Vergebens - Christiane Dieckerhoff - E-Book

Vergebens E-Book

Christiane Dieckerhoff

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Beschreibung

Der Tote im Hochwald.

Klaudia Wagner und ihr schwerster Fall: Eine Pilzsammlerin findet im Hochwald die Leiche des Gerichtsvollziehers Willi Rollenhagen. Er wurde offenbar erschlagen, und niemand im Spreewald scheint mehr Feinde gehabt zu haben. Hat ihn einer der überschuldeten Menschen ermordet, denen Rollenhagen so zugesetzt hat? Oder war es doch seine Ehefrau, da ihr Mann offenbar ein Verhältnis mit einer jüngeren Kollegin hatte? Klaudia deckt Geheimnisse auf, die sie selbst in Lebensgefahr bringen ...

Ein mysteriöser Mordfall im Spreewald – spannend und mit viel Lokalkolorit erzählt.

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Seitenzahl: 384

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Über das Buch

Sommer im Spreewald. Klaudia Wagner steht vor einer schwierigen beruflichen Entscheidung. Wird sie die Revierleitung im Spreewald übernehmen? Doch dann wird der Gerichtsvollzieher Rollenhagen ermordet im Hochwald vorgefunden, und sie muss sich auf einen neuen Fall konzentrieren. Mögliche Täter gibt es viele: nicht nur die überschuldeten Menschen, mit denen Rollenhagen jeden Tag zu tun hatte, sondern auch die eigene Ehefrau, die er offenbar mit einer Kollegin betrog. Während Klaudias Ermittlungen kaum vorankommen, wird alles noch komplizierter. Ausgerechnet die alte Frau, die Rollenhagen entdeckt hat, wird tot in ihrem Haus gefunden. Mord nicht ausgeschlossen.  

Über Christiane Dieckerhoff

Christiane Dieckerhoff lebt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, wenn sie nicht gerade im Spreewald für ein neues Buch recherchiert.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Spreewald-Krimis »Vermisst«, »Verfehlt« und »Verlassen« vor.

Mehr zur Autorin unter www.krimiane.de

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Christiane Dieckerhoff

Vergebens

Ein Spreewald-Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Vorbemerkung

Personal der Kripo Lübben

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Epilog

Danksagung

Quellen

Impressum

Vorbemerkung

Den Spreewald gibt es natürlich, wenn auch nicht unbedingt exakt so, wie ich ihn in meinen Büchern beschreibe. Vielleicht gibt es auch die Irrlichter. Zumindest habe ich das an so manch einem Abend gedacht, wenn ich mit meinem Mann zwischen den Fließen unterwegs war. Ich habe mich dann immer bei ihm eingehängt: Sicher ist sicher.

Sie machen also auf jeden Fall nichts verkehrt, wenn Sie ein Schmalzbrot zur Hand haben, sollten Sie als einsamer Wanderer nachts entlang der Fließe spazieren gehen oder eine Mondscheinfahrt im Kanu unternehmen. Man weiß schließlich nie, wer einem begegnet.

Doch was Sie sicher wissen können: Die folgende Geschichte ist meiner morbiden Fantasie entsprungen, und sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Personal der Kripo Lübben

Kriminalkommissarin Klaudia Wagner – 46 Jahre – steht vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung

Erster Kriminalhauptkommissar PH Naumann – 62 Jahre – geht in Pension

Kriminalhauptmeister Thang Rudnik – 37 Jahre – will mal wieder länger als zwei Stunden am Stück schlafen

Kriminalhauptmeister Peter Demel – 49 Jahre – will nicht, dass Klaudia seine Chefin wird

Kriminalhauptmeisterin Wibke Bredau – 41 Jahre – ist frisch verheiratet

Revierpolizist Uwe Michalke – 46 Jahre – ist verliebt

Reviersekretärin Petra Bartke – 53 Jahre – hat ihre Seele an den Kapitalismus verkauft

Neu im Team:

Kriminalkommissar Mark Meinert – 33 Jahre – ist Klaudias Konkurrent um PHs Nachfolge

Kriminalkommissar Heiner Kade – 34 Jahre – redet gern und viel

Kriminalkommissarin Walburga Samrei – 57 Jahre – kennt ein dunkles Geheimnis

Kriminalhauptmeisterin Uta Watzke – 39 Jahre – steht Uwe nahe

Einsatzleiter MEK Detlev Bach – 50 Jahre – will Klaudia abwerben

Prolog

ER ist wieder da.

Nur eine Einbildung.

Aber ich sehe IHN.

Er! Ist! Nur! Eine! Einbildung!

Du lügst. Ich sehe IHN doch. ER kommt über den Hof. Seine Klauen greifen nach mir.

Sie presst die Hände gegen die Ohren. Doch das hilft nichts. Die Stimmen stecken in ihrem Kopf. Die eine panisch, voller Angst. Das ist ihre eigene Stimme, die weiß, dass ER sie sucht, und die weiß, was ER mit ihr machen wird, wenn ER sie findet. Die andere ist bedächtig, beruhigend, liebevoll. Ein Trick. Sie weiß, dass es ein Trick ist. ER tut so etwas, schickt ihr eine Stimme, die sie beruhigen soll. ER will sie in Sicherheit wiegen. Aber sie ist nicht dumm. Sie weiß, dass ER da ist, auch wenn niemand ihr glaubt. Sie geben ihr Tabletten, die sie dumpf im Kopf machen. Sie sagen, das sei gut für sie. Es sei nur zu ihrem Besten. Die Stimmen seien böse, sagen sie. Dabei ist das gelogen. Nur die eine Stimme ist böse, die ihr einreden will, dass da niemand ist. Dass ihr keine Gefahr droht. Die andere Stimme ist ihre Freundin. Ohne sie ist sie wehrlos. Die Stimme warnt sie, weil die Stimme weiß, dass ER jederzeit zurückkommen kann. Sie braucht diese Stimme. Deshalb nimmt sie die Tabletten nicht mehr. Aber sie ist klug, niemand weiß es.

ER geht zum Haus, klopft, ruft. Als wenn sie antworten würde.

ER wendet sich um. ER hat sich verkleidet, sieht harmlos aus, doch sie erkennt IHN trotzdem. Der Blick seiner eisblauen Augen durchdringt die Mauer, hinter der sie sich verbirgt. Sie weicht zurück, stößt gegen einen Blecheimer.

ER hat sie gehört. Kommt näher. ER wird sie töten. ER darf sie nicht finden. Sie weicht weiter zurück, duckt sich. SEIN Schatten verdunkelt den Eingang. Panisch blickt sie sich um, sieht die Axt. Sie greift danach, ihre Finger umschließen den hölzernen Griff.

ER kommt näher, noch hat ER sie nicht gesehen. Sie hebt die Axt über den Kopf, lässt sie niedersausen. Ein Schrei. Sie reißt die Augen auf, sieht die Holzdecke über sich, sieht den Traumfänger und atmet erleichtert aus. Sie ist in Sicherheit. Wo der Traumfänger ist, kann ER nicht sein.

