Vererbte Geschichte - Barbara Couvert - E-Book

Vererbte Geschichte E-Book

Barbara Couvert

0,0

Beschreibung

"Das Innovative an Barbara Couverts Arbeit ist die Erweiterung der Psychogenealogie durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Ein interessanter Beitrag zur Diskussion, zwischen Geisteswissenschaft und Neurowissenschaft." Pour la science Belastendes Erbe überwinden Ereignisse, die sich über Generationen fortsetzen; Jahrestage, die auf unerklärliche Weise zusammenfallen; Krankheiten, die zutage fördern, was Vorfahren erlebt haben: Familiengeschichte kann voller Wiederholungen stecken. Erinnerungen, die eigentlich nicht unsere eigenen sind, erscheinen manchmal so präsent, dass sich das Wort Schicksal aufdrängt. Wie ist das möglich? Barbara Couvert findet den Ursprung von geerbter Familiengeschichte in der Intensität der Emotionen, die ein Vorfahre angesichts eines traumatisierenden Ereignisses durchlebte. Diese Emotionen prägen sich in das Gedächtnis des Betroffenen ein, werden gespeichert und anschließend auf unsichtbare, jedoch sehr effiziente Weise weitergegeben. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu Epigenetik, Traumafolgen und Spiegelneuronen beschreiben physiologische Prozesse, die verstehen lassen, inwieweit uns die Geschichte einer Vorfahr:in betreffen und prägen kann. Diese Erkenntnisse zeigen auch, dass sich dieses Erbe verändern lässt, und sie liefern Hinweise, wie das geschehen kann. Couvert illustriert ihre Thesen an eindrücklichen Beispielen, unter anderem von Vincent und Théo Van Gogh, Arthur Rimbaud und Sigmund Freud wie auch von Patient:innen, Straftäter:innen und Überlebenden eines Völkermords. Die Autorin: Barbara Couvert, Psychosoziologin, Gestaltherapeutin; Studium der Soziologie; Weiterbildungen in Gestalttherapie, Psychodrama und Psychogenealogie (bei Anne Ancelin Schützenberger); langjährige Sonderbeauftragte für Berufseingliederung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Barbara Couvert

Vererbte Geschichte

Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden

Aus dem Französischen von Jutta Deutmarg Mit einem Vorwort von Bruno Hildenbrand

2024

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Dresden)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Tasha Vector – stock.adobe.com

Redaktion: Eva Dempewolf

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2024

ISBN 978-3-8497-0427-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8479-9 (ePUB)

© 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Heriter de l’histoire familiale»?

© 2021, Groupe Elidia Éditions du Rocher, 9, espace Méditerranée – 66000 Perpignan/10, rue Mercoeur – 75011 Paris.

Aus dem Französischen übersetzt von Jutta Deutmarg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/

Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

1 Einleitung

2 Emotionen und Gedächtnis

Emotionen

Vom Stimulus zu Emotionen

Das Gedächtnis – körperliche Prägung, psychische Prägung

Die Neuordnung der Erinnerungen

Die Reaktivierung von Erinnerungen

Emotionen und Gedächtnis bei emotionaler Erschütterung, Stress und Trauma

Wiederholter oder chronischer Stress

Trauma und Traumatisierung

Neurose, Schicksalsneurose, Lebensszenario

3 Die Somatisierung

Körper und Seele

Bestimmte Jahrestage

Das psychosomatische Phänomen

Die Symbolik der Krankheiten

Die Dominanz der Werte

4 Das Körpergedächtnis

Die Gehirnwellen

Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HHN-Achse)

Das Gedächtnis unserer Gewebe

Ein Erbe, das man verändern kann – Die Entdeckungen der Epigenetik

5 Die Familie – eine ganze Welt

Verbindungen und Generationsabfolge

Die Familie – ein System?

Das Hauptbuch mit Soll und Haben

Loyalität

Habitus

Die Kommunikation in der Familie

6 »Wenn du erscheinst, mein Kind …«

Vornamen – Träger von Erinnerungen, Träumen und Plänen

Das Savant-Syndrom

Die Friedhofswärter

Ersatzkinder

Stellvertreterkinder

7 Wiederholungen innerhalb der Familie

Das Jahrestag-Syndrom

Sexuelle Gewalt

Ein Verbrechen besonderer Art: minderjährige Mütter

8 Die Weitergabe beginnt vor der Geburt

Über das Unbewusste von Individuen und das kollektive Unbewusste einer Familie

Die Vererbung von Traumata, die vor der Empfängnis durchlebt wurden

Genetik und Epigenetik

Die genomische Prägung durch die Eltern

Die Rolle der Väter bei der Weitergabe

Ein Erbe, das man neu programmieren kann

Die Weitergabe in der Gebärmutter

Die Hungersnot in den Niederlanden im Jahr 1944

Die »Kinder des Eissturms«

Der Völkermord an den Tutsi

Die »psychische Transparenz«

9 Die Weitergabe durch Beeinflussung im Alltag

Schädliches Umfeld

Postmemory – eine belastende Erinnerung

»Auf einer Wellenlänge« – die Synchronisierung der Gehirnaktivität

Eine besondere Art der Kommunikation in Situationen von starkem oder chronischem Stress

Transgenerationale Somatisierungen

Das Familiengeheimnis

Der Zusammenstoß der Generationen

Die Spiegelneuronen

10 Heilung und Resilienz

Resilienz

Eine anregende Umgebung

Eine Psychotherapie?

Familienresilienz

11 Schlussfolgerungen

Danksagung

Literatur

Über die Autorin

Vorwort

Genau genommen ist dies ein Buch über Genogrammarbeit, wenn auch das Wort Genogramm nur im Zusammenhang mit der Frage der grafischen Darstellung in einer Fußnote vorkommt. Genogramme können in einer einfachen Hinsicht als grafische Darstellungen eines Familienzusammenhangs betrachtet werden, der, folgen wir der Autorin, sich über drei Generationen erstreckt, also auch die Großeltern einbezieht. Die Beispiele, die die Autorin verwendet, stammen zum Teil aus ihrer beruflichen Praxis, zum Teil aus ihrem persönlichen Umfeld. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange das gebotene Material reflektiert wird. Und dass dies hier geschieht, daran besteht kein Zweifel.

