Verhaltensaufbau und -aktivierung - Jürgen Hoyer - E-Book

Verhaltensaufbau und -aktivierung E-Book

Jürgen Hoyer

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Beschreibung

Verhaltensaufbau und Verhaltensaktivierung sind klassische verhaltenstherapeutische Methoden, die darauf abzielen, das Auftreten von Verhaltensweisen, die verstärkend wirken, im Alltag zu erhöhen. Sie stellen häufig die Ausgangsbasis für die weiteren Schritte in der Therapie und für eine erfolgreiche Behandlung dar. Ziel ist es, Patienten in die Lage zu versetzen, sich unabhängig von aktuellen Stimmungen für alltägliche Handlungen zu motivieren und damit eine Form der Emotionsregulation zu erlernen. Im Bereich der Depressionsbehandlung zählt Verhaltensaktivierung zu den Standards der Psychotherapie. Mit der stimmungsaufhellenden und stabilisierenden Wirkung von verstärkenden Aktivitäten kann typischen depressiven Symptomen, wie z.B. Rückzug, Passivität und Antriebsminderung, entgegengetreten werden. Zahlreiche neuere Studien zeigen zudem, dass sich ihr Wirkspektrum auch für andere Störungen und Anwendungsbereiche erfolgreich nutzen lässt. Der Band beschreibt die Methode der Verhaltensaktivierung, informiert über deren Wirkungsweise und erläutert ihre konkrete Umsetzung in der klinischen Praxis.

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Jürgen Hoyer

Lena V. Krämer

Verhaltensaufbau und ‑aktivierung

Standards der Psychotherapie

Band 8

Verhaltensaufbau und ‑aktivierung

Prof. Dr. Jürgen Hoyer, Dr. Lena V. Krämer

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Begründer der Reihe:

Martin Hautzinger, Kurt Hahlweg, Jürgen Margraf, Winfried Rief

Prof. Dr. Jürgen Hoyer, geb. 1958. 1977–1984 Studium der Psychologie in Göttingen. 1984–1987 Therapeutischer Mitarbeiter in der Forensischen Psychiatrie. Ausbildungen in Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie. 1987–1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschulassistent an der Universität Frankfurt. 1992 Promotion. 1999 Habilitation. Seit 1999 am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden, dort Leiter der Institutsambulanz und Tagesklinik für Psychotherapie, und seit 2013 Inhaber der Professur für Behaviorale Psychotherapie.

Dr. Lena V. Krämer, geb. 1983. 2002–2008 Studium der Psychologie in Freiburg. 2008–2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie sowie der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Freiburg. 2013 Promotion. Seit 2013 Akademische Rätin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg. 2019 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie).

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2021

© 2021 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2984-7; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2984-8)

ISBN 978-3-8017-2984-4

https://doi.org/10.1026/02984-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einführung in die Interventionsmethode

