Vergebung geht nicht nur im Kopf - Willy Weber - E-Book

Vergebung geht nicht nur im Kopf E-Book

Willy Weber

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Beschreibung

Als Christen sollen und wollen wir vergeben. Was einfach aussieht, ist oft gar nicht so leicht. Willy Weber zeigt, warum unsere Emotionen bei dem Thema so wichtig sind und wie wir sie wahr- und ernst nehmen können. Auf diese Weise kann neue Freiheit gewonnen werden - unabhängig davon, ob echte Versöhnung möglich ist. Er stellt konkrete Schritte vor und gibt Werkzeug an die Hand, wie Vergebung "echt" gelebt werden kann. Das sehr praxisnahe Buch des erfahrenen Seelsorgers bietet Ihnen Hilfestellungen und viele Beispiele aus der Beratungspraxis, damit Sie Vergebung wagen können oder andere dabei seelsorgerlich begleiten.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien,einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitungchristlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7369-8 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5759-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2017SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scmedien.de · E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.Weiter wurde verwendet:LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im SchönbuchTitelbild: lightstock.comSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Mit einem Dankan Ingeburg und unsere Kinderfür geschenkte Vergebung

Inhalt

Vorwort von Martin Grabe

Warum dieses Buch?

Einstimmung ins Thema

Kapitel 1 | Menschen – fühlfähig und vergebungsbedürftig

Gefühle sind eine uns geschenkte Gabe und Aufgabe

Schuld und Vergebung – was ist gemeint?

Gefühle wollen wahr- und ernst genommen werden – sie erzählen aus dem Leben

Auch verletzte Gefühle brauchen Lebensrecht – und unsere Versorgung

Wir erleben und fühlen alle unterschiedlich – wie erlebe und fühle ich?

Fragen zum Nachdenken: Wie sieht mein Gefühlskonzept aus?

Kapitel 2 | Vergebung mit Gefühl

Gespräche mit dem Täter – wie geht das?

Konfrontation mit dem Täter – im geschützten Raum

Schritte in Richtung Vergebung – sie ist unüberbietbar

Kapitel 3 | Freiheit einüben – neue Lebensräume gestalten

Nähe und Abstand justieren – Vergebung schließt nicht immer Versöhnung ein

Versöhnung mit sich selbst

Konflikthafte Gottesbeziehungen

Vergeben ist kein frommes Muss, sondern göttliche Gnade

Zwei unterschiedliche Gebete – zwei heilige Texte

Kapitel 4 | Leben ist Lernen

Rückfälle sind auch Vorfälle

Vergebung ins Leben transferieren – die Nagelprobe

Wir sind unterwegs

Kapitel 5 | Was bleibt? Grundeinstellungen fürs Vergeben

Glaube

Hoffnung

Liebe

Nachgedanken

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort von Martin Grabe

Wenn Sie sich in Gedanken einmal in Ihrem Bekanntenkreis umsehen, dann werden Sie feststellen, dass es da zwei recht verschiedene Gruppen gibt. Je älter Menschen werden, desto deutlicher kommt das zum Vorschein. Dann nämlich, wenn Sie sie fragen, wie es Ihnen geht.

Bei manchen Menschen wissen Sie schon vorher, dass die Antwort lauten wird: »Gut!« Und das nicht nur in einem glücklichen Moment zwischendurch, sondern fast als beständiges Merkmal.

Und es gibt andere, die fragen Sie lieber nicht. Sie wissen nämlich schon vorher, dass Sie dann nur Klagen zu hören bekommen. Darüber, dass die Tochter sich zu wenig kümmert, die Nachbarn zu laut sind oder wie schlecht es ihnen gesundheitlich geht. Merkwürdigerweise geschieht das bei diesen Menschen auch nicht situativ, sondern fast regelmäßig.

Das sind schon zwei sehr verschiedene Gruppen! Die einen, die meistens zufrieden sind, und die anderen, bei denen das nicht der Fall ist.