Die Drei-Generationen-Perspektive wird von der Autorin wie selbstverständlich angenommen, wie gleich der erste Absatz dieses Buches zeigt. Das ist hierzulande durchaus nicht weit verbreitet. Anderes als der Einschluss der Großeltern ist bei dieser aus Frankreich kommenden und dort fachlich sozialisierten Autorin auch nicht zu erwarten. Genauer: Französisches Familienleben wird plastisch in den Beispielen, die in diesem Buch gegeben werden, und die für das Verständnis von Familien unentbehrlichen Klassiker wie Claude Lévi-Strauss, Marcel Mauss und Maurice Halbwachs werden berücksichtigt. Das garantiert dem Leser (der Leserin, egal, ob männlich, weiblich oder sonst etwas) hierzulande bereits eine neue Perspektive auf den Gegenstand. Damit ist ein erster Gewinn aus der Lektüre dieses Buchs erwähnt.

Und wenn ich gleich mit den Erträgen fortfahre, die dieses Buch zu bieten hat: Dies bezieht sich auf zwei Themen, die ich aus der gebotenen Fülle herausgreifen will: Als Erstes ist zu nennen die Einbeziehung neurowissenschaftlicher und genetischer Perspektiven in das Arbeiten mit Genogrammen. Zweitens geht es um das Thema der Wiederholungen von Spezifika eines Familienlebens über Generationen hinweg. Mit beiden Themen will ich mich in Hinblick auf die Frage befassen, wie weit sie tragen, wenn man sie in die eigene gewohnte Praxis der Arbeit mit Familiengeschichten einbezieht.

Was bringen Befunde der Neurowissenschaften und der Genetik für die Arbeit mit Familiengeschichten? Es dauert in diesem Buch eine Weile, bis neurowissenschaftliche, allgemeiner formuliert: naturwissenschaftliche Befunde in einem persönlichen Beispiel der Autorin auftauchen. Erstmals ist dies im Kapitel über sexuelle Gewalt der Fall (S. 119). Dort heißt es über Triebtäter:

»Ein Stimulus weckt die Erinnerung an ein Trauma, das nicht mehr bewusst ist, und löst eine unerträgliche Angst aus, mit der Folge, dass Adrenalin und Cortisol ansteigen und gleichzeitig die emotionale Anästhesie reaktiviert wird, die man zum Zeitpunkt des Traumas durchlebt hat. Die Wirkung der Endorphine lässt – wie bei harten Drogen – immer mehr nach, sodass eine immer größere Menge benötigt wird und man daher für immer mehr Stress sorgt.«

Denkt man dieses Thema weiter, dann stellt sich die Frage der Verantwortlichkeit: Können Triebtäter den Anstieg von Adrenalin und Cortisol mit ihrem Willen kontrollieren? Wenn ja, dann kann man ihnen vorwerfen, dass sie bei der Kontrolle dieser körpereigenen Stoffe versagt haben. Meiner von Fachwissen unbeeinflussten Auffassung nach (auch die Autorin weist keine entsprechende Vorbildung auf) ist diese Beeinflussung nicht möglich. Die Behandlung einer solchen Störung wäre demnach eine neurologische oder endet darin, den Klienten anzuweisen, kritischen Situationen aus dem Weg zu gehen.

Bisher ging es in diesem Zusammenhang immer nur um eine Richtung: Körpereigene Prozesse beeinflussen Verhalten. Von einer umgekehrten Richtung ist noch nicht die Rede, und sie wird auch nicht Thema werden. Die Autorin weist selbst darauf hin, dass die Descartes zugeschriebene Auffassung von der Leib-Seele-Trennung unzutreffend sei (S. 38). Das hat auch Blaise Pascal erkannt («la cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas»). In Also sprach Zarathustra (Bd. 1, 1883, S. 43) schreibt Friedrich Nietzsche:

»Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.

Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat?«

Auf der Ebene der philosophischen Diskussion ist der Fall also klar. Aber bleibt das auch, wenn wir uns auf die Ebene von Familienzusammenhängen über drei Generationen begeben? Pädophilie ist nicht heilbar, teilt ein Autor im deutschen Ärzteblatt mit. Jedoch hält er diese Krankheit für behandelbar. Er arbeitet mit der Einsicht der Patienten; auf den Neurowissenschaften fundierte Behandlungsmöglichkeiten zieht er nicht in Betracht. Andere Ansätze zur Hilfe bei Kindeswohlgefährdung ignorieren die Täter-Seite.

Zweifel hinsichtlich des die Naturwissenschaften berücksichtigenden Ansatzes von Barbara Couvert bleiben.

Wiederholungen: Damit komme ich zu meinem zweiten Thema. Dieser Komplex erfreut sich hierzulande größter Beliebtheit. Meist wird nicht bedacht, dass im Zeitverlauf jede Wiederholung in einem anderen historischen Kontext stattfindet. Anders in diesem Buch, in dem die Kontexte in den Beispielen ausführlich zur Sprache kommen.

Wiederholungen sind ein Aspekt der intergenerationalen Weitergabe. Man kann dies im Rahmen sozialwissenschaftlicher Deutungen und Interpretationen verstehen, naturwissenschaftliche Herangehensweisen sind entbehrlich. Bourdieus Konzept des Habitus reicht aus, wie es die Autorin selbst auch nahelegt. Oder man zieht einen anderen von Barbara Couvert geschätzten Wissenschaftler heran, Maurice Halbwachs, und geht davon aus, dass Gedächtnisse innerhalb von sozialen Rahmen, zum Beispiel solcher einer Familie, operieren.

