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Nur für einen Augenblick verlässt Ben das gemütliche Wohnzimmer. Doch dieser Moment genügt, um sein Leben für immer zu verändern. Seine Frau Marie verschwindet spurlos und für Ben beginnt eine rastlose Suche. Dabei scheint jeder seiner Schritte genauestens verfolgt zu werden. Und so kommt zu der Angst um seine Frau eine weitere hinzu: Ist auch Annely, seine kleine Tochter in Gefahr?
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Seitenzahl: 494
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Verdächtige Stille
Verdächtigte Stille
Prolog
Das kleine Haus, nah am Rand einer Klippe scheint dem nahenden Unwetter trotzig entgegen zu blicken. Dunkle Wolken bauschen sich am Horizont und es ist, als würde die Welt den Atem anhalten. Kein Vogel singt, kein Blatt bewegt sich, nur das dumpfe Rauschen der Brandung ist zu hören.
Eine starke Windböe beendet die bedrückende Stille. Als wäre mit dieser der Bann endlich gebrochen, nimmt das Unwetter jetzt rasch zu und schon peitscht der Regen über die nahen Klippen und Wälder.
Jaulend fegt der Wind um die Ecken des kleinen Hauses und fängt sich in den Bettlaken, die noch am Nachmittag sorgfältig zum Trocknen aufgehängt wurden. Durch den Regen sind sie wieder nass und schwer, trotzdem drohen sie, durch den Sturm von der Leine gerissen zu werden. Wie Gespenster tanzen sie in der Nacht.
Das kleine Haus knarzt und quietscht in seinen Grundfesten. Nur zwei der kleinen Fenster sind schwach erleuchtet und blicken wie zwei müde Augen in das Dunkel. Hin und wieder huscht ein Schatten vorüber, doch noch ahnt keiner der Bewohner, was im Dunkel des anliegenden Waldes auf sie lauert.
Wieder prallt ein Windstoß gegen die Front des Hauses und zerzaust die üppigen Kletterpflanzen, die sich in den letzten Jahren ihren Weg bis zum Dachfirst gesucht haben. Wild peitschen die langen Ranken durch die Luft, während ihre toten Blätter durch den verwilderten Vorgarten wirbeln. Kniehoch wächst das Gras und wilde Brombeersträucher haben das Refugium übernommen. Begierig schlängeln sie ihre Arme bereits in Richtung des angrenzenden Waldes. Der kleine Garten gleicht einem Urwald und so ist es fast unmöglich, das schmale Augenpaar auszumachen, das sich im Unterholz des Waldes versteckt und das heimische Treiben im Haus beobachtet.
Im Schutz der Dunkelheit und des wütenden Sturmes, wagt es sich langsam aus seinem Versteck. Vorsichtig und sehr langsam durchbricht eine gebückte Gestalt das Dickicht. Das Ende des Waldes ist schnell erreicht. Jetzt können nur noch karge Sträucher Deckung bieten. Das hohe Gras raschelt bedrohlich, doch das Prasseln des Regens und das Wüten des Sturmes übertönen die sich nähernden Schritte.
Entspannt tritt Ben vor die Haustür. Endlich mal ein Abend ohne endlose Diskussionen mit seiner fünfjährigen Tochter. Nur er und Marie. „Herrlich“, denkt er und streckt die Schultern nach hinten.
Hinter sich hört er das Klappern von Geschirr und als er die Tür bis auf einen schmalen Spalt zuzieht und durch eines der kleinen Fenster ins Haus hinein späht, sieht er, wie seine Frau Marie die Reste des Abendessens zusammenräumt.
Ben genießt diesen kurzen Augenblick als stiller Beobachter. Es kam nicht allzu oft vor, dass sie einen Abend ohne ihre Tochter Annely verbringen konnten und so hatten sie sich für heute Abend etwas ganz Besonderes vorgenommen. Sie hatten zusammen gekocht, das heißt eigentlich hat Marie ihn zum Zwiebelschneiden verdonnert und anschließend Anweisungen für die Zubereitung der Lasagne erteilt, während sie selbst in Kochschürze und mit erhobenem Kochlöffel jeden seiner Handgriffe mit Argusaugen verfolgte. Weil er sich aber immer wieder von ihren unter der Kochschürze verborgenen Rundungen hatte ablenken lassen, erbarmte sie sich schließlich, zumindest die Soße und noch einen kleinen Salat zuzubereiten.
Das Essen war köstlich und bei Kerzenschein und gutem Wein saßen sie eine gute Stunde zusammen und genossen das mehr oder weniger gemeinsam zubereitete Festmahl. Zugegeben: eigentlich waren es nur vierzig Minuten. Ben schmunzelt bei dem Gedanken daran, wie sie zwischen dem Salat und der Lasagne spontan übereinander hergefallen sind. Marie kicherte ausgelassen, da er mindestens drei Minuten allein damit beschäftigt war, sie aus ihrer unbequemen Kochschürze zu befreien.
Die Lasagne war währenddessen zwar erkaltet, doch das anhaltende wohlige Gefühl sorgte dafür, dass er sie trotzdem mit einem breiten Dauergrinsen im Gesicht bis auf den letzten Bissen verschlang.
Nun steht Ben unter dem schmalen Vordach der kleinen Hütte und lässt sich von dem aufsteigenden Sturm einlullen. Nach wenigen Augenblicken muss er jedoch überrascht feststellen, dass seine innere Wärme dennoch nicht ausreicht, um es länger hier draußen auszuhalten und so beschließt er, noch einmal zurückzugehen und sich eine Jacke überzuziehen, um in Ruhe seine letzte Zigarette genießen zu können.
Seit der Geburt von Annely rauchte er nur noch sporadisch, meistens nur um einfach mal eine kurze Zeit für sich zu sein. Am letzten Sonntag jedoch, als sie im Kreise der Familie Annelys fünften Geburtstage feierten, durfte er sich einen nicht enden wollenden Vortrag seiner Tochter anhören, in dem sie ihn ausführlich über das bestehende Gesundheitsrisiko beim Rauchen aufklärte, wobei sie ihn mit Wörtern wie Thrombose und Lungenkrebs bombardierte. Als seine hilfesuchenden Blicke auch Marie nicht erweichen ließen ihn zu verteidigen, gab er sich schließlich geschlagen und versprach hoch und heilig, sein Laster zukünftig aufzugeben.
Den Ausblick über die Klippen genießend, zündet Ben sich seine letzte Zigarette an und entspannt sich angesichts der einsamen Weite. Seine Gedanken kreisen wieder um ihren kürzlich vollendeten Liebesakt und noch immer spürt er Maries warme Hände, die gierig nach seinem Körper greifen, als ein starker Windstoß ihn erfasst und taumeln lässt. Erschrocken sieht er sich um. Täuschte er sich oder war dort gerade eine Gestalt zu sehen? Unwillig wirft er die Zigarette ins Gras und geht vorsichtig Richtung Schuppen.
Da, wieder huscht ein Schatten über die Schuppenwand. Ben sprintet zum Schuppen und schiebt sich langsam um die Ecke, als etwas seinen Arm streift. Erschrocken springt er zurück, doch dann lacht er befreit auf. Die nassen Laken hatten ihm doch tatsächlich einen Streich gespielt. Er dreht sich um und geht zurück zum Haus. Er würde gleich seine Frau bitten, die nassen Dinger herein zu holen.
Ben ist noch nicht bei der Haustür angekommen, als ein lauter, nicht enden wollender Schrei die Stille durchbricht. So hell und furchteinflößend, dass ihm unweigerlich ein Schauer über den Rücken läuft und sich seine Nackenhaare aufstellen. Starr vor Schreck bleibt er beim Schuppen stehen, unfähig zu begreifen, dass der Schrei aus dem Haus ertönt und die Stimme seiner Frau gehört. Abrupt endet der Schrei und die plötzliche Stille reißt Ben aus seiner Starre. Eilig rennt er durch den Regen Richtung Haustür. Doch als er sie aufstoßen will, ist sie verschlossen. Er rüttelt und zerrt, doch sie gibt nicht nach. Drinnen ist alles ruhig und das schwache Licht, das noch immer so gemütlich durch die kleinen Fenster nach draußen dringt, scheint Ben verhöhnen zu wollen. Panisch sieht er sich um. Irgendwie muss er ins Haus kommen.