Ich behaupte, dass dieser Unterschied zu einem großen Teil daran liegt, dass sich die einen, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, die Wege der Vergebung erschlossen haben, und die anderen nicht.

Natürlich könnte es auch sein, dass die einen in ihrem Leben viel mehr Glück gehabt haben als die anderen. Aber Sie wissen sicherlich: So wie die Welt konstruiert ist, gibt es kein Leben, in dem sich im Laufe der Jahre nicht auch schwere Erlebnisse sammeln. Im Zusammenleben mit anderen gibt es immer wieder Kränkungen oder schwere Verletzungen. Das Entscheidende ist, wie wir damit umgehen.

In den vielen Visiten, die ich in der Psychotherapie-Abteilung unserer Klinik mache, stelle ich immer wieder fest, welch zentrales Thema nicht aufgearbeitete alte und neue Verletzungen zwischen Menschen sind – und damit die Frage nach der Vergebung. In praktisch jeder Psychotherapie auf tiefenpsychologischer Basis muss der Einsichtsprozess von Vergebungsprozessen begleitet sein. Es ist durchaus wichtig, Wut über erlebte Verletzungen zu empfinden, es ist auch wichtig, Trauer über Versagungen zu empfinden. Es ist aber ebenso wichtig, diese Verletzungen dann auch einmal loszulassen. Ein Therapiefortschritt und wirkliche Heilung sind unmöglich, wenn das nicht passiert.

Vergebung ist allerdings kein einfacher Willensentschluss. Insbesondere bei schweren Verletzungen ist Vergebung oft ein langwieriger Prozess. Zunächst wird ein Betroffener bestimmt von immer wieder ablaufenden inneren Wiederholungen des kränkenden Ereignisses oder von Teilen davon, immer wieder wird der Täter in Gedanken entwertet oder Rache an ihm geübt. Viele Menschen, insbesondere auch Christen, versuchen diesen Prozess abzukürzen, Hassgefühle zu verleugnen und möglichst schnell das Ideal einer Versöhnung zu erreichen. Gerade eine zu frühe »Vergebung« führt aber dazu, dass es zu keiner guten und heilsamen Entwicklung mehr kommen kann. Ein tiefer Groll bleibt übrig, für den es keine Auflösung gibt.

Das Besondere an diesem Buch über Gefühlsarbeit in der Vergebung ist, dass Willy Weber anhand einiger sehr typischer, aus dem Leben gegriffener Beispiele beschreibt, welchen Verlauf solch ein Vergebungsprozess bei schweren Verletzungen nehmen kann, wenn er sich entwickelt und heilsam zu wirken beginnt. Es geht sowohl um chronische Verletzungen aus der Kindheit als auch um plötzliche, schwerste Kränkungen wie einen Ehebruch. Die Menschen in diesen Beispielen versuchen allerdings nicht, allein mit diesen Verletzungen fertigzuwerden. Sie nehmen seelsorgerlich-therapeutische Hilfe in Anspruch. Dadurch gelingt manches, was sonst nicht gelungen wäre oder viel länger gedauert hätte. In dem Vergebungsprozess werden insbesondere die Vergebungswege des Verstehens und der Relativierung genutzt. Gekränkte Menschen beginnen, auch eigene Anteile am Vorgefallenen wahrzunehmen, oder sie fangen an, destruktive Leitsätze ihres Lebens zu entkräften, die bisher eine Heilung verhinderten.

Aber auch ein weiterer Weg der Vergebung wird genutzt: die Delegation an Gott. Es muss in manchen Fällen akzeptiert werden, dass eine Versöhnung im eigentlichen Sinne lebenslang nicht möglich ist. Trotzdem kann die oder der Betroffene vergeben und ist damit endlich die negative Verbindung zum Täter los.

