Vergessen ist das Leid - Myra Myrenburg - E-Book

Vergessen ist das Leid E-Book

Myra Myrenburg

0,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Imposanter, eindrucksvoller und herrlicher denn je wölbte sich die mächtige Vorderfront des Reichenbachschen Palais' in der untergehenden. Sonne. Unweit des Rondells, mit seinen Springbrunnen, seinem sanften Vorfrühlingsgrün und seinen gepflegten weißen Kieswegen, verborgen hinter einer Taxushecke, stand eine Frau und starrte zu den unzähligen rund gebogenen, glänzenden Fensterscheiben hinüber. Zwanzig Jahre lang war sie nicht hier gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie das Reichenbachsche Palais nicht gesehen. Zwanzig Jahre lang hatte sie die Erinnerung daran verdrängt. In der Tat, sie hatte es fast vergessen gehabt. War das Rondell damals schon ein öffentlicher Park gewesen? Sie zuckte unwillkürlich die Schultern und seufzte leicht. Sie wußte es nicht mehr, nein, sie wußte vieles nicht mehr. Zu intensiv hatte das Leben nach ihr gegriffen in diesen zwanzig Jahren. Zu sehr war sie bestrebt gewesen, das Palais hinter sich zu lassen und damit die Menschen, die es bewohnten. Noch einmal schweifte ihr Blick über die blaßgelbe Fassade, das besonnte Rondell mit den Springbrunnen und den leicht begrünten Rosenbüschen, dann wandte sie sich ab. Der Wagen wartete an der nächsten Straßenecke. »Wenn ich nur wüßte«, sagte ihr Begleiter halb zu sich selbst, »was dich bewogen hat, heute hierher zurückzukehren.« »Wenn ich das wüßte, Fedja«, seufzte die Frau und ließ sich in die dunklen Polster fallen, »dann wäre mir auch wohler. Es trieb mich hierher, mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe das Gefühl, es kommt etwas auf uns zu.«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 152

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami Bestseller – 55 –

Vergessen ist das Leid

Jetzt sind wir eine glückliche Familie

Myra Myrenburg

Imposanter, eindrucksvoller und herrlicher denn je wölbte sich die mächtige Vorderfront des Reichenbachschen Palais’ in der untergehenden. Sonne.

Unweit des Rondells, mit seinen Springbrunnen, seinem sanften Vorfrühlingsgrün und seinen gepflegten weißen Kieswegen, verborgen hinter einer Taxushecke, stand eine Frau und starrte zu den unzähligen rund gebogenen, glänzenden Fensterscheiben hinüber.

Zwanzig Jahre lang war sie nicht hier gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie das Reichenbachsche Palais nicht gesehen. Zwanzig Jahre lang hatte sie die Erinnerung daran verdrängt.

In der Tat, sie hatte es fast vergessen gehabt.

War das Rondell damals schon ein öffentlicher Park gewesen? Sie zuckte unwillkürlich die Schultern und seufzte leicht. Sie wußte es nicht mehr, nein, sie wußte vieles nicht mehr. Zu intensiv hatte das Leben nach ihr gegriffen in diesen zwanzig Jahren.

Zu sehr war sie bestrebt gewesen, das Palais hinter sich zu lassen und damit die Menschen, die es bewohnten.

Noch einmal schweifte ihr Blick über die blaßgelbe Fassade, das besonnte Rondell mit den Springbrunnen und den leicht begrünten Rosenbüschen, dann wandte sie sich ab. Der Wagen wartete an der nächsten Straßenecke.

»Wenn ich nur wüßte«, sagte ihr Begleiter halb zu sich selbst, »was dich bewogen hat, heute hierher zurückzukehren.«

»Wenn ich das wüßte, Fedja«, seufzte die Frau und ließ sich in die dunklen Polster fallen, »dann wäre mir auch wohler. Es trieb mich hierher, mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe das Gefühl, es kommt etwas auf uns zu.«

»Deinem Tonfall nach zu urteilen«, unterbrach sie der Mann am Steuer, »etwas Unangenehmes?«

»Unangenehm?« sagte sie gedehnt. »Das ist nicht das richtige Wort. Etwas Schicksalhaftes, Fedja, etwas, was sich nicht aufhalten läßt.«

»Hör mal«, murmelte er und sah sie kopfschüttelnd von der Seite an, »so habe ich dich noch nie reden hören, in diesem Ton, meine ich. Das paßt so gar nicht zu dir – das ist doch sonst nicht deine Art.«

Sie lächelte vor sich hin.