Er hastet zur Rückseite, doch auch hier sind wegen des Unwetters alle Fenster fest verschlossen. Fluchend schlägt Ben gegen eines der Fensterkreuze. Es muss doch irgendwie möglich sein, ins Haus zu kommen! Der Schuppen! Eilig wendet er sich ab und rennt zurück. Regen rinnt ihm von seinen wirr in die Stirn hängenden Haare in die Augen. Der Weg erscheint ihm endlos. Immer wieder schlingen sich Gras und wilde Brombeerranken um seine Füße als wollten sie ihn daran hindern, an sein Ziel zu gelangen. Endlich erreicht er die verwitterte Schuppentür. Er reißt sie auf und tastet hastig nach dem Lichtschalter neben der Tür. Als er ihn schließlich findet und den Kippschalter betätigt passiert jedoch nichts. Fieberhaft schaltet er ihn mehrmals ein und aus, doch das Ergebnis bleibt das gleiche: nur schwarze Finsternis liegt vor ihm. Kurz überkommt ihn Panik. Entschlossen ringt er sie jedoch nieder und versucht, einen klaren Kopf zu behalten. Er brauchte geeignetes Werkzeug, um ins Haus zu gelangen. Seine Axt! Ben rennt blind in den Schuppen hinein und stößt mit dem Knie an eine harte Kante. Er flucht, ignoriert jedoch den Schmerz. Seine Gedanken drehen sich nur noch um die Axt. Letztens hatte er sie doch noch in der Hand. Während Ben wild um sich greift, fällt es ihm wieder ein, er hatte sie seinem Bruder Felix geliehen, der damit das neue Gartenspielhaus für seine beiden Töchter zimmern wollte. Dann musste eben etwas anderes herhalten.
Draußen stürmt es immer stärker und die Schuppentür schwingt mit einem lauten Krachen in den Rahmen. Erschrocken fährt Ben herum. Er kann die Panik nicht länger unterdrücken, hastet zur Tür und stolpert. Gerade eben kann er sich noch an der Wand festhalten. Was war das? Nervös ertastet er einen Holzscheit. Er greift nach dem Klotz und rennt durch den Regen zurück zum Haus.
Die Stille darin macht ihn fast wahnsinnig. Was um Himmels Willen ging dort drinnen nur vor sich? Ben verharrt plötzlich mitten im Lauf. Irgendetwas war anders. Was war es nur, das ihn jetzt so irritierte?
Das Licht ist aus! Eben waren beide Stubenfenster doch noch hell erleuchtet! Jetzt herrscht Dunkelheit im ganzen Haus. Stolpernd hastet Ben weiter. Er erreicht die Tür und will sich gerade nach rechts wenden, um eins der Fenster einzuschlagen, da lässt ein leises Geräusch ihn innehalten.
War das ein leises Wimmern? Vorsichtig lehnt er sich an die Tür, um zu lauschen. Da geschieht es – die Tür gibt mit einem leisen Quietschen nach. Wie ist das möglich? Eben war sie doch noch fest verschlossen! Ben wischt alle Bedenken beiseite, jetzt zählt nur eins, nämlich schnellstmöglich herauszufinden, ob mit Marie alles in Ordnung ist. Nach kurzem Zögern wirft er den Klotz zurück in den Garten – er würde ihm im Haus nur hinderlich sein.
Vorsichtig öffnet er die Haustür. Nichts ist zu hören. Fahrig tastet er nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche und lässt die Flamme aufleuchten. Auf den ersten Blick sieht alles normal aus. Neben ihm auf der Fensterbank steht der alte Kerzenständer mit einer halb abgebrannten Wachskerze. Schnell geht er hinüber und zündet sie an, verbrennt sich an dem heißen Feuerzeug und schüttelt es kräftig aus. Mit der Kerze in der rechten Hand beleuchtet er die Küche, in der sie vor wenigen Minuten noch zusammen zu Abend gegessen hatten. Bens Blick huscht über das Wasser in der Spüle und einige bereits abgewaschene Teller, die ordentlich auf der Anrichte stehen. Von seiner Frau jedoch ist nichts zu sehen.
Er späht ins anliegende Wohnzimmer. Auch hier ist alles ruhig. Vorsichtig und mit der linken Hand die Flamme schützend, geht er vorwärts. Nur langsam durchbricht der schwache Schein der Kerze das Dunkel. Schemenhaft erkennt er die Couch und den davor stehenden Sessel. Sollte Marie sich hinter dem Sessel versteckt haben? Was für ein irrwitziger Gedanke. Trotzdem beschließt er, nachzusehen. Vielleicht sollte er einfach nach ihr rufen, aber die Angst schnürt ihm die Kehle zu und er hat das Gefühl, keinen Ton herauszubekommen.
Langsam geht Ben auf den Sessel zu, als er hinter sich einen Luftzug spürt. Gerade will er sich umdrehen, als ihn ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf trifft. Ben versucht noch, sich auf dem Sessel abzustützen und die Kerze nicht fallenzulassen, als alles um ihn herum schwarz wird. Er spürt noch, wie ihm die Kerze entgleitet, bevor er hart auf dem Holzfußboden aufschlägt.
Sein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit einem Schraubstock bearbeitet worden. Langsam öffnet Ben die Augen und versucht sich zu orientieren. Er liegt noch immer auf dem Holzfußboden, von der Wärme am Abend ist nichts mehr zu spüren. Kälte steigt in ihm auf. Er versucht, den Kopf zu drehen und berührt dabei mit seiner rechten Hand etwas Metallisches. Der Kerzenständer. Was war passiert? Noch immer ist alles dunkel und Ben versucht, sich zu erinnern. Erst einmal langsam wieder auf die Beine kommen. Er winkelt Arme und Beine an und versucht sich vorsichtig am Sessel aufzurichten. Sein Kopf schmerzt wie verrückt, doch langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Schemenhaft erkennt er die Umrisse des vertrauten Wohnzimmers. Als es ihm endlich gelingt, sich vollständig am Sessel hochzuziehen, scheint sein Kopf kurz vorm Platzen zu sein. Dieser wahnsinnige Schmerz. Vorsichtig tastet Ben mit der Hand seinen Hinterkopf ab. Er hat zwar eine gewaltige Beule, aber immerhin ist kein Blut zu ertasten. Langsam und auf wackeligen Beinen geht er zurück in die Küche. Er braucht unbedingt einen Schluck kaltes Wasser.
Ben streckt sich und nimmt blind ein Glas aus dem Küchenschrank über sich. Sofort bereut er es, sich nicht einfach ein dreckiges von der Spüle genommen zu haben. Sein Kopf dröhnt und der Schmerz zieht sich sogleich durch seinen gesamten Körper. Aus dem Wasserhahn lässt er erst ein wenig Wasser in die Spüle laufen, um sich dann eiskaltes in sein Glas zu füllen. Seine Kehle ist völlig ausgetrocknet und es kommt ihm vor, als hätte er seit ewigen Zeiten nichts mehr getrunken. Hastig führt er das Glas an seine Lippen und verschluckt sich fast dabei.
Da plötzlich hört er ein leises Scharren direkt über sich. Ben merkt, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken bis hoch in die Haarspitzen kriecht. Wenn es nur nicht so kalt wäre. Bei seinem erschrockenen stoßweisen Atmen bilden sich kleine weiße Wölkchen vor seinem Mund. Zittrig stellt er das Glas zurück auf die Spüle und geht vorsichtig tastend Richtung Flur. Hier führt eine schmale Holztreppe hinauf in das Dachgeschoss. Vorsichtig setzt er den Fuß auf die erste Stufe. Beim leisen Knarzen des Holzes fährt er zusammen. Weiter, denkt er, Marie braucht meine Hilfe.
In den vergangenen Monaten hatte Marie den Treppenaufgang mit vielen kleinen Familienfotos geschmückt, um Annelys Entwicklung festzuhalten. Am unteren Ende der Treppe hängen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Ben gleich nach ihrer Geburt geschossen hatte. Marie weigerte sich damals vehement, so kurz nach der Entbindung Fotos von sich machen zu lassen, weil sie, wie sie sich ausdrückte, wie eine schwangere Auster aussehe. Ben sah das ganz anders, er fand Marie wundervoll, auch wenn ihre durchgeschwitzten Haare wirr im Gesicht klebten und ihr Nachthemd mit Blut und Babyschmiere durchtränkt war. Gerade dafür und ganz besonders in diesem Augenblick liebte er sie mehr denn je. Und in jenem einzigartigen Moment im Kreißsaal wurde ihm auch bewusst, dass die Menschheit längst ausgestorben wäre, wenn die männliche Bevölkerung für das Kinderkriegen zuständig wäre.
Es folgen Bilder von einem gemeinsamen Zoobesuch. Annely mit ihren zwei Jahren noch in der Karre, im Hintergrund ein afrikanischer Elefant, der seinen langen Rüssel nach ihr ausstreckt, um ein paar Erdnüsse zu ergattern. Annely beim Faschingsfest, verkleidet als Marienkäfer und ein Foto aus dem letzten Sommer, wo er gemeinsam mit Annely das Auto waschen wollte, was schließlich in einer wilden Schaumschlacht endete.
Ben liebt diesen schmalen Treppenaufgang, der ihn immer wieder aufs Neue an fröhliche Familienzeiten erinnert. So manches Mal war er stehen geblieben, schwelgte in Erinnerungen und vergaß dabei, was er eigentlich gerade tun wollte.
Aber jetzt hat er keine Zeit dafür. Marie ist verschwunden und irgendjemand hat ihn niedergeschlagen.
Endlich ist er am oberen Treppenabsatz angekommen. Hätte er doch nur den Kerzenständer mitgenommen. Nun steht er hier mit leeren Händen und weiß nicht, was ihn erwartet.