Willy Weber kann auf viele Jahre Erfahrung als Berater und Seelsorger zurückblicken. Er war 17 Jahre Pastor in Wiesbaden und Köln und anschließend 23 Jahre an der heutigen Theologischen Hochschule Ewersbach als Dozent im Bereich Praktische Theologie tätig, machte Ausbildungen als Lebensberater und Supervisor sowie als Ausbilder für Klinische Seelsorgeausbildung bei der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP). All das kommt in der seelsorgerlich-therapeutischen Begleitung der beschriebenen Fälle zur Geltung.

Ich wünsche diesem Beispielbuch für Gefühlsarbeit in Vergebungsprozessen eine weite Verbreitung und gesegnete Leser!

Martin Grabe

Dr. Martin Grabe ist Chefarzt in der Klinik Hohe Mark und 1. Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS).

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Warum dieses Buch?

In einem kollegialen Gespräch ging es um das Thema Vergebung. Dabei entstand der Eindruck, dass Vergebung von Mensch zu Mensch offenbar häufig nur Kopfsache ist. Sie wirkt dann zuweilen wie eine Decke oder wie ein Deckel, der über die verletzten Gefühle gelegt wird. So wird zu oft zugedeckt statt aufzudecken.

Was da geschieht, wird letztlich im Kopf entschieden und muss von ihm gewollt und verantwortet werden. Aber was ist mit den verletzten Gefühlen? Sie leben, auch wenn sie verdrängt werden. Wenn wir einem Schuldigen vergeben wollen, müssen die Gefühle beteiligt sein. Sie wollen, bildlich gesprochen, behutsam an die Hand genommen werden, sonst bleibt die Vergebung eine halbe Sache.

Es heißt dann zwar zuweilen: »Vergeben – ja, aber vergessen – nein.« Natürlich ist es normal, sich an Vergangenes erinnern zu können. Aber manchmal hört sich der Satz so an: »Ich habe nur vergeben, weil ich das – besonders wenn ich als Christ leben möchte – muss. Schließlich beten wir im Vaterunser: ›Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.‹«

So sprechen wir zwar »unsere Schuldiger« formal frei, bleiben selbst aber möglicherweise auf unseren »bösen« Gefühlen, auf Ärger, Wut, Kränkung und Aggression sitzen. Dann erleiden wir einen doppelten Schaden: die Verletzung als solche und zusätzlich die Last negativer Gefühle, die wir behalten, aber nicht zeigen möchten, weil wir denken, dass sie eines glaubenden Menschen unwürdig sind, oder aus Scham.

Mein Kollege schaute mich an und sagte: »Schreib doch mal ein Buch über diese Thematik.« Darüber musste ich länger nachdenken. Es gibt zum Thema Vergebung viele gute Bücher. Soll man noch ein weiteres dazustellen? Allerdings könnte die Bedeutung der Emotionen im Prozess der Vergebung doch noch ein Buch wert sein.

Nach intensivem Austausch mit dem Verlag habe ich mich zum Schreiben entschieden. So lade ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf einen Weg ein, auf dem ich sehr vieles nicht bedenken kann und muss, weil schon viel Gutes dazu geschrieben wurde. Ich konzentriere mich auf den Aspekt der Emotionen, die für das Gelingen der Vergebung wertgeschätzt und beachtet werden wollen, damit das Geschenk, anderen zu vergeben, auch für uns selbst ein Geschenk wird und bleibt.

Nicht alle Menschen brauchen und wollen eine so starke Berücksichtigung der Gefühle im Prozess der Vergebung. Manche sagen sich: »Ich will diesen Konflikt und diese ganze Verletzungsgeschichte nicht mehr, ich mache einen Strich darunter. Ich vergebe, fertig und Schluss damit.« Das kann ihnen durchaus gelingen. Ihr Wollen und ihre Einstellungen sind so eindeutig, dass ihre Entscheidung stimmig ist, sodass auch die Gefühle mitkommen.