1. Kapitel

Hanka vertäute ihren Kahn an der Uferböschung und hob Flocke über die Borte. Schwanzwedelnd und die Nase dicht am Boden nahm er Witterung auf. Obwohl sie lieber nicht dem Förster begegnen würde, hatte Hanka keine Skrupel, ihn frei herumlaufen zu lassen. Wie bei allen Maltesern war sein Jagdtrieb wenig ausgeprägt, er ignorierte Kaninchen, und wenn Damwild auftauchte, klemmte er den Schwanz ein und flüchtete sich hinter Hanka. Flocke war eben kein Held, aber er hatte eine Nase für Pilze. Günther hatte ihn ausgebildet. Für einen Augenblick spürte Hanka wieder den Schmerz im Herz und das Gewicht der Schuld auf ihren Schultern. Drei Jahre war Günther jetzt tot. Lange Zeit hatten sie gedacht, sein Darmkrebs sei die Gefahr, doch er hatte alles überstanden, sich sogar mit dem künstlichen Darmausgang abgefunden. Und nach der letzten Kontrolluntersuchung hatte der Arzt ihm gratuliert. Eine Woche später war Günther tot. Einfach so. Verzweiflung, Trauer und Schuldgefühle waren nicht mehr so stark wie zu Anfang, als dieses Durcheinander in ihrem Kopf sie fast niedergerungen hatte. Vor allem die Schuld, die ihr niemand nehmen konnte, hatte an ihrem Lebenswillen gezerrt. In ihrem Kopf kreischten die immer gleichen Fragen: Warum hast du nicht? Warum bist du nicht? Sie hatte nicht essen können, nicht schlafen. Kurz nach der Beerdigung hatte sie angefangen, überall Günthers blutiges Gesicht zu sehen: im Badezimmerspiegel, der Fensterscheibe, in der Bugwelle ihres Kahns. Als sie das Gefühl hatte, es wäre besser, sich Steine in die Taschen zu stecken und ins Wasser zu gehen, hatte sie mit dem Pfarrer gesprochen. Sie hatte ihm von ihren Schuldgefühlen erzählt und dass sie nicht mehr schlafen konnte. Der Pfarrer hatte ihr zugehört und sie zu ihrem Hausarzt geschickt. Der Doktor hatte ihr ein Schlafmittel verschrieben, und seitdem verfolgte sie Günthers blutiges Gesicht nicht mehr. Wenn sie ihn jetzt sah, was selten vorkam, lächelte er ihr zu.

Flocke kläffte einmal kurz. Das bedeutete, dass er Steinpilze gefunden hatte. Sofort griff Hanka nach dem Weidenkorb, den ihre Urgroßmutter geflochten hatte, und stieg aus dem Kahn. Dabei stützte sie sich am Stamm einer am Ufer stehenden Erle ab. Ihre Zehen krallten sich in den noch vom Morgennebel feuchten Boden. Flocke kläffte wieder. Er musste eine ganze Gruppe Steinpilze gefunden haben. Das war in diesem Jahr selten. Zu trocken war der Sommer gewesen. Sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte hinauf zum Himmel. Die Schäfchenwolken, die träge über den Himmel zogen, sahen nicht aus, als würden sie Regen mitbringen. Hanka ging in die Richtung, in die Flocke verschwunden war. Jetzt im Spätsommer war es bis auf das Sirren der Insekten still im Wald. Nur hin und wieder hörte sie das Hämmern eines Spechtes oder das Gurren einer Taube. Noch hing Frühnebel über dem feuchten Waldboden. Spinnennetze glitzerten im Sonnenlicht. Hanka atmete tief ein. Der würzige Geruch des Waldes nach Erde und verrottendem Laub füllte ihre Lungen.

Als Hanka aus dem Schatten der Bäume trat, glitzerte die Lichtung im Sonnenlicht. Hanka schirmte mit der Linken die Augen ab. Eine Pfote erhoben, stand Flocke mit gerecktem Hals am anderen Ende der Wiese. Sie pfiff nach ihm. Ein Ruck ging durch seinen zierlichen Körper, Flocke wandte sich um und raste schwanzwedelnd auf sie zu. Aufgeregt hechelnd sprang er an ihr hoch. Seine Pfoten hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Hosenbein.

Hanka bückte sich und streichelte den Malteser, dabei zog sie eine Klette aus seinem Fell. Wie immer, wenn sie in den Pilzen war, trug sie die Arbeitshose ihres Mannes. Günther brauchte sie ja nicht mehr, und die Hose war so viel praktischer als sämtliche Hosen, die in ihrer Hälfte des Schrankes hingen. Überall hatte sie Taschen. Die Arbeitshose war eins der wenigen Kleidungsstücke, das noch auf Günthers Schrankseite hing. Das meiste hatte Hanka in die Altkleidersammlung gebracht, als Günthers Geruch aus den Kleidungsstücken verschwunden war. Ein Jahr hatte das gedauert. Die Sachen für seinen künstlichen Darmausgang hatte sie dem netten Paketboten mitgegeben.

Flocke stand jetzt mit erhobenen Vorderpfoten auf den Hinterbeinen. Auch das hatte Günther ihm beigebracht. Hanka nahm ein Leckerli aus der Brusttasche und warf es in die Luft. Geschickt fing Flocke es auf und zerknackte es zwischen den spitzen Zähnchen.

»Gut gemacht«, murmelte Hanka. Ächzend richtete sie sich auf. »Und nun los.«

Schwanzwedelnd und sich immer wieder nach ihr umwendend, lief Flocke voran. Hanka war sich sicher, dass er jedes Wort verstand. Seit Günthers Tod war der Malteser manchmal tagelang ihr einziger Gesprächspartner. Vor allem im Winter, wenn die Tage kurz und die Nächte lang waren. Kälte kroch Hankas Nacken hoch. Günther war im Winter gestorben.

Die Ausbeute war tatsächlich gut, und Hankas Korb füllte sich mit Steinpilzen. Sie fand auch noch einige Rotkappen und kniete sich gerade nieder, um eine Rotkappe zu schneiden, die sie ganz ohne Flockes Hilfe gefunden hatte, als der Hund aufjaulte. Es klang, als würde dem kleinen Rüden das Herz herausgerissen. Vor Schreck schnitt Hanka sich in den Daumen. Diesen Laut hatte sie erst einmal von Flocke gehört. Damals, als der Hund Günther gefunden hatte.

2. Kapitel

Klaudia parkte ihren Wagen am Spreeschlößchen und schaltete die Zündung aus. Céline Dion verstummte und schaffte Raum für das leise Sirren in Klaudias rechtem Ohr, das sich nach der Trennung von ihrem Ex ebenfalls verabschiedet hatte. Im Laufe der Jahre hatte Klaudia immer besser gelernt, ihre Beeinträchtigung zu verbergen, und wenn dieses Sirren in ihrem tauben Ohr nicht gewesen wäre, würde sie selbst nicht einmal mehr daran denken. So war es eine ständige Erinnerung an ihren Ex. Klaudia schüttelte den Kopf über sich selbst. Arno verschwendete sicherlich keinen Gedanken mehr an sie. Er hatte jetzt Frau und Kind, während sie …?

»Stopp!« Klaudia visualisierte ein Stoppschild, wie sie es nach dem Hörsturz in der Kur gelernt hatte. Es hatte keinen Sinn, in Selbstmitleid zu versinken. Sie hatte sich hier im Spreewald ein neues Leben aufgebaut, Freunde gefunden und Kollegen, die sie schätzten. Sie stieg aus und schlenderte zum Anleger. Marko half gerade einem älteren Herrn über die Borte. Seine Frau saß bereits und streckte ihrem Mann hilfreich die Hände entgegen, die dieser heldenhaft ignorierte. Wahrscheinlich war es ihm schon zu viel, dass der Kahnführer ihm helfen musste. Im Kahn saßen bereits zwei Japanerinnen und einige Familien.