In einer kleinen Nische neben der Tür zum Dachgeschoss findet Ben die dünne Eisenstange, mit der sich die ausklappbare Luke für die Treppe zum Dachboden öffnen lässt. Er nimmt die Stange und atmet noch einmal tief durch, bevor er die Tür zum Dachgeschoss öffnet. Oben befinden sich die Schlafräume, rechts Annelys Zimmer, links das Elternschlafzimmer.
Links oder rechts – links oder rechts? Panisch zucken seine Augen zwischen beiden Türen hin und her. Inzwischen ist kein Laut mehr zu hören. Er entscheidet sich für die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer. Kurzentschlossen legt er seine Hand auf den Türknauf und drückt diesen vorsichtig nach unten. – Nichts passiert. – Die Tür ist verschlossen. Plötzlich ist alle Vorsicht vergessen. Panisch rüttelt Ben an dem Knauf und ruft laut Maries Namen.
„Marie, Marie, bist du da drin?“ Seine Stimme überschlägt sich, wütend schlägt und tritt er auf die Tür ein und endlich gibt das Schloss nach. Mit einem lauten Krachen schlägt sie an die Innenseite der Schlafzimmerwand.
Ben stürzt ins Zimmer, stolpert dabei über seine eigenen Füße und landet krachend mit seiner linken Seite auf dem Fußboden. Ein stechender Schmerz zieht sich durch seine Schulter und auch die Beule am Kopf macht sich pochend wieder bemerkbar, aber er rappelt sich auf, sieht sich im Zimmer um und ruft erneut „Marie, bist du hier?“.
Nichts.
Durch das Fenster kommt ein wenig Mondlicht, ansonsten ist alles dunkel. In seiner Verzweiflung reißt er die Schranktür zum Kleiderschrank auf, schiebt sämtliche Kleiderbügel zur Seite, so dass Hemden und Hosen zu Boden fallen. Panisch zieht er die ordentlich zusammengelegten Handtücher und Pullover aus den Regalen, die sogleich einen kniehohen Kleiderhaufen vor seinen Füßen bilden.
Erneut greift Ben zu der Eisenstange und stürzt stolpernd auf die Tür zum anliegenden Bad zu. Mit letzter Kraft reißt er sie auf und zuckt zusammen. Im Raum ist es eiskalt. Das kleine Fenster ist offen und die Jalousien klappern im Wind. Erschöpft fällt Ben auf die Knie und die Eisenstange rollt ihm aus der Hand. Was um Himmels Willen ist nur geschehen? Kurz ist er versucht, sich einfach auf dem Boden zusammenzurollen und darauf zu warten, dass dieser Albtraum vorbeigeht. Aber die Angst um Marie ist stärker. Wo ist sie und warum antwortet sie nicht? Mühsam steht er auf und geht zum Fenster.
Im fahlen Mondlicht erkennt er die Umrisse des Schuppens und des angrenzenden Waldes. Von Marie keine Spur. Was soll er tun? Wo soll er noch suchen?
Verzweifelt taumelt Ben durch das Schlafzimmer über den schmalen Flur und reißt die Tür zum Kinderzimmer auf. Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung. Alle Spielsachen liegen fein säuberlich in Kisten, das Bett ist ordentlich gemacht, bedeckt mit einer selbst gefertigten Tagesdecke, die Marie Abend für Abend vor dem Kamin aus kleinen verschiedenfarbigen Vierecken zusammengenäht hat. Annelys Zimmer ist tadellos aufgeräumt. Kein verstreutes Lego, das unter seinen Schuhen knackt und keine alten Kaugummireste, die ihm an der Sohle kleben bleiben. Eindringlich hatte Marie ihrer Tochter beigebracht, dass es sich gerade für kleine Prinzessinnen gehört, das Zimmer immer ordentlich zu hinterlassen, wenn man für einige Tage verreist.
Mutlos lässt Ben die Hände sinken. Marie ist verschwunden. Wankend geht er die Treppe hinab in die Küche. Im vorderen Schrank sind die Kopfschmerztabletten. Vielleicht würde er wieder klarer denken können, wenn erst dieser wahnsinnige Schmerz nachließe. Mit zittrigen Händen drückt er sich drei Schmerztabletten aus der Packung und spült diese mit dem letzten Rest des kalten Wassers aus seinem Glas hinunter. Dabei streift sein Blick das Küchenfenster. War da nicht eben eine Bewegung? Mit zusammengekniffenen Augen starrt er angestrengt ins Dunkel, rennt im nächsten Augenblick zur Haustür und reißt sie auf.
Es stürmt noch immer, trotzdem läuft er den Weg durch den Regen bis zur Gartenpforte.
„Mariiiie“ schreit er in die kalte Nacht hinein und reckt dabei sein Gesicht Richtung Himmel, so dass der Regen ihn mitten im Gesicht trifft und er schon bald völlig durchnässt ist. „Mariiie“.
Fast scheint es, als ob der Regen seine Worte verschlingt. Ich muss Hilfe holen. Als würde er von irgendwoher noch auf eine Bestätigung warten, bleibt er weiter in Gedanken im Regen stehen. Tropfen bilden sich auf seiner Nase und holen ihn zurück in die Gegenwart. Schnell wischt er sie mit dem Ärmel weg, rennt zurück zum Haus und überlegt, wen er jetzt bloß anrufen soll.
Die Polizei? Ehe die aus dem nächsten Ort da wäre, würde viel zu viel Zeit vergehen. Und würden sie ihm die Geschichte überhaupt abnehmen? Er kann es ja selbst kaum glauben. Je länger er darüber nachdenkt, desto unwahrscheinlicher erscheint es ihm. Erschrocken zuckt er zusammen als direkt über ihm ein gewaltiges Donnergrollen ertönt. Sollte das ein Zeichen sein?
Ben entschließt sich, seinen Bruder anrufen. Felix würde wissen, was zu tun ist. Entschlossen greift er zum Hörer und wählt die Kurzwahltaste. Doch kein Signal ertönt. Genervt stöhnt er auf. Natürlich, ohne Strom kann auch das Telefon nicht funktionieren. Aber irgendwo muss doch noch sein Handy liegen. Hektisch sieht er sich um. Wo hatte er es nur zum letzten Mal gesehen?
Ben hastet zum Sekretär, dort hatte er es vor dem Abendessen hingelegt. Mit beiden Händen fegt er den Stapel der noch zu zahlenden Rechnungen vom Schreibtisch und sucht wild nach seinem Handy. Endlich findet er es. Schnell drückt er die Menü- und Sternchentaste, um es freizuschalten. Kurzwahltaste von Felix? Die Drei. Er hält die Taste gedrückt und wartet auf das Freizeichen. Doch nichts passiert. Er sieht auf das Display und muss erneut feststellen, dass er keinen Empfang hat. Er dreht sich um und sieht durch den Raum zum Fenster. Nach wie vor wütet der Sturm. „Verfluchter Sturm“ schreit er laut in den Raum hinein und wirft das Handy zu Boden. „Was ist hier eigentlich los?“, brüllt er gegen die Stille an. „Marie, wo bist du? Komm raus und zeig dich. Ich kann nicht mehr.“
Zitternd und völlig erschöpft schleppt er sich zurück in das Dachgeschoss. Erst einmal muss er aus den nassen Sachen raus. Durch die Kälte kann er seine Gelenke schon nicht mehr bewegen und kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Im Schlafzimmer angekommen beginnt er, sich durch den Kleiderhaufen zu wühlen, den er vorhin achtlos hinterlassen hat. Endlich findet er eine trockene Hose und einen dicken Wollpullover. Doch gerade als er den Pullover aus dem Kleiderhaufen herausziehen will, entdeckt er einen Zettel, der aus einer von Maries Hosen herauslugt. Vorsichtig zieht er ihn heraus und betrachte ihn ungläubig.
