem frühen Morgen unterwegs. Die Touristen würden erst wieder zur Karnevalszeit über die Lagunenstadt herfallen. Das Wasserfahrzeug bog in die Fondamenta dei Mendicanti im Sestiere Castello ein, wo Brassoni bald aussteigen musste. Schweigend und mit gesenktem Kopf lief er zum Eingang des Krankenhauses. Er hoffte, dass Signora Vasconti bereit für die Fragen war, die er ihr stellen wollte. Als er dann vor ihrer Zimmertür stand, wurde ihm ein bisschen flau im Magen. Das lag zum einen daran, dass er Krankenhäuser grundsätzlich nicht mochte, zum anderen an der Vorstellung, die nette alte Nachbarin in einem möglicherweise erbärmlichen Zustand vorzufinden. Er klopfte zaghaft, und von innen hörte er ein durchaus kräftiges „Herein!“
Der Commissario straffte den Rücken und trat ein. Dabei fiel ihm ein, dass er gar nichts für die Signora mitgebracht hatte. Trotz der Kälte begann er plötzlich zu schwitzen. Wie konnte ihm das nur passieren? Beschämt sah er der blassen alten Dame entgegen, die ihn aus ihrem Kissen freundlich lächelnd anblickte.
„Commissario Brassoni, wie schön! Obwohl ich natürlich weiß, aus welchem Anlass Sie mich besuchen …“
Brassoni meinte, in ihren Augenwinkeln Tränen glitzern zu sehen.
„Signora Vasconti, es tut mir sehr leid, was mit Signora Donata passiert ist. Und ich hoffe natürlich, Sie sind wieder wohlauf …“
Es war unschwer zu erkennen, wie sehr die Situation seine Nachbarin belastete.
„Es geht, Commissario, es geht! Ich fühle mich noch ein bisschen schwach, aber die Ärzte und Schwestern hier sind sehr nett. Und was Signora Donata angeht …“
Ihre Stimme brach, und sie musste schlucken. „Ich hätte nie gedacht, dass diese hundsgemeinen Diebe jemanden umbringen! Wozu denn nur, um Himmels willen? Reicht es denn nicht, dass sie ihre Juwelen geraubt haben? Und ich sagte noch zu ihr, sie solle den Schmuck unter ihrer Kleidung verstecken.“
Signora Vasconti brach mit einem Schluchzen ab und starrte aus dem Fenster. Ja, wozu denn nur ein Mord? Das fragte sich Brassoni auch schon die ganze Zeit.
„Es tut mir leid, dass Sie das erleben mussten“, äußerte er sich betroffen. „Aber Sie wissen ja, je mehr Sie mir über das Geschehen erzählen können, umso eher haben wir den Täter. Es war doch nur eine Person, die Sie gesehen haben, oder?“
Signora Vasconti wandte ihr Gesicht wieder dem Commissario zu.
„Certo, ich habe nur eine Person gesehen. Ein dunkel gekleideter Mann mit einer Kapuze. Er hatte einen Bart, das konnte ich erkennen, als er mir näher kam. Als ich in die Gasse bog, beugte er sich gerade über Signora Donata. Das war so schrecklich.“
Wieder unterdrückte sie einen Schluchzer. „Ich dachte schon, jetzt bin ich dran, aber als der Mann gerade an meiner Tasche zerrte, wurde ich ohnmächtig. Ich bin Ihnen wohl keine große Hilfe.“
Der Commissario machte eine beschwichtigende Handbewegung.
„Aber natürlich ist das hilfreich. Und das Wichtigste ist jetzt, dass Sie sich erholen und wieder auf die Beine kommen. Haben Sie Unterstützung, wenn man Sie aus dem Krankenhaus entlässt?“
„Meine Schwester ist schon unterwegs nach Venedig. Sie will ein paar Tage bleiben.“
Brassoni nickte, sah auf den nüchternen Tisch neben ihrem Bett und wünschte, er hätte wenigstens Blumen mitgebracht.
„Un momento, Signora Vasconti,ich bin gleich wieder da!“
Noch bevor die alte Dame etwas erwidern konnte, war er aus dem Zimmer gestürmt und lief zum Kiosk des Krankenhauses, wo er einen unverschämt teuren Strauß erstand und damit erneut zum Krankenzimmer seiner Nachbarin eilte.