»Wie war dein Urlaub?« Marko bückte sich nach dem Rudel und nickte ihr zu.

»Gut«, fasste Klaudia ihre Reise in die alte Heimat kurz zusammen. Sie hatte viel Zeit am Bett ihres Vaters verbracht. Es war erschreckend gewesen, zu sehen, was die Demenz aus dem ehemals so klugen und agilen Mann gemacht hatte. Mittlerweile war er in der Endphase der Krankheit, und Klaudia konnte nur hoffen, dass er es bald geschafft hatte und sein Körper seinem Geist folgen würde, wohin immer der sich verabschiedet hatte.

»Schiebschick wartet schon auf dich.«

»O Mist, die Deko!« Klaudia hastete zu ihrem Peugeot zurück und wuchtete das Paket aus dem Kofferraum. Schiebschick hatte sie letzte Woche gebeten, mit ihm zusammen etwas Gruseliges in diesem Internet, wie er sich ausdrückte, zu besorgen. Er wolle seinen Kahn für die jährliche Geisterfahrt schmücken. Klaudia hatte leichtfertig zugesagt, ihre Bereitschaft allerdings bereut, kaum hatte sie den Begriff in die Suchleiste ihres Browsers getippt. Die schiere Flut an Möglichkeiten war geradezu erdrückend, und sie klickte für Schiebschick durch die Bilderflut. Nach vielem Hin und Her entschied sich der alte Mann schließlich für Tischdecken mit Fledermausmotiv und Totenköpfen sowie Gespensterleuchten.

»Da ist ja meine holça.« Schiebschick erwartete sie am hinteren Teil des Anlegers und streckte, wie ein Kind, das es nicht erwarten kann, die Hände nach dem Paket aus. Unwillkürlich verglich Klaudia den alten Kahnführer mit ihrem Vater. Obwohl Schiebschick ein ziemliches Geheimnis um sein Alter machte, war Klaudia sich ziemlich sicher, dass er mindestens zehn Jahre älter als ihr Vater war. Aber im Gegensatz zu ihm war er voller Leben. Der Griff seiner knochigen Hände war fest, und seine Augen blitzten, als er das Paket auspackte.

»Auf dem Bild sahen die größer aus, wa?« Schiebschick kniff die Augen zusammen und musterte die Gespensterlampe, die er gerade auspackte.

»Im Internet wirkt immer alles größer«, erwiderte Klaudia, die damit beschäftigt war, die Tischdecken aus ihren Hüllen zu befreien.

»Das ist ja dann Betrug. Wa?«

»Nicht unbedingt«, widersprach Klaudia. »Irgendwo auf der Seite stehen schließlich auch die Maße.«

»Aber …«

»Ich finde sie groß genug.« Klaudia legte eine Decke auf einen der Tische und stellte zwei Lampen darauf. »Sieht doch gut aus. Außerdem müssen die Leute ja Platz für ihr Gedeck haben. Oder?«

»Stimmt«, räumte Schiebschick widerwillig ein. »Aber trotzdem: Im Internet sahen die größer aus.«

»Was gibt’s denn zu essen?«

»Gurken und Schmalzstullen. Was sonst?«

»Hhm.« Klaudia faltete die nächste Tischdecke auf und reichte sie Schiebschick. »Vielleicht Blutsuppe oder Gruselkuchen.«

»Was ist denn das?«

»Keine Ahnung«, räumte Klaudia ein, »hab ich mir gerade ausgedacht.«

»Tss.« Schiebschick schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Das ist eine Sagenfahrt, keine Geisterstunde.«

»Und warum wolltest du dann all dieses Gruselzeug?« Klaudia reichte Schiebschick zwei weitere Tischleuchten.

»Die funktioniert nicht.« Hektisch drückte Schiebschick auf den Schalter einer Lampe.

»Sorry«, entschuldigte sich Klaudia. »Da habe ich wohl vergessen, die Folie aus dem Batteriefach zu ziehen.«

»Welche Folie?« Verwirrt blickte Schiebschick auf.

»Diese hier.« Klaudia beugte sich vor und zog den Plastikschnipsel aus dem Batteriefach. Sofort leuchtete die Lampe. »Funktioniert.«

»Kann ja keiner wissen.« Schiebschicks Wangen färbten sich rosig. Der alte Fährmann hasste es, wenn er das Gefühl hatte, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Umständlich schaltete er die Lampe wieder aus und stellte sie auf den Tisch.

»Mir gefällt’s.« Klaudia packte die Umverpackungen in den Karton und stellte ihn auf den Anleger. »Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?«

»Hast du denn nichts Besseres vor?«

»Was gibt es Besseres, als einem alten Freund zu helfen?« Klaudia grinste.

»Eine Verabredung mit einem jungen Freund. Ich kenne da …«

»Lass gut sein.« Klaudia hob die Hände. Seit dem Frühjahr kannte Schiebschick immer mal wieder jemanden, den er Klaudia vorstellen wollte. Für Klaudia war das eher lästig, weil seine Vorstellung davon, wer zu ihr passte, ihrer eigenen Vorstellung diametral entgegenstand. »Außerdem habe ich Kriminalbereitschaft.«

»Aber …«

»Wie läuft das eigentlich ab?«, unterbrach Klaudia den alten Fährmann wieder.

»Wie das abläuft?« Schiebschick kicherte. »Ich bin viel zu alt, um mich daran noch zu erinnern.«

»Eigentlich spreche ich von der Sagenfahrt und nicht von irgendwelchen Dates.« Klaudia boxte ihn liebevoll gegen die Schulter.

»Ach so.« Schiebschick klang ein wenig enttäuscht. »Das wird schon gut.« Er kratzte sich die Nase. »Es gibt einige Stationen am Ufer, wo wir das eine oder andere aufgebaut haben.«

»Wie in einer Geisterbahn?«

»Haj«, bestätigte Schiebschick. »Außerdem lauern noch einige Lutkis und Irrlichter entlang der Fließe.

»Das ist jetzt ja nicht so gruselig.«

»Nur wenn die Trinkgelder anständig sind.« Schiebschick lachte dieses an eine schlecht gelaunte Ziege erinnernde Lachen, das zu ihm gehörte wie sein Kahn. »Wenn jemand geizig ist oder flucht, kann das böse enden.«

»Dann musst du ja ordentlich aufpassen, dass du nichts Falsches sagst. Wer weiß, wo du sonst mit deinem Kahn landest.«

»Pah.« Schiebschick spuckte ins Wasser. »In meinen Adern fließt die Spree. Mich führt hier niemand in die Irre. Ich bin ja kein Steuereintreiber.«

»Was?«

»Kennst du nicht die Geschichte vom Steuereintreiber, den die Irrlichter so tief in den Spreewald geführt haben, dass er nie wieder herausgefunden hat?«

»Das hast du dir jetzt ausgedacht.« Klaudia erhob sich. Das leichte Schwanken des Kahns ließ sie kurz taumeln. »Ist deine Steuererklärung fällig oder was?«

»Was du immer denkst«, brummelte Schiebschick. Trotzdem erzählte er ihr die Geschichte, in der ein Steuereintreiber, ein Fischer, ein Kahnführer und jede Menge Nachtgeister und Irrlichter eine Rolle spielten.

