Mord im Wattenmeer - Daniela Gesing - E-Book

Mord im Wattenmeer E-Book

Daniela Gesing

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Beschreibung

Der erste Fall für Reinigungskraft Femke Janssen "Femke, spiel hier nicht Sherlock Holmes! Wenn die Frau ermordet worden ist, dann läuft hier irgendwo ein gefährlicher Täter herum. Es ist Sache der Polizei und nicht die einer Möchtegern-Detektivin, den Fall aufzuklären!" Da der oft drömelige Chefermittler Fiete Pannkok den Fall trotz diverser Ungereimtheiten zu den Akten legen will, tut sich Femke mit ihrem Exfreund Lasse zusammen, der ebenfalls bei der Vareler Kripo arbeitet. Gemeinsam mit ihm und ihrer schrulligen alten Nachbarin Grete sowie der neuen Gerichtsmedizinerin Ebba Dierksen beginnt sie zu ermitteln. Was haben die Besitzer des Ferienhauses mit dem Fall zu tun? Und welche Verbindung gibt es zu einem großen Juwelenraub in Varel vor einigen Jahren?

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Daniela Gesing

Mord im Wattenmeer

Küstenkrimi

Über das Buch

Der erste Fall für Reinigungskraft Femke Janssen

„Femke, spiel hier nicht Sherlock Holmes! Wenn die Frau ermordet worden ist, dann läuft hier irgendwo ein gefährlicher Täter herum. Es ist Sache der Polizei und nicht die einer Möchtegern-Detektivin, den Fall aufzuklären!“

Femke Janssen, die pfiffige Reinigungskraft für Ferienhäuser in Dangast, dem beschaulichen Küstenort an der Nordsee, hat ein Faible für englische Krimis. Als sie an einem schönen Samstagmorgen beim Putzen im Ferienhaus „Wattenmeer“ am Fuß der Treppe eine Frauenleiche findet, ist ihr detektivischer Spürsinn geweckt.

Da der oft drömelige Chefermittler Fiete Pannkok den Fall trotz diverser Ungereimtheiten zu den Akten legen will, tut sich Femke mit ihrem Exfreund Lasse zusammen, der ebenfalls bei der Vareler Kripo arbeitet. Gemeinsam mit ihm und ihrer schrulligen alten Nachbarin Grete sowie der neuen Gerichtsmedizinerin Ebba Dierksen beginnt sie zu ermitteln.

Was haben die Besitzer des Ferienhauses mit dem Fall zu tun? Und welche Verbindung gibt es zu einem großen Juwelenraub in Varel vor einigen Jahren?

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2025 by Maximum Verlags GmbH

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an uns:

Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

E-Mail: [email protected]

1. Auflage 2025

Lektorat: Rainer Schöttle

Korrektorat: Angelika Wiedmaier

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © photo.ua/ Shutterstock

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI Books GmbH

Made in Germany

ISBN: 978-3-98679-070-7

Homepage: maximum-verlag.de

Facebook: /MaximumVerlag

Instagram: @maximumverlag

Widmung

Für meine Familie

Kapitel 1

„Moin!“

Femke Janssen hievte ihren Rucksack mit Schwung in ihren kleinen roten Mini Cooper und grüßte dabei ihre Nachbarin, die schrullige alte Grete Flottbeek. Femke war achtundzwanzig, knappe ein Meter siebzig groß, hatte rotbraune, lockige lange Haare, die sie mit einem bunten Haarband zu bändigen versuchte, und trug heute eine Jeanslatzhose zu einem quietschgelben T-Shirt. In ihrer Nase steckte ein silberner Stecker, und ihre Ohren zierten jeweils mehrere silberne Ringe.

„Moin Femke, so früh schon unterwegs?“

„Jo, Frau Flottbeek, wat mutt, dat mutt. Am Sonntag kommen Gäste in das neue Ferienhaus, das ich seit dem letzten Jahr betreue. Da muss alles blitzeblank sein. Die Besitzer sind nicht so oft vor Ort. Aber sie legen viel Wert darauf, dass gründlich gereinigt wird und das Haus picobello aussieht. Aber ich mache das ja gern. Die meisten Gäste sind wirklich nett und kommen voller Vorfreude zu uns an den Jadebusen. Schließlich verdienen wir ja auch daran!“

Grete Flottbeek runzelte die Stirn.

„Na, ich weiß nicht. Früher war Dangast ein kleines Fischerdorf mit vielen Einheimischen. Seit da neu gebaut worden ist, gefällt es mir nicht mehr. Ist ja jetzt fast nur noch ein Ferienpark. Am schlimmsten finde ich, dass es den kleinen Park mit dem Minigolfplatz nicht mehr gibt. Damals, als mein Knut noch lebte, da waren wir oft am Wochenende am Strand, haben im Kurhaus den berühmten Rhabarberkuchen gegessen und sind durch den Ort spaziert. Aber heute …“

„Na, Frau Flottbeek, alles verändert sich. Fünfhundertdreiunddreißig Einwohner sind schließlich auch etwas. Und schön ist es dort auch immer noch. Allein die Sonnenuntergänge über dem Meer …“

Femke schloss die Augen und dachte für einen Moment an ihren Exfreund Lasse, mit dem sie so manchen schönen Tag in dem Küstenkurort verbracht hatte. Dann schüttelte sie sich, so als ob sie die Erinnerungen damit aus ihrem Kopf hätte kriegen können. Von Dangastermoor bis zur Küste waren es nur wenige Kilometer, genau gesagt knappe vier, die Femke oft mit dem Rad fuhr. Doch heute hatte sie einiges zu schleppen und wollte nach der Arbeit noch einkaufen fahren.

Frau Flottbeek runzelte die Stirn und setzte weiterhin eine kritische Miene auf, wobei Femke dachte, dass sie durchaus Ähnlichkeit mit einer dieser englischen Ladys hatte, die in ihren heißgeliebten britischen Kriminalromanen durch Schnüffelei und Sachverstand die schwierigsten Fälle lösen konnten.