In diesem Zusammenhang sollte das Thema Transformation nicht übersehen werden. Die entscheidende Frage lautet: Frieren Wiederholungen Familienentwicklungen ein? Oder lässt man es beim Feststellen von Wiederholungen, um etwas Ordnung in unübersichtliche Familienzusammenhänge zu bringen, verengt also die Perspektive?

Daniel Bertaux und Isabelle Bertaux-Wiame haben in einer Studie über »Transmissionen und soziale Mobilität über fünf Generationen« (BIOS, Jg. 4, Heft 1, 1991) festgestellt, dass Familien u. a. ein Kapital sozialer Beziehungen aufbauen. Erben eines solchen Kapitals, die dieses transformieren in das Identische, werden zum Objekt. Den Subjekt-Status erreicht der Erbe (je nachdem auch die Erbin), wenn er sich das Erbe zu eigen macht, indem er es transformiert, indem er also, um ein Beispiel zu nennen, ein Beziehungskapital in einen anderen gesellschaftlichen Bereich als den, in welchem es entstanden ist, verlagert. Das ist die Transformation zum Äquivalenten. Goethe hat sich dazu folgendermaßen geäußert: »Was du ererbt von deinen Vätern hast erwirb es um es zu besitzen«, spricht Faust in Teil I, Nacht (Z. 682 f.). Durch den Prozess des Erwerbens gedeihen Weitergaben zur Transformation.

Durch diesen Ansatz gewinnt das Konzept der Wiederholungen Tiefe in zweierlei Gestalt: Erstens lenkt es den Blick auf Anzeichen dafür, seinem Leben einen eigenen Stempel aufzudrücken, was der Autonomie der Lebenspraxis dienlich sein kann oder auch nicht; zweitens bietet es Ansatzpunkte für Beratung und Therapie: Wo zeigen sich Einstiege für das Anstoßen von Transformationen, um festgefahrene Familienzusammenhänge wieder in Bewegung zu bringen? Besteht dafür überhaupt Interesse bzw. Bereitschaft seitens der Klienten, und, wo nötig, wie kann es geweckt werden?

Barbara Couvert bringt frischen Wind in das landläufige Denken über Genogrammarbeit. Dass dieser Wind nicht immer eine nützliche Richtung nimmt, ist kein Drama, sondern eine Anregung, weiter zu denken.

Bruno Hildenbrand

Marburg, im Januar 2024

1 Einleitung

»Ich begriff, dass nicht das Geschriebene bedrohlich ist, sondern das Unfassbare, das diesen Schreibprozess zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt ausgelöst hat.«

Martin Winckler, Plumes d’Ange

Manche Menschen werden offenbar von einer Geschichte bestimmt, die nicht ihre eigene ist. Geburten, Eheschließungen, Todesfälle fallen auf Daten, die für die Familie von besonderer Bedeutung sind; ähnliche Unfälle ereignen sich eine oder mehrere Generationen später zu genau demselben Zeitpunkt; Krankheiten bringen zum Vorschein, was eine Mutter oder ein Großvater erlebt hat … Ich bin auf so viele erstaunliche, ja geradezu unglaubliche Situationen oder Ereignisse gestoßen, seit ich mich für Psychogenealogie interessiere, dass es sich dabei nicht einfach um Zufälle handeln kann.

Die Familiengeschichte hat bei einigen von uns sehr schmerzhafte Auswirkungen auf Körper und Seele. Etwas aus dem Leben eines Vorfahren1 wurde an uns weitergegeben, ohne Absicht, unbewusst. Aber wie kann ein vergessenes Ereignis aus der Familiengeschichte noch eine oder mehrere Generationen später Folgen für einen »Erben« haben? Und ist es möglich, dem zu entkommen?

Die Ähnlichkeit der Geschehnisse deutet darauf hin, dass es sich um ein Wiederauftauchen einer Erinnerung handelt, die uns veranlasst, Ereignisse zu wiederholen, umzuwandeln und etwas in Ordnung zu bringen, das vor unserer Geburt stattgefunden hat. Dieses Wiederauftauchen führt dazu, dass wir bestimmte Handlungen vollziehen, krank werden oder manchmal auch große Schwierigkeiten bewältigen müssen.

Man bezeichnet dieses Phänomen als »transgenerationale Weitergabe«, weil es zwischen dem ursprünglichen Ereignis und der Art und Weise, wie es bei einem Nachfahren wieder in Erscheinung tritt, kein sichtbares vermittelndes Element gibt. Manchmal ist es so stark, dass es wie ein unabwendbares Schicksal erscheint, das einen überrascht, fasziniert, beunruhigt. Telepathie? Familiäres Unbewusstes? Die meisten Theorien verweisen auf eine psychische Weiterleitung, um diese Phänomene zu erklären.

Inzwischen ermöglichen neue Erkenntnisse der Neurowissenschaftler über unser Gedächtnis und unsere Kommunikation sowie Entdeckungen im Bereich der Genetik (Spiegelneuronen, Gehirnwellen, Epigenetik) die Beschreibung physiologischer Prozesse, die zu einem besseren Verständnis davon führt, wie die Geschichte eines Vorfahren uns erreichen und prägen kann.

Wir werden sehen, dass dieses Erbe seinen Ursprung in der Intensität der Emotionen hat, die ein Vorfahre bei einem traumatisierenden Ereignis durchlebte. Diese Emotionen prägen sich in das Gedächtnis des Betroffenen ein, werden gespeichert, ehe sie auf unsichtbare, aber sehr effiziente Weise weitergegeben werden. Diesen Ursprung der transgenerationalen Manifestationen an Körper und Psyche müssen wir also untersuchen.