»Und das willst du deinen Gästen auftischen?«, fragte Klaudia, als Schiebschick die Geschichte mit einem bekräftigenden »Wa« beendete. »Für mich klingt das eher nach einem handfesten Streich als nach Geistern.«

»Trotzdem ist es eine gute Geschichte.« Schiebschick spuckte wieder ins Wasser.

»Die mehr über euch Spreewälder als über Geister erzählt«, beharrte Klaudia. »Was ist überhaupt mit dem Steuereintreiber passiert? Ist er ertrunken?«

»Wer weiß das schon.« Schiebschick griff sich an die Nase. »Auf jeden Fall ist er nie wieder aufgetaucht.«

»Und seitdem zahlt der gemeine Spreewälder an und für sich keine Steuern mehr?« Klaudia schmunzelte.

»Schön wär’s.« Schiebschick spuckte ins Wasser. Das Thema behagte ihm offensichtlich nur sehr bedingt. »Was früher der Steuereintreiber war, ist heute der Gerichtsvollzieher.«

»Und mit dem hast du auch bereits Bekanntschaft gemacht?«

»Also wirklich.« Schiebschick spuckte in die Spree. »Was du immer denkst.«

»Wie auch immer.« Klaudia stieg aus dem Kahn. Ihre Lendenwirbel ächzten und schickten einen dumpfen Schmerz in ihre Pobacken. Ich sitze zu viel, dachte sie. PH feierte Überstunden ab, danach würde er in Pension gehen, und auch wenn seine Nachfolge noch nicht entschieden war, vertrat Klaudia ihn als ranghöchste Beamtin der Dienststelle. Oder besser gesagt, sie unterstützte Petra, die mehr oder weniger den Laden am Laufen hielt. Wer immer PHs Nachfolge antrat, sie oder Meinert, tat gut daran, sich gut mit der Reviersekretärin zu stellen. Ein Punkt für Klaudia. Sie konnte sich auf Petras weibliche Solidarität verlassen. Was ihr fehlte, war die Unterstützung des Personalrats. Hier war Meinert als Mitglied der Polizeigewerkschaft eindeutig im Vorteil. Trotzdem konnte sie ihn sich nicht mit einer Schäfchentasse in der Hand vor dem Flipchart vorstellen. Er würde sich auf jeden Fall mehr in ihre Arbeit einmischen, als PH es je getan hatte. Einfach, weil er sich besser auskannte. Klaudia hatte sich nie für konservativ gehalten, doch jetzt erwischte sie sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten die Zeit anhalten würde. Alles sollte so bleiben, wie es war. Nichts sollte sich verändern. Sie blies sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Mundwinkel. Ich werde alt, dachte sie. Alt und bequem. Sie spürte geradezu die Last ihrer sechsundvierzig Lebensjahre auf den Schultern.

»Willst du schon gehen?«, fragte Schiebschick in ihre Gedanken hinein.

»Wir sind fertig, oder? Außerdem wartet Dickie auf mich.«

»Du verwöhnst das Vieh. Der fängt ja nicht mal mehr Mäuse.« Schiebschick hatte ein sehr pragmatisches Verhältnis zu Dickie. Das wusste der Kater und verzog sich immer, wenn der alte Mann kam.

»Er ist halt schon einen Tag älter«, verteidigte Klaudia den Kater, der irgendwann in ihrem Leben aufgetaucht war. »Außerdem ist er herausgefordert.«

»Was heißt das denn?« Schiebschick spuckte in die Spree.

»Na ja, so ohne Schwanz.« Nach einem Unfall im Frühjahr hatte Dickie der Schwanz amputiert werden müssen. »Stell dir vor, dir würde jemand …« Klaudia verschluckte sich an dem Wort, das sie hatte sagen wollen, und faselte schließlich irgendwas von Rudel wegnehmen.

»Willst du eine Runde staken?« Schiebschick strahlte. »Wird auch mal wieder Zeit, sonst kommst du ganz aus der Übung.«

»Ich glaube, das bin ich bereits.« Wie hatte Schiebschick sie nur so missverstehen können? Sie sah hinüber zum Spreeschlößchen. Natürlich waren um diese Zeit alle Sitzplätze auf der Terrasse besetzt. Sie spürte geradezu die Blicke der Leute. »Nicht, dass ich deinen schön geschmückten Kahn versenke.« Die Bemerkung war deutlich weniger scherzhaft gemeint, als sie klang, nützte ihr aber wenig. Wenn Schiebschick sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht zu bremsen.

»Ich würde dir mein Leben anvertrauen.« Theatralisch presste er sich die Hand auf die Brust. Dann bückte er sich nach dem Rudel, das auf dem Anleger lag.

»Na dann.« Klaudia gab nach. Sie war nicht unbedingt ein Fan des Stakens, ihr reichte ihr Kanu, das erheblich wendiger war. Doch wer im Spreewald lebte, sollte staken können. Das war zumindest Schiebschicks Meinung, deshalb hatte er es Klaudia in ihrem ersten Sommer in ihrer neuen Heimat beigebracht.

Er reichte ihr das Rudel. Der Holzstiel schmiegte sich warm in ihre Handfläche. Schiebschick löste die Leine und stellte sich neben Klaudia ins Heck des Kahns.

»Es fällt dir offensichtlich leichter, mir dein Leben anzuvertrauen als deinen Kahn.« Klaudia schmunzelte.

»Sicher ist sicher. Wa?« Schiebschick kratzte sich die Nase. »Sachte«, rief er, als Klaudia den Kahn vom Ufer abstieß. Wer bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, dass eine unerfahrene Kahnführerin unterwegs war, wusste spätestens jetzt Bescheid. Klaudias Wangen brannten, aber sie schaffte es aus dem Hafenbecken, ohne mit dem Bug am gegenüberliegenden Ufer anzustoßen. Erleichtert atmete sie auf. Die erste Hürde war genommen. Unter der Brücke kam ihr Marko entgegen. Er tippte sich an die Mütze, und als er sah, wer Schiebschicks Kahn stakte, lenkte er seinen mehr ans Ufer. Dankbar nickte Klaudia ihm zu, sie brauchte allen Platz, den sie kriegen konnte, um ihren Kahn unfallfrei ins Bürgerfließ zu manövrieren.

»Einmal um den Erlenhorst?«, fragte sie.

»Wie du willst. Wa? Ick hab Zeit.«

»Einmal um die Insel reicht.« Klaudia stemmte das Rudel wieder in den Untergrund, dann ließ sie es etwas schleifen, weil der Wind den Bug Richtung Uferbefestigung drückte.

»Wie eine richtige Fährfrau gemacht«, lobte Schiebschick, nur um Augenblicke später Klaudia dabei zu helfen, das Rudel aus einer schlammigen Stelle zu ziehen, sonst hätte Klaudia zwar nicht den Kahn, aber sich selbst versenkt.