Femke winkte ihrer Nachbarin zum Abschied und ließ sich seufzend in den bequemen Sitz ihres Autos sinken. Wenn sie nur damals die Prüfungen für die Polizeiausbildung bestanden hätte! Anders als Lasse, der heute im gehobenen Polizeivollzugsdienst als Kommissar bei der Polizei arbeitete. Aber ihr Rücken hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und nun studierte sie immer noch, Pädagogik und Englisch im zehnten Semester, und putzte nebenbei Ferienhäuser. Was für eine Karriere!

Femke ließ das Seitenfenster offen und genoss es, den warmen Fahrtwind auf ihrem Gesicht zu spüren. Ihr nächstes Auto würde ein Cabrio, so viel war klar. Aber ob sie sich so ein Auto irgendwann würde leisten können, stand in den Sternen.

Während sie auf der Straße Zum Jadebusen fuhr, sah sie kurz nach rechts und entdeckte das berühmte Reh zwischen den Kühen auf der Weide. Wahrscheinlich hielt es sich ebenfalls für eine Kuh, dachte Femke und musste schmunzeln. Sie mochte die Gegend, in der sie aufgewachsen war, und wollte nirgendwo anders leben. In ein paar Minuten war sie am Meer oder schwamm im Sommer ein paar Runden im Dangaster Quellbad. Vor ihr bremste ein Auto mit Kölner Kennzeichen, und Femke trat erschrocken ebenfalls auf die Bremse. Dabei wollten die Touristen offenbar nur einen Blick auf das Nationalparkhaus werfen. Verärgert drückte Femke auf die Hupe. So ging das ja nicht, hier den ganzen Verkehr aufhalten! Sollten sie doch auf den Parkplatz fahren und nicht mitten auf der Straße stehen bleiben! Als dann auch noch die Ampel kurz vor dem Dangaster Dorf auf Rot wechselte, war es kurzfristig vorbei mit ihrer guten Laune. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf das Lenkrad. Es gab nur die eine Zufahrtsstraße zum Ort. Wenn Wochenende war oder gar Ferien anstanden, konnte sich schon mal eine lange Autoschlange vor der Ampel bilden. Heute waren es ganze fünf Fahrzeuge, die vor ihrem Mini warteten. An diesem Morgen musste sie außer dem besagten Ferienhaus noch eine Unterkunft Am Hollwert putzen.

Endlich sprang die Ampel auf Grün um, und es ging weiter die Edo-Wiemken-Straße entlang. Den klangvollen Namen verdankte die Straße einem ostfriesischen Häuptling, dem letzten männlichen Regenten der Herrschaft Jever aus dem Häuptlingsgeschlecht der Wiemkens. Die friesischen Orte rund um die Küste hatten durchaus eine interessante Geschichte aufzuweisen. Und heute war Freitag, da hatte das Kurhaus geöffnet, deshalb dachte Femke darüber nach, sich später zwei Stücke des berühmten Rhabarberkuchens mitzunehmen. Je nachdem, wie lange sie mit Putzen beschäftigt war, konnte sie sogar im Kurhaus schnell zu Mittag essen. Die Hausmannskost dort war genau ihr Ding. Entweder die Nudeln mit Pesto oder Matjes nach Hausfrauenart, überlegte sie, während sie links in die Rennweide einbog.

Es waren schon vereinzelt Leute an diesem sonnigen Morgen unterwegs, entweder um Brötchen fürs Frühstück zu holen oder um mit ihrem Hund Gassi zu gehen. Femke musste kurz warten, bis ein Mann mittleren Alters mit einem schwarzen Labrador die Straße überquert hatte. Noch einmal links mit Schritttempo in die kleine Anwohnerstraße einbiegen, und schon war Femke an ihrem Zielort angekommen.

Das hübsche Ferienhaus mit den roten Ziegelsteinen wirkte gepflegt. Die Rollläden waren heruntergelassen, wie immer, solange kein Gast anwesend war. Femke sollte nur noch einmal durchwischen, Staub putzen und kontrollieren, ob auch alles an seinem Platz war. Entspannt stieg sie aus ihrem Auto, öffnete das Gartentor, kramte den Schlüssel aus ihrer Tasche, an dem ein kleiner hölzerner Seehund hing, warf einen Blick auf den Rasen, der auch noch gemäht werden musste, und schloss die Tür auf. Der kleine Flur war ganz in Weiß gestrichen, links hing eine Garderobe neben einem flachen Schuhschrank.

Femke legte ihren Schlüssel in den Schlüsselkasten und stellte ihre Tasche ab. Vom Eingang aus blickte man auf eine Tür, die einen privaten Abstellraum unter der Treppe beherbergte. Dafür hatten nur die Besitzer den Schlüssel. Eigenartigerweise stand er ein Stück offen. Rechts daneben befand sich die Treppe, die in den ersten Stock führte. Femke erschrak, als sie das Licht anmachte. Plötzlich nahm sie wahr, dass da jemand auf dem Boden lag. Das konnte doch nicht sein! Ihr Herz begann zu wummern, und ihr wurde ganz schlecht. Zuerst dachte sie an Einbrecher und trat verängstigt einen Schritt zurück, doch dann bemerkte sie, dass es eine Frau war, die leblos und mit seltsam verdrehtem Hals auf den Fliesen lag.

Das wird doch nicht Frau Winters sein?, dachte sie in Panik. Stefanie Winters war zusammen mit ihrem Mann Karsten die Eigentümerin des Ferienhauses. Femke atmete einmal tief durch, nahm sich ein Herz und kniete sich zu der Verunglückten auf den Boden. Doch zum Glück war es nicht die Eigentümerin, stellte sie erleichtert fest, als sie die Frau näher betrachtete. Aber was machte eine Fremde hier in dem Ferienhaus? Soweit sie wusste, hatten in der letzten Woche keine Gäste mehr in dem Haus gewohnt. In der Hoffnung, noch Erste Hilfe leisten zu können, fühlte Femke der Frau den Puls. Nichts mehr zu machen, die Fremde war tot, so viel war klar. Femke erhob sich, holte ihr Handy aus der Tasche, wählte zuerst den Notruf und rief dann Lasse, ihren Exfreund an.

