Venezianische Finsternis - Daniela Gesing - E-Book

Venezianische Finsternis E-Book

Daniela Gesing

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Beschreibung

Der Commissario auf sich allein gestellt – Luca Brassonis achter Fall "Sein Plan war aufgegangen. Er war mitten in der Dunkelheit durch die engen Gassen der Stadt geschlichen, einzig seine Taschenlampe warf ein schwaches Licht auf den Weg. Finsternis, dunkle Finsternis umgab die Häuser in Venedig."  Ein merkwürdiger Stromausfall verdunkelt ganz Venedig. Mehr als eine halbe Stunde lang liegt die gesamte Lagunenstadt in völliger Finsternis.  Am nächsten Morgen wird Commissario Luca Brassoni – wie immer begleitet von seinem Hund Picco – zu einem grausamen Mord gerufen. Edoardo Bianchi wurde in der Nacht durch einen Schuss mitten ins Herz getötet. Der Inhaber des kleinen Antiquitätengeschäfts neben dem Café Capello Rosso, das Caruso gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Francesco betreibt, wurde anscheinend über längere Zeit gefoltert. Die Ermittler vermuten, dass der Mörder den Zugangscode für den Tresor bekommen wollte, denn dieser ist leer. Und das ist noch nicht alles: Francesco, der in der Nacht nach dem Rechten sehen wollte, wurde im Antiquitätenladen brutal niedergeschlagen und liegt im Koma. Was war in dem Tresor, für das jemand zu töten bereit war?  Luca Brassoni übernimmt den Fall, doch er ist weitestgehend auf sich allein gestellt, denn sein Kollege Maurizio Goldini befindet sich noch im Vaterschaftsurlaub. Ehe der erfahrene Commissario das Rätsel lösen kann, geschieht ein weiterer Mord, bevor ausgerechnet Goldini ihn auf eine heiße Spur bringt …  

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Seitenzahl: 325

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Daniela Gesing

Venezianische Finsternis

Krimi

 

Über das Buch

Der Commissario auf sich allein gestellt – Luca Brassonis achter Fall

„Sein Plan war aufgegangen. Er war mitten in der Dunkelheit durch die engen Gassen der Stadt geschlichen, einzig seine Taschenlampe warf ein schwaches Licht auf den Weg. Finsternis, dunkle Finsternis umgab die Häuser in Venedig.“

Ein merkwürdiger Stromausfall verdunkelt ganz Venedig. Mehr als eine halbe Stunde lang liegt die gesamte Lagunenstadt in völliger Finsternis.

Am nächsten Morgen wird Commissario Luca Brassoni – wie immer begleitet von seinem Hund Picco – zu einem grausamen Mord gerufen. Edoardo Bianchi wurde in der Nacht durch einen Schuss mitten ins Herz getötet. Der Inhaber des kleinen Antiquitätengeschäfts neben dem Café Capello Rosso, das Caruso gemeinsam mit seinem Lebensgefährten Francesco betreibt, wurde anscheinend über längere Zeit gefoltert. Die Ermittler vermuten, dass der Mörder den Zugangscode für den Tresor bekommen wollte, denn dieser ist leer. Und das ist noch nicht alles: Francesco, der in der Nacht nach dem Rechten sehen wollte, wurde im Antiquitätenladen brutal niedergeschlagen und liegt im Koma. Was war in dem Tresor, für das jemand zu töten bereit war?

Luca Brassoni übernimmt den Fall, doch er ist weitestgehend auf sich allein gestellt, denn sein Kollege Maurizio Goldini befindet sich noch im Vaterschaftsurlaub. Ehe der erfahrene Commissario das Rätsel lösen kann, geschieht ein weiterer Mord, bevor ausgerechnet Goldini ihn auf eine heiße Spur bringt …

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Danksagung

Die Autorin Daniela Gesing

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2023 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2023

 

Lektorat: Bernadette Lindebacher

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © Andrey Bocharov/ Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN: 978-3-98679-016-5

 

 