1.1 Beschreibung der Methode

1.2 Allgemeine Interventionsprinzipien

1.3 Entwicklungsgeschichte und Varianten

1.4 Behandlungsvorbereitende Technik versus störungsspezifische Methode

1.5 Menschenbild und Krankheitskonzept

2 Theorien und Erklärungskonzepte

2.1 Aktivitätsminderung, Antriebsverlust und Anhedonie bei Depression

2.2 Verstärkerverlusttheorie

2.3 Health Action Process Approach (HAPA)

2.4 Persönlichkeit und Verhaltenskontrolle

2.5 Verwandte Konzepte: Ikigai

2.6 Verwandte Konzepte: Genusstraining

3 Diagnostik und Indikation

3.1 Indikationsstellung und selektive Indikation

3.2 Wann ist Verhaltensaktivierung indiziert – jenseits der Depression?

3.3 Spezielle Zielgruppen

3.3.1 Einsatz bei Älteren

3.3.2 Einsatz bei chronischer körperlicher Erkrankung

3.4 Diagnostische Verfahren

3.5 Kontraindikationen

4 Behandlungspraxis

4.1 Grundlegende Herangehensweise

4.1.1 Therapeutenverhalten

4.1.2 Kein Lernen ohne Üben

4.2 Die Therapiemethode im Überblick

4.3 Aufklärung und Aufbau von Therapiemotivation

4.3.1 Psychoedukation, Benennung diagnostischer Ergebnisse und zentraler Probleme

4.3.2 Vermitteln des Therapierationals

4.3.3 Stimmungs-/Aktivitätsprotokolle

4.3.4 Steigerung der Selbstwirksamkeit

4.4 Zielaktivität bestimmen

4.4.1 Liste positiver Aktivitäten

4.4.2 Stimmungsprotokolle

4.4.3 Werteorientierte Aktivitäten

4.4.4 Aktivität statt Grübeln und Vermeiden

4.4.5 Aufbau sozialer Beziehungen

4.4.6 Körperliche Aktivierung

4.5 Aktivitätenplanung

4.5.1 Einen Verhaltensplan aufstellen

4.5.2 Wochenplan

4.5.3 Umsetzungsversuch

4.6 Umgang mit Barrieren

4.6.1 Identifikation von Barrieren

4.6.2 Strategien zum Umgang mit Barrieren

4.6.3 Umsetzungsversuche

4.7 Aufrechterhaltung der Aktivität

4.7.1 Umgang mit Misserfolg: Normalisierung und Blick nach vorne

4.7.2 Umgang mit Erfolg: Selbstverstärkung

4.7.3 Flexibilisierung der Zielaktivität

4.8 Kombination mit anderen Methoden und Techniken

5 Einsatzbereiche

5.1 Einzel- versus Gruppentherapie

5.2 Ambulantes versus stationäres Setting

5.3 Internet- und mobilebasierte Interventionen

6 Evidenzlage und wissenschaftliche Beurteilung

6.1 Wissenschaftliche Studien zur Verhaltensaktivierung

6.2 Wirkmechanismen der Verhaltensaktivierung

6.3 Ungeklärte Fragen

7 Anwendungsbeispiele

7.1 Behandlung einer Depression mit starkem Überforderungserleben

7.2 Behandlung einer Depression mit starken Rückzugstendenzen

7.3 Behandlung einer Depression bei körperlicher Erkrankung

8 Ausblick

9 Weiterführende Literatur

10 Literatur

11 Kompetenzziele und Lernkontrollfragen

12 Anhang

Rückzugsspirale

Aktivierungsspirale

Aktivitäten- und Stimmungsprotokoll

Liste positiver Aktivitäten

Lebensbereiche und ihre Wichtigkeit

Übung Werte sortieren

Werte- und Aktivitäten-Kompass

Mein Verhaltensplan

Wochenplan

Innere und äußere Barrieren

|1|Vorwort

Viele Menschen leiden unter einem Mangel an Antrieb, an Interessenverlust oder Freudlosigkeit. Sie leiden unter Passivität, Entscheidungsschwierigkeiten oder fortgesetztem Grübeln. Jede neue Handlung scheint zu einer Last zu werden und sie ziehen sich auch aus sozialen Aktivitäten zurück. Man möchte ihnen zurufen „just do it!“ – aber Dinge einfach anzugehen und auszuprobieren, das fällt gerade Menschen mit depressiven Symptomen besonders schwer. Denn die Kompetenzen, sich auf eine Aufgabe zu fokussieren, sich realistische Ziele zu setzen und diese tatsächlich umsetzen, sind geschwächt.