Es ist ein Bewirtungsbeleg über zwei Bier und zwei Gläser Wein. Er sucht nach dem Datum und stutzt. Letzten Freitag? Angestrengt denkt er nach, bis ihm einfällt, dass Marie am Freitag letzter Woche in die Stadt fahren wollte, um die letzten Einkäufe für Annelys fünften Geburtstag am Sonntag zu erledigen. Er hat noch genau ihre Worte im Ohr: „Es soll doch ein besonderer Geburtstag werden. Wenn ich nur runter ins Dorf fahre, kann ich höchstens einen Möhrenkuchen backen und ihr ein selbstgebasteltes Windspiel schenken.“
Da muss es gewesen sein. Als Marie später als erwartet zurückkam und er sie fragte, wo sie denn solange gewesen sei, wich sie seiner Frage genervt aus, indem sie ihn ungehalten fragte, ob sie ihm jetzt schon über alles informieren müsse, nur weil sie mal ein bisschen später nach Hause käme. Bevor Ben darauf reagieren konnte, war sie auch schon auf dem Weg nach oben, woraufhin er kurze Zeit später das Laufen des Wassers aus der Dusche hörte. Weil Ben keinen Streit vom Zaun brechen wollte, sprach er sie später auch nicht noch einmal darauf an und am nächsten Morgen war Maries Laune deutlich besser, so dass er sich keine weiteren Gedanken darüber machte. Aber jetzt hält er eine Quittung in den Händen, die genau dieses Datum wiedergibt. Vielleicht war sie nach den Einkäufen tatsächlich einfach so erschöpft, dass sie sich anschließend eine Pause gönnte. Aber zwei Gläser Wein und zwei Bier? Vielleicht hatte sie jemanden getroffen. Aber wieso hatte sie ihm dann nichts davon erzählt? Noch einmal betrachtet er eingehend den Zettel. Am oberen Rand ist das Logo einer bekannten Biermarke abgedruckt, sonst nichts. Missmutig legt er die Quittung auf seinen Nachttisch. Es sah Marie so gar nicht ähnlich, in einer Bar abzusteigen. Wenn es ein Café gewesen wäre. Die Bar aber ergibt für Ben überhaupt keinen Sinn und hinterlässt ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend. Jeder wusste doch, was für zwielichtige Gestalten sich in den schummrigen Bars dieser Gegend aufhalten konnten. Grimmig entschließt er sich, es einfach auf gut Glück zu versuchen und die einzige Bar in der kleinen Stadt aufzusuchen, die ihm in der näheren Umgebung in den Sinn kommt. Vielleicht würde sich jemand an Marie erinnern und ihm einen Tipp zu der zweiten Person geben können. Inzwischen ist er verzweifelt sicher, dass nur diese die Erklärung für die Vorkommnisse in dieser Nacht sein kann.
Er sieht auf seine Uhr: zweiundzwanzig Uhr zehn. Oh Gott! Er hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie lange er ohne Bewusstsein auf dem Fußboden im Erdgeschoss gelegen hatte, nachdem er niedergeschlagen wurde. Gegen achtzehn Uhr hatten sie zu Abend gegessen, jetzt war es kurz nach zehn. Es war also gut möglich, dass er zwei bis drei Stunden dort gelegen hatte. In dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein. Viertel nach zehn! Sollte er versuchen, jetzt noch in die Stadt zu fahren und sich dort nach Marie zu erkundigen?
Entschuldigen Sie, aber können Sie sich vielleicht daran erinnern, dass meine Frau vorletzte Woche bei Ihnen einen Drink genommen hat?Etwas genauer sollte es schon sein. Er braucht ein Foto von Marie. Ben geht hinunter ins Erdgeschoss und nimmt das Bild aus dem Rahmen, welches Marie in ihrem wunderschönen Sommerkleid am Strand von Acapulco zeigt, ihrer gemeinsamen Hochzeitsreise vor sieben Jahren.
In Gedanken versunken steht er da und betrachtet das Bild im schummrigen Licht. Marie ist eine wirklich wunderschöne Frau. In den sieben Jahren ihrer Ehe ist sie kaum gealtert. Ihr Lachen ist ansteckend und das Lächeln auf dem Foto scheint ihn aus dem Bild heraus zu wärmen. Wer sollte ihr etwas antun wollen? Schnell reißt er sich los. Wenn er weiter hier stehen und das Bild anstarren würde, würde er es nie erfahren. Entschlossen reißt er sich von dem Foto los und steckt es sorgfältig in die hintere Tasche seiner Jeans. Im Flur greift er sich im Vorbeigehen seine gefütterte Winterjacke, in der er auch seine Autoschlüssel findet.
Die Haustür fällt hinter ihm ins Schloss und er sprintet zum Wagen. Der Sturm hat etwas nachgelassen. Zwar regnet es noch immer stark, aber zumindest würde ihm der Weg durch den Wald inmitten eines Sturms erspart bleiben. Er setzt sich in den Wagen, steckt den Schlüssel ins Schloss und spricht in Gedanken ein Stoßgebet.
Er dreht den Zündschlüssel, gibt ein wenig Gas und der Motor des Volvo V50 Kombi springt ausnahmsweise einmal ohne Probleme an. Das ist nicht immer der Fall, immerhin hat das gute Stück schon über hundertachtzigtausend Kilometer auf dem Buckel. Weil sie sich keinen Neuwagen leisten konnten, hatten sie sich den Wagen kurz nach Annelys Geburt bei einem angeblich seriösen Gebrauchtwagenhändler an einer Straßenecke gekauft. Es dauerte allerdings nicht lange, bis der Wagen zum ersten Mal bei Felix in der Werkstatt stand und von diesem fast völlig runderneuert werden musste. Seitdem ist der Volvo mehr oder weniger Stammgast bei Felix, der immer wieder sein Bestes gibt, um den Wagen wieder zum Laufen zu bringen. Ein neuer Wagen wäre finanziell immer noch nicht drin, nicht mal ein Gebrauchter.
Kurz erleuchten alle Überwachungslämpchen im Cockpit bis sie nach Durchchecken sämtlicher elektrischer Elemente wieder erlöschen. Bis auf die Anzeige der Benzinreserve. Diese leuchtet nach wie vor. Merkwürdig, denkt Ben. Bevor Marie letzte Woche in die Stadt fahren wollte, um für Annelys Geburtstag einzukaufen, hatte er den Wagen extra noch einmal vollgetankt. In der Beziehung war er übervorsichtig, schon allein deshalb, weil es in der näheren Umgebung keine Tankstelle gibt. Deshalb hatte er sich angewöhnt, immer einen vollen Ersatzkanister im Auto zu haben. Jetzt neigt sich die Benzintankanzeige gefährlich weit nach links. Er schätzt, dass er noch Benzin für circa vierzig Kilometer hat, das sollte wohl bis ins Dorf reichen. Er drückt noch den Knopf am Bordcomputer und ist überrascht, als die Anzeige anzeigt, dass der Wagen seit dem letzten Volltanken über sechshundert Kilometer bewegt wurde.
Sechshundert Kilometer? Nie im Leben sind sie in der letzten Woche sechshundert Kilometer gefahren! Meistens benutzen sie den Wagen nur kurz zum Einkaufen und eine Tankfüllung hält fast einen Monat. Doch auch beim zweiten Blick auf die Anzeige ändert sich die Zahl nicht. Er gibt das Grübeln auf – es gibt zu vieles, über das er in den nächsten Tagen in Ruhe nachdenken muss. Hier kommt er jetzt jedenfalls nicht weiter. Nun gilt es erst einmal Marie zu finden. Er legt den ersten Gang ein und fährt los. Die Lichtkegel tanzen vor ihm über den Weg. Die Zufahrt zum Haus ist schon bei gutem Wetter nicht die beste, jetzt ist der Weg völlig aufgeweicht und einige Male kommt er schon auf dem kurzen Weg bis zum Gartentor ins Schlingern. Endlich ist es geschafft. Ben fährt auf die schmale geteerte Landstraße, die ihn direkt ins nächste Dorf führen wird. Froh, endlich wieder festen Boden unter den Rädern zu haben, will er gerade Gas geben als er merkt, dass auch diese Strecke durchaus ihre Tücken hat. Durch den Sturm sind Blätter und Zweige auf die Straße gefallen. Immer wieder muss er scharf bremsen und großen Ästen ausweichen. Der prasselnde Regen und das Dunkel des Waldes lassen ihm kaum eine Möglichkeit, die Hindernisse rechtzeitig zu erkennen, und das, obwohl die Scheibenwischer bereits auf höchster Stufe laufen. Jetzt verflucht Ben den weiten Weg in den nächsten Ort.
Damals hatten sie sich bewusst für das kleine Häuschen am Hang entschieden, um abseits der großen Städte ihr Leben in Ruhe genießen zu können. Die schmale Landstraße führt in Schlangenlinien hinunter zum nächsten Dorf, ein zehn prozentiges Gefälle inklusive. Marie hatte anfangs jegliche Fahrt nach Einbruch der Dunkelheit vermieden, da die Serpentinen direkt entlang der Klippen verlaufen, die auf der einen Seite bis zu fünfzehn Metern in die Tiefe reichen und nur teilweise mit rot-weißen Leitplanken gesichert sind. Auf der anderen Seite der Fahrbahn verdunkelt der dichte Wald die Straße. Da es sich bei dieser Strecke um keine vielbefahrene Straße handelt, hatte die Gemeinde es bisher nicht für notwendig erachtet, Gelder in eine Straßenbeleuchtung oder eine mittlere Fahrbahnmarkierung zu investieren. Stattdessen hielt man es für ausreichend, ein Tempolimit von dreißig Stundenkilometer zu verhängen, wobei es aufgrund fehlender Verkehrskontrollen jedem Fahrer selbst überlassen wurde, sich an die Höchstgeschwindigkeit zu halten oder nicht.