Widmung

Für Frieda

Prolog

Hastig sah der Mann sich um. Sein Plan war aufgegangen. Er war im Schutz der Dunkelheit durch die engen Gassen der Stadt geschlichen, einzig seine Taschenlampe warf ein schwaches Licht auf den Weg. Finsternis, dunkle Finsternis umgab die Häuser in Venedig. Der Markusplatz lag in gespenstischer Stille. Nur die goldenen Verzierungen der Basilica di San Marco leuchteten im schwachen Schein des Mondlichts. Er hörte schaukelnde Gondeln, an Holzpfähle gebunden, Wasser, das viel lauter als am Tag gegen die Ufermauern schlug. Ein warmer Wind strich ihm um die nackten Beine. Der Mann spürte einen Kloß im Hals, als er sich seinem Ziel endlich näherte. Sofort nach dem Blackout, den sein genialer Kompagnon ausgelöst hatte, war er losgelaufen. Er musste seinen Plan in die Tat umsetzen, bevor die Leute auf die Straße gingen, um nachzuschauen, was los war. Aber die meisten würden ohnehin schon längst schlafen oder ängstlich in ihren Wohnungen und Häusern sitzen, um auf das Ende des Stromausfalls zu warten. Eine halbe Stunde hatte er Zeit. Genug, um den Schatz in seinen Besitz zu bringen. Vor dem Café Capello Rosso blieb er stehen. Es würde ein Leichtes sein, die Nebeneingangstür des Nachbarhauses zu öffnen. Der Türalarm war normalerweise durch das Stromnetz gesichert, und das hatten sie bereits lahmgelegt. Er würde jetzt ganz einfach in das Büro des Ladens gelangen. Das Capello Rosso gehörte Stefan Mayer, genannt Caruso, einem Cousin von Luca Brassoni, dem leitenden Commissario bei der venezianischen Polizei, und Carusos Lebensgefährten Francesco, der bei Kerzenschein über den Abrechnungen im Hinterzimmer des Cafés saß. Der Mann, der sich jetzt in der Dunkelheit an der Tür des Geschäftes direkt neben dem Café zu schaffen machte, ahnte nichts von Francescos Anwesenheit. Er war ganz darauf fixiert, in das Büro zu gelangen. Dort musste er sein, der Schatz, der ihn reich machen würde. Im Schein der Taschenlampe begutachtete er das Gebäude. Die Fassade war ein wenig verschmutzt, das konnte er erkennen. Doch die Fensterläden der oberen Etage waren frisch gestrichen, und nebenan im neuen Café war vor Kurzem erst renoviert worden. Denn natürlich war er auch tagsüber schon hier gewesen. Motiviert machte er sich an die Arbeit. Mit einem leisen Knacken öffnete sich das Schloss der alten Holztür. Zufrieden steckte der Mann sein Werkzeug wieder in die Tasche. Das war leichter gewesen, als er gedacht hatte. Dieser dumme Antiquitätenhändler hatte sich ganz auf sein Sicherheitssystem verlassen. Ein Grinsen überzog das Gesicht des auffällig attraktiven Mannes. Im Tageslicht hätte ihn niemand für einen Einbrecher und Dieb gehalten. Doch hinter seiner wohlgefälligen Fassade verbarg sich ein skrupelloser Charakter von hoher Intelligenz, der nicht vor kriminellen Handlungen zurückschreckte, um seine ehrgeizigen Pläne umzusetzen. Angespannt sah er sich jetzt in dem eleganten Büro um. Der Inhaber hatte den Schatz in einem Tresor hinter einem Kunstdruck von Monet versteckt. Der Mann sah auf seine Uhr. Noch eine Viertelstunde. Rasch nahm er das Bild von der Wand, tippte den Code in das Tresorschloss und öffnete ihn. Was er dann sah, war für ihn wie der Heilige Gral. Behutsam und mit klopfendem Herzen nahm er seine Beute in beide Hände. Welch vollkommene Schönheit! Fast liebevoll verstaute er das Objekt seiner Begierde schließlich in einem dafür vorgesehenen Behälter, den er wiederum in eine unauffällige schwarze Tasche legte. Dann verschloss er den Tresor, hängte das Bild wieder an die Wand und wollte sich gerade dem Ausgang zuwenden, als er gegen eine große antike Porzellanvase stieß, die ihm im Weg stand. Mit einem lauten Krachen stürzte die Vase um. Fluchend kehrte der Mann die Scherben mit dem Fuß beiseite. Er hatte keine Zeit mehr, hinter sich aufzuräumen. Bald würde der Strom wieder am Netz sein. Plötzlich sah er im Mondlicht den Umriss einer Person vor dem Fenster des Büros stehen. Schnell schaltete er seine Taschenlampe aus. Verdammt, wer schnüffelte denn plötzlich vor dem Laden herum? Er musste hier raus, und zwar schnell!

„Signor Bianchi? Sind Sie es?“, rief eine männliche Stimme. „Ich habe Krach bei Ihnen gehört. Ist alles in Ordnung?“

Der Einbrecher duckte sich hinter einen Schrank. Vielleicht verzog der Typ sich wieder, wenn er keine Antwort bekam. Doch stattdessen rüttelte plötzlich jemand an der Tür und drehte den Knauf mit einem leisen Quietschen herum. Verflixt, er hatte nicht hinter sich abgesperrt. Hastig schaltete der Einbrecher seine Taschenlampe wieder ein und sah sich kurz um. Da, eine alte Kamingarnitur, die offenbar noch begutachtet werden sollte. Der Mann griff sich den Schürhaken und schaltete das Licht wieder aus. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um von hier zu verschwinden.

„Signor Bianchi, Ihre Tür ist auf. Sind Sie da drin? Haben Sie sich etwa verletzt? Ich habe Geräusche gehört. Man sieht aber auch nicht die Hand vor Augen. Ich frage mich, wann es endlich wieder Strom gibt“, rief Francesco in den Raum. Er hatte nur eine kleine Kerze bei sich gehabt, die beim ersten Windhauch erloschen war. Vorsichtig sah Francesco sich in dem Büro um. Obwohl er kaum etwas erkennen konnte, hatte er das Gefühl, dass sich noch jemand in dem Raum befand. Aber Signor Bianchi würde sich doch zu erkennen geben?! Verunsichert trat er einen Schritt zurück. Was, wenn der Antiquitätenhändler verletzt oder sogar bewusstlos am Boden lag und er ihn nicht sehen konnte? Vielleicht hinter dem großen Regal, das den Raum teilte? Francesco nahm allen Mut zusammen und tastete sich durch das dunkle Zimmer. Da atmete doch jemand! Er konnte es genau hören. Nur noch ein paar Schritte.

„Signor Bianchi? Was ist …“

Im selben Moment trat eine Gestalt hinter dem Möbelstück hervor und ein schweres Metallstück sauste in Richtung von Francescos Kopf.

„Wer zum Teufel …?“, konnte er gerade noch rufen und versuchte instinktiv zur Seite auszuweichen, doch der Schlag traf ihn trotzdem hart. Mit einem Stöhnen sackte er zu Boden. Schwärze, nichts als Schwärze um ihn herum. Die Ohnmacht hüllte ihn ein, ein Rinnsal Blut begann über den Boden zu fließen. Der Einbrecher stieg ohne einen weiteren Blick über sein Opfer und verließ fluchtartig den Laden. Jetzt war es eine Frage der Zeit, ob Francesco überleben würde.

Kapitel 1

Es war einer dieser Tage, an denen Luca Brassoni am liebsten gar nicht aufgestanden wäre. Carla, seine Frau, hatte am Vorabend ihren Geburtstag gefeiert. Es war spät geworden. Sein Kollege Maurizio Goldini und dessen Frau Sarah waren das erste Mal ohne ihre neugeborene Tochter aus. Das war ein Grund für ausgelassene Fröhlichkeit gewesen, zumindest bei Sarah, denn Maurizio kam fast um vor Sorge um seine kleine Prinzessin. Ein willkommener Anlass für einige der Partygäste, den überfürsorglichen jungen Vater immer wieder aufzuziehen. Es wurde viel gelacht und viel getrunken. Als der letzte Gast gegangen war, fielen der Commissario und seine Frau erschöpft, aber glücklich ins Bett.