Die psychotherapeutische Standardmethode, um diese Kompetenzen zu vermitteln oder „wiederzubeleben“, heißt „Verhaltensaktivierung“. Synonym werden auch die Begriffe „Verhaltensaufbau“ oder „Aktivitätenaufbau“ verwendet. Während Techniken der Verhaltensaktivierung lange Zeit nur als eine Teilkomponente der kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz kam (z. B. in Kombination mit kognitiver Umstrukturierung), hat sich die Verhaltensaktivierung heute als alleinstehende Behandlungsform etabliert, die weltweit eingesetzt und beforscht wird. Entgegen dem nachvollziehbaren Wunsch vieler Patienten, die bestehenden Probleme in der Therapie umfassend zu analysieren und zu lösen, wird in der Verhaltensaktivierung ein dem entgegengesetzter Ansatz gewählt, der nicht am Problem, sondern an der Lösung ansetzt: Dem „Prinzip der kleinen Schritte“ folgend, wird ein kleines Erfolgserlebnis an das nächste gereiht, bis Stimmung und Aktivitätsrate sich verbessert haben und die natürlichen psychologischen Ressourcen wieder verfügbar sind.

Wir sind den Herausgebern und der Herausgeberinnen der Reihe „Standards der Psychotherapie“ und namentlich Prof. Dr. Martin Hautzinger, der uns bei diesem Band tatkräftig unterstützt hat, dankbar für die Chance, den Ansatz der Verhaltensaktivierung hier vor dem Hintergrund der aktuellen Literatur und gleichzeitig praxisnah darstellen zu können. Unsere Auffassung ist, dass gerade bei Depressionen und verwandten Syndromen möglichst einfache Hilfestellungen zu bevorzugen sind, die für Patienten leicht verständlich und umsetzbar sind. Dafür möchten wir mit dem vorliegenden Band zahlreiche Anregungen geben.

Unser Dank gilt auch Paula Frei, Lea Heinrich und Lena Keinhorst (Abteilung Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg) für |2|ihre Unterstützung bei der Erstellung von Grafiken und dem Einpflegen von Referenzen sowie Dipl.-Psych. Christin Thurau (Institutsambulanz und Tagesklinik der TU Dresden) für das Bereitstellen eines klinischen Fallbeispiels.

Dresden und Freiburg im August 2020

Jürgen Hoyer

und Lena V. Krämer

|3|1 Einführung in die Interventionsmethode

Der Aufbau verstärkungswirksamen Verhaltens bzw. die Verhaltensaktivierung ist eine klassische verhaltenstherapeutische Methode, die auf Theorien operanten Lernens beruht. Sie zielt auf die Erhöhung der Rate verstärkungswirksamer Verhaltensweisen im Alltag ab und wirkt damit typischen depressiven Symptomen wie Rückzug, Passivität, Antriebsminderung und Anhedonie auf komplementäre Weise entgegen.

Sie ist im Bereich der Depressionsbehandlung zu den Standards der Psychotherapie zu zählen. Zahlreiche neuere Studien zeigen zudem, dass sich ihr Wirkspektrum auch für andere Störungen und Anwendungsbereiche erfolgreich nutzen lässt (vgl. z. B. Acierno et al., 2016). Hierzu zählen z. B. so verschiedene Störungsbilder und Indikationsbereiche wie Posttraumatische Belastungsstörungen, Generalisierte Angststörungen, chronische Erschöpfung, demenzielle Entwicklungen, Raucherentwöhnung oder Adipositas. Zudem ist bei Störungen wie chronischen Schmerzsyndromen, Erschöpfungssyndromen oder somatischen Belastungsstörungen Verhaltensaktivierung ein häufiges Therapieziel.

Im Vergleich mit den kognitiven Methoden (Hautzinger & Pössel, 2017) wird die Verhaltensaktivierung – bei in etwa gleicher Wirksamkeit (vgl. Kapitel 6.1) – von vielen internationalen Autoren als einfacher lern- und lehrbar angesehen. Ihre Eignung auch für die Behandlung schwer depressiver Patientinnen und Patienten, auch in stationärer Psychotherapie, ist empirisch gut belegt. Gleichzeitig ist die stimmungsaufhellende und stabilisierende Wirkung von verstärkenden Aktivitäten durch psychologische Grundlagenforschung untermauert (vgl. z. B. Oertel & Matura, 2017). In der Lage zu sein, sich unabhängig von aktuellen Stimmungen für alltägliche Handlungen zu motivieren, kann als basale Kompetenz der Emotionsregulation angesehen werden (Magidson, Roberts, Collado-Rodriguez & Lejuez, 2014).