„Femke, was ist denn los? Wieso rufst du mich auf der Arbeit an?“

„Lasse, das ist kein privater Anruf“, stieß Femke aufgeregt hervor. „Ich bin im Ferienhaus ‚Wattenmeer‘ an der Rennweide. Hier liegt eine tote Frau. Sieht so aus, als sei sie von der Treppe gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen.“

„Wie, ein Gast? Oder etwa die Eigentümerin?“, fragte Lasse bestürzt.

„Ich kenne die Frau nicht. Ich sollte heute hier putzen. Am Sonntag kommen Gäste“, erklärte Femke kurz. „Bitte komm vorbei. Ich fasse auch nichts an, versprochen. Aber es ist unheimlich hier in dem Haus. Das fühlt sich ganz anders an, als wenn man darüber in einem Krimi liest.“

„Natürlich, das ist ja auch eine echte Tote. Ich informiere eben meinen Chef; in zwanzig Minuten sind wir vor Ort. Vielleicht ist es besser, wenn du im Garten auf uns wartest. Ist da noch jemand im Haus? Geht es dir gut?“

Femke seufzte. Der besorgte Unterton in Lasses Stimme war nicht zu überhören. Und sie hatte gar nicht darüber nachgedacht, ob noch jemand im Haus sein könnte. Am Ende war die arme Frau ermordet worden und der Mörder lief noch frei herum. Gänsehaut überzog ihren Körper.

„Hallo, ist da jemand?“, rief sie mit ängstlicher Stimme ins Haus hinein. Keine Antwort. Sie horchte noch einen Moment auf Geräusche, dann nahm sie ihr Handy wieder zur Hand.

„Gut geht es mir nicht gerade, das war schon ein ganz schöner Schock. Aber mach dir keine Sorgen, ich falle schon nicht um! Und es scheint auch niemand im Haus zu sein.“

„In Ordnung, dann bis gleich! Wir werden uns gründlich umsehen“, antwortete Lasse und legte auf.

Femke schnappte sich ihre Sachen und warf noch einen letzten Blick auf die Frau. Sie hatte noch nie eine Tote gesehen. Dieser Anblick würde sie noch eine ganze Weile verfolgen. Dann sah sie einmal kurz die Treppe hoch. Da ganz oben schien ein Blutfleck zu sein! Aber die Frau war doch erst hier unten aufgeschlagen. Komisch! Femkes Knie zitterten, als sie durch die Haustür in den Garten ging. Sie fasste sich ins Gesicht und merkte erst jetzt, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an, während sie sich zu einem der Gartenstühle schleppte und mit einem Stöhnen hineinplumpste. Aber sie spürte auch das dringende Bedürfnis, sich Klarheit über dieses Unglück zu verschaffen. Oder war es am Ende Mord? Die Frau hatte eindeutig eine Verletzung am Kopf, die nicht unbedingt vom Sturz stammen musste, denn unterhalb der Treppe war kein Blut zu sehen, zumindest nicht soweit Femke bemerkt hatte.

Wer war die Unbekannte und was hatte sie in dem Ferienhaus zu suchen? Bestimmt würde Lasse ihr nach dem Eintreffen der Spurensicherung mehr erzählen können. Falls sein kauziger Chef ihn ließ.

Lasse und sie waren seit der Oberstufe zusammen gewesen, aber Femke hatte es nie so recht verkraftet, dass er bei der Polizei angenommen worden war und sie nicht. Wo es doch auch ihr Traumberuf gewesen war. Lasse war ein sportlicher Typ, eins neunzig groß, kurze, hellblonde Haare, hellblaue Augen. Außerdem hatte er die schönsten Männerhände, die sie kannte. Trotzdem war Femke irgendwann nicht mehr glücklich gewesen. Sie hatte das Gefühl, er nahm sie nicht ernst. Ihre Ambitionen, eine eigene Detektei zu eröffnen oder ein Buch zu schreiben, statt als Lehrerin in einer festen Beamtenanstellung ihr Dasein zu fristen, tat er als Spinnerei ab. Schließlich hatte sie vor sechs Monaten den Schlussstrich gezogen. Lasse war seitdem am Boden zerstört. Er war kurz davor gewesen, ihr einen Antrag zu machen. Für ihn war Femke die Frau seines Lebens. Hübsch, ein bisschen chaotisch, lebensfroh und klug. Aber Femke wollte mehr. Und vor allem einen Mann, der sie unterstützte und wertschätzte, egal was sie in ihrem Leben plante.

„Femke, mein Kind, dann darfst du Lasse aber auch nicht mehr ausnutzen und seine Hilfe in Anspruch nehmen, wenn du ihm den Laufpass gibst!“, hatte ihre Mutter ihr gepredigt. Das stimmte zwar, aber man konnte mit seinem Ex doch auch befreundet sein, fand Femke. Und da Lasse nun mal bei der Polizei arbeitete, war es nur natürlich, dass sie ihn als Allerersten informiert hatte! Deswegen musste sie sich nicht schuldig fühlen.

Femke nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Danach ging es ihr etwas besser. Und nun war sie vielleicht das erste Mal tatsächlich in einen Mordfall verwickelt. Wenn das nicht eine gute Prüfung für eine Karriere als Detektivin war!

Kapitel 2

Die Sonne brannte auf die Terrasse des Ferienhauses, als zuerst der Notarzt, dann die Polizei und schließlich auch die Beamten der Spurensicherung eintrafen. Lasse hatte den Einwand seines Chefs, das Ganze wäre sicher nur ein Unfall, eigenwillig beiseite gewischt und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass bei einem ungeklärten Todesfall besser gleich die gesamte Mannschaft anrücken sollte, zumal es sich um eine unbekannte Person handelte, die in einem fremden Haus aufgefunden worden war.