„Schon seltsam, dieser Stromausfall gestern so gegen zwölf, findest du nicht?“, murmelte Brassoni und legte seinen Arm über Carlas Körper unter der Bettdecke. „Ja, das war irgendwie beängstigend“, stimmte sie ihm zu. „Völlige Finsternis. Gut, dass wir genügend Kerzen im Haus hatten. Das war sogar irgendwie gemütlich und auch ein wenig romantisch. Hast du gesehen, wie Maurizio und Sarah gekuschelt haben? Zuerst hatte ich mir Sorgen um unsere Lebensmittel im Kühlschrank gemacht … Und der Blick aus dem Fenster war einfach gruselig – kein einziges Licht weit und breit.“

„Gut, dass der Spuk nach einer halben Stunde vorbei war“, brummte Brassoni schlaftrunken, bevor ihm die Augen wieder zufielen. In der Nacht hatte er schlecht geträumt. Im Schlaf verfolgte ihn die Vision, dass während der Finsternis ein schreckliches Verbrechen geschehen sei. Zwei Mal war er schweißgebadet aufgewacht, schob die Albträume jedoch auf den ungewohnten Konsum von Gin, der gerade sehr im Trend war. Carlas neue Kollegin hatte eine Flasche davon mitgebracht.

„Luca, mio caro, nicht wieder einschlafen! Du musst zur Questura!“

Carla rüttelte ihren Mann an der Schulter. Brassoni brummte genervt.

„Carla, so lass mich doch! Ich glaube, ich bin krank. Mein Schädel brummt!“

Doch Carla hatte wenig Mitleid.

„Dann hättest du auf den Gin verzichten müssen! Komm schon, deine Arbeit wartet. Und ich muss auch los. Zum Glück ist Luis bei deinen Eltern. Wenn er seinen Papa so sehen würde …“

Schlagartig war Brassoni wach.

„Wie meinst du das?“

Carla zog ihm grinsend die Bettdecke weg.

„Du bist doch sein Vorbild. Er will jetzt auch Polizist werden. Das brabbelt er bei jeder Gelegenheit. Er bewundert dich. Also musst du dich auch vorbildlich verhalten!“

Luca Brassoni warf ein Kissen nach seiner Frau, dann schnappte er sich ihren Arm und zog sie zurück ins Bett. „Luca!“, protestierte sie halbherzig. Doch der Commissario ließ sie erst wieder gehen, nachdem sie sich atemlos geküsst hatten. Jetzt hatte auch Carla keine Lust mehr, aufzustehen, aber das Pflichtbewusstsein siegte. Zehn Minuten später nahmen beide einen Caffè in der Küche. Carla rührte in einem Biojoghurt und Brassoni nagte an den übriggebliebenen Resten des Baguettes vom Vorabend.

„Caruso hat versucht mich zu erreichen“, sagte er zu seiner Frau nach einem Blick auf sein Handy. Er hatte es in der Nacht auf lautlos gestellt, um endlich einmal durchschlafen zu können. Caruso war der Spitzname des Journalisten Stefan Mayer, einem Cousin von Brassoni, der auch in Venedig lebte und zusammen mit seinem Lebensgefährten vor einiger Zeit ein Café eröffnet hatte.

„Schade, dass Francesco gestern Abend nicht dabei sein konnte“, sagte Carla.

„Ja, aber er hatte doch selbst eine Veranstaltung bis spät abends im Café“, erwiderte Brassoni. „Diese Silberhochzeit der Nichte vom Bürgermeister. Und dann musste er die Abrechnung machen … Es war ja schon schön, dass zumindest Caruso gekommen ist!“

„Sonst wäre ich ihm aber auch böse gewesen“, sagte Carla nicht ganz ernst gemeint und knuffte ihren Mann in die Seite. „Schließlich werde ich nur einmal fünfunddreißig.“

Picco, der wuschelige Junghund der Familie, machte sich bemerkbar. Er bedrängte sein Herrchen und sein Frauchen, indem er sie umkreiste und dabei leise winselte.

„Mist, der Hund muss raus“, konstatierte Carla. „Nimmst du ihn mit?“

Picco legte den Kopf schief und fixierte den Commissario, so als ob er die Worte verstanden hätte. Brassoni nickte zustimmend und hörte dabei seine Mailboxnachrichten ab. Plötzlich wurde er blass.

„Was ist los?“, fragte Carla, die die Reaktion ihres Mannes aus dem Augenwinkel registriert hatte. „Schlechte Nachrichten?“

Brassoni schaltete das Handy aus und sah Carla mit ernstem Blick an.

„Es ist etwas mit Francesco passiert. Caruso war ganz aufgeregt. Er hat sich nach unserer Feier schlafen gelegt, aber als Francesco um vier Uhr morgens immer noch nicht zu Hause war, ist er zum Café gegangen. Die Tür war auf, aber Francesco war nicht da. Da hat Caruso bemerkt, dass bei Signor Bianchi die Nebeneingangstür ebenfalls etwas offen stand. Er hat geklopft, ist schließlich einfach in dessen Büro gegangen, wo er Francesco dann gefunden hat. Mit einer Kopfverletzung. Er lebt, aber es sieht kritisch aus. Caruso ist ganz außer sich.“

Carla strich ihrem Mann liebevoll über die Wange. „Und du fühlst dich schlecht, weil dein Handy leise gestellt war. Aber dass so etwas passiert, konnte ja niemand ahnen. Weiß man schon, was genau geschehen ist? Wie geht es Signor Bianchi? War er auch in seinem Büro?“

Der Commissario zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keine Ahnung. Ich muss sofort los zur Questura. Jetzt, wo Maurizio in Vaterschaftsurlaub ist, fällt mir die Arbeit wirklich schwer. Er fehlt mir.“

„Aber du hast doch die anderen Kollegen. Du wirst dich schon daran gewöhnen. Gib mir Bescheid, wie es Francesco geht, wenn du etwas Neues hörst.“

Brassoni leinte den Hund an und nickte zerstreut. Der Albtraum in der Nacht war vielleicht doch ein Hinweis auf das gewesen, was nun in der Realität passiert war. Der Commissario glaubte zwar nicht an Vorahnungen oder Spinnereien wie den sechsten Sinn, aber vielleicht gab es doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ihm und anderen Menschen bewusst war. Und dabei ahnte er noch nicht, dass dies erst der Anfang eines Kriminalfalls werden sollte, der ihn an seine persönlichen und fachlichen Grenzen bringen würde.