Strahlend überreichte er ihr die Blumen.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meinte Signora Vasconti gerührt.
„Doch, das ist es“, sagte Brassoni im Brustton der Überzeugung. „So haben Sie ein wenig Schönes in diesem schlichten Krankenzimmer. Ich hole noch eine Vase, dann muss ich los zur Questura. Und Sie passen auf sich auf! Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt!“
Die Dienststelle der venezianischen Polizei befand sich in der Nähe des Campo San Fantin, eines kleinen Platzes, benannt nach der Renaissance-Kirche San Fantin aus dem 16. Jahrhundert. In diesem Teil der Stadt konnte man auch die „Scuola“ und an der Westseite das berühmte Opernhaus „La Fenice“ bewundern. Maurizio Goldini sah gerade die Berichte vom gestrigen Tatort durch. Er war übermüdet, seine kleine Tochter hatte ihn und seine Frau die halbe Nacht wachgehalten. Aber es war wirklich schwer, einem Kleinkind zu vermitteln, dass man die juckenden Windpocken nicht aufkratzen durfte, und wenn sie noch so sehr juckten. Das Kind war unleidlich, was zwar verständlich war, aber ihn und Sarah an die Grenzen ihrer Kräfte brachte.
Goldini gähnte ausgiebig, griff zu seiner heißen Schokolade und nahm einen großen Schluck. Er liebte alles, was mit Schokolade zu tun hatte. Das heiße Getränk wärmte ihn auf angenehme Weise, denn nachdem sich gestern die Heizungen nicht herunterregulieren ließen, heizten sie heute nur mit halber Kraft. Ein Ärgernis, zumal weit und breit kein Installateur zu finden war, der Zeit gehabt hätte, sich des Fehlers anzunehmen. Es war Winter, und die Heizungsmonteure hatten Hochkonjunktur.
Der junge Commissario knöpfte seine Strickjacke zu und nahm sich wieder die Protokolle vor. Das musste ein Schreck für Luca gewesen sein, dachte er, während er Signora Vascontis Aussage durchlas. Zum Glück war sie nicht schwerer verletzt worden. Die Obduktion von Signora Donata musste erst noch abgewartet werden, aber wie es aussah, war sie durch einen gezielten Messerstich ins Herz ums Leben gekommen. Dieses wichtige Detail passte nicht zur bisherigen Vorgehensweise der Straßenräuber. Warum sollte man ein Opfer töten, wenn man es einfach überrumpeln und mitsamt der Beute verschwinden konnte? Signora Donatas Juwelen waren weg, ebenso ihre Geldbörse. Hatte sie sich so sehr gegen den Überfall gewehrt, dass der Täter in Panik geraten war und zugestochen hatte? Bisher war nie von Angriffen mit Tatwerkzeugen die Rede gewesen. Es hatte Rempeleien, Handgemenge, blaue Flecke, ja sogar einmal ein gebrochenes Handgelenk gegeben. Die These vom Überfall durch die Bande, die bisher Venedigs Gassen unsicher gemacht hatte, fand Goldini hiermit widerlegt. Aber ganz ausschließen konnte er sie trotzdem nicht. Es klopfte an der Tür, und einen Augenblick später steckte Ispettrice Barbara Valgoni ihren Kopf durch die Öffnung.
„Kommen Sie ruhig herein“, bot Goldini ihr an. „Was gibt es denn?“
Seit die junge Inspektorin mit Tommaso Pippo, einem der Kriminaltechniker, eine On-off-Beziehung führte, wusste man nie, wie ihre Laune war. Aber heute schien sie mit sich und der Welt im Reinen zu sein.
„Commissario Goldini, die Signora Vice Questore hat mir aufgetragen, umfassende Hintergrundinformationen zu dem Opfer des gestrigen Überfalls, Signora Donata, zusammenzutragen. Sie wissen schon, Lebensumstände, finanzielle Situation, Verwandte, Feinde …“
Goldini nickte und nahm noch einen Schluck Kakao.