Mit zusammengekniffenen Augen und weit nach vorn über das Lenkrad gebeugt starrt Ben auf die Straße vor sich. Er weiß, er fährt zu schnell, aber es gelingt ihm einfach nicht, seine Nerven unter Kontrolle zu bekommen. Gleich kommt die scharfe Linkskurve. Ben will gerade abbremsen, als ein umgestürzter Baum in sein Blickfeld gerät, der quer über der Straße liegt. Sofort geht er auf die Bremse und weicht nach rechts aus. Der Wagen gerät gefährlich ins Schleudern, während der Baum auf ihn zurast. Haarscharf rutscht der Wagen daran vorbei. Gerade will Ben aufatmen, als er mit Entsetzen realisiert, dass er durch das Ausweichmanöver gewaltig nach rechts von der Fahrbahn abgekommen ist. Es gelingt ihm kaum, den Wagen ruhig zu halten. Er muss ihn wieder zurück auf die Spur bringen. Doch noch bevor ihm dies gelingt, hat er die scharfe Linkskurve auch schon erreicht.
Erschrocken reißt Ben die Augen auf und in letzter Sekunde schafft er es, das Lenkrad nach links zu reißen und scharf auf die Bremse zu treten. Das Prasseln des Regens wird übertönt von quietschenden Reifen als das Heck des Volvos weitere zehn Meter an der Außenleitplanke entlang schlittert, bevor er endlich zum Stehen kommt. Mit einem Mal ist alles still. Mit beiden Händen umklammert Ben das Lenkrad so fest, dass seine Sehnen zum Bersten hervorstechen. Starr vor Schreck sitzt er einfach nur da und ist zu keiner Reaktion fähig bis er endlich aus seiner Trance erwacht und ihn die Realität wie ein schwarzer Schatten übermannt.
Er hat das Gefühl als würde sich sein Körper gerade wieder einen Weg in seine Hülle suchen. Sein Herz pocht wild und er spürt das Blut durch seine Adern fließen, die an den Schläfen dick hervorgetreten sind. Langsam senkt sich sein Adrenalinspiegel, angestrengt atmet er durch die Nase aus.
Durchatmen, erst einmal tief durchatmen, denkt er sich.
Er reißt den Kopf zurück, atmet dabei tief ein und lässt die Luft geräuschvoll mit einem tiefen Seufzer wieder durch seinen Mund entgleiten, so dass die Windschutzscheibe sofort beschlägt. Kalter Schweiß läuft ihm von der Stirn und plötzlich fangen seine Hände und Beine unkontrolliert an zu zittern.
„Ich muss hier raus, ich brauche frische Luft“, sagt er laut und reißt die Fahrertür auf.
Mit zitternden Beinen steigt Ben aus dem Wagen und wankt zu den Bäumen am Straßenrand. Nicht, dass sie ihm bei dem anhaltenden Regen noch Schutz bieten würden, aber er braucht jetzt einfach etwas zum Anlehnen und das Dach der Bäume würde ihm zumindest das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Weiter tief atmend, beide Hände auf den Oberschenkeln abstützend steht er da. So langsam bekommt er seinen Körper wieder unter Kontrolle. Ben lässt seinen Blick schweifen – vom schräg stehenden Auto über die verbeulte Leitplanke bis hin zum Baum auf der Straße. Gerade will sein Blick weiterhuschen, da stockt er. Was ist das? Liegt da nicht etwas unter dem Baum?
Langsam bewegt er sich auf die Stelle zu, geht in die Knie und beugt sich vornüber. Eingeklemmt unter dem Baum, durchnässt von dem Regen und bedeckt mit nassem Laub lugt ein Rucksack hervor. Mit der rechten Hand zieht er vorsichtig an einem der Riemen und stellt fest, dass der Rucksack nicht unter dem Baum eingeklemmt ist, so dass er ihn ohne Probleme hervorziehen kann.
Der Rucksack ist schwarz, mittelgroß und ziemlich verdreckt, so als würde er schon eine ganze Weile dort liegen. Er nimmt ihn, geht hinüber zu den Bäumen, um sich vor dem zunehmenden Regen zu schützen und betrachtet seinen Fund. Er hat keine Ahnung, wem der Rucksack gehören könnte. Ben wischt sich die nassen Hände an seiner Hose ab und öffnet vorsichtig den Reißverschluss.
Durch das schlechte Licht kann er kaum etwas erkennen. Kurz überlegt er, zurück zum Auto zu laufen und den Rucksack einfach in die Büsche zu werfen. Doch die Neugier siegt. Zaghaft schiebt Ben seine rechte Hand in den Rucksack und zuckt erschrocken zurück. Etwas Weiches, Flauschiges hat ihn gestreift. Sei nicht albern, denkt er sich und wappnet sich innerlich für einen weiteren Versuch. Diesmal greift er entschlossen zu und zieht einen gelben Plüschteddy hervor. Der Rucksack hat die Nässe gut abgehalten, das Fell des Bären ist trocken und scheint sauber zu sein. Wieder greift er in den Rucksack und fördert ein Paar Turnschuhe zutage. Diese dürften einem Erwachsenen gehören, für Kinderschuhe sind sie jedenfalls definitiv zu groß. Ben wühlt weiter. Vielleicht findet sich ja doch noch irgendwo ein Hinweis auf den Besitzer.
Plötzlich wird er geblendet von zuckenden nicht enden wollenden Blitzen. Schützend legt er eine Hand vor die Augen. Ein wahres Naturschauspiel zeigt sich am Himmel. Der Regen geht erneut in einen Sturm über und nach dem letzten grellen Blitz fängt Ben automatisch an zu zählen, wie man es ihm als Kind beigebracht hat: Einundzwanzig, zweiundzwanzig… Weiter kommt er nicht. Krachendes Donnergrollen lässt ihn zusammenfahren. Schutzsuchend drängt er sich dichter an den Stamm des Baumes. Gewitter und Baum? denkt er sich, das kommt nicht wirklich gut! Er schnappt sich den Rucksack und rennt so schnell es geht zurück zu seinem Wagen, reißt die Tür auf, schmeißt den Rucksack auf die Rückbank und startet den Motor.
Doch es scheint, als hätte der alte Volvo ihm die Sache mit der Leitplanke übel genommen. Der Motor stottert nur kurz und bricht dann zusammen.
Ben stöhnt auf. „Nicht jetzt, bitte nicht jetzt!“ Er legt den ersten Gang ein und versucht es erneut. Dabei geht er vorsichtig von der Kupplung und gibt immer wieder Gas. Angestrengt drückt er den Schlüssel nach hinten. Der Motor rumpelt und knattert ehe er wieder verstummt. Wütend schlägt Ben auf das Lenkrad ein. Los, noch ein Versuch, es muss einfach klappen! Murmelnd schickt er erneut Stoßgebete zum Himmel, ehe er den Gang herausnimmt und den Schlüssel noch einmal dreht.
Der Motor heult wieder kurz auf und Ben gibt noch einmal vorsichtig Gas. Langsam findet der Motor seinen Rhythmus und geht in ein gleichmäßiges Geräusch über. Ben legt den ersten Gang ein und gibt Gas. Der Volvo fängt an zu rollen, Ben schaltet hoch und lenkt den Wagen dabei vorsichtig wieder auf die asphaltierte Straße.
„So, jetzt nichts überstürzen. Du musst einen klaren Kopf behalten“, sagt er zu sich selbst. Immer wieder wird der Himmel von Blitzen erhellt, auf die immer wieder dröhnender Donner folgt. In angemessenem Tempo führt Ben den Wagen durch die Serpentinen und hofft, dass der Volvo mit Ausnahme der demolierten Karosserie unversehrt geblieben ist.
Endlich ist es geschafft. Die Klippen liegen hinter ihm und auch der Wald weicht langsam zurück. Gleich wird die Landstraße nur noch von wenigen Bäumen gesäumt sein und die Felder der nächsten Ortschaft beginnen. Als Ben das Ende des Waldes erreicht, trifft ihn die Wucht des Sturmes wie ein Schlag. Angestrengt umklammert er das Lenkrad. Über dem Feld tanzen die Blitze und der Donner kracht ohrenbetäubend über ihm. Immer wieder fliegen Blätter und kleinere Äste auf die Windschutzscheibe und das Wagendach.
Nur weiter, denkt Ben. In der Ferne kann er schon die ersten Lichter des kleinen Dorfes erkennen.
Ben durchfährt den Ortseingang und muss feststellen, dass der Sturm auch hier nicht weniger wirkungsvoll gewütet hat. Nur noch vereinzelt leuchten Straßenlaternen, die vermutlich durch Notstromaggregate versorgt werden. Das erste Haus, an dem Ben vorbeifährt, lädt nicht gerade zum Verweilen ein. In dem einst so liebevoll angelegten Vorgarten verteilt sich der Müll einer umgekippten Mülltonne, abgebrochene Äste und eine umherfliegende Plastikplane vervollständigen das Bild. Ein Fensterladen ist aus den Angeln gerissen und schlägt unkontrolliert an die Scheibe, als wolle er sie einem Dauertest unterziehen. Dunkelheit umhüllt das Haus. Wahrscheinlich waren die Bewohner am Abend zuvor unterwegs als sie von dem Sturm überrascht wurden und haben sich kurzfristig dazu entschlossen abzuwarten, bis sich das Wetter einigermaßen wieder beruhigt hat, bevor sie den Heimweg antreten. Das volle Ausmaß der Schäden werden sie dann wohl erst am nächsten Morgen zu Gesicht bekommen.