Kapitel 2

Der Tatort wirkte wie eine Szene aus einem brutalen Krimi. So etwas hatten die erfahrenen Kriminalbeamten in Venedig selten gesehen.

Patrizia Bertuzzi, die Signora Vice Questore und damit Luca Brassonis Chefin, unterdrückte einen Fluch und ballte ihre Hände zu Fäusten. Selbst Nunzio Sposato, der Chef der Kriminaltechniker, wirkte geschockt.

„Dio mio, der arme Signor Bianchi! Welcher Unmensch ist denn zu solch einer Gräueltat fähig?“, sagte er leise zu seinem Assistenten Tommaso Pippo. „So jemand kann kein Herz haben“, antwortete Pippo flüsternd. Aus Respekt vor dem Toten redeten alle nur in gedämpftem Ton. Edoardo Bianchi war Antiquitätenhändler gewesen. Nun lag er hier in seinem Schlafzimmer, die Augen seltsam verdreht, die Nase und zahlreiche andere Knochen gebrochen, Brandmale auf den Armen und der Brust, ein Fingernagel an der rechten Hand war ihm gezogen worden, mit Sicherheit unter höllischen Schmerzen, ganz abgesehen von den Schlägen, die ihm der Mörder verpasst haben musste. Zum Schluss dann der tödliche Schuss ins Herz.

„Der arme Mann wurde gefoltert, ganz klar“, bemerkte die Signora Vice Questore Patrizia Bertuzzi mit düsterer Miene. „So etwas Schreckliches habe ich selten gesehen. Signor Bianchi war ein feiner Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, was der Mörder von ihm gewollt hat. Ich habe letztens erst eine Kommode bei ihm gekauft. Wir werden uns mit aller Kraft in die Ermittlungen stürzen. Beim Foltern geht es dem Täter doch darum, das Opfer zum Reden zu bringen. Aber welches Geheimnis hatte Bianchi, das es wert war, ihn so grausam zu misshandeln? Ich kann mir zumindest nichts vorstellen.“

Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Die Dienststellenleiterin begleitete ihre Beamten hin und wieder zu Untersuchungen und unterstützte die Ermittlungen, wenn es ihre restliche Arbeit zuließ. Damit hatte sie sich längst den Respekt ihrer Mitarbeiter erworben. Denn sie war immer ganz bei der Sache und behandelte niemanden von oben herab. Ein so kollegiales Verhalten hatte es in der jüngsten Geschichte der Questura selten gegeben.

„Welche Geheimnisse könnte ein Antiquitätenhändler haben, die der Mörder aus ihm herauspressen wollte?“, fragte Ispettore Colludi. „Er hätte ihn ja nicht töten müssen.“

„Doch, sonst hätte Bianchi zur Polizei gehen und seinen Peiniger anzeigen können. Der Mörder wollte sichergehen, dass er nicht mehr redet“, antwortete Patrizia Bertuzzi. „Oder er hat ihn so sehr gehasst, dass die ganze Sache eskaliert ist.“

Schweigend starrten alle noch einmal für ein paar Sekunden auf die bizarre Szene vor ihnen. Das elegante Schlafzimmer, der orientalische Teppich auf dem Boden, der antike Kleiderschrank, das Bild mit der Madonna über dem Bett, die ihn auch nicht hatte beschützen können, und mittendrin der entstellte Antiquitätenhändler, auf dessen Gesicht das Entsetzen wie festgefroren war.

„Wie geht es seiner Frau?“, fragte die Signora Vice Questore Barbara Valgoni. Die Ispettrice hatte sich um die ältere Dame gekümmert, die ihren Ehemann am frühen Morgen gefunden hatte.

„Die Ambulanz hat sie vorsichtshalber mitgenommen. Es war nicht möglich, mit ihr vernünftig zu reden. Sie hat einen Schock erlitten, der Kreislauf. Ich mag gar nicht daran denken, wie es ist, nach einer Reise nach Hause zu kommen und seinen Ehemann tot im Bett vorzufinden. Und dann unter diesen Umständen …“

Barbara schüttelte mitfühlend den Kopf. Sie sah sich um. „Wo ist eigentlich Commissario Brassoni?“, fragte sie verwundert. „Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen.“

„Er ist zur Klinik gefahren, wo Francesco, der Lebensgefährte seines Cousins, auf der Intensivstation liegt. Was für ein schrecklicher Zufall, dass er genau in dieser Nacht in seinem Laden war und nebenan bei Bianchi nach dem Rechten sehen wollte. Wenn wir nur irgendeinen Anhaltspunkt dafür hätten, was sich in Signor Bianchis Safe befand. Seine Frau konnte uns noch keine Hinweise geben, und auch die Angestellten können sich nicht erinnern, dass ihr Chef von einem besonderen Ausstellungsstück oder einer höheren Geldsumme gesprochen hätte“, erklärte Patrizia Bertuzzi. Stirnrunzelnd grübelte Bertuzzi weiter, während der Leichnam des Antiquitätenhändlers endlich abtransportiert wurde. Respektvoll traten die Beamten zur Seite, als man den Toten an ihnen vorbeitrug. Auch die Leute von der Kriminaltechnik packten langsam ihre Sachen zusammen. Kaum war das Mordopfer fort, erschien Commissario Brassoni mit angespannter Miene am Tatort. Er hatte den Abtransport des Antiquitätenhändlers noch mitbekommen und wirkte abgehetzt und sichtlich mitgenommen. Suchend sah er sich um.

„Commissario, kommen Sie, ich setze Sie ins Bild“, sagte die Signora Vice Questore und zog ihn ein wenig zur Seite.