Ehe wir uns mit den Prozessen beschäftigen, die die transgenerationale Weitergabe ermöglichen, werden wir uns mit ihrem Ursprung befassen: den psychischen und physiologischen Auswirkungen, die ein erschütterndes Ereignis auf jeden Menschen ausübt. Dies ist Gegenstand der ersten beiden Kapitel, in denen es um Emotionen, unser Gedächtnis und Somatisierung geht. Anschließend werden wir uns der Familie zuwenden, diesem Universum, das sich durch ganz bestimmte Strukturen auszeichnet, und der Art und Weise, wie sie manchmal einige ihrer Mitglieder behandelt.

Wir werden dann entdecken, durch welche physiologischen und psychischen Mechanismen die »Erben« von Ereignissen beeinflusst werden können, die sie nicht selbst erlebt haben und von denen sie häufig gar nichts wissen. Und wir werden sehen, wie diese außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten uns ein Verständnis dessen ermöglichen, was nicht ausgesprochen wird.

So werden wir die einzelnen Phasen der Übertragung verfolgen, die bereits vor der Zeugung des zukünftigen »Erben« beginnt, sich während der Schwangerschaft fortsetzt und ihren Einfluss im Verlauf des Familienlebens immer weiter ausübt.

Im Laufe dieser Untersuchung werden wir Vincent und Theo van Gogh begegnen, Arthur Rimbaud und Sigmund Freud; Menschen, die einen Völkermord überlebt haben, Straftätern, Friedhofswärtern und zahlreichen anderen Menschen. Männern und Frauen, die sich von einer transgenerationalen Übertragung befreien konnten – oder auch nicht.2 Diese Begegnungen werden auch Aufschluss darüber geben, wie man sich von dieser Beeinflussung befreien kann, denn wir können – wenigstens teilweise – unser Erbe und sogar das, was wir unseren Nachkommen vererben würden, neu programmieren.

1 Der leichteren Lesbarkeit halber wird in diesem Buch das generische Maskulinum verwendet, das per definitionem alle Geschlechter umfasst.

2 Familien- und Vornamen habe ich jeweils verändert bzw. ersetzt, wenn sie nicht bereits in der Presse genannt wurden. Mitglieder meiner eigenen Familie habe ich erwähnt, soweit ihnen kein Schaden daraus entstehen kann.

2 Emotionen und Gedächtnis

»Das unermessliche Gebäude der Erinnerung«

Marcel Proust, À la recherche du temps perdu

Gewiss, wir sind Vernunftwesen. Aber was wären wir ohne Emotionen und Gedächtnis? Ein leerer Körper? Eine Software? Emotionen und Gedächtnis, die zusammen mit dem Verstand unsere Psyche bilden, beruhen auf komplexen Mechanismen und sind das Ergebnis körperlicher Erfahrungen. Sie sind ein Produkt unserer individuellen Physiologie und werden durch die Art und Weise, wie wir die Welt mittels unserer Gefühle und geistigen Fähigkeiten wahrnehmen, interpretiert und angepasst. Körper und Psyche sind untrennbar miteinander verknüpft.

Unser individuelles Gleichgewicht hängt jeweils davon ab, wie Emotionen und Gedächtnis miteinander interagieren. Normalerweise klingt eine Emotion ab. Sie hinterlässt eine Spur in unserem Gedächtnis, aber unser Körper gewinnt sein physiologisches Gleichgewicht zurück. Erfährt ein Mensch jedoch über einen längeren Zeitraum Stress oder erlebt ein Trauma, ist diese Wiederherstellung des Gleichgewichts nicht möglich. Die Erinnerung bleibt präsent wie ein Kratzer auf einer Schallplatte, oder sie verschwindet, taucht aber – scheinbar zufällig – irgendwann wieder auf.

Diese Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, die mit psychischen Schwierigkeiten verbunden sind, bilden den Ausgangspunkt der transgenerationalen Weitergabe. Daher ist es notwendig, sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.

Emotionen

Die Liste möglicher Emotionen ist lang. Sie reicht von Bewunderung über Niedergeschlagenheit oder Begeisterung bis hin zu Trauer. Der US-amerikanische Psychologe Paul Ekman hat untersucht, welchen Gesichtsausdruck eine bestimmte Emotion jeweils auslöst. Er gilt als Pionier auf diesem Forschungsgebiet und hat sechs sogenannte Grundemotionen definiert, die universell seien: Alle Menschen weltweit stimmten – ungeachtet aller sonstigen Unterschiede – darin überein. Diese Grundemotionen sind: Freude, Trauer, Ärger, Ekel, Angst und Überraschung. Aus diesen Basiselementen setzten sich alle Emotionen zusammen.

Im Gegensatz zu Gefühlen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie beständig sind und der Gegenstand, auf den sie sich beziehen, nicht präsent sein muss, um sie zu aktivieren, sind Emotionen nicht von Dauer: Sie werden durch einen Reiz ausgelöst, entfalten sich, klingen dann ab und machen Platz für Ruhe oder eine neue Emotion. Die damit verbundene körperliche Erregung – Zittern, beschleunigter Herzschlag Schweißausbrüche etc. – nimmt ab und verschwindet schließlich. So jedenfalls verläuft dieser Vorgang in normalen Situationen.

Vom Stimulus zu Emotionen

In einer gewohnten Umgebung, in der wir uns geborgen fühlen, laufen unsere Körperfunktionen ab, ohne dass wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, sowohl wenn wir uns ausruhen, als auch, wenn wir aktiv sind: Wir atmen, verdauen, gehen, sprechen, denken und lieben, ohne uns der außergewöhnlichen Komplexität unseres Organismus bewusst zu sein, der all dies ermöglicht. Wahrnehmungen, Nervenbahnen, Nahrung, Luft und Hormone – sie alle kommunizieren miteinander und arbeiten zusammen, damit wir im Austausch mit unserer Umgebung leben können. Und wir bekommen nichts davon mit. Unser Körper ist ein lebendiger Organismus, der darauf ausgerichtet ist, das eigene Überleben und das der menschlichen Spezies zu gewährleisten.