Langsam fährt Ben weiter die Straße entlang bis er schließlich ein Hinweisschild mit der Aufschrift Route 66 – open 24 hours entdeckt. Darunter ist ein dicker Wirt mit einem Bierkrug in der Hand abgebildet.
Erstaunlich, wie schnell sich der hübsche Ort in eine Art Geisterstadt entwickelt hat. Auf der Straße ist niemand zu sehen und Ben hofft inständig, dass sich zumindest ein paar einsame Seelen in die Bar geflüchtet haben und diese tatsächlich geöffnet hat. Er fährt um die nächste Ecke. Hier sollte eigentlich schon die Leuchtreklame zu sehen sein, doch alles liegt im Dunkeln. Was soll er nur machen, wenn tatsächlich niemand dort ist? Bleibt nur zu hoffen, dass auch dort zumindest ein Notstromaggregat läuft oder der Wirt wenigstens ein paar Kerzen vorrätig hat.
Ben fährt direkt auf die Bar zu und beim Näherkommen erkennt er unter dem Dachvorbau drei aufgemotzte Harleys. Er parkt den Wagen auf dem Parkplatz neben der Bar, steigt aus, überprüft noch einmal, ob er das Foto von Marie dabei hat und macht sich auf den Weg zum Eingang.
Als er an den drei Harleys vorbeikommt, erkennt er, dass die Fenster zur Straße hin mit schwarzer Farbe übermalt wurden, so dass man tatsächlich meinen könnte, vor verschlossenen Türen zu stehen. Beim Näherkommen bemerkt er jedoch einige Stellen, an denen vereinzelt Licht durch die schmalen Ritzen nach draußen dringt. Dumpfe Bassklänge gefolgt von hämmerndem E-Gitarren-Sound dringen ihm aus dem Inneren entgegen. Na Super!, denkt er sich und atmet noch einmal tief durch.
Vielleicht nicht unbedingt ein Ort, wo Marie einkehren würde, aber egal, irgendwo musste er ja anfangen.
Die Tür öffnet sich nur schwer unter seinem Druck. Er muss sich mit dem gesamten Oberkörper fest dagegenstemmen und sobald der Spalt ihm breit genug erscheint, huscht Ben hindurch. Dröhnend fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Vor ihm ist es jetzt fast noch dunkler als eben noch auf der Straße. Er braucht einen Moment, um sich zu orientieren. Dann ertastet er den schweren Samtvorhang, der den kleinen Eingangsbereich von der Bar trennt. Ben wühlt in den Stoffen bis er endlich die Öffnung findet. Er schlägt den Vorhang zurück und betritt den Raum.
Sofort umhüllt ihn beißender Zigarettenqualm und laute Rockmusik dröhnt ihm entgegen. Ben steht am Eingang und versucht sich einen Eindruck von dem Laden zu verschaffen. Zu seiner Linken stehen wahllos Tische und Stühle durcheinander, zu seiner Rechten befinden sich kleine Nischen und ein Billardtisch. Ihm gegenüber erstreckt sich ein langer Tresen aus dunklem Holz, hinter dem der Wirt Gläser poliert. Mehrere Männer in kurzärmeligen Lederwesten, mit langen Haaren und wilden Tätowierungen stehen an der Bar und unterhalten sich lautstark. Bei ihrem Anblick zuckt er unweigerlich zusammen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen. Die Musik verstummt und plötzlich sind alle Blicke auf ihn gerichtet.
Ben merkt, wie ihm das Blut in den Kopf schießt. In diesem Moment ist er dankbar für das schummrige Licht und ringt sich ein schiefes Grinsen ab.
„Mensch, das ist vielleicht ein Wetter da draußen!“
Die Kerle glotzen immer noch. Ben entschließt sich, zunächst nicht zu viel Wirbel zu machen. Er lässt sich lässig auf einen der Barhocker fallen, winkt den Wirt heran und bestellt ein Bier. Sein Plan scheint aufzugehen. Langsam verlieren die Männer das Interesse und wenden sich wieder ihren Gesprächen zu. Ben atmet erleichtert aus. Erst jetzt merkt er, dass jeder Muskel in seinem Körper zum Zerreißen gespannt ist. Er versucht sich zu entspannen und nippt an seinem Bier. Dabei lässt er den Blick unauffällig über die anderen Gäste schweifen. Die Biker scheinen die einzigen hier zu sein. Zwar kann er die Nischen am Billardtisch von hier aus nicht alle einsehen, aber wer sollte sich in eine so schummerige Ecke setzen? Das Licht der Bar leuchtet gerade mal den Bereich um den Tresen herum aus. Der Wirt hat sich inzwischen wieder seinen Gläsern gewidmet. Ben beschließt, ihn so unauffällig wie möglich herüberzuwinken und ihn dann nach Marie zu fragen.
Er hebt die Hand Richtung Wirt und dieser kommt gemächlich auf ihn zu.
„Entschuldigung, ich habe da mal eine Frage.“
„Hm?“ Der Wirt konzentriert sich weiter auf seine Gläser.
„Ich bin auf der Suche nach einer Frau.“ Der Wirt verzieht das Gesicht, wobei er seine Augenbrauen fragend anhebt.
Lässig erwidert er: „Sind wir das nicht alle irgendwie?“
„Äh ja, mag sein“, stottert Ben. „Aber ich suche eine ganz bestimmte Frau.“ Ben rutscht ungelenk vom Hocker und kramt umständlich in seiner Hosentasche nach dem Foto von Marie. Es ist jetzt ziemlich zerknittert. Sehnsüchtig fährt er mit den Fingern über das Foto und versucht es wieder glattzustreichen. Vorsichtig schiebt er dem Wirt das Foto entgegen, der es sich mit schiefem Kopf ansieht, während er weiter sein Glas poliert.
„Kennen Sie diese Frau vielleicht?“, versucht es Ben noch einmal.
Der Wirt stößt einen leisen Pfiff aus und Ben schluckt.
„Nicht übel, die Kleine.“ Der Kopf des Wirtes wackelt rhythmisch auf seinen Schultern, die ungefähr so breit sind, wie ein Kleiderschrank.
„Kennen Sie sie? Ist sie vielleicht schon einmal hier gewesen?“, hakt Ben noch einmal vorsichtig nach. Der Wirt hebt den Kopf und sieht Ben direkt in die Augen.
„Tut mir Leid Junge. Aber wenn eine Lady in so einem Outfit in meinem Laden erscheinen würde, würde ich mich mit Sicherheit daran erinnern.“
Ben atmet hörbar aus. Sein ganzer Körper ist noch immer angespannt und seine Hände zittern leicht. Er nimmt einen weiteren Schluck von seinem Bier und versucht es noch einmal.
„Vielleicht erinnern Sie sich ja, wenn Sie sich das Kleid wegdenken?“ Der Wirt verschluckt sich fast an seinem Kaugummi, räuspert sich und betrachtet das Foto erneut.
„Ja, also so gesehen.“ Er macht eine kurze Pause, betrachtet das Foto eingehender und nickt zuversichtlich mit dem Kopf. „So gesehen … dann würde ich sagen … echt scharfe Braut.“
Ben ist entsetzt und reißt ihm empört das Foto aus der Hand. Wütend leert er sein Bier mit einem Schluck.
„Ey Mann, war nur `n Scherz.“ Mitleidig sieht der Wirt Ben an. „Du bist ja echt fertig, Mann. Zeig noch mal her das Foto.“ Zögernd schiebt er es wieder Richtung Wirt.
„Deine Frau?“
„Hm.“
„Also mal im Ernst. Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren in diesem Laden und ich kann mir Gesichter eigentlich echt gut merken. Schon allein wegen der Zechpreller.“ Er betrachtet das Foto noch einmal genauer, schüttelt aber den Kopf. „Ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn ich die Lady hier schon mal gesehen hätte. Die würde schon auffallen zwischen den ganzen Bikern, selbst wenn sie nicht dieses schicke Kleid an hätte.“
Entmutigt sackt Ben auf seinem Stuhl zusammen und lässt enttäuscht den Kopf hängen. Blind greift er nach seinem Bierglas, stellt fest, dass es leer ist, und stellt es gedankenverloren wieder ab.
„Wie kommste denn darauf, dass sie hier gewesen sein soll?“
„Ich habe eine Quittung in ihren Sachen gefunden.“ Der Wirt sieht Ben an als wenn ihm diese Aussage nicht genügen würde und so fährt Ben einfach fort: „War kein Name drauf, aber ich dachte, ich versuch's einfach mal.“
„Quittung?“ Der Wirt sieht Ben erneut fragend an. „Und dann kommste hierher?“ Plötzlich fängt er lauthals an zu lachen. Ben guckt ihn entgeistert an. Langsam neigen sich auch die Köpfe der anderen Biker in ihre Richtung.