Fiete Pannkok, Mitte vierzig, etwas dicklich, mit dünnem Haar, das ihm immer in die Stirn hing, hatte brummend seine Zustimmung gegeben. Der Hauptkommissar war nicht besonders ehrgeizig; seit seiner Scheidung versuchte er, das Leben und auch seinen Job so ruhig wie möglich anzugehen. Sein Partner Lasse, dieser junge, ehrgeizige, überkorrekte Beamte, nervte ihn zuweilen ganz gewaltig. Aber heute hatte er keine Lust, sich mit ihm rumzustreiten. Und nun standen sie im Ferienhaus Wattenmeer und studierten den Tatort. Diese Femke, Lasses Exfreundin, hatte ganz schön blass ausgesehen, als Pannkok sie befragte. Sie war die erste Zeugin, ihre Eindrücke vom Tatort waren noch ganz frisch und wichtig für mögliche Ermittlungen. Lasse schien viel zu besorgt um die junge Frau zu sein, sodass der Hauptkommissar kurz überlegte, ob dies eine gute Gelegenheit sei, den jungen Kollegen von dem Fall abzuziehen. Aber dann hätte er die ganze Arbeit allein machen müssen, falls sich herausstellte, dass es um Mord ging, und dazu hatte er keine Lust.

„Sieht doch ganz so aus, als sei die Frau unglücklich gestürzt“, fasste Fiete seinen Eindruck kurz zusammen. „Der ganze Aufwand hier ist also umsonst“, zischte er in Lasses Richtung. Der setzte ein schmales Lächeln auf.

„Aber Chef, sehen Sie hier, die Platzwunde am Kopf. Die sieht doch nicht so aus, als sei sie durch den Sturz entstanden. Der Notarzt hat bestätigt, dass die Frau an einem Genickbruch gestorben ist. Aber möglicherweise wurde sie zuerst geschlagen und dann gestoßen. Warten wir doch die Ergebnisse der Obduktion ab! Außerdem haben wir hier eine Unbekannte vor uns. Das ist nicht die Eigentümerin des Ferienhauses und laut Femke auch keine Mieterin. Was also hat sie hier gemacht? Zu viele offene Fragen für meinen Geschmack!“

Fiete Pannkok schwieg trotzig und kaute auf seinem Nikotinkaugummi herum. Immerzu musste Lasse so großspurig auftreten und Dienst nach Vorschrift machen. Doch er wollte sich vor den Mitarbeitern der Spurensicherung keine Blöße geben. Die tuschelten hinter vorgehaltener Hand sowieso schon über ihn.

„Genau das Gleiche denke ich auch!“, sagte er deshalb so laut, dass alle es hören konnten. „Einmal das ganze Programm! Wir werden schon herausfinden, was in diesem Haus passiert ist!“

Überrascht sah Lasse ihn an. Das war ja heute einfach gewesen. Aber er durchschaute Fiete immer. Und er wusste: Obwohl sein Chef etwas faul rüberkam, hatte er letzten Endes das Herz am rechten Fleck. Er war einfach nur vom Leben gebeutelt durch seine fiese Scheidung, die ihn hatte verbittern lassen.

Lasse beugte sich noch einmal hinunter zu der Toten. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Sie war schlank, mittelgroß, ihr langes blondes Haar umspielte ihren Kopf und wellte sich über den Boden um ihren leblosen Oberkörper. Ihre hellblaue Satinbluse war am rechten Ärmel ein Stück eingerissen. Der schwarze Lederrock war durch den Sturz hochgerutscht und gab einen Blick auf ihre langen, perfekten Beine frei. Eine hübsche Frau, dachte Lasse bei sich. Was hatte sie nur in diesem Ferienhaus gesucht? Ob sie eine Verwandte der Winters war? Die Frau trug hochwertigen Schmuck, das erkannte er sofort. Ihre Armbanduhr schien beim Sturz kaputtgegangen zu sein. Auch ihre Schuhe, von denen einer auf dem Treppenabsatz hängen geblieben war, waren von einem teuren Markenhersteller. Lasse runzelte die Stirn. Es war eine üble Vorahnung, die ihn beschlich. Wenn es ein Mord gewesen war, dann war die Geschichte vielleicht größer, als es zum jetzigen Zeitpunkt aussah. So etwas hatte es in diesem kleinen, beschaulichen Ort noch nicht gegeben. Lasse stand auf und schob die Hände in seine Hosentaschen. In Gedanken ging er alle Möglichkeiten durch.

Ein Serienmörder, der einsame Urlauberinnen killt? Ein Einbrecher, der die Frau in dem Haus überrascht hat? Aber es gab keinerlei Einbruchsspuren, also war das Quatsch. Ein Mord aus Eifersucht? In den meisten Fällen kam der Mörder aus dem näheren Umfeld … Fiete Pannkok riss ihn aus seinen Gedanken.

„Lasse, sehen Sie sich mal oben um, wenn die Spusi so weit ist. Ich befrag derweil die Nachbarn im Ferienhaus gegenüber. Hatte die Tote Autoschlüssel oder irgendetwas Ähnliches bei sich?“, fragte er in Richtung der Kollegen.

„Nein, wir haben auch keine Handtasche oder einen Ausweis bei ihr gefunden. Könnte der Täter an sich genommen haben“, antwortete Tim Schermbeck, ein schlanker, hochaufgeschossener Kriminaltechniker, dessen braune Locken unter seinem Schutzanzug hervorlugten.

„Mist, dann wird das schwer mit der Identifizierung“, brummte Pannkok enttäuscht. „Wir müssen uns in allen Hotels und Pensionen umhören. Und natürlich bei der Kurverwaltung. Was das wieder an Zeit kostet“, jammerte er stöhnend.

Lasse und Tim warfen sich einen genervten Blick zu.

„Die Befragung kann ich übernehmen“, bot Lasse seinem Chef an. „Dangast ist klein, das habe ich schnell erledigt.“

„Dann werde ich die Hausbesitzer informieren“, erklärte Fiete Pannkok bestimmt. „Das ist Chefsache“, fügte er hinzu. Erneut rollte Tim Schermbeck hinter seinem Rücken mit den Augen.