Bildlich gesprochen: Solche Menschen können ihre Gefühle wie ein Kind entschlossen aus einer Dreckpfütze hochheben und auf den Arm nehmen und das Kind ist zufrieden und froh über diese Rettung.

Wenn Sie ein solcher Menschentyp sind, wird dieses Buch Ihnen vermutlich nicht so viel bringen. Es sei denn, Sie möchten sich in die hineindenken, die diesen kurzen Weg und Prozess nicht schaffen. Das sind allerdings vermutlich die meisten.

Noch ein paar Anmerkungen: Ich werde in meinem Schreibstil häufig mit »wir« und »uns« arbeiten. Ich bitte, diese Hilfskonstruktion nicht als Vereinnahmung misszuverstehen. Wir wissen ja, wie sehr unterschiedlich wir sind und wie individuell »unsere« Wahrnehmungen und Reaktionen gestaltet sind.

Aus Personenschutzgründen habe ich darauf geachtet, bei meinen Beispielen Namen und Situationen zu verändern sowie Einzelheiten zu variieren, ohne die wesentlichen Prozesse zu verwischen.

Ich bitte um Nachsicht, dass ich von den Ratsuchenden nur in der maskulinen Form schreibe, wenngleich Frau und Mann gemeint sind.

In den Dialogen mit Ratsuchenden verwende ich in diesem Buch der Einfachheit halber das Du. In der Praxis sieze ich natürlich mein Gegenüber meist.

Ein herzliches Dankeschön gilt folgenden Personen:

Erika Kochsiek-Sticht, meiner langjährigen Kollegin in der Klinischen Seelsorgeausbildung. Ihr verdanke ich viele kritische Anmerkungen und Impulse.

Ruth und Dr. Wilfrid Haubeck, meinen kollegialen Freunden, für ihre überaus sorgfältige Arbeit beim Korrekturlesen und für hilfreiche Anregungen.

Meinem Enkel, Philipp Reuschel, der den Text ebenfalls kritisch durchgesehen und mir bei der Arbeit am Manuskript geholfen hat.

Dr. Martin Grabe, Chefarzt in der Klinik Hohe Mark, für das Vorwort und wichtige Hinweise zum vorliegenden Buch.

Und Christiane Kathmann, die mit großer Geduld das Manuskript buchfähig gemacht hat.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einstimmung ins Thema

Mögen Sie Raupen? Es gibt wirklich herrliche Exemplare. Dennoch: Ich bin kein Freund von ihnen. Aber ich bin immer fasziniert von ihrer wundersamen Wandlung. Irgendwann verpuppt sich die Raupe. Äußerlich ist da nur noch der Kokon, der wie ein totes Etwas erscheint. Aber siehe da! Plötzlich springt er auf und es entsteigt ihm ein wunderschöner Schmetterling, der sich mit unhörbarem Flügelschlag zur Sonne erhebt.

Fantastisch! Das erinnert mich an das Schöpfungswerk Gottes. Er schafft aus dem Chaos einen wunderschönen Kosmos. Es erinnert mich auch an so etwas wie die Auferstehung der Toten. Ich weiß: Hier geht’s nicht um ewiges Leben, aber doch um ein neues, befreites und buntes Dasein in dieser Welt, im Hier und Jetzt.

Dieses Wunder der Wandlung steht mir vor Augen, wenn ich an das Thema dieses Buches denke. Ich denke dabei auch an Sie – mit dem Wunsch, dass Sie etwas von dieser wunderbaren Wandlung erfahren, sollten Sie sich eher wie eine Raupe statt wie ein Schmetterling fühlen oder gar wie ein Kokon, eingesponnen und wie lebendig tot.