„Wie geht es dem Mann Ihres Cousins?“, wollte sie zuerst wissen. Luca Brassoni senkte betrübt den Kopf. „Nicht wirklich gut. Die Ärzte haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Man muss abwarten.“

„Gut, dann hoffen wir mal das Beste“, versuchte Bertuzzi ein paar tröstende Worte. „Manchmal geschieht ja ein Wunder.“

Der Commissario nickte kraftlos. Dann versuchte er, sich auf den Schauplatz des Verbrechens zu konzentrieren, während seine Chefin ihm die Details der bisherigen Untersuchung erläuterte.

„Wer tut denn sowas einem unbescholtenen Antiquitätenhändler an? Wo ist die Tatwaffe, mit der Signor Bianchi der tödliche Schuss versetzt wurde?“, wollte er wissen. „Hat man sie gefunden?“

Patrizia Bertuzzi schüttelte den Kopf. „Bisher nicht. Die Kollegen suchen noch die nähere Umgebung ab. Es muss ja nicht unbedingt sein, dass der Täter die Waffe auf der Flucht entsorgt hat. Vielleicht wurde sie mitgenommen.“

„Es gibt hier auch jede Menge Fingerabdrücke, die wir noch zuordnen müssen“, mischte Nunzio Sposato sich ein. „Die Familie hat eine Haushaltshilfe, die Nichte hat letztes Wochenende hier geschlafen … Aber wenn der Täter ein Profi war, wird er vermutlich Handschuhe getragen haben. Doch man kann nie wissen. Auch der beste Profi macht mal einen Fehler!“

„Ich frage mich nur, wo das Motiv liegt. Der gute alte Signor Bianchi wird doch nicht in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein?“, meinte Brassoni.

„Zumindest muss das, was er in seinem Safe im Geschäft untergebracht hatte, einen so hohen Wert haben, dass ihn dafür jemand gefoltert und ermordet hat!“, meinte Ispettrice Valgoni, die inzwischen ebenfalls der Runde beigetreten war. „Aber wo fangen wir an?“

„Sehen wir zuerst die Auftragsbücher des Antiquitätenladens durch. Außerdem müssen wir unbedingt mit Signor Bianchis Sohn sprechen. Er müsste gegen Mittag wieder in Venedig sein. Er war mit seiner Mutter auf einer Antiquitätenmesse in Paris. Üblicherweise übernimmt sein Vater solche Reisen, aber dieses Mal hatte er den Sohn gebeten. Der hatte dort noch einen Geschäftstermin, den er nicht verschieben konnte“, erklärte die Signora Vice Questore.

„Gut, dann ist es wichtig zu erfahren, warum Signor Bianchi unbedingt in Venedig bleiben wollte. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang mit der Tat. Der Sohn soll direkt in die Questura kommen, und wir fahren ins Krankenhaus, sobald Bianchis Frau vernehmungsfähig ist!“, ordnete Commissario Brassoni an. Mit „wir“ meinte er für einen kurzen Augenblick seinen Kollegen Maurizio Goldini und sich selbst, bis ihm klar wurde, dass der junge Commissario ja gar nicht zur Verfügung stand. „Ich meinte natürlich, ich kann zum Krankenhaus fahren und es wäre schön, wenn Ispettrice Valgoni oder der Ispettore mich begleiten!“

Ispettrice Valgoni hob begeistert die Hand: „Ich melde mich freiwillig.“ Commissario Brassoni warf einen kurzen Blick zum Ispettore, den er nicht übergehen wollte, doch Colludi nickte. „Ist in Ordnung, ich schreibe währenddessen in der Questura die Berichte.“

„Aber zuerst befragt ihr die Nachbarn hier in der Umgebung. Wer weiß, vielleicht ist doch jemandem etwas aufgefallen“, wandte Brassoni ein.

„Certo, Commissario“, antwortete Colludi dienstbeflissen.

„Sagt mal, meint ihr, dass der Blackout heute Nacht etwas mit den Kriminalfällen zu tun hat?“, warf die Ispettrice ein und sah die Kollegen fragend an.

„Komisch war es schon. Bis jetzt haben wir noch keine genauen Auskünfte vom Elektrizitätswerk über die Ursache. Aber wir werden ein Auge darauf haben“, erwiderte Brassoni.

Die Signora Vice Questore seufzte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Verehrte Kollegen, die Pflicht ruft! Ich habe gleich noch einen Termin mit dem Landrat. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden und viel Erfolg bei den Ermittlungen! Wir machen es so, wie Commissario Brassoni es gerade vorgeschlagen hat.“

Unter anhaltendem Gemurmel löste sich die Runde auf. Brassoni ließ sich von Sposato noch die wenigen Beweismittel zeigen, die am Tatort gefunden worden waren. Dazu gehörte ein abgebranntes Streichholz, der blutige Fingernagel und ein winziges Stück Stoff, dass zwischen Bianchis Zähnen gefunden worden war. Carla, Brassonis Frau, würde die Leiche in der Pathologie noch eingehender untersuchen. Wenn sie Glück hatten, war einer der Blutstropfen, die sich auf Bianchis Kleidung befanden, vom Täter, falls Bianchi ihn beim Kampf um sein Leben hatte verletzen können.

„Das mit Carusos Lebensgefährten tut mir leid“, murmelte Nunzio Sposato und wischte mit einem Taschentuch den Rand seiner Brille sauber. „Was es für unglückliche Zufälle geben kann. Ich hoffe sehr, er wird wieder. Francesco ist ein prima Kerl. Ich war schon zweimal im Café Capello Rosso mit meiner Frau essen. Ich glaube, das Café könnte Kult werden hier in Venedig. Nicht auszudenken, wenn er nicht wieder gesund würde.“

Der Commissario war dankbar über die ehrliche Anteilnahme seines Kollegen.

„Ja, Caruso ist am Boden zerstört. Er gibt sich die Schuld, weil er bei uns auf der Geburtstagsfeier war. Er meint, wenn sie zu zweit im Café gewesen wären, wäre das alles nicht passiert. Aber das ist natürlich Quatsch. Niemand kann vorhersehen, was in der Zukunft geschehen wird. Ich hoffe inständig, dass Francesco sich erholt.“

Der Chef der Kriminaltechniker klopfte Brassoni ermunternd auf die Schulter.