„Ähm, hallo, das, ähm, das wollte ich auch gerade tun“, mischte sich Femke jetzt kleinlaut ein, die sich hinter die Polizeibeamten geschlichen hatte, um die Ermittlungen zu verfolgen.

„Verflucht, wer hat Sie hier wieder reingelassen?“, schimpfte Pannkok erbost. „Es ist doch nicht Ihre Aufgabe, irgendwelche Angehörigen oder die Hausbesitzer zu informieren! Was fällt Ihnen ein?“

Sein Gesicht war hochrot angelaufen. Die Ader an seinem Hals schwoll bedenklich an.

„Aber das sind doch meine Arbeitgeber und ich sollte hier putzen, weil doch am Sonntag …“, stotterte Femke wie ein begossener Pudel, aber Pannkok unterbrach sie barsch.

„Sie sollen hier nicht denken, sondern nur eine Zeugenaussage machen. Und jetzt raus hier, bevor ich Sie wegen Behinderung der polizeilichen Ermittlungen verhaften lasse!“

Femke zog betreten den Kopf ein und ließ sich von Lasse nach draußen in den Garten bringen. Pannkok instruierte derweil seine Kollegen, die Tote unverzüglich in die Pathologie nach Varel bringen zu lassen, wo die genauen Todesumstände festgestellt werden sollten.

„Mensch, Femke, du kannst doch nicht einfach so zurück an den Tatort kommen!“, schalt Lasse sie. „Und du weißt, dass unsere Ermittlungsergebnisse streng geheim sind?“

Femke legte den Kopf schief und sah Lasse blinzelnd in die Augen.

„Schon klar, aber ihr habt doch noch gar nichts und vielleicht könnte ich euch helfen …“

„Femke, spiel hier nicht Sherlock Holmes! Wenn die Frau ermordet worden ist, dann läuft hier irgendwo ein gefährlicher Täter herum. Es ist Sache der Polizei und nicht die einer Möchtegern-Detektivin, den Fall aufzuklären!“

Femke klappte die Kinnlade herunter.

„Ich glaub es ja wohl nicht! Schon wieder sprichst du mit mir, als wäre ich ein kleines Kind! Vielleicht überlegst du mal, warum ich mit dir Schluss gemacht habe!“

Wumms, das saß! Betroffen sah Lasse seiner Exfreundin hinterher, wie sie wutschnaubend und ohne sich umzudrehen das Grundstück verließ. Wieso hatte sie aber auch immer so absurde Ideen. Er wollte doch nur, dass ihr nichts Schlimmes passierte! Kopfschüttelnd ging er zurück ins Haus, um weiter seiner Arbeit nachzugehen.

Femke stieg in ihren Mini und brauchte einen Moment, um wieder runterzukommen. Das war alles ein bisschen viel gewesen heute Morgen. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte noch genügend Zeit, das zweite Ferienhaus zu putzen. Auch wenn ihr im Augenblick so gar nicht danach war. Aber sie brauchte das Geld, und die Vermietagentur verließ sich auf sie. Also startete sie seufzend den Wagen und fuhr über die Rennweide zurück zum Ortseingang, um von da aus zum Hollwert zu kommen. Theoretisch hätte sie den Weg auch laufen können, das wäre sogar einfacher gewesen, aber sie hatte einen neuen Regenschirmständer für das Haus im Auto, nachdem die letzten Gäste den ersten zerdeppert hatten. Noch immer ein bisschen wackelig auf den Beinen machte sie sich tapfer an die Arbeit, die sie etwas ablenken würde.

Das sah ja vielleicht aus hier! Femke verstand nicht, wieso manche Leute so respektlos mit fremdem Eigentum umgingen. Kaputtgehen konnte immer was, das war ja klar, aber was so manche Urlauber sich leisteten … Der Mülleimer war überfüllt, im Bad lagen die nassen Handtücher auf dem Boden, der Hund der Familie hatte offensichtlich die Vorhänge für einen Baum gehalten und alles vollgepinkelt … Femke musste sich schütteln, als sie mit Gummihandschuhen und spitzen Fingern den Unrat entfernte und die Vorhänge zum Waschen abnahm. Während sie das Klo putzte, hatte sie schon wieder das Bild der unbekannten Frau vor Augen. Irgendwie kam sie ihr doch bekannt vor. Sie hatte das Gesicht nur kurz gesehen, aber jetzt, da der erste Schock abebbte, fiel ihr ein, dass ihr die Frau schon mal begegnet war. Wo war das nur gewesen? Femke seifte das Waschbecken ein und überlegte fieberhaft. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Im letzten Sommer, kurz nachdem das Ferienhaus an die Winters verkauft worden war, da hatte Karsten Winters mit einer blonden Frau vor dem Eiscafé draußen auf der Terrasse gesessen. Femke hatte gedacht, es wäre vielleicht die Maklerin gewesen. Die Frau hatte genauso langes blondes Haar wie die Tote gehabt! Das musste sie unbedingt Lasse …

Ach, nein, dem Blödmann würde sie nicht auf die Sprünge helfen. Außerdem war sie sich ja nicht ganz sicher. Ganz in Gedanken sprühte sie die Duschwand ein, polierte den Spiegel, saugte die Böden und zog die Bettwäsche ab. Nachdem sie alles gewischt hatte und auch die Terrasse gefegt war, ließ Femke sich erschöpft auf die Couch sinken. Sie hätte selbst Ferien gebrauchen können, aber dafür fehlte ihr im Moment das Geld. Der Rhabarberkuchen vom Kurhaus ging ihr nicht aus dem Kopf. Es war bereits halb zwölf. Die Vorhänge waren zum Glück in der Waschmaschine wieder sauber geworden, und Femke hängte sie noch schnell auf. Die würden sich beim Aushängen von selbst glatt ziehen. Dann sah sie noch einmal alles durch, schloss das Ferienhaus ab und machte sich zu Fuß auf den Weg Richtung Kurhaus. Eine warme Mahlzeit würde ihr jetzt guttun.