»Du kennst mich eben erst seit zwanzig Jahren. Aber vorher – hier im Palais – da war ich immer schon schicksalsgläubig. Heute ist mir wieder so zumute. Wahrscheinlich hat mich der bloße Anblick der Fassade in die Vergangenheit zurückversetzt.«

»Dann laß dir sagen«, versetzte der Mann und startete den schweren Wagen, »daß du gut daran tust, jetzt schleunigst wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Wir haben nur drei Stunden Weg bis nach Hause.«

Im Westen ging die Sonne unter und tauchte das Palais in strahlend goldenes Licht »Nach Hause«, wiederholte die Frau und hüllte sich fester in ihre Stola, »ja, nach Hause.«

Sie sah sich nicht mehr um.

*

»Wendi«, segte Wendi Lippit und betrachtete ihr Gesicht im Ankleidespiegel, »was ist das bloß für ein Name. Hast du ihn jemals gehört, Lisette?«

»Na, jeden Tag hundertmal, seit wir dich im Haus haben«, entgegnete die alte Frau mit dem weißen Löckchenkranz trocken, »genügt dir das nicht?«

»Ach was, Lisette, du weißt genau, was ich meine. Niemand außer mir heißt so.«

»Wer heißt heutzutage schon Lisette? Ich habe in den letzten dreißig Jahren auch keine getroffen, die diesen Namen trägt, außer mir natürlich. Und das reicht für mich allemal.«

»Aber Lisette heißt Elisabeth, das weiß doch jeder. Kannst du mir sagen, was Wendi heißen soll?«

Die alte Frau schaute etwas ratlos in den Spiegel und begegnete Wendis dunkelblauen runden Augen.

Kinderaugen, auch heute noch, da sie zweiundzwanzig war. Kinderaugen, Märchenaugen, mal glänzend, mal trüb, mal verträumt, mal verschmitzt. Aber immer gläubig, vertrauensvoll, arglos. Kinderaugen…

Lisette seufzte ein bißchen und legte den Stapel Wäsche aus der Hand, den sie gerade gebügelt hatte.

»Tante Nora weiß es auch nicht«, murmelte Wendi und verrieb dabei Sonnenöl auf Stirn und Wangen, »sie meint, meine Mutter sei sehr jung und sehr kindlich gewesen, damals. Anders könne sie sich diesen ulkigen Namen nicht erklären.«

»Mag sein, mag sein«, sagte Lisette hastig, um das Thema abzuschließen, das ihr, ganz im Gegensatz zu ihrer Chefin, immer noch peinlich war.

Wenn’s nach ihr gegangen wäre, hätte Wendi nie erfahren, daß sie adoptiert worden war. Keiner hätte das jemals gemerkt. Sie wuchs als Kind des Hauses auf, und Lisette fand das nicht ganz in Ordnung, daß Nora Lippit mit Wendi von Zeit zu Zeit ganz unbefangen über die Tatsache sprach, daß sie nicht ihre leibliche Tochter war.

So was tat man doch nur, wenn man damit rechnen mußte, daß Wendi dies von anderer Seite erfahren würde. Da aber außer ihr, der Lisette, niemand etwas darüber wußte, hätte Frau Lippit wahrhaftig nicht die Katze aus dem Sack zu lassen brauchen. Sie, Lisette, hätte sich eher die Zunge abgebissen, als jemals ein Sterbenswort über Wendis Herkunft verloren.

»Wendi«, sagte Wendi abschätzend zu ihrem Spiegelbild, »wenn schon sonst nichts, einen vernünftigen Namen hätte sie mir wenigstens mitgeben können ins Waisenhaus.«

Lisette zuckte ein wenig zusammen, wie sie es immer tat, wenn davon die Rede war.