Unser Leben besteht aus einem permanenten und unverzichtbaren Austausch mit Luft, Wasser, Nahrung und mit anderen Menschen. Diese Umgebung kann sich jedoch als gefährlich erweisen: Luft und Wasser können verunreinigt, andere Menschen uns feindlich gesinnt sein. Wir müssen unser Umfeld also ständig bewerten, um herauszufinden, ob es gut oder schlecht oder sogar gefährlich ist. Dies tun wir, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Unser Gehirn stützt sich dabei auf unsere fünf Sinne (Sehen, Riechen, Hören, Tasten, Schmecken) und die jeweiligen Organe. Diese kleinen Sensoren sind in ständiger Alarmbereitschaft und die ersten Schaltstellen des außergewöhnlichen Parcours, über den in wenigen Tausendstelsekunden Wahrnehmungen in Emotionen und Gedanken umgewandelt werden. Denn in diesem unendlich kleinen Zeitraum werden das zentrale Nervensystem (Gehirn und Rückenmark), das periphere Nervensystem (motorische Nerven, die auf die Muskeln einwirken), das autonome Nervensystem und das Hormonsystem aktiv und kommunizieren miteinander, um unseren Körper der Situation anzupassen.

Die Informationen, die unsere Sinne aufgenommen haben, werden durch die sensorischen Nerven über Nervenbahnen an das zentrale Nervensystem übermittelt, wo sie erneut verarbeitet und durch die motorischen Nerven in Handlungen umgesetzt werden (Annäherung, Flucht, Reflex).

Gleichzeitig sendet das autonome Nervensystem Befehle an die inneren Körperfunktionen, die wir – abgesehen von unserer Atmung3 – nicht willkürlich beeinflussen können, etwa unsere Verdauung, die Erweiterung der Bronchien oder die Herztätigkeit. Das autonome Nervensystem gliedert sich in zwei Bestandteile: das sympathische Nervensystem und das parasympathische Nervensystem. Ersteres tritt in Aktion, sobald der Stimulus auftaucht: Die Herztätigkeit wird gesteigert, die Bronchien werden erweitert und unsere sensorischen Fähigkeiten intensiviert, gleichzeitig wird die Aktivität unseres Verdauungssystems eingestellt. Das parasympathische Nervensystem greift ein, sobald sich die Situation, die die Emotion ausgelöst hat, beruhigt. Es führt unseren Organismus wieder zurück zur normalen Funktion und versetzt ihn in einen Ruhezustand.

Parallel zur Aktivität der Nervensysteme spielt der Hypothalamus eine Rolle als Schaltstelle zwischen dem autonomen Nervensystem und dem Hormonsystem. Über die Hypophyse setzt er das Hormonsystem in Gang. Die endokrinen Drüsen produzieren daraufhin Hormone, kleine Botenstoffe, die über das Blut transportiert werden, dem Hypothalamus Informationen über den Zustand unseres Körpers vermitteln und unseren Stoffwechsel durch Rückkopplung regulieren. Die Hormone regeln sowohl Wachstum also auch Schlaf und Fortpflanzung. Einige spielen eine wesentliche Rolle, wenn es um unsere Reaktion auf die verschiedenen Situationen geht, mit denen wir konfrontiert werden. Adrenalin beispielsweise, das sogenannte Stresshormon, bereitet uns auf Angriff oder Flucht vor, indem es unseren Herzschlag beschleunigt, den Blutdruck erhöht und die Bronchien erweitert, wodurch die Funktion des sympathischen Nervensystems zum Erhalt der aufrechten Körperhaltung (Orthostase) unterstützt wird. Cortisol und Endorphine übernehmen diese Aufgabe, wenn die Situation länger andauert.

Das autonome Nervensystem und das Hormonsystem sind zuständig für das Gleichgewicht unserer physiologischen Körperfunktionen (Homöostase): Sie können Abweichungen wahrnehmen und korrigieren.

Die Übermittlung all dieser Informationen erfolgt in einer Rekordzeit von wenigen Tausendstelsekunden, die Rückkehr zum normalen Ruhezustand aber dauert länger: Manchmal brauchen wir mehrere Minuten, ehe wir aufhören zu zittern oder unser Herz wieder langsamer schlägt.

Emotionen sind also eine vorübergehende körperliche Reaktion des Wohlbefindens oder Unbehagens auf eine Situation, die unsere Sinne wahrgenommen haben, die unser Körper empfunden und unser Gehirn gedeutet hat. Selbstverständlich sind manche Emotionen angenehmer als andere. Zweifellos empfinden wir lieber Freude als Ärger und zittern lieber vor Verlangen als aus Angst.

Diese Empfindungen hinterlassen Spuren in uns, wir bewahren sie in unserem Gedächtnis und erweitern so unsere Erfahrung der Umwelt. Unsere Psyche beeinflusst also unsere Wahrnehmung der Umwelt, was dazu führt, dass manche das Leben durch eine rosarote Brille betrachten, während andere eher schwarzsehen. Daher fügt die buddhistische Wissenschaft beispielsweise den physiologischen Sinnen der westlichen Wissenschaft einen sechsten Sinn hinzu – das geistige Bewusstsein. Dieses ermöglicht uns, von einer Situation mehr zu erfassen als die rein physiologischen Reaktionen. Es deutet sie auf der Basis bereits erworbenen Wissens und fügt sie unserem Erfahrungsschatz hinzu. Außerdem zeichnet es sich durch eine ganz besondere Fähigkeit aus: Es kann abstrakte Objekte erfassen.

Ein abstraktes Objekt? Wie der Name sagt, existiert es nicht in der physischen Realität. Es handelt sich um Ideen, Gedanken oder etwas, das erdacht werden muss, um zu existieren. Zum Beispiel kann man ein Fußballspiel nur verstehen, wenn man die Regeln kennt. Andernfalls sieht man Menschen, die hinter einem Ball herlaufen oder davor anhalten, aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Für einen solchen Zuschauer existiert kein Spiel. Es hat nur eine Bedeutung für denjenigen, der die Regeln kennt, und diese Regeln – abstrakte Objekte also – sind es, die aus dem Ganzen ein Fußballspiel machen. Man könnte sagen, dass die Kenntnis der Regeln ein Teil der Sinnesorgane des Fußballfans ist, insofern als sie die Welt organisiert, die er erfasst.