»Danke.« Nicht ungern überließ Klaudia ihm das Rudel und setzte sich auf die Bank. »Ist wohl doch besser, wenn ich mich staken lasse.« Ihr Smartphone spielte die Melodie von I am alive. Hastig wischte Klaudia sich die Hände an der Jeans ab und kramte es aus dem Rucksack. Sie hatte eindeutig zu viel Zeit am Bett ihres Vaters totschlagen müssen. Also war sie auf die Idee gekommen, ihr Telefon mit neuen Klingeltönen zu versorgen. Sie nahm das Gespräch an. Es war die Leitstelle.

3. Kapitel

Hanka stand am Ufer. Neben ihrem Kahn dümpelte das Polizeiboot. Obwohl die Sonne an Kraft gewonnen hatte, zitterte sie vor Kälte. Es war eine Kälte, die in ihrem Magen begann und sich von dort in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Flocke hockte zu ihren Füßen, dicht an ihr Schienbein geschmiegt. Auch der kleine Malteserrüde zitterte. Hanka bückte sich, und er sprang ihr in die Arme. Ihre Finger gruben sich in das weiche Fell. Armer Kerl, dachte sie und wusste nicht, ob sie ihren Hund oder den Menschen meinte, der dort im Wald lag. Flocke schmiegte sich an sie. Seine feuchte Nase berührte ihr Ohrläppchen. Und auf einmal war da dieser Gedanke in ihrem Kopf, was diese Nase noch alles berührt hatte. Hanka krümmte sich und erbrach in die Spree.

»Geht’s wieder?«, fragte die Polizistin. Sie hatte Hanka ein Pflaster für ihren blutenden Daumen gegeben und war mit ihr am Ufer geblieben, während ihr Kollege die Fundstelle sicherte. Sie hatte sich als Polizeiobermeisterin Rebe, wie Traube, vorgestellt. Hanka schätzte sie auf Mitte bis Ende fünfzig. Eine patente Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und die ihr jetzt wieder auf die Füße half.

»Danke.« Hanka wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Ich hatte auf einmal nur wieder dieses Bild vor Augen. Komm her.« Sie schnalzte mit der Zunge, und Flocke kroch aus dem Busch hervor, unter den er sich geflüchtet hatte. »Ist ja nicht deine Schuld.« Sie holte ein Leckerli aus der Brusttasche und hielt es ihm hin. Schwanzwedelnd stellte Flocke sich auf die Hinterbeine. Hanka warf ihm das Leckerli zu. Die vertraute Handlung beruhigte sie. »Du kannst ja nichts für die Bilder in meinem Kopf«, murmelte sie, auch wenn es seine feuchte Nase gewesen war, die die Bilder getriggert hatte. Der Gedanke, dass Flocke an diesem … Wieder sah sie die blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Zitternd sackte Hanka ins Gras. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Setzen Sie sich in Ihren Kahn.« Die Beamtin half ihr über die Borte und hob dann Flocke ebenfalls in den Kahn. »Die Kollegen von der Kripo werden gleich hier sein.«

»Aber …« Fahrig rückte Hanka ihre Brille zurecht.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Den Kollegen ist bewusst, dass Sie unter Schock stehen. Wenn Sie wollen, kann ich Sie anschließend nach Hause staken. Man findet ja nicht jeden Tag einen Toten.«

Wenn du wüsstest, dachte Hanka, sprach den Gedanken jedoch nicht aus. Ein Teil des Schreckens lag gerade darin, dass sie glaubte, dies alles schon einmal erlebt zu haben.

Motorenbrummen legte sich über das Sirren der Insekten.

Wenig später tauchte das Feuerlöschboot auf. Hanka griff nach der Borte. Ihr Kahn tanzte auf der Bugwelle des herannahenden Fahrzeugs. Die Motorengeräusche verebbten, und das Feuerlöschboot legte sich längsseits des Polizeibootes.

»Ganz schön voll hier«, hörte Hanka eine Frauenstimme sagen. Sie beobachtete, wie ein Feuerwehrmann einer blonden Frau ans Ufer half. Sie war schlank und hochgewachsen, trug Jeans und ein einfaches Polohemd. Ein Lederrucksack baumelte von ihrer Schulter. Sie sah aus wie eine Tagestouristin aus Berlin, doch an der Art, wie Frau Rebes Körper sich straffte, nahm Hanka an, dass es sich bei der Frau um die Kriminalbeamtin handelte. Irgendwie enttäuschend, dachte Hanka. Die Frau war so durchschnittlich. So ganz anders als die Polizistinnen im Fernsehen.

Die Frau bedankte sich bei dem Feuerwehrmann. Selbst ihre Stimme war durchschnittlich: weder zu hoch noch zu tief.

»Bis später«, sagte sie. Der Motor des Feuerwehrbootes wurde gestartet, und es tuckerte rückwärtsfahrend aus dem Fließ. Zurück blieb die Polizistin. Ihr Blick begegnete dem Hankas, verweilte kurz auf ihr und wanderte dann weiter. Sie nickte, als ihr Blick auf Frau Rebe traf.

»Hallo, Gudula«, begrüßte sie die uniformierte Kollegin. »Lange nicht mehr gesehen.«

»Ich wusste nicht, dass du noch Kriminalbereitschaft machst.«

»Noch ist nichts entschieden.«

Hanka fragte sich, wie es sein konnte, dass die beiden über etwas anderes als den Toten im Wald sprechen konnten. Aber vielleicht gewöhnte man sich an solche Dinge, wenn man häufiger mit ihnen zu tun hatte. Die Kriminalbeamtin nahm Frau Rebes Arm und ging mit ihr ein paar Schritte in den Wald hinein. Jetzt konnte Hanka nicht mehr verstehen, was die beiden miteinander sprachen. Wieder glitt der Blick der Polizistin über sie hinweg und verweilte auf Flocke, der sich auf dem Bug des Kahns zusammengerollt hatte. Auch Hanka spürte das Gewicht ihrer Lider auf den Augäpfeln. Sie fühlte sich elend und beneidete Flocke um seine Fähigkeit, das gerade Erlebte zu vergessen. Ihr selbst würde es schwerer fallen, und sie wusste, auch wenn sie jetzt das Gefühl hatte, von Müdigkeit niedergerungen zu werden, würde sie heute Nacht bestimmt eine Schlaftablette benötigen, obwohl sie diesen Moment hasste, in dem der Schlaf sie einfach überrollte. Doch heute wäre es genau das Richtige. Einfach die Augen schließen und nichts denken.

»Frau Kowar?«

Die Stimme der Kriminalbeamtin war jetzt ganz nah. Hanka hob die Lider. »Ja«, krächzte sie.

»Mein Name ist Wagner. Kripo Lübben. Ich weiß, dass das alles sehr schwer für Sie sein muss, aber ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung?«

Hanka nickte. Sie traute ihrer Stimme nicht.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Wieder nickte Hanka.

Flocke floh ins Heck, als die Beamtin über ihn hinwegstieg.

»Netter Hund.« Die Kriminalbeamtin griff in ihren Rucksack und zog eine Wasserflasche heraus. »Ein Malteser, oder?«

Hanka räusperte sich.