»Wenn dir so viel daran liegt«, meinte sie und kramte in Wendis Schmuck herum, der unaufgeräumt war wie immer, »dann bitte doch Frau Lippit, dir einen anderen Namen zu geben.«

»Nein, Lisette, das geht nicht. Wenn sie das gewollt hätte, dann hätte sie es gleich getan, als sie mich adoptierte. Aber das wollte sie eben nicht. Sie nennt das Pietät meiner Mutter gegenüber, die mir diesen seltsamen Namen gab. Wenn eine Frau schon nicht die Möglichkeit hat, sagt Tante Nora, ihr Kind aufzuziehen, dann hat sie wenigstens das Recht, ihm einen Namen zu geben, den es sein Leben lang trägt.«

»Also, ich weiß nicht«, murmelte Lisette aus den Tiefen des Schrankes, »eine Mutter, die ihr kleines Kind aussetzt, hat überhaupt keine Rechte auf irgend etwas, wenn du mich fragst. Ich finde das sündhaft.«

»Aber Lisette, sie hat mich nicht ausgesetzt. Sie hat anscheinend alles versucht, um mich zu behalten, aber dann ging’s wohl nicht mehr. Als ich ein halbes Jahr alt war, brachte sie mich ins Waisenhaus, na ja, sie ließ sich natürlich auf nichts ein. Keine Fragen und so. Sie gab mich ab, samt meiner Babywäsche und dem Zettel mit meinem Vornamen, eben Wendi, und meinem Geburtsdatum, was ich wirklich nett finde, denn sonst wüßte ich ja gar nicht, wann ich Geburtstag hätte und wie alt ich genau wäre. Dann allerdings verschwand sie rasch und spurlos. Jesses, Lisette, was sollte sie denn machen? Sich ausfragen lassen? Sie war bestimmt in einer üblen Situation, sonst hätte sie mich behalten.«

»Meinst du?«

»Na klar. Tante Nora hat mir das erklärt. Früher war es eine schreckliche Schande für ein junges Mädchen, ein Baby zu bekommen. Denk nur dran, wie viele ins Wasser gegangen sind! Sie war sehr jung, das steht in meinen Akten, und sehr verzweifelt.

Na siehst du, was sonst hätte sie mit mir machen sollen? Mich verhungern lassen? Nein, ich bin da nicht so. Ich nehme ihr das nicht übel. Tante Nora meint, es wäre noch das beste gewesen, mich dort abzugeben, wo ich wenigstens zu essen bekam.«

Wendi drehte eine silberblonde Locke um den Finger und starrte nachdenklich auf ihre kleine Stupsnase.

Die schemenhaften Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit hatten ihren Schrecken verloren.

Auch das hatte Tante Nora erreicht. Aber die endlosen Korridore, die farblosen Wände, die ständig wechselnden Gesichter und Stimmen waren nie spurlos aus Wendis Leben verschwunden. Sie standen im Hintergrund ihres Herzens, nicht mehr bedrohlich, nicht mehr bedrückend, aber sie waren da.

Das ewige Kinderweinen um sie herum, die Trostlosigkeit in den kleinen Gesichtern der anderen, die sie ihre eigene Trostlosigkeit ahnen ließ, all das war ihr unauslöschlich eingeprägt.

»Laß nur«, pflegte Tante Nora zu sagen, »jeder Mensch hat ein Recht auf seine Erinnerungen, wie auch immer sie beschaffen sind. Und glaub mir, Wendi, jeder Mensch hat seine schmerzlichen Erinnerungen. Jeder, ob er es zugibt oder nicht.«

»Weißt du noch, Lisette«, fragte Wendi träumerisch, »weißt du noch, als ich hierher kam?«

»Ja, das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Obwohl du warst damals drei Jahre alt.«

»Wie sah ich aus, Lisette?«

Die alte Frau sah forschend in das junge Gesicht. Dann lächelte sie versonnen und sagte: »Wie heute, Wendi, genauso wie heute. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«

Wendi strich sich das lockige Haar aus der Stirn und versuchte ein strenges Gesicht zu machen.