„Das ist unsere übliche Vorgehensweise. Haben Sie denn schon etwas Interessantes herausgefunden?“
Es hätte ihn überrascht, wenn sie so schnell auf Hinweise gestoßen wäre, die zur Aufklärung des Verbrechens beitragen würden.
„Nun ja, Signora Donata hatte leider keine Kinder. Da gibt es nur noch einen Neffen, der vermutlich auch ihr Alleinerbe sein wird … Und eben der steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Er ist Mitinhaber einer Tierarztpraxis, die kurz vor der Pleite steht. Die Praxis muss dringend renoviert werden, aber der Neffe ist bereits hoch verschuldet. Und der Mitinhaber ist ein junger Veterinär, der gerade mal das Geld hatte, um sich in die Praxis einzukaufen.“
Goldini sah die Ispettrice mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung an.
„Brava, Barbara,das hört sich wirklich nach einer interessanten Fährte an! Wie heißt denn der Neffe und wo liegt diese Tierarztpraxis?“
Er stellte seine Tasse beiseite und griff zu Stift und Notizblock.
„Der Neffe heißt Paolo Conti. Seine Praxis liegt im Sestiere Cannaregio.“
Sie zeigte Goldini auf ihrem Handy mithilfe von Google Maps den genauen Standort. Der junge Commissario notierte sich Namen und Adresse der Praxis.
„Seine Wohnung muss direkt über den Behandlungsräumen liegen. Ich habe schon versucht, ihn zu erreichen, aber es geht niemand ans Telefon.“
„Dann werde ich es gleich noch mal versuchen“, bot Goldini sich an. „Wenn Commissario Brassoni eintrifft, werden wir sicher …“, fing er an, doch da trat Luca Brassoni schon in das Büro.
„Buon giorno, Maurizio, buon giorno, Barbara“, begrüßte der Commissario seine Kollegen gut gelaunt. Dann warf er Mantel und Schal über den Garderobenständer. „Und jetzt brauche ich erst mal einen Kaffee“, war sein zweiter Satz. Barbara nickte ihm lächelnd zu und verabschiedete sich, um eine Kopie von Signora Donatas Testament anzufordern. Goldini wartete ab, bis der Kaffeevollautomat seine Schuldigkeit getan hatte, und setzte Brassoni in einer kurzen Zusammenfassung über den bisherigen Ermittlungsstand in Kenntnis.
„Sehr mysteriös“, befand Brassoni, während er kurz über die dampfende Tasse pustete und vorsichtig seinen Kaffee schlürfte. „Ich bin da ganz deiner Meinung und habe ebenfalls Zweifel daran, dass die übliche Bande den Überfall begangen hat. Warum sollte jemand die arme Frau ermorden? Dafür gab es doch gar keinen Grund. Konzentrieren wir uns auf diesen Neffen. Vielleicht wurde der Überfall nur inszeniert, um das wahre Motiv zu vertuschen? Alles ist möglich. Natürlich werden wir auch weiterhin diese Bande im Blick haben, die unsere Senioren überfällt. Ganz ausschließen, dass bei dem Überfall auf Signora Donata etwas aus dem Ruder gelaufen ist, können wir nicht …“
Maurizio Goldini stimmte ihm zu. „Wollen wir uns gleich auf den Weg zu Signora Donatas Neffen machen? Telefonisch war er nicht erreichbar, aber vielleicht treffen wir ihn ja vor Ort an.“
„Barbara soll ein weiteres Mal die Beschreibungen der Täter durchgehen, die die bisherigen Opfer angegeben haben. Meine Nachbarin meinte, sie hat einen dunkel gekleideten Mann mit Kapuze und Bart gesehen. Möglicherweise gibt es eine ähnliche Beschreibung schon.“
Goldini nickte und gab der Ispettrice die Anweisung per SMS weiter.
Kurz bevor die beiden Kommissare die Questura verlassen wollten, trafen sie auf die Signora Vice Questore. Brassoni war entsetzt, wie blass und fahrig seine Vorgesetzte wirkte.
„Dottoressa, ist Ihnen nicht gut?“, fragte er besorgt. Silvia Bertuzzi schüttelte den Kopf. Ihr Blick war müde, und um die Augen herum hatten sich Falten gebildet.