„Meinst du nicht, ich habe Besseres zu tun, als den Leuten auch noch `ne Quittung für ihr Bier auszustellen, kurz bevor sie vom Hocker fallen? Am besten noch zum Absetzen bei der Steuer.“ Der Wirt lacht laut weiter und haut sich dabei mit der rechten Hand auf den Oberschenkel. Auch die anderen Biker stimmen dem Gelächter ein.
Starr vor Schreck dämmert es Ben langsam. Mit beiden Händen stützt er seinen Kopf, lässt die Arme dann gerade auf den Tresen fallen und knallt hart mit dem Kopf auf die Bar. Der Wirt macht einen Schritt auf ihn zu.
„Ich bin so blöd!“, fluchend schlägt Ben mit der rechten Faust auf den Tresen. Mit dem Kopf noch immer auf dem Tresen liegend haut er immer wieder zu. Fast wirft er dabei sein leeres Glas um. Die anderen Biker betrachten das Schauspiel achselzuckend. Langsam hebt er den Kopf und Tränen steigen ihm in die Augen.
„Ey Kumpel, entspann dich.“ Der Wirt verpasst Ben einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, der gerne etwas zärtlicher hätte ausfallen können. Dann schiebt er ihm ein neues Bier zu und sagt aufmunternd: „Hier. Trink erst mal noch einen. Geht aufs Haus.“
Ben greift nach dem Glas, doch eher um sich daran festzuhalten als um zu trinken.
Wieder lehnt sich ihm der Wirt entgegen:
„Nun flipp mal nicht gleich aus! Ich meine, sieh dich doch mal um. In so eine Bar würde deine Frau doch sicher niemals gehen. Ich an deiner Stelle würd´ es mal weiter runter in der Stadt versuchen. Da gibt es so einige Bars die – na sagen wir mal 'etwas höhere Ansprüche bedienen' und in die eine Lady sich auch allein wagen kann. Gut möglich, dass man da auch Quittungen ausstellt.“
Mühsam hebt Ben den Kopf. Er ist einfach so müde. Die ganze Zeit hatte er gehofft, Marie wie durch ein Wunder hier zu finden. Jetzt fordern die Aufregung, die Ungewissheit und nicht zuletzt auch der Schlag auf den Kopf ihren Tribut. Am liebsten würde er sich einfach in eine der schmuddeligen Nischen zurückziehen und schlafen. Vielleicht würde er ja auch aufwachen und das alles wäre nie passiert.
Ben sieht auf die Uhr. Schon nach Mitternacht.
„Am besten fährste erst mal wieder nach Hause und ruhst dich aus. Du bist ja völlig durch `n Wind. Morgen sieht die Welt doch gleich viel besser aus. Vielleicht sitzt deine Frau auch schon zu Hause und wartet auf dich, vielleicht sogar mit einer kleinen Überraschung…“, der Wirt blinzelt Ben neckisch an „Verstehste?“, und schnalzt mit der Zunge.
Ben kann nicht umhin, die Augen zu verdrehen und leert sein Bier in einem Zug.
„Gibt es hier vielleicht ein Telefon? Eins, was funktioniert?“
„Gerade durch, bei den Toiletten.“ Der Wirt reckt das Kinn und zeigt in die Richtung. „Brauchste Kleingeld? Sonst kannste auch mein Handy nehmen. Ich bin da flexibel wie ‘n Schlüppergummi.“ Mit einem kräftigen Schenkelklopfer unterstreicht der Wirt sein Wortspiel, über das er sich scheinbar immer wieder selbst prächtig amüsieren kann.
Fahrig wühlt Ben in seinen Jackentaschen herum und legt eine Hand voll Münzen auf den Tresen. „Geht schon, Danke.“ Dann rutscht er vom Hocker und geht Richtung Toiletten.
Der schmuddelige Flur, von dem die Türen zu den Toiletten abgehen, ist in schummriges Licht getaucht. Gleich vorn ist das Herren-WC. Irgendein Scherzbold hat dem Mann auf dem Toilettenschild einen Krückstock in die Hand und einen Hut aufgezeichnet. Direkt gegenüber hängt ein altersschwaches Münztelefon. Ben nimmt den Hörer ab und wirft 50 Cent in den Schlitz. Umständlich kramt er seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche. Er hatte schon immer ein schwaches Zahlengedächtnis. Telefonnummern und Geburtstage kann er sich einfach nicht merken.
Er erinnert sich noch genau, wie er damals das Datum seines ersten Hochzeitstages an allen nur erdenklichen Stellen notierte. Er hatte nicht nur die Erinnerungsfunktion seines Handys mobilisiert, sondern auch einen Zettel in seiner Brieftasche und einen gelben Post-It an seinem Fach im Badezimmerschrank befestigt. Als er Marie später davon erzählte, hatten sie beide herzhaft darüber gelacht. Jedenfalls hat er seitdem immer einen Zettel mit allen wichtigen Telefonnummern in seiner Brieftasche griffbereit. Den gilt es jetzt zu finden.
Als erstes versucht er es noch einmal zu Hause. Aber die Leitung ist nach wie vor tot. Die Nummer von Maries Handy steht ganz oben auf der Liste. Er wählt und wartet. Endlich erscheint das Freizeichen. Sein Herz fängt spürbar an zu pochen und der Hörer in seiner Hand zittert. Angespannt drückt er ihn fester an sein Ohr und lauscht. Nach endlosen Freizeichen schaltet sich die Mailbox an. „Hallo, dies ist der Anschluss von Marie Wagner. Zurzeit bin ich leider nicht zu erreichen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht oder versuchen Sie es später noch einmal.“
Piep.
„Marie, ich bin's, Ben.“ Aufgeregt hält er den Hörer noch dichter an sein Ohr und seine Stimme überschlägt sich fast beim Sprechen. „Bitte geh ran. Was ist denn passiert? Ich bin unten im Dorf. Ich suche dich überall. Zu Hause funktioniert unser Telefon nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wo bist du denn nur, was ist passiert? Geht es dir gut? Bitte melde dich, sobald du diese Nachricht abhörst, damit ich ...“ Erneut ertönt ein schriller Piepton und die Verbindung wird unterbrochen. „Scheiße!“ Wütend knallt Ben den Hörer auf die Gabel und wühlt wieder in seinen Taschen nach Kleingeld.
Diesmal wirft er einen Euro in den Münzautomaten. Er findet Felix' Nummer und wählt. Wahrscheinlich würde sein Bruder längst schlafen. Aber er wusste, dass dieser das schnurlose Telefon für gewöhnlich immer mit ans Bett nimmt. Er kann also nur hoffen, dass er mit seinem Anruf nicht das ganze Haus aufweckt. Das Freizeichen ertönt und Ben atmet erleichtert aus. Zumindest scheint sein Telefon nicht vom Sturm beeinträchtigt zu sein. Vielleicht hatte dort das Unwetter ja gar nicht so schlimm gewütet wie bei ihnen. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht schickt Ben ein Stoßgebet gen Himmel:Bitte, lass ihn da sein!Plötzlich bricht das Rufzeichen ab und aus der Leitung dringt nur noch ein Rauschen an Bens Ohr.
Verwirrt dreht Benden Kopfund zuckt erschrocken zurück als er plötzlich in der kleinen Nische neben dem Apparat die Umrisse einer dunklen Gestalt wahrnimmt, die die Taste vom Telefon blockiert.
„Du suchst deine Frau?“, fragt der Mann in einem Ton, der keinen Widerspruch zulässt.
Langsam lässt Ben die Hand mit dem Hörer sinken und tritt einen Schritt zur Seite Richtung Durchgang. Er betrachtet den Mann misstrauisch. Das Basecap tief ins Gesicht gezogen, ist er wegen der schlechten Beleuchtung nur schemenhaft zu erkennen.
„Ja“, mehr fällt Ben so schnell nicht ein.
„Ich kann dir helfen.“
Der Mann ist ihm unheimlich und so wirft er schnell und möglichst unauffällig einen nervösen Blick in die Bar, wo der Wirt gerade eine neue Runde für die Biker einschenkt. Sofort zieht ihn der Mann wieder zurück in den dunklen Flur.
Wie in Zeitlupe hängt Ben den Telefonhörer ein. Das Wechselgeldklimpert in der Rückgabebox, doch Ben achtet nicht darauf. Viel wichtiger erscheint es ihm, seinen neuen Bekannten nicht aus den Augen zu lassen.
„Wo ist sie? Haben Sie sie gesehen?“, fragt er, bemüht seine Stimme nicht allzu nervös klingen zu lassen.