Bei der Raupe geschieht die Wandlung wie von selbst, natürlich, im Kokon steckt Leben, das zu neuer Form drängt. Es sind einfach nur unterschiedliche Phasen dieses Lebewesens. Bei uns Menschen vollziehen sich solche Wandlungen dagegen nicht von selbst. Sie geschehen an und mit uns, indem sie uns zugleich zum Mittun aufrufen. Sie brauchen unseren Willen und unsere Entscheidungen. Es ist ein bewusster Prozess, der nicht immer schmerzfrei verläuft und doch so verheißungsvoll ist.

Ich lade Sie herzlich ein auf einen Weg, der uns allen offensteht. Ich tue dies mit dem stillen Wunsch, dass uns ein bunter Schmetterling begleitet und zwischendurch grüßt.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1Menschen – fühlfähig und vergebungsbedürftig

Unsere Gefühle sind oft schneller als unser Kopf – aber kopflos sind sie nicht. Wenn wir uns an einer Schrankecke stoßen oder unseren Kopf an einem niedrigen Türeingang, wenn wir für einen Augenblick unachtsam sind, stolpern, auf die Steinfliesen stürzen und uns eine Schürfwunde zuziehen, wenn wir uns versehentlich mit einer Nadel stechen, reagieren wir spontan, und zwar mit Schmerzen. Die haben eine Warnfunktion, lösen Alarm aus im Sinne des lateinischen Herkunftsbegriffs »ad armas«, zu Deutsch: »Zu den Waffen!«

Sofort ist das ganze psychosomatische System in Aufruhr: Es ist etwas Schlimmes geschehen, und es muss sofort reagiert werden. Sich schützen, sich wehren, zurückschlagen – was ist dran? Aggressionsimpulse werden ausgelöst. Deshalb treten manche gegen den Schrank, als sei das Möbelstück schuld.

Es entfahren uns Ausdrücke, die nicht von der vornehmen Art sind – bis wir allmählich wieder zur Besinnung kommen. Der Kopf wird frei und kann das Geschehene wahrnehmen, reflektieren, sortieren und deuten. Er wird in diesen Fällen bald Entwarnung geben. Vielleicht müssen wir kurz über den inneren Aufruhr lächeln, atmen durch – und vergeben uns und allen »Beteiligten«, die hier ohnehin unschuldig sind, das Missgeschick.

In diesem Fall sind wir selbst »Täter«. Natürlich haben solche kleinen Unfälle mit unserem Thema direkt nichts zu tun. Aber hier wird ein typisches Reaktionsmuster deutlich, das greift, wenn wir von Menschen verletzt werden, wenn Menschen uns gegenüber schuldig werden.

Das Erste, was darauf folgt, ist ein Gefühl. Die gedankliche Ordnung und Klärung kommt später. Jedenfalls erleben wir es so.

Alltagsgeschichten wie die genannte können zwar an und in die Haut gehen, aber nicht unter die Haut. Letzteres geschieht jedoch in zwischenmenschlichen Konflikten und kann schon bei Kleinigkeiten geschehen. Die Szenen werden dabei ganz unterschiedlich erlebt.

Wenn ein Verkehrsteilnehmer mir einfach die Vorfahrt nimmt, wenn sich jemand im Supermarkt an der Kasse vordrängelt, sind das auch immer noch alltägliche und einigermaßen harmlose Vorgänge, aber sie gewinnen eine andere Qualität und können unter die Haut gehen. Das hängt davon ab, wie robust oder sensibel Betroffene strukturiert sind. Ich hupe vielleicht den Autofahrer an, der mir die Vorfahrt nimmt und uns beide damit gefährdet. Ich schicke ihm noch ein paar ärgerliche Worte nach – und muss den Täter im Übrigen mangels Bestrafungsmöglichkeiten weiterfahren lassen. Vielleicht dämmert mir aber auch, dass ich selbst ebenfalls nicht immer ganz korrekt die gültigen Regeln beachte. Das heißt: Ich vergebe ihm, wenngleich das Wort hier zu hoch gegriffen erscheint.