»Findest du, daß ich immer bloß ein Kind bleibe?« erkundigte sie sich bekümmert. »Hast du es so gemeint, Lisette? Das wäre ja schrecklich.«

»Ach was!« wehrte die alte Frau ab und bückte sich nach ihrem Korb. »Der Ernst des Lebens kommt noch früh genug auf dich zu, Wendi. Sei froh, wenn du mit zweiundzwanzig nicht aussiehst wie dreißig. So was gibt’s auch. Komm, es ist gleich sieben. Abendessenszeit. Es gibt Thunfischsalat, dein Lieblingsessen.«

»Hurra!« schrie Wendi und riß Lisette den Korb aus der Hand. »Hab’ ich einen Hunger!«

*

Im kleinen Speisezimmer saß Nora Lippit am Fenster und blickte in die Dunkelheit.

»Nanu!« sagte Wendi verblüfft. »Hast du deine nachdenkliche Stunde?«

»Das auch«, erwiderte Nora und strich sich geistesabwesend über das dunkle krause Haar, »vor allem aber habe ich Kopfschmerzen… Zum erstenmal seit – nun – seit sehr länger Zeit.«

»Was hast du denn gemacht?« erkundigte sich Wendi teilnahmsvoll und vorwurfsvoll zugleich. »Ich habe dich der ganzen Nachmittag gesucht und nicht gefunden. Ich dachte, du wolltest heute mit dem Zirkusdirektor sprechen.«

Nora Lippit stand auf, schloß das Fenster und zog die schweren Vorhänge zu.

»Ja, das wollte ich. Hab’s mir dann aber anders überlegt, weil ich zuvor noch ein Wort mit diesem Pierre reden muß. Pierre… wie heißt er noch? Behalte diesen Namen einfach nicht. Ist ja auch egal. Ich denke, der Direktor wird einverstanden sein, wenn ich ihm Pierre für die nächsten Tourneen als Agenten vorschlage. Was sollte er dagegen haben? Ich bin eine alte Frau, und

Pierre, wie immer er heißt, ist ein junger Mann.«

Wendi starrte ihre Adoptivmutter so fassungslos an, daß ihre dunkelblauen Augen kreisrund wurden.

»Seit wann…«, sie schluckte, »seit wann fühlst du dich bloß als alte Frau, Tante Nora? Das hast du doch noch nie gesagt. Ist irgend was passiert? Sind es diese dummen Kopfschmerzen, oder hast du irgend etwas – ich meine versiebt, verschlampt – ist etwas nicht richtig gelaufen?«

Nora mußte lachen.

»Wendi, Wendi, ist dir nie der Gedanke gekommen, daß man mit mehr als fünfzig Jahren langsam sein Geschält abbauen sollte, so man es sich leisten kann? Meinst du nicht, ich sollte mir zur Abwechslung mal ein ruhigeres Leben machen?«

Wendi setzte sich auf ihren Stuhl am runden Tisch und starrte auf den Thunfischsalat.

Dann begann sie mechanisch, die Weißbrotscheiben in den Toaster zu stecken.

»Du und ruhiges Leben? Tante Nora, das ist ein Witz. Das kann nicht dein Ernst sein. Was stellst du dir denn unter einem ruhigen Leben vor? Keine Klienten mehr, keine Verhandlungen, keine Künstler mehr in deinem Salon, in deinem Büro, in deinem Leben? Keine Reisen mehr, keine Aufregungen, nichts mehr – das ist nicht dein Ernst!«

Nora Lippit faltete ihre Serviette auseinander und blickte zerstreut auf die Tür.

Dann wandte sie sich wieder Wendi zu, die immer noch mit verwirrtem Blick auf den Toast starrte.

»Komm, komm, beruhige dich, mein Kleines. Es war nur ein Gedanke. Wenn du es mir so ausmalst, kann ich mir das Ganze auch nicht mehr so recht vorstellen. Aber einen Teil meiner Kunden abgeben, das werde ich auf jeden Fall. Dieser junge Mann hat den nötigen Elan, findest du nicht auch?«

Wendi atmete erleichtert auf. Es mußten die Kopfschmerzen sein. Tante Nora war normalerweise eine Frau der Tat und nicht eine Frau der Resignation.

Sie war unerschöpflich an Kraft, Begeisterung und Mut. Das konnte sich nicht von heute auf morgen ändern. Nicht, wenn sie gesund war.