Kapitel 3

Ebba Dierksen warf einen letzten Blick auf den Sektionstisch. Sie hatte erst am Montag ihre Stelle in Varel angetreten, und nun hatte sie schon die erste Tote dort liegen, eine Frau, die unter ungeklärten Umständen gestorben war. Und eine erste Einschätzung sollte sie auch noch so schnell wie möglich abgeben. Das fing ja gut an. Der Umzug war eine Idee ihres Lebensgefährten Jan gewesen, der als Anästhesist eine Stelle in der Klinik angenommen hatte, und da nach der Pensionierung des alten Facharztes für internistische und forensische Medizin zufällig auch eine Stelle für Ebba freigeworden war, hatte sie nach einigen Bedenken dem Ganzen zugestimmt. Hier ging es deutlich ruhiger zu als in Hamburg, wo sie zuletzt gearbeitet hatte. Ein Häuschen auf dem Land, nahe am Meer, das hatten sie sich schon immer gewünscht, und bisher hatte sich alles glücklich gefügt. Die Kollegen waren nett, die Nachbarn sehr hilfsbereit und selbst das Wetter spielte mit.

Ebba streifte ihre Handschuhe ab und fuhr sich durch ihr dunkles, krauses Haar. Die Frau auf dem Tisch war ihr erstes Mordopfer in Varel. So jung, dachte Ebba mit einem Schaudern. Aber es war eindeutig, sie war eines gewaltsamen Todes gestorben. Eine Kopfverletzung, die die Unbekannte außer Gefecht gesetzt hatte, dazu die Druckstellen an ihren Unterarmen, wo jemand sie zuerst festgehalten hatte, bevor er sie vermutlich die Treppe hinunterstieß. Ebba ging immer besonders pietätvoll mit den Verstorbenen um. Manchmal sprach sie ein paar Worte mit den Toten, ab und zu entschuldigte sie sich sogar für besonders komplizierte Untersuchungen. Schließlich waren das einmal Menschen wie du und ich gewesen, fand sie, denen man Respekt schuldete. So konnte sie auch besser mit ihrer Arbeit umgehen und professionellen Abstand von den besonders belastenden Todesfällen halten. Der Tod gehörte zum Leben, so war das nun mal, und sie konnte mit ihrer Arbeit dabei helfen, unklare Todesfälle aufzudecken und den Verstorbenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Gerade hatte sie die Leiche wieder abgedeckt, als eine junge Frau ihren Kopf durch die Tür steckte. Erstaunt sah Ebba auf.

„Entschuldigung? Was machen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt hier rein? Wenn Sie nicht sofort gehen, werde ich den Wachdienst …“

„Bitte nicht!“, sagte die Frau, die ein paar Jahre jünger als Ebba war. „Ich heiße Femke, Femke Janssen, und ich habe die Tote gefunden. Meine Freundin Marie, die auf der Intensivstation als Krankenschwester arbeitet, hat mich zu Ihnen gelotst. Bitte verraten Sie sie nicht. Ich wollte auch nur kurz fragen, ob ich mit meiner Vermutung richtiglag, dass die Frau ermordet wurde.“

Ebba runzelte verwirrt die Stirn. So etwas war ihr auch noch nie passiert.

„Sind Sie eine Angehörige? Oder von der Polizei?“

Femke schüttelte den Kopf. Die Atmosphäre der Klinikräume hier im Keller schüchterten sie mehr ein, als sie sich eingestehen wollte. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Tod, zumindest bildete sie sich das ein.

„Ich arbeite zurzeit als Reinigungskraft für Ferienunterkünfte, aber eigentlich wollte ich zur Polizei und studiere nebenbei noch …“

Ebba musste schmunzeln. Irgendwie war ihr Femke sympathisch, obwohl sie eigentlich sauer auf sie sein sollte. Aber Ebbas Lebensweg war auch nicht gradlinig verlaufen, deshalb würde sie niemals jemanden wegen seines Jobs oder seiner Herkunft verurteilen.

„Das ist ja schön und gut, aber selbst wenn ich wollte, unterliege ich der Schweigepflicht. Und dass Sie hier so einfach eindringen, macht die Sache nicht besser.“

Femke kaute auf ihrer Unterlippe.

„Schon klar, und ich wollte Sie auch nicht erschrecken. Aber die Polizei will das Ganze als Unfall hinstellen, und ich hatte gleich so ein Gefühl …“

Sie streckte Ebba ein Papptablett mit zwei Stückchen Rhabarberkuchen entgegen.

„Haben Sie vielleicht zufällig Pause? Dann könnten wir uns draußen unterhalten und dabei ein Stück Kuchen essen. Frisch vom Kurhaus in Dangast!“

Ebba musste grinsen. Sie hätte tatsächlich gerade etwas Zeit.

„Warten Sie draußen, ich muss die Arme hier nur noch eben in einem Kühlfach unterbringen und meinen vorläufigen Bericht an die Polizei schicken. Ich weiß zwar selbst nicht warum, aber ich werde diesen berühmten Kuchen mit Ihnen essen.“

Femke grinste.

„Prima, aber nenn mich doch bitte Femke und sag du!“

Sie streckte der Ärztin die Hand entgegen.

„Ebba, ich heiße Ebba“, antwortete die lächelnd.

„Ich freue mich, Ebba, und ich warte oben auf dich!“

Eine Viertelstunde später saßen die beiden bei strahlend blauem Himmel auf jeweils einem der Poller auf dem Vorplatz vor dem Krankenhaus und verspeisten genüsslich den Kuchen. Femke hatte vorsorglich zwei Gabeln besorgt.

„Es ist toll, dass wir in Varel jetzt eine junge, nette Pathologin haben“, sagte Femke, nachdem sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte.

„Wieso, kanntest du meinen Vorgänger?“, fragte Ebba interessiert.