In Deutschland kann die Verhaltensaktivierung dennoch als unterrepräsentiert gelten. Ihr Wert für die Depressionsbehandlung und für die Psychotherapieausbildung wurde lange unterschätzt, das Stichwort „Verhaltensaktivierung“ fehlt in Fachwörterbüchern, und in den wichtigsten Lehrbüchern für Klinische Psychologie und Psychotherapie suchte man ein Kapitel zur Verhaltensaktivierung vergebens. Dies ändert sich in den letzten Jahren (Hoyer & Teismann, in Druck; Hoyer & Vogel, 2018) insbesondere wegen der überzeu|4|genden Erneuerung der Methode durch jüngere amerikanische Autoren (Kanter, Busch & Rusch, 2009; Lejuez, Hopko, Acierno, Daughters & Pagoto, 2011; Martell, Addis & Jacobson, 2001; Martell, Dimidjian & Hermann-Dunn, 2010). In der internationalen Depressionsforschung wird die Verhaltensaktivierung (engl. Behavioral Activation) von vielen Autoren als eigenständige Therapieform (neben der kognitiven Verhaltenstherapie) betrachtet. Die Karte in Abbildung 1 zeigt, dass vor allem in anglo-amerikanischen Ländern zur Verhaltensaktivierung geforscht wird, aber auch, dass der Ansatz in Deutschland unterproportional aufgegriffen wird. Die relativ große Bedeutung in Japan sehen wir in Zusammenhang mit der japanischen Lebensphilosophie, die wir in Kapitel 2.5 vertiefen.

Abbildung 1: Publikationen zum Thema Verhaltensaktivierung von 2012 bis 20171

Wir freuen uns, wenn das vorliegende Buch einen Beitrag dazu liefern kann, die Interventionsmethode „Verhaltensaktivierung“ in der Praxis und Ausbildung der Psychotherapie noch bekannter und ihren großen Nutzen auch im deutschsprachigen Raum noch besser zugänglich zu machen.

1.1 Beschreibung der Methode

Verhaltensaktivierung ist neben kognitiver Umstrukturierung die klassische Methode zur Behandlung depressiver Erkrankungen. Sie setzt unmittelbar an |5|den Symptomen der Depression an, die von den Betroffenen als besonders beeinträchtigend empfunden werden: sozialer Rückzug, Interessenverlust, Inaktivität und Anhedonie. Die Verhaltensaktivierung berücksichtigt damit die Stimmungslage von depressiven Patienten in besonderem Maße. Denn was brauchen depressive Patienten in der Therapie am meisten? Es sind – vor allem in der schweren Depression und am Anfang der Therapie – nicht die komplexen, kognitiv anspruchsvollen Methoden oder stark auf Reflexion und Einsicht basierende Interventionen, sondern einfache, klar nachvollziehbare Behandlungsschritte.