Zu den abstrakten Objekten, die unser geistiges Bewusstsein speichert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, gehören Zahlen und Daten. Diese Besonderheit ist von großer Bedeutung für die transgenerationale Weitergabe. Wir werden darauf zurückkommen.

Das Gedächtnis – körperliche Prägung, psychische Prägung

Emotionen und Gedächtnis sind nicht voneinander zu trennen. Emotionen hinterlassen Spuren in unserem Körper und in unserer Psyche. Die Erinnerung ist umso intensiver, je stärker die Emotion ist, die mit dem entsprechenden Ereignis verbunden ist. Das kann bei bestimmten Familienstreitigkeiten der Fall sein, wenn sie mit grundlegenden Konflikten zusammenhängen. Das gilt jedoch nur bis zu einer bestimmten Grenze. Jenseits dieser Grenze treten emotionale Störungen auf und auch das Gedächtnis ist beeinträchtigt, etwa bei wiederholtem Stress, einem emotionalen Schock oder einer Traumatisierung.4 So berichten zahlreiche Menschen, die als Kinder in ihrer Familie vergewaltigt wurden, dass bei der Geburt ihres ersten Kindes oder des Kindes, das in der Geschwisterreihe denselben Platz einnimmt wie sie selbst, körperliche Beschwerden oder psychische Probleme aufgetreten sind, die an die traumatischen Ereignisse von damals erinnerten, die sie bis dahin vergessen hatten. Davon wird später noch ausführlicher die Rede sein.

Um zu überleben, müssen wir potenzielle Gefahren erkennen – das ist die Aufgabe unserer Sinne – und wiedererkennen. Dabei hilft uns das Gedächtnis. Um etwas zu erfassen, stützen sich unsere Sinne auf unser Gedächtnis5, gleichzeitig stützt sich das Gedächtnis auf die Sinne, denn sie nehmen nicht nur auf, sondern sind auch ein wichtiger Übertragungskanal, wenn es darum geht, sich erneut an etwas zu erinnern – Prousts berühmte »Madeleine« ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Um das Gedächtnis von der Erinnerung zu unterscheiden, könnten wir uns das Gedächtnis als anpassungsfähigen Speicher für Erinnerungen vorstellen – versteckt, aber einsatzbereit –, von denen einige in bestimmten Situationen (wieder) auftauchen.

Prozedurales Gedächtnis, perzeptuelles, semantisches und episodisches Gedächtnis – wir verfügen über verschiedene Gedächtnisarten, die je nach Funktion an unterschiedlichen Orten des Gehirns lokalisiert sind. Das prozedurale Gedächtnis speichert Bewegungen und Handlungsabläufe, sodass wir beispielsweise Radfahren, schwimmen oder Texte über eine Tastatur eintippen können, ohne darüber nachzudenken. Diese Bewegungen sind zu Reflexen geworden. Dem perzeptuellen Gedächtnis verdanken wir die Erinnerung an bestimmte Wahrnehmungen, sodass wir unsere Hand nicht an einer heißen Herdplatte verbrennen, und es erklärt das Phänomen von Prousts Madeleine. Das semantische Gedächtnis speichert Worte und Begriffe, es bewahrt unser Wissen und unsere Anschauung von der Welt. Das episodische Gedächtnis umfasst besondere Momente unseres Lebens. Bestimmte Ereignisse werden dort einschließlich des allgemeinen Umfeldes gespeichert, in dem sie stattgefunden haben, wozu auch Gerüche oder die Farbe des Himmels, Datum oder Uhrzeit zählen. Dieser Teil des Gedächtnisses ermöglicht, dass wir uns unserer selbst sowie des Phänomens bewusst sind, dass die menschliche Existenz kontinuierlich verläuft.

Das Gedächtnis funktioniert nicht bewusst. Alle Eindrücke werden zunächst einmal nur festgehalten. Die erste Aufgabe besteht dann darin, die Informationen zu kodieren, das heißt Szenen, Worte, Situationen so zu speichern, dass sie sich uns einprägen, nachdem sie durch unsere Sinnesorgane und unser psychisches Bewusstsein wahrgenommen wurden. Eindrücke werden umso besser festgehalten, je stärker sie unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und unsere Emotionen aktivieren, also eine Bedeutung für uns haben. Diese Bedeutung ergibt sich aus unserer persönlichen Erfahrung und den sozialen Rahmenbedingungen (Halbwachs 1994): Regeln, die in unserem Lebensumfeld gelten, sowie die Art und Weise, wie wir uns in unserem Lebensumfeld einbetten.

Die Erinnerung an ein Ereignis oder eine Situation wird unterstützt, wenn Emotionen beteiligt sind, seien sie positiv oder negativ, denn das Stresshormon Adrenalin fördert die Speicherung von Erinnerungen. An Ereignisse oder Situationen, die keinerlei Emotionen bei uns ausgelöst haben, erinnern wir uns auch nicht. Ob ein bestimmter Reiz mit einer Emotion verbunden ist, hängt von den bisherigen Erfahrungen desjenigen ab, der das Ereignis erlebt, nicht vom Reiz selbst. Eine von zwei Cousinen lächelte, als sie Kinderlieder aus einem mechanischen Spielzeug hörte, die andere dagegen weinte: Sie war als Baby von ihrem Vater missbraucht worden, bis ihre Mutter dies bemerkte.