»Trinken Sie.« Die Beamtin reichte Hanka die Flasche. »Das wird Ihnen guttun.«

Gehorsam nahm Hanka die Flasche und setzte sie an die Lippen. Da sie noch zur Generation derer gehörte, die mit dem Verbot aus Flaschen zu trinken aufgewachsen waren, konnte sie immer nur einen kleinen Schluck nehmen. Doch die Beamtin zeigte kein Zeichen von Ungeduld. Sie kramte wieder in ihrem Rucksack und zog schließlich einen etwas zerdrückten Schokoriegel heraus. »Hier!« Sie hielt ihn Hanka hin. »Zucker hilft, wenn man einen Schock erlitten hat.«

»Ich bin Diabetikerin.« Hanka reichte ihr die Wasserflasche zurück. »Aber trotzdem danke.«

»Behalten Sie die Flasche ruhig.« Die Beamtin steckte den Schokoriegel zurück in ihren Rucksack. Als sie ihre Hand diesmal hervorzog, hielt sie ein Smartphone in der Hand. »Würden Sie erlauben, dass ich unser Gespräch aufnehme?«

»Wenn es Ihnen hilft.«

»Unbedingt. Meine Schrift ist nahezu unleserlich, selbst für mich.« Die Beamtin lächelte kurz, dann wurde sie wieder ernst.

»Würden Sie bitte mit Ihrem Namen, Ihrem Geburtsdatum und Ihrer Adresse beginnen?«

»Sicher.« Hanka räusperte sich wieder, dann legte sie los.

»Prima«, sagte die Beamtin, als Hanka ihre Personendaten genannt hatte. »Wie war das denn nun?«

Stockend berichtete Hanka von den Pilzen. Wo war eigentlich ihr Korb? Suchend blickte sie sich um. Er stand am Ufer, im Schatten der Erle. Sie hatte keine Erinnerung daran, dass sie ihn zurückgetragen hatte. Unwillkürlich schüttelte Hanka den Kopf.

»Es war nicht so?« Die Beamtin stoppte die Aufnahme.

»Nein«, widersprach Hanka. »Ich meine: ja.«

»Okay, dann machen wir weiter?«

»Ja.« Hanka holte tief Luft, dann fuhr sie fort. »Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt, als ich Flockes Jaulen gehört habe.« Sie stockte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Kehle war auf einmal so eng, dass sie Mühe hatte, zu atmen. Hanka schraubte die Wasserflasche auf und trank einen Schluck. Der Druck in ihrem Hals ließ nach.

»Und dann habe ich den Toten gesehen.«

»Haben Sie ihn angefasst?«

»Um Gottes willen nein.« Heftig schüttelte Hanka den Kopf. »Ich wusste ja, dass er tot war. Ich meine: die Fliegen und dieses zerschlagene Gesicht.« Hanka konnte gar nicht mehr aufhören, den Kopf zu schütteln. »Was denken Sie?«

»Es hätte ja sein können. Vielleicht, um sich zu vergewissern, ob er wirklich tot war.«

»So wie Flocke gejault hat, wusste ich, dass – wer immer da lag – tot war.«

»Das konnten Sie an seinem Jaulen erkennen?« Die Stimme der Beamtin klang skeptisch.

»Mein Mann ist im Hochwald verunglückt.« Nach drei Jahren fiel es Hanka nicht mehr ganz so schwer, über diesen Tag zu sprechen. »Wir hatten uns gestritten. Wir waren über vierzig Jahre verheiratet, da passiert das schon mal.«

Flocke kläffte und sprang auf Hankas Schoß. Er wusste, dass sie über Herrchen sprach.

»Ich weiß nicht einmal mehr den Grund«, fuhr Hanka nachdenklich fort. »Also, warum wir gestritten haben, aber er ist auf jeden Fall aus dem Haus und in den Wald. Als er am Abend nicht nach Hause kam, bin ich ihm hinterher. Flocke hat ihn gefunden. Am Tag vorher hatte es gestürmt. Ein Ast hat ihn erschlagen. Die Ärztin hat gesagt, er sei sofort tot gewesen, doch das sagen sie wohl immer.« Hanka schwieg, die Erinnerung nahm ihr die Stimme. Auch die Polizistin schwieg, gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Schließlich fragte Hanka: »Haben Sie das auch aufgenommen?«

»Ich kann es löschen, wenn Sie wollen.«

»Ist egal. Es ändert ja nichts.« Hanka wischte sich die Augen. »An dem Tag hat Flocke genauso gejault.«

»Und deshalb wussten Sie Bescheid.«

»Ja.«

»Ich verstehe.« Die Kripobeamtin klang, als würde sie Hanka tatsächlich verstehen. »Wenn Sie wollen, kann ich unseren Notfallseelsorger bitten, Sie aufzusuchen. Er kann Ihnen …«

»Nicht nötig«, wehrte Hanka ab. »Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, spreche ich mit unserem eigenen Pfarrer.«

»Es ist gut, dass Sie jemanden haben.« Die Polizistin strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Es ist gut möglich, dass dieses Erlebnis ihr altes Trauma triggert. Haben Sie jemanden, der heute bei Ihnen sein kann?«

»Ich hab Flocke.« Hanka kraulte Flockes Nacken. Sie spürte etwas Weiches im Fell, das dort nicht hingehörte. Eine Zecke. Ein kleines blutsaugendes Ungeheuer. Darum würde sie sich später kümmern. Es tat geradezu körperlich gut, Worte wie später zu denken.

4. Kapitel

Klaudia sah der Zeugin hinterher, bis der Kahn aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Der Hund stand mit den Vorderläufen auf der Borte und kläffte das Ufer an. Sie hatte die alte Dame mit ihrem Hund schon häufiger gesehen, wenn sie die Fließe entlang joggte. Sie war ihr aufgefallen, weil sie sommers wie winters barfuß lief. Sie musste Fußsohlen aus Stahl haben. Doch ihr Nervenkostüm war deutlich fragiler. Sie dachte an das blasse Gesicht der Frau, ihr Zittern. Die Frau stand unter Schock. Sie hätte sie nicht einfach sich selbst überlassen sollen. Es gehörte schon viel Pech dazu, zweimal einen Toten zu finden. Auch wenn es diesmal nicht der eigene Mann war.

Pech oder kriminelle Energie. Klaudias Ermittlerader ließ keine noch so abwegige Variante unerwähnt.

Kaum war Kowars Kahn verschwunden, bog ein Kanu um die Kehre. Ein junges Paar mit Kind. Als sie das Polizeiboot sahen, berieten sie kurz und drehten ab.

»Ich geh dann mal zu dem Kollegen«, wandte sich Klaudia an Rebe.

»Brauchst du mich?« Die Stimme der Kollegin der Wasserschutzpolizei klang zögerlich.

Aus anderen Todesfallermittlungen wusste Klaudia, dass die Kollegin Leichen mied, wenn es ihr möglich war.

»Ich denke nicht«, erwiderte sie. »Ich will mir auch nur einen ersten Eindruck verschaffen.«

»Glaubst du, er wurde hier getötet?«

»Keine Ahnung.« Klaudia hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Noch habe ich die Leiche ja nicht gesehen. Was meinst du?«

»Ich …«, stammelte Rebe. »Ich hielt es für wichtiger, bei der Zeugin zu bleiben. Der Frau ging es gar nicht gut. Außerdem war sie verletzt.«

»Verletzt?« Irritiert runzelte Klaudia die Stirn.