Ich kann mich allerdings auch ordentlich über ein solch unverantwortliches Fahrverhalten aufregen und darüber, wie frech sich manche gebärden und anderen ihr gutes Recht nehmen. Dann wird es länger dauern, bis ich wieder ins Gleichgewicht der Gefühle komme und den anderen loslassen kann. Wer in sich unsicher ist und sich eher schnell angegriffen fühlt, wird vielleicht still in sich hineinklagen: »Ja, ja, so sind diese Leute. Die nehmen sich einfach das Recht, das ihnen nicht gehört, und unsereins muss damit klarkommen. Das kenne ich. Wie oft hat man mir im Leben schon – und nicht nur auf der Straße – die Vorfahrt genommen. Mit mir kann man es halt machen.« So endet diese Szene für diese Person doppelt schädigend: Man hat ihr die Vorfahrt genommen und das hat ihr wenig stabiles Selbstbewusstsein – wieder einmal – zusätzlich geschwächt.

Gefühle sind eine uns geschenkte Gabe und Aufgabe

Wir sagen, Gefühle springen uns geradezu an, spontan und ursprünglich. So jedenfalls erleben wir es. Allerdings lehrt uns die Neurologie, dass auch unsere spontanen Gefühle letztlich Reaktionen auf unsere Gedanken und Einstellungen sind. Es vollzieht sich in Situationen, wie den oben beschriebenen, ein psychologisch-hirnchemischer Vorgang, dessen Basis nicht unsere Emotionen, sondern unsere Gedanken und Einstellungen sind. Das bedeutet: Wir fühlen, was wir denken. Auch in den beschriebenen Affektsituationen spielen demnach blitzschnell Einstellungen und Gedanken mit, die sich in bestimmten Gefühlen äußern. Wir »wissen«, dass ein Kopfstoß am Türrahmen gefährlich sein kann, auch Stiche und andere Verletzungen. Wir »wissen«, dass es unfair ist, einem anderen die Vorfahrt zu nehmen oder sich an der Kasse vorzudrängeln. Gedanklich ist uns das klar und wir könnten mit solchen Situationen relativ sachlich umgehen, ohne Gefühlsaufruhr. Aber es scheint so, als seien die Gefühle, je nach Persönlichkeitsprägung, schneller als jeder ordnende Gedanke. Sie reagieren spontan. Deshalb fragen manche zu Recht zurück: »War das emotionale Grundmuster doch früher als das intellektuelle?«

Bevor ein Mensch in der Lage ist zu denken, fühlt er schon längst. Gefühle können unser Denken und unsere Einstellung je nach Heftigkeit geradezu überfluten und sie dominieren, sodass wir eher denken, was wir fühlen, statt umgekehrt. Dann braucht es zuweilen eine gewisse Zeit, bis die Ordnung wieder greift und die Gedanken wieder die Führung übernehmen und die Situation neu justieren können. Dieses differenzierte Zusammenwirken von Denken und Fühlen kann erklären, warum unterschiedliche Personen auf gleiche Ereignisse – auch spontan – mit unterschiedlichen Gefühlen reagieren oder warum dieselbe Person auf das gleiche Ereignis mal so und mal so reagiert. Das Beispiel von der genommenen Vorfahrt zeigt, dass unterschiedliche Reaktionen des Benachteiligten möglich sind. Klar ist, dass unsere Gefühle Steuerung brauchen, so etwas wie einen guten Erzieher, der sie lenkt. Wie das konkret geschehen kann, zeigen drei Beispiele aus meiner Beratungspraxis von Menschen, die Vergebung nicht nur im Kopf vollzogen haben. In diesem und den folgenden Kapiteln wird ihr Weg zur Heilung näher beleuchtet.