„Ja, ich war mal bei einem seiner Vorträge, weil ich doch zur Polizei wollte. Außerdem hat er meinen Onkel obduziert. Er war halt von der alten Schule, wie man so sagt. Etwas stoffelig, sehr von sich eingenommen …“

„Okay, und du spielst nebenbei Detektivin, oder wie darf ich deine Ambitionen verstehen?“

Femke wischte sich den Mund ab und betrachtete kurz Ebbas Tattoo auf deren linkem Arm, wo der Ärmel hochgerutscht war.

„Na ja, ehrlich gesagt, habe ich wirklich mit dem Gedanken gespielt, eine Detektei zu gründen. Das ist aber eine lange Geschichte …“

Femke seufzte, und Ebba grinste amüsiert.

„Wenn es das ist, was dich glücklich macht.“

Sie machte eine ausladende Geste.

„Schau mich an, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, eine Ausbildung zur Schreinerin angefangen, und dann erst habe ich meine wahre Leidenschaft entdeckt – die Medizin!“

Femke machte große Augen.

„Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf?“

„Dreiunddreißig. Aber ich habe alles im Schnelldurchlauf durchgezogen. Und ich bin ehrgeizig.“

„Ich auch, aber nicht so“, meinte Femke bewundernd. „Hast du dich denn hier schon eingelebt?“

„Ein wenig. Mir gefällt es in Varel ganz gut. Alles ist überschaubar, die Menschen sind nett … Na ja, es gibt immer welche, die mich wegen meiner Hautfarbe komisch angucken.“

„Wirklich? So etwas fällt mir gar nicht auf. Manche Leute sind eben sonderbar. Mir ist es völlig egal, woher jemand kommt oder wie er aussieht. Du bist jedenfalls nett!“

„Dabei bin ich hier in Deutschland geboren. Mein Vater kommt aus Ghana.“ Ebba sah auf die Uhr. „Ich muss leider wieder. Schön, dich kennengelernt zu haben. Wenn auch auf etwas skurrile Art und Weise. Vielleicht sieht man sich mal wieder?“

„Gern“, antwortete Femke. „Ich wohne in Dangastermoor. Warte, ich tipp dir meine Nummer in dein Handy!“

Ebba bedankte sich für den Kuchen, überreichte Femke das Handy, die schnell ihre Nummer eingab.

„Übrigens, du warst auf der richtigen Fährte“, flüsterte Ebba Femke ins Ohr, bevor sie zurück in der Klinik verschwand. „Aber das hast du nicht von mir!“

In Dangast wehte eine frische Brise, die die sommerlichen Temperaturen halbwegs erträglich machte. Am Strand tummelten sich Touristen und Einheimische, denn das Wasser war gekommen. Nur bei Flut konnte man sich im Meer abkühlen. Lasse war immer noch unterwegs, um die Hotels und Pensionen abzuklappern. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er an einer Haustür klingelte. Er trug immer einen Anzug, sommers wie winters. Das war sein Markenzeichen. Nun stand er vor seinem letzten Ziel. Bisher hatte niemand die Tote erkannt. Die Pension „Seestern“ in der Mitte von Dangast war ein älteres, aber gepflegtes Haus, das nur vier Zimmer vermietete. Die Pensionswirtin, eine Dame mittleren Alters, setzte ihre Brille auf, um sich das Foto vom Gesicht der Unbekannten näher anzuschauen, das Lasse in dem Ferienhaus gemacht hatte.

„Oh mein Gott“, stieß sie hervor, als sie die Unbekannte sah. „Was ist ihr passiert?“

„Sie kennen die Frau?“, fragte Lasse aufgeregt.

„Ja natürlich, das ist doch Vanessa Holtgreve, ein Stammgast. Sie kommt öfters nach Dangast und wohnt immer in meinem besten Zimmer.“

Die Frau war ganz grün im Gesicht geworden. Lasse musste sie stützen und in die Pension begleiten. Ihr Mann eilte zu Hilfe und besorgte seiner Frau ein Glas Wasser.

„Brauchen Sie einen Arzt?“, fragte Lasse besorgt.

„Nein, danke, es geht schon. Ich habe mich nur so erschreckt.“

„Kann ich mir das Zimmer von Frau Holtgreve anschauen?“, fragte Lasse behutsam. Die Frau nickte.

„Natürlich, wenn es nötig ist. Sie wird ja wohl nichts mehr dagegen haben. Was für eine schreckliche Situation. So etwas hatten wir hier noch nie. War es ein Unfall?“

„Das wissen wir noch nicht“, antwortete Lasse knapp.

Die Pensionswirtin verbarg ihr Gesicht zwischen den Händen, während ihr Mann ihr liebevoll über den Rücken strich.

„Ich schaue mich dann mal um“, sagte Lasse leise. „Welche Zimmernummer ist es denn?“

Der Mann stand auf und holte den Zimmerschlüssel.

„Erste Etage, Zimmer vier!“

„Vielen Dank“, murmelte Lasse und überließ das Ehepaar sich selbst. Es war immer unangenehm, Todesnachrichten zu überbringen, auch wenn er diesmal nur mit den Vermietern hatte sprechen müssen.

Zu Lasses Überraschung war das Zimmer überaus modern eingerichtet. An der linken Wand stand ein bequemes Polsterbett, daneben ein großzügiger Kleiderschrank aus weißem Pinienholz. Die Wände waren in Türkis und Weiß gestrichen. Der Boden war mit hellbraunem, holzähnlichem Laminat ausgelegt. Die Deckenleuchte bestand aus hellgrünem, geflochtenem Metall, das eine stimmungsvolle Lichtreflexion ermöglichte. Vor den großen Fenstern zum Balkon hingen leichte, hellbeige Vorhänge, und das Bad war renoviert. Sogar eine ebenerdige Dusche gab es. Kein Wunder, dass Vanessa Holtgreve hier gern abgestiegen war. Doch Lasse war nicht in dem Zimmer, um die Einrichtung zu bewundern, sondern um sich umzusehen und nach Indizien für die Tat zu suchen. Er hatte just vor zwei Minuten per Mail die Bestätigung aus der Gerichtsmedizin erhalten, dass die Frau ermordet worden war. Vielleicht fand er Hinweise auf den Täter. Wenn Vanessa Holtgreve öfter in Dangast gewesen war, kannte sie doch sicher einige Leute. Irgendeiner von denen musste es auf sie abgesehen haben. Ein Streit vielleicht, ein aggressiver Stalker … Aber was um alles in der Welt hatte sie in dem Ferienhaus gesucht? Und wie war sie da überhaupt reingekommen? Lasse war gespannt, was er finden würde.