„Ich drücke die Daumen! Meinen Bericht bekommt ihr am Nachmittag. Ich hoffe, der Mistkerl wird gefasst. Dabei wissen wir ja noch nicht einmal, ob der Mörder von Bianchi und der Einbrecher im Antiquitätengeschäft ein und dieselbe Person sind.“

„Ich habe noch keine Vorstellung davon, um was es hier eigentlich geht. Aber ich schwöre dir, wir kriegen diese Verbrecher!“, stieß Brassoni wütend aus. „Manchmal hasse ich meinen Job. Es hört nie auf. Du erwischst einen Täter und es kommen zehn neue hinzu.“

„Ja, die Menschheit wird wohl nie vollkommen rechtschaffen und gut werden. Das Verbrechen ist einfach nicht auszurotten.“

Brassoni zuckte hilflos mit den Schultern. Dem hatte er nichts hinzuzufügen. Als sein Handy klingelte, fürchtete er kurz, es gäbe wieder schlechte Nachrichten, aber schon Carusos Tonlage verhieß gute Neuigkeiten.

„Luca, ein Wunder, obwohl es doch vorhin noch so dramatisch aussah …“

Brassonis Cousin holte tief Luft, bevor er weitersprach.

„Francescos Zustand hat sich stabilisiert! Stell dir vor, es besteht doch noch eine Chance, dass alles wieder gut wird! Sie wollen das künstliche Koma noch einen Tag beibehalten, damit sein Körper sich erholen kann, aber sie sind zuversichtlich, dass er aufwachen wird und keine bleibenden Schäden behält. Die letzte Untersuchung gibt Anlass zur Hoffnung! Das MRT sah gut aus.“

Der Commissario war erleichtert.

„Questa è una buona notizia!“, sagte er voller Zuversicht. „Du solltest nach Hause gehen und dich ein wenig ausruhen.“

„Das kommt gar nicht infrage“, entrüstete sich der Journalist. „Obwohl – ich muss heute Vormittag noch ins Café – wir erwarten eine Lieferung. Na gut, ein paar Stunden werde ich mir nehmen können. Francesco ist hier ja in guten Händen. Habt ihr schon eine Spur zu den Tätern? Hat das Ganze etwas mit Signor Bianchis Tod zu tun? Du meine Güte, sein Laden liegt ja direkt neben unserem Café. Eine schreckliche Vorstellung, dass er nie wieder morgens das Gitter vor seiner Tür hochziehen wird!“

Brassoni und sein Cousin schwiegen für einen Moment. Dann ergriff der Commissario wieder das Wort. „Wir tun alles, um die Fälle aufzuklären, glaube mir. Lass uns später noch einmal telefonieren. Ich muss jetzt weiterarbeiten“, erklärte er schließlich.

„Natürlich, aber das wird sicher nicht leicht, jetzt, wo Maurizio fehlt“, meinte Caruso. „Ich hoffe, ihr schnappt den Mistkerl. Viel Erfolg!“

Brassoni legte mit einem Brummen auf. Warum musste ihn auch noch jeder daran erinnern, dass sein junger Kollege in Elternzeit war? Jahrelang hatten sie Hand in Hand gearbeitet. Aber er wollte sich von Maurizios Fehlen nicht weiter negativ beeinflussen lassen, das hatte er sich fest vorgenommen. Wenn Maurizio sich hätte versetzen lassen, müsste er auch mit einem neuen Kollegen klarkommen. Die Mitarbeiter der Questura waren allesamt fleißig, erfahren und kollegial. Und Geld für eine Vertretung für Maurizio war ohnehin nicht vorhanden.

Kapitel 3

Der Mörder von Edoardo Bianchi saß an seinem Schreibtisch und hatte Mühe, die Bilder der vergangenen Nacht aus seinem Kopf zu vertreiben. Er war weit gegangen, viel zu weit. Obwohl er kaum fähig war, Empathie zu empfinden, ließ ihn sein eigenes Verhalten doch nicht vollkommen kalt. Die Schreie seines Opfers, die Angst, all das hallte nach in seinen Gedanken. Die Pistole, die er in einem Abfallbehälter vor dem Eingang des Jugendtreffs entsorgt hatte. Jetzt wünschte er sich, dieser verdammte Antiquitätenhändler hätte einfach den Code seines Safes preisgegeben. Warum hatte er nur so stur sein müssen! Hör auf, darüber nachzudenken, ermahnte er sich. Es ist nicht deine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Schuld sind diese Idioten, die dich nicht ernst genommen haben. All die Menschen, die auf dich herabsehen, dich nicht respektieren. Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Seine rechte Hand zuckte, so als ob er ein lästiges Insekt verscheuchen wollte. Dieses nervöse Leiden quälte ihn schon seit mehreren Jahren. Aber der Stress würde bald weniger werden. Er würde endlich die Anerkennung bekommen, die er verdient hatte. Und Reichtum noch dazu. Er würde sich das Leben leisten können, von dem er immer geträumt hatte. Und wenn er dafür weiter über Leichen gehen musste. Was man einmal angefangen hatte, das musste man auch beenden. Zufrieden öffnete er die Augen, als sein Handy klingelte und er den Anruf annahm. Niemand würde je hinter seine Fassade blicken. Er war perfekt darin, allen den gut aussehenden, eloquenten Mann vorzuspielen, dem man vertrauen konnte. Freundlich, belesen, tüchtig und selbstbewusst. Sein Doppelleben war ein Spiel mit dem Feuer, dessen Flamme bereits lichterloh brannte. Und keiner außer ihm konnte das Feuer löschen.