Die Neuordnung der Erinnerungen

Um unsere Erinnerungen zu speichern, arbeiten mehrere Teile unseres Gehirns zusammen, vor allem aber die Amygdala, die durch Stresshormone und Nervenzellen aktiviert wird, und der Hippocampus. Gemeinsam wandeln sie unsere Wahrnehmungen in Erinnerungen um und speichern diese. Die Amygdala, die unsere Erfahrungen »bewertet« und als gut oder schlecht einstuft, spielt eine wesentliche Rolle als Schnittstelle zwischen Emotion und Erinnerung.

Auf die Speicherung der Erinnerungen folgt eine Latenzphase, scheinbar ein Vergessen. Denn paradoxerweise ist das Vergessen unerlässliche Voraussetzung für Gedächtnis und Intelligenz. Wie könnten wir denken, analysieren, leben, wenn wir uns ständig an alles erinnern würden? Unser Gehirn wäre so überfüllt, dass nichts Neues hinzukommen könnte. Das Vergessen ermöglicht uns, für den gegenwärtigen Augenblick aufnahmebereit zu sein, während sich gleichzeitig unser Gedächtnis ausbilden kann.

Diese Latenzphase ist auch eine Phase der Neuordnung der Erinnerung. Im Laufe der Zeit häufen sich unsere Erfahrungen, unser Blick auf die Welt ändert sich und verwandelt sogar nachträglich die Wahrnehmung und unsere Einschätzung des Erlebten. Ein »gutes« Gedächtnis entwickelt sich weiter. Es zeichnet sich vor allem durch Flexibilität aus, ist also in der Lage, im Augenblick der Erinnerung eine andere Emotion auszulösen als zum Zeitpunkt des eigentlichen Ereignisses. An schmerzhafte oder schwierige Momente (Entbindung, Ausbildungszeit, Militärdienst) können wir uns mit Freude erinnern, weil zwischen dem Ereignis und der Erinnerung daran unsere Lebenserfahrung die damit verbundene Emotion umgewandelt hat.

Unsere Überzeugungen, unsere Vorurteile oder bestimmte Verblendungen beeinflussen ebenfalls die Art und Weise, wie wir uns erinnern. So wurden Studenten der École Nationale de la Magistrature6 im Rahmen eines Seminars zum Thema »Beweisaufnahme« aufgefordert, sich eine Szene anzuschauen, in der ein Raubüberfall dargestellt wird, und diese anschließend zu beschreiben. Oft tauchte vor ihrem geistigen Auge dann ein dunkelhäutiger Mann mit schwarzer Jacke auf, in Wirklichkeit war der Täter dagegen blond und trug ein kariertes Jackett.7 Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie unsere Vorurteile unsere Wahrnehmung der Realität verändern können.

Auch unser Unbewusstes hat Auswirkungen auf unsere Erinnerungen. Freud hat gezeigt, dass sie dieselben Umwandlungsprozesse durchlaufen können wie Träume, wenn etwas zum Ausdruck kommen soll, das man nicht zu sagen wagt (Freud 2014). Im Rahmen einer Untersuchung frühester Kindheitserinnerungen führte Freuds Gespräch mit einem Mann zur Entdeckung einer besonderen Form der Erinnerung, der sogenannten Deckerinnerung, die mit Scham besetzte Ereignisse und Wünsche wie mit einem Schleier verhüllt.

Dieser Mann schilderte eine Art Bilderrätsel, um seine aktuelle Situation zu beschreiben. Er erinnerte sich daran, dass er als Kind einmal Blumen pflückte, zusammen mit einem anderen kleinen Jungen und einem kleinen Mädchen. Das Mädchen hatte einen großen Strauß gelber Löwenzahnblüten gesammelt, die Jungen waren neidisch, warfen sich auf sie und nahmen ihr den Strauß ab. Das Kindermädchen hatte die Szene beobachtet und tröstete das Mädchen mit etwas Brot. Die beiden Jungen eilten herbei und verlangten ebenfalls Brot.

Angeleitet durch Freuds Fragen und seine eigenen Assoziationen, erinnerte sich der Mann weiter, dass er sich als Jugendlicher in ein junges Mädchen verliebt hatte, das ein gelbes Kleid trug, es war aber nicht ganz dasselbe Gelb wie das der Löwenzahnblüten. Später wollte sein Vater ihn mit einem wohlhabenden jungen Mädchen verheiraten, das in dem Dorf wohnte, wo sich die Blumenstraußszene abgespielt hatte. Es stellte sich heraus, dass der junge Mann zu dem Zeitpunkt, als er von dieser Erinnerung erzählte, noch immer Junggeselle und von seinen Eltern abhängig war und sowohl einem jungen Mädchen »seine Blume abnehmen« als auch »sein Brot verdienen« wollte. Erstaunlich, wie das Unbewusste eine Erinnerung nutzt und durch die Assoziation von Gedanken und Bildern die aktuellen Probleme zum Ausdruck bringt, ohne sie explizit zu benennen!

Einige unserer Erinnerungen müssen wir also genau hinterfragen.

Die Reaktivierung von Erinnerungen

Eine Erinnerung wird durch einen aktuellen Reiz reaktiviert, der etwas mit dem Ereignis zu tut hat, auf das er verweist. Bei Proust sind es beispielsweise die Sinneseindrücke Geschmack und Duft, die ihn in seiner Erinnerung zu den Madeleines seiner Tante Léonie zurückführen:

»Doch wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfaßbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen« (Proust 1994, S. 98).

Zwischen dem ursprünglichen Zeitpunkt – dem Verzehr der von seiner Tante Léonie in Tee getunkten Madeleine an jedem Sonntagmorgen – und dem Moment der Erinnerung, als Proust den Geschmack des von seiner Mutter angebotenen Schluckes Tee wahrnimmt, der mit Kuchenkrümeln vermischt ist, sind mehrere Jahre vergangen, in denen diese Erinnerung in Vergessenheit geraten war. Und genau dieses Vergessen ist es, das ihm erlaubt, sich zu erinnern.