In schweren depressiven Episoden können kognitive Methoden den anhedonischen, konzentrationsgeschwächten Patienten schnell überfordern, wohingegen einfache, verhaltensorientierte Vorgehensweisen noch umgesetzt werden können. Nicht umsonst ist Aktivierung auf vielen psychiatrischen Depressionsstationen die Maßnahme der ersten Wahl. Hinzu kommt, dass eine initiale Reduktion der oben genannten Symptome eine wichtige Voraussetzung für die Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen und Schemata im Rahmen der weiteren psychotherapeutischen Behandlung darstellt. Für viele Depressionsexperten ist deshalb die Verhaltensaktvierung der erste und wichtigste Schritt in der Depressionsbehandlung. Auch im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie spielt die Verhaltensaktivierung eine wichtige Rolle: Wie ausgeprägt diese ist, hängt aber stark von der Prioritätensetzung einzelner Autoren ab. In der ursprünglichen Konzeption der kognitiven Therapie der Depression nach Beck (A. T. Beck, Rush, Shaw & Emery, 1979) wird betont, wie wichtig „mastery and pleasure“, also das Bewältigen und die Befriedigung dadurch, sind. In anderen grundlegenden Werken wird Verhaltensaktivierung jedoch nicht (mehr) erwähnt (J. S. Beck, 1999; A. T. Beck & Bredemeier, 2016).

Verhaltensaktivierung bedeutet, wie der Name schon sagt, die Aktivitätsrate von Patienten zu erhöhen und gegen Symptome des Rückzugs und der Antriebslosigkeit anzugehen. Der Vollzug alltäglicher, gut zu bewältigender Verhaltensweisen und die damit einhergehenden Verstärkungswirkungen motivieren den Patienten und unterstützen beim Wiederaufbau eines gesunden Aktivitätsniveaus. Verhaltensweisen, die aufgebaut werden, können ganz unterschiedlicher Art sein. Angefangen beim Spaziergang um das Klinikgelände über ein Kaffeetrinken mit alten Bekannten bis hin zur Wiederbelebung früher ausgeübter Hobbys sind alle Aktivitäten, die den Patienten aus seinem aktuellen Rückzugs- und Vermeidungsverhalten befreien, als positiv zu bewerten. Sportliche und bewegungsbezogene Aktivitäten sind oft ein wesentlicher Baustein, sie sind aber mit der Verhaltensaktivierung keineswegs gleichzusetzen, und die Orientierung an der intrinsischen Motivation und seinen persönlichen Werten hat sich als wesentlich herausgestellt (vgl. Kapitel 4.3.4).

|6|Die Grundannahme der Verhaltensaktivierung besagt, dass die Aufnahme von verstärkenden Aktivitäten den Patienten wieder in Kontakt mit positiven, internen und externen Verstärkern bringt. Er erhält Bestätigung aus seinem Umfeld, ihm gelingen Aufgaben und seine Stimmung verbessert sich in der Folge der positiven Erfahrungen, während zuvor Vermeidung und Rückzug – als Ausdruck der psychopathologischen Belastung – im Vordergrund standen. Neuere Konzeptionen der Verhaltensaktivierung (Lejuez, Hopko & Hopko, 2001; Martell, Dimidjian & Herman-Dunn, 2010) betonen dabei auch die Ziel- und Werteorientierung der Verhaltensaktivierung. Durch die Umsetzung von als wichtig erachteten Aktivitäten erleben die Patienten eine Verbindung zu ihren Werten und erleben ihr Handeln als sinnvoll. Durch die Betonung von Werten, ein Konstrukt, das zuvor in der Verhaltenstherapie nur bedingt gewürdigt worden war, erhielt die Methode in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt Aufmerksamkeit bei praktizierenden Therapeuten. Die moderne „werteorientierte Verhaltensaktivierung“ wird auch als Verfahren der „dritten Welle“ der Verhaltenstherapie diskutiert.

Das Verfahren ist ursprünglich zur Behandlung der Depression entwickelt worden. Rückzug, Resignation und Vermeidungsverhalten ist aber nicht nur bei Depressionen typisch, sondern auch Ausdruck zahlreicher anderer Störungsbilder. Die Ausrichtung auf Aktivierung und positive Verstärkung bewährt sich auch bei diesen, worauf wir weiter unten vertiefend eingehen.