»Ach Gott ja«, lenkte Wendi ein und begann endlich zu essen, »Pierre ist nett. Mehr weiß ich eigentlich nicht von ihm. Wenn wir alle nach der Vorstellung noch ein bißchen bummeln gehen, ist er immer dabei. Ich könnte mir schon vorstellen, daß er gut mit den Leuten auskommen würde. Er hat den richtigen Ton, und er ist sehr anständig. Er würde sie nicht übers Ohr hauen, was ja auch wichtig ist. Nur hat er nicht deine Erfahrung und nicht deine Beziehungen, er kennt sich nicht aus in der Branche wie du.«

»Wie ich«, sagte Nora Lippit und griff plötzlich munter zu, »keiner kennt sich in der Branche so aus wie ich. Aber wir müssen ja alle mal anfangen, nicht wahr? Er mit seiner Künstleragentur, du mit deinem Studium, ich mit etwas mehr Müßiggang.

Ich werde ihn einführen, den jungen Mann, das kann ihm nicht schaden und mir auch nicht. Wirklich, Wendi, ich würde gern mal nach Acapulco oder San Francisco oder meinetwegen nur nach London fahren, ohne Terminkalender und ohne geschäftliche Besprechungen zwei Stunden nach meiner Ankunft.

Stell dir das doch mal vor. Wir beide haben noch nie eine Reise gemacht, die nicht geschäftliche Gründe hatte.«

»Wir beide?« echote Wendi skeptisch. »Was ist mit mir? Soll ich mich deinem Müßiggang anschließen, Tante Nora? Wenn ja, warum?«

»Nun, bei deinen endlosen Semesterferien dürfte dir das doch nicht schwerfallen.«

»Schon«, murmelte Wendi vorsichtig und stocherte in ihrem Thunfischsalat. »Wann willst du denn weg? Ich habe noch eine Klausur vor mir und dann…«

»Seit wann bist du denn so eifrig, Kleines?« Es klang belustigt, und Wendi wurde so rot wie ihr Pulli.

»Na, irgendwann muß ich ja mal ernsthaft anfangen«, und da sie einen ironischen Blick Tante Noras auffing, fuhr sie fast trotzig fort: »Mit dem Studium, meine ich.«

»Das meine ich auch«, war Noras vieldeutige Antwort. »Ich hatte ohnehin nicht vor, dich aus deinem ernsthaften Streben zu reißen. Mir reicht’s, wenn wir in vier Wochen fahren. Dann hast du deine Klausur hinter dir, und das Ende des Semesters hat noch nie viel Sinn gezeigt, meiner Ansicht nach. Macht dir denn die Sache langsam mehr Spaß als am Anfang?«

Wendi kaute auf ihrem Toast herum und senkte den Blick. Aber lange hielt sie das nicht aus.

»Nein«, gestand sie zerknirscht, »noch weniger als am Anfang. Ich tauge zu nichts, Tante Nora, glaub’s nur ruhig. Am besten ist es, ich such’ mir einen Job, irgendeinen, dann liege ich wenigstens dir nicht mehr auf der Tasche.«

»Solange meine Tasche nicht leer ist«, erwiderte Nora Lippit gelassen, »mach du dir darum mal lieber keine Sorgen. Sieh dich um, überall, in der Universität, in der Stadt, in den Häusern, wo du eingeladen wirst. Sprich mit den jungen Leuten über das, was sie tun, was sie gern tun, was ihnen als Zukunftstraum vorschwebt.

Meinst du, ich hätte in deinem Alter gewußt, was ich will, was für mich richtig ist? Meinst du, ich hätte auch nur eine Ahnung vom Beruf gehabt, von dem Beruf, den ich heute immerhin sehr erfolgreich ausübe? Keinen blassen Dunst hatte ich. Jeder hat irgendwelche Qualitäten, irgendwelche Stärken, man muß nur herausfinden, wo sie liegen. Und wo die Interessen sind. Das findet sich alles, Wendi, alles.«

Sie waren miteinander allein in dem kleinen Speisezimmer mit Blick auf den Kurpark, mit rundem Biedermeiertisch und blau bezogenen Kirschbaumstühlen. Lisette aß abends nicht mit ihnen, und auch mittags nur noch dann, wenn das Essen weich war und leicht zu kauen. Lisette hatte Schwierigkeiten mit ihren Zähnen, und kein Mensch der Welt hätte sie zum Zahnarzt gebracht.