Im Museo archeologico nazionale di Venezia, dem Archäologischen Nationalmuseum Venedig, wurde die Wanderausstellung mit altägyptischen Objekten vorbereitet. Das Museum, das seit dem Jahr 1596 existierte, erhielt seine Bestände vor allem aus Sammlungen einzelner Stifter. Deshalb war diese Wanderausstellung eine ganz besondere Sensation. Direkt am Markusplatz gelegen, genauer in den Procuratie Nuove, der venezianischen Baubehörde, fanden jedes Jahr zahlreiche Besucher der Lagunenstadt den Weg in die Kunsthallen. Elena Frascati, die Kuratorin der ägyptischen Ausstellung, war eine elegante junge Frau mit tiefschwarzen Haaren, die zu einem kunstvollen Dutt hochgebunden waren. Gerade befand sie sich in einem Streitgespräch mit ihrem Assistenten, einem attraktiven Mittdreißiger, der heftig gestikulierend auf sie einredete. Elena Frascati strich ihr fliederfarbenes Seidenkleid glatt und drehte sich auf dem Absatz um, als sie genug von der Auseinandersetzung hatte. Tag für Tag ging das so. Warum wollte der Mann nicht begreifen, dass die meisten der in der Ausstellung gezeigten Schätze eine Rekonstruktion waren und den Leuten damit ein faszinierender Einblick in die Archäologie des alten Ägyptens gegeben werden konnte? Es gab nun einmal Funde, die nicht durch die gesamte Welt transportiert werden konnten oder sollten, weil sie viel zu empfindlich oder schützenswert waren. Natürlich war es für die archäologischen Mitarbeiter weitaus spannender, sich um echte Fundstücke zu kümmern, aber diese Rekonstruktionen waren wirklich detailgenau gearbeitet. Die Besucher des Museums würden einen hervorragenden Einblick in die Ausgrabungsgeschichte bekommen und konnten die Fundstücke fast wie im Original bewundern. Das würde viele Menschen anziehen und Geld in die Kasse spülen.

In der Nacht hatte es einen Stromausfall gegeben, doch ihre Sorge, dass jemand spontan in das Museum einbrechen würde, weil auch hier die Alarmanlagen ausgefallen waren, hatte sich als unbegründet erwiesen. Alles war noch an seinem Ort, auch die wenigen wertvollen Originale. Wäre eine Replik gestohlen worden, wäre das zwar ärgerlich gewesen, aber das Museum konnte es verschmerzen. Insbesondere die Grabbeigaben des Pharaos wirkten wirklich täuschend echt, sodass es für die Besucher nur enttäuschend gewesen wäre, sollte etwas fehlen.

Elena Frascati fühlte sich erschöpft. Vor einer halben Stunde hatte ihr der Museumsleiter mitgeteilt, dass Edoardo Bianchi, ein ausgewiesener Kenner der altägyptischen Ausgrabungsfunde, mit dem sie sich oft ausgetauscht hatte, in der Nacht ermordet worden war. Das hatte er von der Signora Vice Questore selbst erfahren, mit der er befreundet war. Der freundliche, alte Antiquitätenhändler, der als junger Mann einige Semester Archäologie studiert hatte, war gefoltert und erschossen worden. Elena wurde übel und sie stützte sich für einen Moment an der Wand ab. Warum hatte man ihm das angetan? Ob es etwas mit ihren gemeinsamen Interessen zu tun hatte? Ihr war er immer sehr unscheinbar erschienen, wenn auch sein Engagement bezüglich der aktuellen Ausstellung etwas übereifrig gewesen war. Aber das fand sie nicht sonderlich verdächtig. Schließlich war Archäologie immer sein Hobby geblieben. Aber welches Geheimnis hatte er gehütet, dass ihn dafür jemand umgebracht hatte? Ob sie selber auch in Gefahr war? Schließlich hatte sie Bianchi viele Details über die Ausstellung erzählt. Angestrengt überlegte Elena, ob jemand ein Motiv haben könnte, auch ihr etwas anzutun, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Ihr schwirrte der Kopf. Es gab noch so viel zu tun, dazu die Streitereien mit ihrem Assistenten … Sie brauchte jetzt einen starken Kaffee. Dann würde es ihr gleich bessergehen.

Kapitel 4

Vor dem Jugendtreff in der Calle Frezzaria, nur wenige Minuten vom Markusplatz entfernt, tummelten sich am frühen Morgen drei halbwüchsige Jugendliche. Diese Gegend war beliebt bei Urlaubern, man konnte hier typische Touristenrestaurants, hervorragende Osterien, aber auch Geschäfte für jeden Geschmack und Geldbeutel finden, vom Luxusartikel bis zum kleinen Souvenir. Lorenzo, Marco und Alessio kickten einen Fußball in der engen Calle zwischen sich hin und her. Um diese Uhrzeit waren noch wenige Touristen unterwegs, der Treff öffnete erst um neun Uhr. Da die drei keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten, schlugen sie hier die Zeit tot. An diesem Tag sollte eine dreitägige Veranstaltung beginnen, bei denen die Jugendlichen geschult wurden, ihre Bewerbungen zu optimieren. Zusätzlich wurden sie auf Ausbildungsmöglichkeiten oder schulische Weiterbildungen hingewiesen. Keiner von den dreien hatte wirklich Lust auf diesen Workshop, aber ihre Eltern hatten sie dazu gedrängt. Alessio schoss einen Pass zu Marco, der den Ball mit dem rechten Fuß annahm und versuchte, ihn zu Lorenzo zu lenken. Doch er hatte sich verzielt, und der Ball traf mit voller Wucht die Abfalltonne, die seitlich vor dem Gebäude auf die Abholung wartete. Mit einem lauten Scheppern ging die Tonne zu Boden, wobei sich fast der gesamte Inhalt auf den Boden ergoss. „Cazzo!“, entfuhr es Alessio, der sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt, aber Lorenzo und Marco kicherten nur übermütig. Marco trat ein paar Schritte vor und wollte nach dem Fußball greifen, als er unter einem Fast-Food-Karton etwas Metallisches aufblitzen sah. Neugierig schob er das Ding mit dem Fuß ein wenig nach vorne. Dann trat er erschrocken einen Schritt zurück.

„Leute, seht euch das an!“

Er wusste nicht, ob er vor Angst oder Aufregung zu zittern anfing. Mit einer Hand zeigte er auf die Pistole, die seine Kumpel jetzt ebenfalls mit großen Augen betrachteten.

„Eine Pistole“, konstatierte Alessio ehrfürchtig. Er war der Vernünftigste der drei und auch der Vorsichtigste.

„Krass, ne echte Knarre“, sagte Lorenzo und beugte sich hinunter zu dem Fundstück.