Kapitel 4

Femke hatte wegen der Ereignisse am frühen Vormittag völlig vergessen einzukaufen! Nun hatte sie kaum noch Lebensmittel im Haus, aber vielleicht würde sie später noch einmal zurück nach Dangast fahren. Erschöpft parkte sie ihren Mini auf dem Parkplatz vor der Haustür. Die Sonne brannte inzwischen vom Himmel, der in ein tiefes Blau getaucht war. Immer wieder hatte sie das Bild der toten Frau vor Augen. Zum Glück war das Gespräch mit Ebba, der neuen Gerichtsmedizinerin, wohltuend gewesen. Die Chemie stimmte zwischen ihnen. Das hatte sie gleich gemerkt. Es kam nicht oft vor, dass man als Erwachsener direkt eine Verbindung zu einer anderen Person hatte, dachte sie, während sie die Haustür aufschloss. Vielleicht war das der Beginn einer neuen Freundschaft. Femke wohnte im Dachgeschoss eines Einfamilienhauses, das ihrer Vermieterin Grete Flottbeek gehörte. Die Wohnung war nicht besonders groß, aber sehr gemütlich. Außerdem mochte sie Grete, die sich ab und an wie eine zweite Mutter um sie kümmerte. Dabei hatte Femke durchaus guten Kontakt zu ihren eigenen Eltern, die bei Oldenburg lebten.

„Hallo Femke, wie schaust du denn aus?“, hörte sie da schon Frau Flottbeeks Stimme. „Du bist ja ganz blass um die Nase, und das bei dem schönen Wetter. Ist dir die salzige Meeresluft in Dangast nicht bekommen?“

Grete Flottbeek stand mit neugierigem Gesichtsausdruck wie ein bunter Farbtupfer im Flur. Heute trug sie ein orangefarbenes, sackähnliches Kleid und hatte sich dazu ein lila Haarband in die grauen Strähnen gebunden. An ihren Handgelenken baumelten zahllose geflochtene Bänder mit farbenfrohen Perlen. Femke musste schlucken, bevor sie antworten konnte.

„Nee, Frau Flottbeek, es ist etwas Schlimmes passiert.“

Ihre Nachbarin sah sie beunruhigt mit großen Augen an.

„Etwa Schlimmes? Hier bei uns in der Gegend? Du meine Güte! Komm erst mal rein, ich mache uns einen schönen Tee und dann erzählst du mir alles!“

Wie ferngesteuert folgte Femke ihrer Nachbarin. Dabei legte sie achtlos ihren Rucksack in die Ecke neben der Garderobe. Eigentlich wäre sie jetzt gern allein gewesen, aber vielleicht tat ihr das Gespräch ja auch gut. Man sollte schlimme Dinge nicht verdrängen, hatte ihre Oma ihr immer gepredigt. Sonst suchten sie sich ihren Weg, und das konnte böse enden.

Femke ließ sich auf das bequeme Cord-Sofa ihrer Nachbarin sinken und seufzte auf. Erstaunlicherweise war die Wohnung der älteren Frau ziemlich modern eingerichtet. Auch die Küche war nagelneu und mit sämtlichen Raffinessen wie einem Dampfgarer und einer Kochinsel ausgestattet.

„Ich finde es ganz furchtbar, wenn Leute in meinem Alter sagen, sie brauchen nichts Neues mehr. Das ist ja, als wäre man schon vor dem Tod lebendig begraben. Ich werde renovieren und mich neu einrichten, solange ich Spaß daran habe! Ab und zu ein neuer Farbanstrich oder eine kleine Veränderung, das muss schon sein!“, hatte Frau Flottbeek ihr erzählt, als sie sich das erste Mal als neue Mieterin für die Einliegerwohnung vorgestellt hatte. Femke hoffte, sie würde im Alter ebenfalls so positiv und energiegeladen sein.

Kurze Zeit später stellte Grete zwei Tassen, weißen Kandis und ein Kännchen Sahne vor Femke auf den Tisch. Die Teekanne stellte sie auf ein Stövchen. Femke nahm sich zwei Stücke Kandis, goss den Tee darüber und gab anschließend mit dem Sahnelöffel etwas Sahne an den Rand der Tasse, gegen den Uhrzeigersinn. Die Sahne sank zuerst in den Tee und stieg anschließend als „Wulkje“, also als Sahnewolke, wieder auf. Die Nachbarin tat es ihr nach.

„Nun erzähl mal, Femke! Was hat dich denn so verschreckt?“

Femke trank einen Schluck heißen Tee und sah auf.

„Ich sollte doch heute Morgen das Ferienhaus Wattenmeer an der Rennweide putzen und nach dem Rechten sehen. Dabei habe ich …“

Femke stockte, weil sie wieder eine Gänsehaut bekam. Sie räusperte sich.

„Ich habe eine Leiche gefunden. Eine Frau.“

Jetzt war es raus. Frau Flottbeek war erschüttert.

„Heiliger Johannes, eine Leiche? Etwa einen Gast oder die Besitzerin des Hauses? Ein Unfall oder ein Herzinfarkt?“

Femke schüttelte den Kopf.

„Nein, das ist ja das Komische. Eine völlig Fremde. Und sie scheint wohl ermordet worden zu sein. Ich hab vorhin mit der neuen Rechtsmedizinerin gesprochen. Sie heiß Ebba und ist sehr nett.“

„Mhm, normalerweise ist doch die Gerichtsmedizin in Oldenburg für solche Sachen zuständig“, murmelte Grete, deren Mann früher der Chef der Kriminaltechniker gewesen war.