Es zeichnet Mensch und Tier aus, dass sie fühlfähig sind. Das Tier kann und muss seine »Gefühle« nicht bewusst wahrnehmen und steuern. Das besorgt sein Instinkt, der die nötigen Reflexe auslöst, damit das Leben und Überleben gesichert bleibt. Der Mensch kann seine Gefühle bewusst wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Sie sind eine Schöpfungsgabe Gottes, die wir dankbar annehmen, eine Ausstattung fürs Leben. Gefühle sind die Musik in unserem Erleben mit ihren hellen und dunklen und manchmal disharmonischen Tönen, Musik in Dur und Moll. Sie bewahren uns davor, Roboter zu sein oder zu werden, die funktionieren, aber tote Maschinen bleiben. Wir können Liebe feiern, Vertrauen genießen, uns über Geglücktes freuen und über Unglück weinen. Wir können hoffen und glauben. Wir können aber auch hassen und neiden, wüten und verzweifeln.

Gefühle spielen auch da mit, wo es scheinbar nur um Rationalität geht: Entdeckungen in der Wissenschaft, Ideen in der Forschung, Neugierde bei Experimenten; Glücksfälle und Enttäuschungen sind immer nahe bei den Gefühlen. Das ist gesund und normal, denn der Mensch ist eine Einheit, zu der auch die Emotionen gehören. Wie viele politische Entscheidungen sind von Gefühlen bestimmt, die nicht eingestanden und veröffentlich werden! Zum Beispiel von der Sorge um die eigene Position, um die Mehrheitsverhältnisse oder um das Image im In- und Ausland und beim Kampf um die Macht. Aber es gehört zum Geschäft, das nicht zu zeigen, sondern cool zu bleiben.

Auch wenn sich unsere Gefühle sehr spontan melden und uns bestimmen wollen, entbindet uns das nicht von der Verantwortung, jeweils zu entscheiden, wie viel Raum wir ihnen geben können und wollen, wo wir sie feiern und spielen lassen oder ausbremsen und korrigieren müssen. Gefühle haben etwas Kindhaftes und werden oft auch mit der Idee verbunden, dass in jedem von uns noch das Kind lebt, das wir einmal waren.

»Wir haben uns gefreut wie die Kinder«, sagen wir. Diese Vorstellung von einem »Kind im Manne« kann helfen, unsere Verantwortung als die Erwachsenen, die wir sind, zu beschreiben. Gefühle wollen liebevoll angenommen und zugelassen werden, sie dürfen nicht verhungern, sie dürfen nicht nur ins Gitterbettchen abgelegt werden. Sie brauchen Spiel- und Schutzraum. Sie wollen leben! Und das mit vollem Recht. Wenn sie gestört oder gar krank werden, brauchen sie unsere besondere Fürsorge und Pflege.

Die Menschen, die zu mir in die Beratung kommen, tun das häufig wegen ihrer emotionalen Störungen. Sie haben Kummer oder Angst, empfinden Wut, fühlen sich unsicher und bedrückt und wissen oft nicht, woher und wohin damit. Darum beginnt die Begleitung meistens mit dem, was obenauf liegt, mit den Gefühlen.

Und dies ist auch das Thema dieses Buchs. Dabei soll und kann es aber nicht nur um Gefühle gehen. Manche Fragen sind zu klären: Wer und was bestimmt die Gefühle? Welche hinter- und untergründigen Gedanken und Einstellungen sind mit im Spiel? Das ist dann der nötige zweite Schritt hin zu echter Vergebung und Heilung.

Schuld und Vergebung – was ist gemeint?