„Wir müssen das der Polizei melden“, meinte Alessio unsicher. Er wollte keinen Ärger.

„Red nicht so einen Scheiß. Ich wollte schon immer mal ’ne echte Waffe ausprobieren“, mischte sich da Marco ein. Er griff nach der Schusswaffe, drehte sie in seiner Hand und strich mit dem Finger über den Lauf.

„Sei vorsichtig!“, rief Alessio ängstlich. „Wenn noch Patronen im Lauf sind, könnte sich ein Schuss lösen!“

Marco rollte mit den Augen.

„Erzähl nicht so einen Mist. Ich hab in Krimis schon oft gesehen, wie man damit umgeht. Voll krass. Ich fühl mich wie ein echter Gangster!“

Marco nahm die Waffe in die Hand und legte sie an. So, wie er es oft in Filmen gesehen hatte.

„Rennt los, ihr Blödmänner! Ich bin der Gangsterboss hier und blas euch das Licht aus, wenn ihr euch nicht sofort ergebt!“

Marco lachte und zielte mit der Waffe abwechselnd auf Lorenzo und auf Alessio.

„Lass den Scheiß, Alter“, maulte jetzt auch Lorenzo, dem die Sache auch nicht ganz geheuer war. „Wir können ’ne Menge Ärger kriegen. Schmeiß das Ding einfach wieder in die Tonne!“

Doch Marco war voller Adrenalin. So schnell wollte er die Pistole nicht wieder hergeben.

„Peng, Peng“, rief er und zielte wieder wild in der Gegend herum. Den Finger am Abzug, stolperte er über eine leere Coladose, die aus der Tonne gerollt war. Ein Schuss löste sich, prallte gegen den Metallbolzen eines Eisengitters, wurde zurückgelenkt und plötzlich sackte Lorenzo zu Boden. Mit aschfahlem Gesicht sah Alessio Blut aus dem Körper seines besten Freundes sickern.

„Was hast du gemacht?“, schrie er Marco an. „Du hast ihn erschossen! Was machen wir jetzt?“

Marco sah wie erstarrt auf die Pistole, die er immer noch in seiner Hand hielt, dann auf seinen Freund.

„Ich dachte, da ist keine Patrone mehr drin“, stammelte er. „Das war doch nur Spaß.“

„Das ist kein Spaß, Marco. Du hast ihn getötet“, schluchzte Alessio jetzt.

„Los komm, lass uns abhauen. Noch hat uns niemand bemerkt“, meinte Marco hektisch und stopfte die Waffe zurück in die Tonne.

„Aber das können wir doch nicht machen!“, rief Alessio entsetzt. „Lorenzo …, er wird sterben, wenn wir keine Hilfe holen!“

Er konnte sehen, dass der Freund noch atmete.

„Ich rufe vom Handy aus die Ambulanz. Die werden ihm schon helfen. Komm jetzt, lass uns abhauen!“

Marco zog Alessio vom Tatort weg und wählte gleichzeitig den Notruf. Widerstrebend folgte Alessio ihm. Er bemerkte, dass in einem der oberen Stockwerke jemand den Vorhang beiseite gezogen hatte. Rasch drehte er sich weg und rannte, so schnell er konnte. Hoffentlich würde Lorenzo überleben.

Luca Brassoni spielte für einen Moment mit dem Gedanken, seinen Kollegen Goldini anzurufen, um mit ihm über den neuen Fall zu sprechen. Dann ließ er es aber doch lieber sein, denn womöglich würde er stören oder gar das Baby wecken. Er saß mit Ispettrice Valgoni in einem der Polizeiboote, das ihn zum Ospedale Santi Giovanni e Paolo bringen sollte. Picco, seinen Hund, hatte er schon am frühen Morgen in der Questura bei Maria Grazia, der Sekretärin, gelassen. Er lag dort sicher in seinem Körbchen und schlief. Die gesamte Questura liebte den Hund, und so fand sich immer jemand, der zwischendurch mit ihm spielte, ihn kraulte oder ihn eine kurze Runde Gassi führte. „Stressabbau“ nannte die Signora Vice Questore das, und Brassoni konnte ihr nur beipflichten. Picco hatte sich ohne Probleme an seinem Arbeitsplatz eingefügt. So konnte er sich jetzt ganz auf die Ermittlungen konzentrieren. Signora Bianchi stand zwar unter Beruhigungsmitteln, der Arzt hatte dem Commissario jedoch erlaubt, ihr ein paar Fragen zu stellen. Da Signora Bianchi die Ispettrice schon kannte, hoffte der Commissario, dass sich die Anwesenheit der jungen Frau vorteilhaft auf die Witwe des Mordopfers auswirken würde. Er hatte sich gewundert, dass die Frau den Nachnamen ihres Mannes trug, denn das war in Italien nicht üblich, aber er hatte erfahren, dass sie ursprünglich aus Deutschland stammte und die beiden sich dort kennengelernt und auch geheiratet hatten. Weiße, salzige Gischt hatte sich auf dem heftig bewegten Wasser des Kanals gebildet. Der Bootsführer legte ein rasantes Tempo an den Tag, und das kleine Boot kämpfte sich durch die Wellen. Zum Glück waren noch nicht viele Wasserfahrzeuge unterwegs, sodass das Polizeiboot nur einmal knapp einer Kollision mit einem Vaporetto entging. Brassoni, der gelegentlich unter Seekrankheit litt, wenn es zu hoch herging, atmete tief ein und hielt sich mit einer Hand an der Reling fest, während die Ispettrice unbeeindruckt auf ihrem Handy tippte.

„Alles in Ordnung, Commissario?“, fragte sie ihren Vorgesetzten, als sie doch einmal von ihrem Smartphone aufsah und sein blasses Gesicht bemerkte. „Der Kollege fährt ganz schön schnell. Soll ich ihm sagen, er soll es langsamer angehen lassen? Mein Magen rebelliert auch schon.“

Dankbar lächelte Brassoni, aber er winkte ab. „Schon gut, Barbara. Wir sind ja gleich da. Ich habe gestern Abend ein wenig zu viel gefeiert, deshalb vertrage ich den Wellengang heute schlecht. Als echter Venezianer muss man da durch.“