»Sie hat sich beim Pilzeschneiden in den Daumen geschnitten. Als der Hund losgebellt hat«, fügte Rebe hinzu. »Ist das wichtig?«

»Weiß man nie. Deshalb: Danke für die Info. Mir ist es nicht aufgefallen.«

»Außerdem …«, fuhr Rebe fort, die immer noch das Bedürfnis verspürte, sich zu rechtfertigen. »… dachte ich, es reicht, wenn einer den Tatort sichert. Hier ist ja nicht so viel los.«

»Wibke wird das begrüßen.«

»Wibke? Das ist die Kollegin von der Spurensicherung. Die Rothaarige, oder?«

»Genau die«, bestätigte Klaudia. Die kastanienbraunen Locken waren Wibkes hervorstechendes Merkmal. Sie selbst war da schon weniger gut zu beschreiben. Schlank und mausblond passte einfach auf zu viele Frauen ihres Alters.

»Ich habe gehört, sie hat geheiratet.«

»Stimmt.« Klaudia war zwar nicht nach Smalltalk zumute, andererseits schien es Rebe zu helfen, mit der Situation klarzukommen. Sie hatte die letzten Stunden mit einer traumatisierten Frau und dem Wissen um den Leichenfund verbracht. Das setzte jedem Kollegen zu. Egal, wie lange man bereits im Dienst war. Außerdem war Wibkes Hochzeit kein Geheimnis.

»Anfang August. Mit mir als Trauzeugin.«

»Wie nett«, sagte Rebe. »Bist du verheiratet?«

»Nein«, erwiderte Klaudia deutlich kürzer angebunden. Über Wibkes Hochzeit zu reden, war das eine. Etwas völlig anderes war es, einer zugegebenermaßen netten Kollegin etwas aus ihrem Privatleben zu erzählen.

»Ich war’s mal.« Rebe schien die Frage nur als Einleitung gebraucht zu haben, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. »Aber einen Morgen bin ich aufgewacht, mein Mann schnarchte neben mir, und im Schlafzimmer hing der Geruch nach Bier und Zigarettenrauch, und ich wusste, dass ich das nicht mehr will. Also bin ich gegangen. Jetzt geht’s mir besser«, fügte sie hinzu.

»Der Kollege wird sich fragen, wo ich bleibe.« Klaudia war sich bewusst, dass sie dieses Gespräch nicht eben elegant beendete, doch es war ihr egal.

»Ich warte im Boot«, erwiderte Rebe hastig. »Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wieso ich dich …«

»Mach dir keinen Kopf«, unterbrach Klaudia sie. »Manchmal ist einem halt nach Reden. Wahrscheinlich wird sich die Leitstelle gleich bei dir melden. Jemand muss die Kollegen von der Spurensicherung abholen.« Sie nickte Rebe noch einmal zu und folgte dann dem schmalen Pfad, der in den Wald hineinführte. Dabei hielt sie den Blick auf den Weg gesenkt und setzte ihre Schritte so, dass sie keine möglichen Spuren zerstörte. Es hatte lange nicht geregnet, und der Boden war staubig. Sie sah Schuheindruckspuren, Fußspuren von Frau Kowar – die Zehen gruben sich tief in den sandigen Boden – und kaum sichtbare Pfotenabdrücke des Maltesers. Außerdem – Klaudia bückte sich – schien es hier Schleifspuren zu geben, wie Fersen sie hinterlassen könnten. Es bestand also die Möglichkeit, dass die Leiche hierhergebracht worden war.

Der Kollege der Wasserschutzpolizei erwartete sie. Hinter ihm hing Flatterband schlaff zwischen zwei Bäumen. Das fast weiße und sehr kurz geschorene Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu seinen dunklen Augenbrauen, von denen Schweiß perlte. Er war bleich um die Nase und hielt sich sehr gerade.

»Alles klar?« Klaudia setzte ihren Rucksack ab, nahm einen eingeschweißten Ganzkörperanzug heraus und stieg hinein. »Du hast die Leiche gesehen?«

Der Kollege schluckte. »Ja«, bestätigte er schließlich. »Ich musste mich ja vergewissern, ob er wirklich … Ich meine, es hätte ja sein können … Aber«, brach es aus ihm heraus. »Der ist so was von tot.«

»Es ist also ein Mann.«

»Ja«, antwortete der Kollege schmallippig. Ganz offensichtlich stand auch er unter Schock.

»Okay.« Klaudia nickte ihm aufmunternd zu. »Dann werde ich ihn mir wohl mal anschauen. Es kann noch dauern, bis die Kollegen von der Spurensicherung kommen. Am besten ist, du suchst dir ein schattiges Plätzchen.« Klaudia strich sich die Haare unter die Kapuze und schloss den Reißverschluss. »Wo kann ich langgehen?«

»Ich … Scheiße.« Die Blässe im Gesicht des Kollegen wich einem ungesunden Rot. »Tut mir leid, ich bin einfach geradeaus gegangen.«

»Kein Problem«, sagte Klaudia, obwohl es natürlich ein Problem war. Aber der Mann fühlte sich schon schlecht genug. Außerdem: Fehler passierten, und die Kollegen der Wasserschutzpolizei hatten es schließlich auch eher selten mit Landleichen zu tun. »Wir brauchen deine Schuhabdrücke sowieso.«

Sie bückte sich nach ihrem Rucksack und rief Wibke an. »Seid ihr schon unterwegs?«

»Was denkst du?«, antwortete die Kollegin der Spurensicherung.

»Dass du zuhause auf dem Sofa sitzt und …«

»Habe ich auch, bis ich aus meiner sonntäglichen Ruhe gerissen wurde. Ich konnte nicht einmal mehr den Kuchen aus dem Ofen nehmen. Das muss jetzt mein Mann machen.« Wibkes Stimme klang weniger vorwurfsvoll, als ihre Worte vermuten ließen. »Wir warten gerade auf das Boot der Wasserschutzpolizei. Wenn das nicht bald kommt, halte ich den Daumen raus.«

»Ich bin bereits vor Ort.« Klaudia berichtete ihr von ihrer Beobachtung auf dem Weg. »Ich habe versucht, keine Spuren zu zertreten, aber ich war leider nicht die Erste.« Sie sah zu dem Kollegen der Wasserschutzpolizei, der ihrem Blick auswich.

»Warum wundert mich das nicht?« Wibke seufzte theatralisch, und Klaudia hörte ein Lachen im Hintergrund.

»Die Auswahl an Wegen, die zum Fundort der Leiche führen, ist eher übersichtlich«, verteidigte Klaudia die Kollegen. »Entweder du gehst auf dem Weg, oder du versackst in Tümpeln.«

»Der Spreewald ist wirklich kein idealer Arbeitsplatz«, beschwerte sich Wibke.

»Die nächste Leiche packe ich euch direkt in die Kriminaltechnik nach Eberswalde.«

»Versprochen?«, fragte eine männliche Stimme aus dem Hintergrund.

»Mein Wort drauf.«

»Doch hoffentlich nicht deinen Mitbewerber?«, lästerte Wibke.

»Lasst euch überraschen.«

»Hast du die Hochzeitsfotos gesehen?«, wechselte Wibke das Thema.

»Noch nicht.« Sofort meldete sich Klaudias schlechtes Gewissen. Die Fotografin hatte ihr einen Link geschickt, den sie bisher erfolgreich ignoriert hatte. Sie war einfach nicht so der Bilderfreund. Außerdem hasste sie es, fotografiert zu werden, vor allem, wenn sie ein Kleid trug wie auf Wibkes Hochzeit. Jeder hatte ihr so oft versichert, dass sie großartig aussähe, dass sie sich wie die letzte Witzfigur vorgekommen war.