Ganz nah an unserem Thema sind wir nur scheinbar mit dem Begriff Schuldgefühl, weil diese Kombination von Schuld und Gefühl recht problematisch ist. Schuldgefühle zu haben, heißt nämlich noch nicht, wirklich schuldig geworden zu sein. Wenn ich schuldig werde, reagieren auch die Gefühle, etwa mit Trauer, Selbstvorwürfen und Enttäuschung über mich. Sie drängen mich, Dinge zu klären und um Vergebung zu bitten. Aber mancher plagt sich mit Schuldgefühlen, obwohl keine konkrete Schuld vorliegt. Wenn der von Schuldgefühlen Gequälte sein vermeintliches Gegenüber anspricht, weiß der andere in der Regel nicht, was das soll. Trotzdem können die Schuldgefühle bleiben. Sie haben sich gewissermaßen verselbstständigt. Da geht es folglich nicht um Schuld und Vergebung. Vielmehr ist es notwendig, unangemessene Gefühle genau anzuschauen und aufzulösen.

Was aber ist Schuld und was ist Vergebung? Offenbar hat beides die Menschen schon immer beschäftigt. Sie haben unterschiedliche Rituale entwickelt, Schuld auszugleichen. Sie versuchten, ihre Gottheiten mit Opfern zu versöhnen. Dabei floss häufig auch Blut von Tieren und Menschen. Zwischenmenschliche Schuld wurde nach den jeweils geltenden Regeln gesühnt. Das konnte auf dem Weg der Entschädigung geschehen, durch gesellschaftliche Ächtung oder auch durch Blutrache. In all dem spiegelt sich eine Wahrheit, die uns in der Bibel schon auf den ersten Seiten gezeigt wird, nämlich dass der Mensch ein Sünder ist. Die Geschichte Israels ist auch darin eine Gottesgeschichte, dass Gott diesem Volk seinen guten Willen kundtat, etwa durch die Zehn Gebote. Diese Gebote ordneten die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und wesentliche Alltagsfragen. Aber Israel scheiterte an ihnen und stand als Schuldner und Sünder vor Gott, letztlich mit einem verwirkten Leben. Doch Gott schonte sein erwähltes Volk und eröffnete ihm die Möglichkeit des stellvertretenden Opfers. Der Hohepriester legte dem Sündenbock die Hände auf und identifizierte ihn mit der Sünde des Schuldigen, in diesem Fall des ganzen Volkes Israel, um ihn danach in die tödliche Wüste treiben zu lassen. In Israel wurden Lämmer geschlachtet, deren Blut den Sünder vor Gott rein erscheinen ließ.

Aber auch die Ströme des Opferbluts konnten den Menschen nicht vor Gott gerecht machen. Gott entschied, uns seinen eigenen Sohn als Opferlamm zu geben. Der Tod Jesu Christi am Kreuz ist das Sühneopfer, mit dem die tödliche Sündenmacht endgültig gebrochen wurde und durch das der Mensch im Glauben Anteil am Sühnetod Jesu gewinnt. Dieser Gekreuzigte ist der »Gott für uns«. Durch Jesus versöhnt Gott die Menschen mit sich, hier stiftet er – ganz von sich aus – Frieden. Und wer auch immer mit welcher Schuld auch immer zu ihm kommt und ihn um Vergebung bittet, hört das erlösende Wort – wenn auch durch Menschenmund: »Dir sind deine Sünden vergeben.«

Das ist die Grundlage aller Überlegungen über Vergebung. Das ist die Grunderfahrung alles Christseins. Freispruch aus Gnade, Friede mit Gott für den schuldigen Menschen. Das ist die gute Nachricht des Neuen Testamentes, das besingen die Liederdichter, für diese Vergebung loben wir Gott in den Gottesdiensten.

»Dir sind deine Sünden vergeben« – das ist ein erlösender Zuspruch. Diese uns geschenkte Vergebung setzt zugleich himmlische Energien frei, uns auch untereinander zu vergeben. Denn wir werden nicht nur Gott gegenüber schuldig, sondern auch aneinander. Wir verletzen und werden verletzt, wir handeln lieblos und werden so behandelt. Rache oder Vergeltung bieten keine Lösung. Wir können einander vergeben, wie Gott uns vergeben hat. Vergebung ist geschenkte Gnade – zum Weiterreichen. Das ist die Freiheit der von Gott erlösten Menschen.