Der Mann antwortet nicht. Stattdessen späht er noch einmal in alle Richtungen und weist dann mit einem Kopfnicken Richtung Hinterausgang. Ben fragt sich kurz, ob er ihn vielleicht nach draußen lotsen will, um ihn zu überfallen. Aber der Mann wirkt eher hager und er könnte ihn sicher überwältigen, wenn es hart auf hart kommt. Außerdem, wofür sollte er ihn überfallen wollen? Die paar Münzen, die er bei sich hat sind die Mühe nicht wert. Wachsam geht Ben Richtung Hintertür, immer darauf bedacht, den Fremden zumindest aus dem Augenwinkel im Blick zu behalten. Er öffnet die schäbig aussehende Tür mit milchigem Glaseinsatz und steht unter dem Vordach eines kleinen Innenhofs. Der Fremde schließt die Tür hinter sich und wendet sich Ben zu. Noch immer trägt er das Basecap tief in die Stirn gezogen und so ist es Ben noch immer nicht möglich, ihm in die Augen zu sehen. Langsam wird er nervös und sucht kurz die nähere Umgebung ab. Außer ein paar vollgestopften Mülltonnen und einer Ecke mit Schrottteilen kann er jedoch nichts erkennen. Um den Hinterhof verläuft eine hohe Steinmauer, die jegliche Fluchtpläne sofort vereitelt. Fahrig sucht Ben nach dem Foto von Marie als der Mann ihn grob am Handgelenk packt.
„Hör zu, wenn du nicht willst, dass deiner kleinen Schlampe was passiert, machst du genau das, was ich dir sage!“
Das Gesicht des Fremden ist nur wenige Zentimeter von Bens entfernt und säuerlicher Mundgeruch strömt ihm entgegen. Mit jedem Wort drückt er Bens Handgelenk kräftiger zusammen und drängt ihn dabei weiter gegen die Hauswand. Seine andere Hand ist verdeckt von dem langen Jackenärmel, so dass Ben nicht erkennen kann, ob er eine Waffe bei sich trägt.
Der Sturm hat nachgelassen, aber der andauernde Regen lässt Ben die Kälte in die Glieder ziehen. Oder ist es die Angst, die langsam in ihm hochsteigt? Die Schultern angezogen, zittert er wie Espenlaub, was er aber mit aller Gewalt zu unterdrücken versucht. Noch will er nicht klein beigeben und so versucht er, seinem Gegenüber möglichst unbeeindruckt entgegenzutreten. Noch immer kann er das Gesicht des Mannes nicht erkennen, obwohl er nur einen halben Kopf größer ist als Ben.
„Was wollen Sie?“, bringt er mit zittriger Stimme hervor und hofft, dass der Unbekannte endlich von ihm ablässt.
„Was ich dir jetzt sage, sage ich nur einmal. Also hör mir gut zu und hör auf hier so rumzuzappeln!“
Ben bringt nur ein hektisches Nicken zustande. Sein Gegenüber hat sein Handgelenk endlich losgelassen. Nun greift er mit seiner freien Hand in seine Jackentasche und holt einen Ring hervor. Ben reibt seine schmerzende Hand. Als er den Ring erkennt, stockt ihm der Atem. Es ist Maries Ehering. Er erkennt ihn sofort, denn es ist ein Einzelstück. Sie hatten ihn damals aus den alten Eheringen von Maries Großeltern fertigen lassen. Die beiden waren ein Leben lang glücklich miteinander und Marie glaubte fest daran, dass ihnen das Tragen dieses Ringes ebenfalls Glück bringen würde. Nun liegt ihr Ring in der schmutzigen und rauen Hand dieses Fremden und wirkt unglaublich zerbrechlich. Ben merkt, wie ihm Tränen in die Augen schießen.
„Was haben Sie mit Marie gemacht? Wo ist sie?“
„Wo sie ist, hat dich erst mal gar nicht zu interessieren. Nur so viel: Im Moment geht es ihr noch gut.“
Er macht eine theatralische Pause und lässt Ben einen Moment Zeit, sich vorzustellen, was passieren wird, sollte er nicht den Anweisungen des Fremden folgen.
„Wenn ich mit dir fertig bin, gehst du da rein“, sein Kopf deutet zum Hinterausgang der Bar, „und wirst dem aufgedunsenen Wirt und seinen Freunden in feinster Schauspielmanier klarmachen, dass du deine Frau erreicht hast und alles wieder in bester Ordnung ist.“
Ben sieht den Fremden fragend an.
„Guck nicht so blöd. Wenn du zu irgendwem auch nur ein Wort sagst, ist sie hinüber.“ Er deutet mit seiner Hand einen kurzen Schnitt vor seiner Kehle an, gleichzeitig spuckt er Ben ein feuchtes Zischen entgegen. „Sonst finito, comprende?“
Fies grinsend reckt er das Kinn und sieht Ben von oben herab an. Dabei verzieht sich sein Mund zu einer ekligen Grimasse.
„Naja, vielleicht nicht ganz. Wenn ich großzügig bin, bekommst du sie eines Tages in Einzelteilen zurück.“
Der Mann grunzt, was wohl ein Ausdruck von herzlichem Lachen sein soll. Ben schluckt und versucht, sein endloses Zittern unter Kontrolle zu halten.
„Okay, okay, ich mach was Sie sagen.“
Der Unbekannte nickt zufrieden. „Na also, dann sind wir uns ja einig. Du gehst jetzt also da rein und sobald alle überzeugt sind, dass alles in bester Ordnung ist, treffen wir uns an deinem Wagen. Aber ich rate dir: komm nicht auf dumme Gedanken! Ich hab dich genau im Blick und solltest du auch nur versuchen, jemanden einen Hinweis zu geben, dann war´s das. Ich hab nämlich keine Lust auf Scherereien. Du hast nur diese eine Chance und ich an deiner Stelle würde sie nutzen. Es sei denn, du warst schon immer scharf drauf, deine Alte endlich loszuwerden.“
Wieder dieses widerliche Grunzen. Der Fremde schließt seine Hand und Maries Ring ist wieder verschwunden. Nachlässig lässt er ihn in seine Jackentasche fallen und gibt Ben einen Stoß Richtung Tür. „Also dann, bis gleich an deinem Wagen!“
Ben ist zu keiner Erwiderung fähig. Verschwommen sieht er die Tür und tastet halb blind nach der Klinke. Er stolpert in den Flur und sofort nimmt der stickige Mief ihm den Atem. Er hört das Grölen der Biker im Schankraum und auch die Musik scheint wieder lauter geworden zu sein. Kurz bleibt er stehen, um sich zu sammeln. Wenn er einen überzeugenden Eindruck machen will, muss er zunächst seine Muskeln wieder unter Kontrolle bekommen. Noch einmal blickt er sich kurz um – der Fremde steht regungslos in der Tür und beobachtet ihn. Ben atmet noch einmal tief durch und betritt den Raum.
Die Schultern nach hinten gezogen geht er mit lässigem Schritt auf den Tresen zu. Neben den Bikern bleibt er stehen, woraufhin sich diese gleich in seine Richtung drehen und ihn fragend ansehen. Ein Lächeln andeutend, schüttelt er ungläubig den Kopf. „Ey Leute, kennt ihr den Witz von der Blondine und dem Telefon?“
Fragende Blicke kleben auf ihm als Ben eine theatralische Pause einlegt und noch einmal betont den Kopf schüttelt. Angestrengt seufzt er, als verstehe er die Welt nicht mehr. „Weiber! Naja egal. Bei uns zu Hause ist jedenfalls alles in Ordnung. Ich fahr jetzt zu meiner Alten und lass mich den Rest der Nacht verwöhnen. Darauf könnt ihr aber einen lassen.“ Ben zwinkert den Bikern noch einmal kurz zu und klopft dreimal mit der Faust auf den Tresen.
Noch immer sehen ihn die Biker ratlos an. Ben starrt zurück. Er hofft, dass seine schauspielerische Darbietung nicht zu aufgetragen rüberkommt. In seinem tiefsten Inneren hatte er zwar gehofft, dass zumindest einer dieser Schränke sein Spiel durchschaut und mal so richtig einen auf dicke Hose machen würde, aber leider weit gefehlt. Sollte für die ja eigentlich nicht allzu schwer sein. Schließlich heizen sie sonst auch durch die Straßen und jagen alten Omas Angst ein. Aber jetzt, wo er sie wirklich mal brauchte, sitzen sie einfach nur da und starren ihn an. Vielleicht sollte er sie noch etwas provozieren und so aus dem Laden locken. Draußen könnte er der einen oder anderen Harley noch einen schönen Tritt verpassen, damit sie so richtig auf Hundertachtzig sind und dann auf den Erpresser zeigen und schreien: ‚Der war's. Ich hab's genau gesehen!‘
Weil von den Bikern immer noch keine Reaktion kommt, bleibt Ben nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden. „Also dann Leute, war echt nett, euch kennengelernt zu haben. Man sieht sich.“ Ben dreht sich um und geht mit zitternden Knien zum Ausgang.
Gerade will er den schweren Vorhang zur Seite schieben als hinter ihm ein lautes „Hey!“ ertönt.
Ben bleibt erschrocken stehen und spürt die Blicke der Biker auf seinen Rücken gerichtet.
„Hast du nicht was vergessen?“