1.2 Allgemeine Interventionsprinzipien

Die allgemeinen Interventionsprinzipien der Verhaltensaktivierung sind für Therapeuten einfach und schnell zu erlernen. Dies gilt für Psychotherapeuten, aber auch Vertreter anderer Berufsgruppen wie Krankenpfleger oder Laienberater.

Durch die strikte Verhaltensorientierung erfordert das Verfahren keine vertiefte Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsstrukturen und Schemata, was insbesondere Berufsanfängern einen niederschwelligen Einstieg in die psychotherapeutische Tätigkeit erleichtert. Folgende Annahmen und Prinzipien der Verhaltensaktivierung können in Anlehnung an Martell und Kollegen (2010; siehe auch Hoyer & Vogel, 2018) beschrieben werden:

Allgemeine Annahmen und Prinzipien der Verhaltensaktivierung

Rückzug aus Aktivitäten und Verstärkerverlust sind aufrechterhaltend für die Depression.

Der Fokus der Therapie liegt auf dem (Wieder-)Aufbau von Aktivitäten.

Die Therapie richtet sich nach den individuellen Zielen des Patienten.

|7|Konkrete Planungen und Selbstbeobachtungen ermöglichen die Verhaltensumsetzung.

Es gilt das Prinzip der kleinen Schritte: Veränderungen sind einfacher, wenn man klein anfängt.

Handeln nach Plan und nicht nach Stimmung: Aktivitäten sollen nach Plan, nicht nach Stimmung strukturiert und festgelegt werden.

Mögliche Barrieren der Verhaltensänderung sollten antizipiert und überwunden werden.

Probieren geht über Studieren: Bei einem empirischen Problemlöseansatz sind alle Arten von Ergebnissen wichtig.

Der Therapeut übernimmt die Rolle des Coaches und „Cheerleaders“: Handle wie ein Coach, der ermutigt und stützt, aber auch fordert.

Entscheidend ist dabei, dass es nicht um ein „Mehr an allem“ geht, sondern um ein „Mehr des Richtigen und Wichtigen“. So kann Verhaltensaktivierung auch die geeignete Methode für den chronisch überarbeiteten Workaholic sein, der jeden Tag scheinbar zu 150 % aktiv ist. Denn es geht nicht um den ziellosen Aufbau irgendeiner Aktivität; es geht um den Aufbau jener Aktivitäten, die im Dienst der eigenen Werten stehen und deshalb depressionsmindernd wirken.

Dies impliziert den Abbau depressionsfördernden, z. B. überfordernden oder vermeidenden Verhaltens. Auch überzogenem emotionsfokussiertem Verhalten, Perseverationen, Grübelketten und klagsamen Verhalten ist mit einem Blick auf die verbliebenen Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung des eigenen Alltags oft gut zu begegnen.

Bei den meisten depressiven Patienten geht es um den Abbau von Rückzugsverhalten, das oft als Reaktion auf initiale Stimmungsprobleme zu verstehen ist. Die Stimmungsprobleme selbst sind wiederum oft auf negative Ereignisse, wie z. B. Misserfolge, Trennungen oder Kränkungen, zurückzuführen.

Ähnlich ist es auch bei Frau Grün und Frau Peters, den beiden ersten Fallbeispielen aus Tabelle 1. Dieselben Prinzipien gelten aber auch für Herrn Kander, der statt eines offensichtlichen Rückzugsverhaltens ein (hier nur vermeintlich) produktives Verhalten (Arbeiten) abbauen muss, um wieder mehr Raum für positive, verstärkende Aktivitäten zu haben. Die aufgebauten Aktivitäten müssen nicht unbedingt „freudvoll“ oder per definitionem „positiv“ sein. Der entscheidende Punkt ist: Nachdem man (zum Beispiel) den Müll heruntergetragen hat, fühlt man sich besser (oder zumindest weniger schlecht) und gleichzeitig wurden depressogene Verhaltensweisen wie das negative repetitive Denken oder die Inaktivität zumindest für einen Moment unterbrochen. Damit sind die Voraussetzungen für weitere verstärkungswirksame Handlungen sofort besser!

|8|Tabelle 1: Unterschiedliche Beispiele für zu aktivierendes Verhalten

Fallbeispiel

Derzeitiges Verhalten

Zielverhalten

Frau Grün:

65, verwitwet, wohnt allein auf dem Land, erwachsene Kinder, ehemals Lehrerin (pensioniert seit einem halben Jahr).