In einem relativ ausgeglichenen Lebensumfeld dauern Emotionen also nicht an, und sobald sie abklingen, kommt unser Körper zur Ruhe, während unser Gedächtnis Zwischenlager einrichtet, auf die es bei Bedarf – oder wenn ein entsprechender Reiz diese Reaktion auslöst – zurückgreift.

Abb. 1: Reiz/Hinzufügung einer Erinnerung

Aber das Leben ist nun einmal so beschaffen, dass wir schmerzlichen Erfahrungen ausgesetzt sind. Unser Umfeld ist nicht immer so behaglich, wie wir uns das wünschen würden. Bisweilen belasten uns Alltagsprobleme, berufliche Sorgen, Demütigungen oder auch Angst um einen Angehörigen. Für viele Menschen bedeutet die Tatsache, dass sie einer bestimmten Ethnie, Kaste oder Minderheit mit besonderen religiösen Ritualen oder sexuellen Neigungen angehören, dass sie ständig bedroht und Zwängen ausgesetzt sind. In manchen Ländern gilt dies auch, wenn man als Frau, Schwarzer oder Albino geboren ist. Im Jahr 2020 hat die weltweite Verbreitung des Coronavirus – gut 100 Jahre nach der sogenannten Spanischen Grippe, die vermutlich etwa 100 Millionen Todesopfer gefordert hatte –, unser aller Leben verändert. Solche Situationen lösen emotionale Erschütterungen aus, Trauer, Stress oder Traumata, und damit verbunden physiologische Beeinträchtigungen, die sich bei jedem Menschen anders auswirken.

Abb. 2: Trauma/Amnesie

Emotionen und Gedächtnis bei emotionaler Erschütterung, Stress und Trauma

Emotionale Erschütterungen, Stress und Traumata hinterlassen körperliche und seelische Verletzungen. Aber sie haben jeweils andere Auswirkungen, und diese müssen wir unterscheiden.

Eine emotionale Erschütterung ist die Folge einer schlechten Nachricht: Ein Mensch, der uns sehr nahesteht, stirbt völlig unerwartet, betrügt oder verlässt uns; wir werden arbeitslos, unser Land wird von einer ausländischen Armee angegriffen, unsere Umwelt wird durch die Errichtung einer Industrieanlage oder eine ökologische Katastrophe zerstört. Wir empfinden dann eine Mischung aus Sorge, Wut und Unruhe, die andauert und unsere Gedanken überlagert. Wir finden nicht mehr die Ruhe, die das Auftreten einer Emotion zum Abschluss bringt. Eine emotionale Erschütterung bewirkt Vergessen oder das Gegenteil – Grübeln und/oder Trauer.

Das Vergessen eines Ereignisses kann sich als Deckerinnerung manifestieren. Im Rahmen der bereits erwähnten Untersuchung erzählte der junge Mann Freud, dass er sich an einen Tisch erinnere, auf dem eine Schale mit Eis stand. Seine Eltern bestätigten, dass es diese Szene tatsächlich gegeben hat – zu dem Zeitpunkt nämlich, als die Großmutter starb, zu der der junge Mann ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte. Er erinnerte sich nicht daran, auch nicht an seinen Kummer, und das Bild dieser Schale mit Eis löste in ihm keine Reaktion aus. Dies ist ein Beispiel für eine »Verschiebung«: Hier tritt ein abstraktes, aber aktuelles Bild für die emotionale Erschütterung an die Stelle der Erinnerung an den Kummer im Kindesalter.

Manchmal beginnt der Betroffene zu grübeln und die Gedanken sind nur noch mit dem einen Problem beschäftigt, ohne dass es ihm gelingt, sich davon zu lösen. Er spricht mit sich selbst, beschimpft in Gedanken den Schuldigen. Er kommt nicht mehr zur Ruhe, im Kopf werden zunehmend Beweise angeführt und Rachepläne geschmiedet. Der natürliche Kreislauf der Emotionen ist gestört, das Hormonsystem gerät aus den Fugen. Anstatt zunächst Adrenalin zu produzieren, das uns hilft zu reagieren, und in einem zweiten Schritt Cortisol und Endorphine, die uns wieder zur Ruhe verhelfen, werden alle gleichzeitig ausgeschüttet, mit dem Ergebnis, dass Erregung und Beruhigung sich gegenseitig ausschließen. Wir sind sozusagen »süchtig« geworden, schreibt Jacques Regard (2007), zwanghaft aktivieren wir diese Emotionen immer wieder. Wir verfallen erst recht ins Grübeln, weil die menschliche Spezies offenbar dazu neigt, sich eher an negative Ereignisse zu erinnern. So entsteht ein Teufelskreis von negativen Gedanken über negative Gedanken.

Dasselbe gilt für bestimmte Fälle von Trauer.

In dem Wort Trauer steckt die Bedeutung »niedersinken, kraftlos werden«.8 Es ist der Schmerz, den der Verlust eines nahen Angehörigen in uns auslöst. Im Allgemeinen spricht man von Trauer im Zusammenhang mit einem Menschen, aber der Schmerz kann sich auch auf den Verlust eines Tieres, eines Hauses oder eines Landes beziehen. Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross gilt als Pionierin auf dem Gebiet der Trauer- und Sterbebegleitung. Sie beschreibt den Prozess, den der Trauernde ab dem Schock durchläuft, der eintritt, selbst wenn der Tod aufgrund einer Erkrankung oder hohen Alters abzusehen war – bis hin zur Akzeptanz. Und wie er über die Phasen des Leugnens und der Depression schließlich wieder zu sich selbst findet. Ein Trauerprozess ist abgeschlossen, wenn die Psyche sich vom Objekt der Trauer weg- und wieder dem Trauernden selbst zuwendet: Er ist dann wieder er selbst, hat das »Nie wieder« und die Tatsache akzeptiert, dass ein Teil von ihm nicht mehr da ist. Er fängt wieder an zu leben und Pläne zu machen.