»Es war halt viel los«, fügte sie lahm hinzu. »Und jetzt muss ich los. Eine Leiche wartet auf mich.«

»Versuche möglichst zu fliegen.« Wibke lachte.

»Ich gebe mein Bestes«, versprach Klaudia und wischte das Gespräch weg.

»Danke«, sagte der Kollege der Wasserschutzpolizei.

»Wofür?«

»Dass du mich nicht wie den letzten Idioten dastehen lässt.«

»Beim nächsten Mal bist du vorsichtiger.«

»Ich gehe in drei Jahren, zwei Monaten und fünf Tagen in Pension«, erwiderte der Kollege. »Und das war meine zweite Leiche in über dreißig Jahren bei der Polizei. Die Chancen stehen also gut, dass es für mich kein nächstes Mal gibt.«

Wow, dachte Klaudia. Wie beschissen musst du deinen Job finden, wenn du auf den Tag genau weißt, wann du in Rente gehst?

Im Gegensatz zu dem Kollegen schlug Klaudia einen Bogen, entlang des Waldrandes. Schließlich stand sie vor dem Toten. Wie immer schaltete sie ihre Gefühle aus und katalogisierte in Gedanken, was sie sah. Dabei begann sie an den Füßen des Toten. Ein Schuh fehlte. Die Socken waren verrutscht und voller Sand, was zu den Spuren auf dem Weg passte. Flanellhosen, Hemd, Windjacke. Statur kräftig, aber nicht dick. Soweit erkennbar, keine Zeichen von Tierfraß. Das sprach dafür, dass der Tote noch nicht allzu lange hier lag. Klaudia Blick traf auf die Hände. In beiden waren tiefe Hiebwunden zu erkennen, ein Finger war im Gelenk abgetrennt und hing nur noch an einem Hautfetzen. Typische Abwehrverletzungen. Für einen Moment schloss sie die Augen, dann wanderte ihr Blick weiter zum Kopf des Toten. Sie pfiff leise, als sie den bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagenen Gesichtsschädel sah. Um solche Verletzungen zu verursachen, brauchte es außer einer geeigneten Waffe Kraft und sehr viel Wut.

Wer hat dir das angetan?, fragte sie in Gedanken den Toten, doch natürlich antwortete der nicht. Also tat sie das Nächstliegende und rief die Leitstelle an.

»Irgendwelche Vermissten, die ungefähr eins fünfundsiebzig bis eins achtzig groß sind und zum Zeitpunkt des Verschwindens dunkelblaue Flanellhosen, ein hellblaues Hemd und eine beige Windjacke getragen haben?«

»Moment«, sagte der Kollege. Klaudia hörte Stimmen im Hintergrund. Jemand sagte: »Für mich mit Extrakäse.« Dann meldete sich der Kollege wieder.

»Im Moment ist in unserem Beritt nur eine Vermisstensache offen, die eine männliche Person betrifft. Aber der trug zum Zeitpunkt seines Verschwindens Jeans und T‑Shirt. Größe passt. Gewicht etwa neunzig Kilo, kurzes grauschwarzes Haar. Vermisst wird er seit … warte mal … April.«

»April«, murmelte sie. »Und der ist nicht wieder aufgetaucht?«

»Der Vorgang ist offen.«

Klaudia blickte auf den Toten hinab. »Das Alter könnte passen.«

»Und die Haarfarbe?«

»Schwer zu beurteilen«, sagte Klaudia. »Da ist ziemlich viel Blut.« Sie beendete das Gespräch.

Ein Sirren ließ sie aufblicken. Über ihr kreiste eine Drohne in immer enger werdenden Kreisen. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte hinüber zur Absperrung. Straub stand dort mit dem Laptop vor dem Bauch. Ebenso wie sie trug er die Schutzkleidung der Spurensicherung. Er winkte ihr zu.

»Wibke und Wilms gießen noch Schuheintrittsspuren aus«, rief er zu ihr herüber.

»Na wunderbar.« Klaudia war froh, wenigstens einen Teil der Verantwortung los zu sein.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Wibke so weit war, dass sie die Leiche untersuchen konnte. Klaudia stand neben ihr, als sie die Taschen durchsuchte. »Ich glaube«, sagte Wibke. »Ich hab hier was für dich.«

5. Kapitel

Im Haus war es still. Es war die gleiche Stille wie nach Günthers Tod. Eine Stille, die nicht die Abwesenheit von Geräuschen bedeutete wie dem Schlagen der Standuhr, dem Brummen des Kühlschranks, sondern die Abwesenheit von bestimmten Geräuschen wie Schritten, einem Räuspern, Zeitungsrascheln.

Hanka saß in der Wohnküche am Fenster und blickte aufs Fließ hinaus, doch sie sah weder das träge dahinfließende Wasser noch ihren Kahn, der am Anleger dümpelte. Sie sah auch nicht das zerschlagene Gesicht des Toten. Sie sah Diether, wie sie ihn in den schlaflosen Wochen nach seinem Tod gesehen hatte. Von einem Ast erschlagen. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch das Bild blieb klar, verwischte mit keinem Wimpernschlag. Flocke lag auf ihrem Schoß, er war eingeschlafen, hin und wieder kläffte er noch im Schlaf, und seine Pfoten bewegten sich, als wollte er weglaufen. Den ganzen Weg nach Hause hatte er jede Bugwelle angekläfft, erst am Anleger hatte er aufgehört und war mit dem Schwanz zwischen den Hinterbeinen zum Haus gejagt, hatte an der Tür gekratzt und war unters Bett geflüchtet. Erst als sie sich in ihren Sessel ans Fenster setzte, war er aus seinem Versteck aufgetaucht und auf ihren Schoß gesprungen. Der Tote auf der Wiese hatte nicht nur ihr Trauma getriggert.

Hanka kraulte seinen Nacken. Dabei stießen ihre Finger wieder auf den weichen Zeckenkörper.

»Das haben wir ja ganz vergessen.« Hanka redete mit Flocke wie mit einem Kind. Sie nahm ihn hoch und ging mit ihm zur Küchentheke. Etwas zu tun zu haben, vertrieb die Bilder aus ihrem Kopf. Hanka nahm die Zeckenzange aus der Schublade und machte sich ans Werk. Flocke ließ das Prozedere geduldig über sich ergehen, und schon wenig später musterte Hanka die Zecke. Sie schien vollständig und gut gefüllt zu sein.

»Und was machen wir jetzt?« Sie warf die zerdrückte Zecke in den Abfall und setzte Flocke auf den Boden. Schwanzwedelnd lief er zu ihrem Sessel und kläffte auffordernd.

»Nein.« Energisch schüttelte Hanka den Kopf. »Wenn ich mich jetzt setze«, sagte sie zu Flocke, der sie mit zur Seite geneigtem Kopf musterte, als wollte er sagen: Worauf wartest du noch? »Dann stehe ich nie wieder auf.«

Flocke kläffte und legte sich flach auf den Boden, den Kopf zwischen den Pfoten. Das hieß dann wohl so viel wie: Das wäre doch eine gute Idee.

»Vielleicht sollte ich das wirklich tun«, sagte Hanka. »Eine von den Schlaftabletten nehmen und ins Bett gehen.«

Flocke lief zur Schlafzimmertür.