Ganztags Rückzug in die Wohnung; schlafen, lesen, warten auf das nächste Wochenende, an dem die Kinder zu Besuch kommen.

Aufbau von Tagesstruktur

Aufbau von Hobbys und Kontakten

Engagement im Ehrenamt

Frau Peters:

37, Single, Bürokauffrau, ausgeheilte Brustkrebserkrankung (Zustand nach brusterhaltender Operation und Bestrahlungsbehandlung).

Nach Feierabend Rückzug in die Wohnung, Beschäftigung mit der Erkrankung und ihren Folgen, Flucht in Fernsehserien.

Aufbau von sozialen Kontakten

Aufbau körperlicher Aktivität

Herr Kander:

42, Familienvater, Abteilungsleiter, lebt in der Großstadt, Konflikte mit der Ehefrau.

Flucht in die Arbeit, 60-Stunden-Woche, „Samstag = Kindertag“.

Aufbau von Regenerationszeiten

Aufbau von selbstfürsorglichen Aktivitäten

1.3 Entwicklungsgeschichte und Varianten

Die Therapiemethode der Verhaltensaktivierung wurde erstmals Anfang der 1970er Jahre durch Autoren wie Peter Lewinsohn und Charles Ferster beschrieben (Ferster, 1973; Lewinsohn, 1974). Die Wirksamkeit eines gezielten Aufbaus verstärkender Aktivitäten bei depressiven Patienten konnte bereits wenige Jahre darauf nachgewiesen werden (Taylor & Marshall, 1977; Zeiss, Lewinsohn & Muñoz, 1979).

Im Rahmen der kognitiven Wende – prominent vertreten durch Aaron T. Beck (A. T. Beck et al., 1979) – wurden rein behaviorale Therapiekonzepte wie die Verhaltensaktivierung jedoch durch kognitiv-behaviorale Ansätze abgelöst, da diese als ganzheitlicher und wirksamer angesehen wurden (Kanter et al., 2010). Gleichwohl wurde die Annahme der schwächeren Wirksamkeit der reinen Verhaltensaktivierung nie mit Studien belegt.

Mitte der 1990er Jahre erlebte die Verhaltensaktivierung einen erneuten Aufschwung. Eine wegweisende, methodisch aufwendige Dismantling-Studie (Jacobson et al., 1996) zeigte, dass die reine Verhaltensaktivierung bei depressiven Störungen ebenso wirksam ist wie die therapeutische Kombination von kognitiven und behavioralen Elementen (vgl. Tabelle 2). Seither steht die Ver|9|haltensaktivierung insbesondere im US-amerikanischen Raum wieder verstärkt im Fokus der Forschung, wird beständig weiterentwickelt und gilt als empirisch bewährte Depressionsbehandlung mit der besten Bewertung, z. B. in den NICE Guidelines, den Leitlinien der britischen Gesundheitsbehörde.

Tabelle 2: Dismantling-Studie von Jacobson et al. (1996)

Studiendesign

Randomisiert-kontrollierte Studie (RCT).

Vergleich von drei Therapiegruppen (jeweils 20 Sitzungen)

Verhaltensaktivierung: z. B. Aktivitätenmonitoring, Aktivitätenplanung, Aufbau sozialer Kompetenzen.

Verhaltensaktivierung und Modifikation von automatischen Gedanken: zusätzlich z. B. Gedankenprotokoll, kognitive Umstrukturierung, Verhaltensanalyse.