»Tante Nora«, sagte Wendi in die Stille, die zwischen ihnen herrschte, »warum soll ich verreisen?«

»Um deinen Horizont zu erweitern!« war die ruhige logische Antwort. »Wir sprechen ja gerade davon, nicht wahr? Darüber, daß du noch viel zuwenig kennst und weißt, um dich selbst richtig einschätzen zu können. Das ist der eine Grund. Der zweite ist der, daß ich nicht sehr gern allein reise.«

»Nanu? Du bist doch aber immer gern allein gereist – zumindest bist du sozusagen immer auf Reisen gewesen, so lange ich denken kann.

»In diesem Fall«, sagte Nora Lippit sehr bestimmt, »würde ich nicht gern allein reisen. Ich hätte dich lieber bei mir, Wendi. Alles klar?«

»Alles!« seufzte Wendi und schob ihren Teller weg. »Es ist zwar jammerschade, aber wenn’s denn sein muß…«

Sie stand auf, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und lächelte Nora unbefangen an.

»Ich geh’ jetzt«, sagte sie leichthin, »kann sein, daß wir nach der Vorstellung noch ein bißchen bummeln gehn. Weißt ja Bescheid, gelt?«

»Weiß ich«, entgegnete Nora Lippit gelassen und stand ebenfalls auf, »viel Spaß, mein Kind!«

*

Die Trapezkünstler begannen ihren Akt, es roch nach Staub und Pferden, die Kapelle auf ihrem hölzernen Podium spielte eine der unverkennbaren Zirkusmelodien.

Dunkelgrau wölbte sich das Zelt über den vielen Köpfen. Das Schlagzeug begann tingelnd sein Solo und steigerte sich ins Crescendo, als die beiden Artisten in ihren dunkelroten Trikots die Spitze der Stange erreichten.

Nora Lippit setzte sich in die letzte Reihe, obwohl sie Logenplätze für alle Vorstellungen in der Tasche hatte. Aber hier hinten war man schön ungestört, niemand würde einen entdecken, weder der Direktor noch Wendi.

Hoffentlich, dachte Nora Lippit und wedelte den Staub rechts und links von der roh gezimmerten Bank ohne Lehne, hoffentlich lassen sie mich alle in Ruhe. Gut, die beiden am Trapez, nicht mehr taufrisch, zumindest die Dame, aber solides artistisches Können ist immer noch die Hauptsache. Ein schwerer Beruf ist das geworden, wenn man nicht ganz oben ist, nicht an der Spitze der Stars, keine Fernsehverträge hat und keine Chance, welche zu bekommen. Ein Mittelklasse-Zirkus mit ordentlichen Künstlern, einer seriösen Leitung und annehmbaren Leistungen – was ist das heute? Man möchte fast sagen, dachte Nora Lippit in der ihr eigenen Sachlichkeit, es ist ein Idealistenberuf. Krasser ausgedrückt – ein hoffnungsloser Fall.

Sie hatten den ganzen Winter über nicht gastiert, hatten in dieser Stadt ihr Winterquartier bezogen und würden jetzt wieder hinausziehen – drei Stationen hatte sie ihnen besorgen können, aber selbst das war nicht einfach gewesen. Der Zirkus Stargast gehörte nicht zu den renommiertesten.

Warum eigentlich nicht, dachte Nora Lippit und bemühte sich um ein kritisches Auge. Aber alles, was sie sah, war künstlerisch einwandfreie Leistung, nicht besser, nicht schlechter als manches andere, was man in einer großen Show zu sehen bekam.

Aber all das wußte Nora Lippit längst. Sie kannte ihre Klienten jahrelang, sie interessierte sich für jede Einzelheit, für jede Neuerung, für jede Kündigung, für jeden Krankheitsfall, für alles, und deshalb war sie die beste und beliebteste Künstleragentin geworden, die es im europäischen Raum geben mochte.