Verkannte Arbeit - Andreas Rieger - E-Book

Verkannte Arbeit E-Book

Andreas Rieger

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Beschreibung

Sechzig Prozent der Beschäftigten in der Schweiz arbeiten im privaten Dienstleistungssektor. In der öffentlichen Wahrnehmung werden sie dem Mittelstand zugerechnet. Doch diese Vorstellung eines sozialen Aufstiegs ist für die Mehrheit eine Illusion, wie Vania Alleva, Andreas Rieger und Pascal Pfister mit empirischem Material belegen. Löhne und Arbeitsbedingungen im dritten Sektor sind oft schlechter als in Gewerbe und Industrie. Im öffentlichen Bewusstsein präsent sind vor allem Banker und Informatiker, kaum aber Verkäuferinnen, Chauffeure, Pflegerinnen oder Kellnerinnen und Kellner. Sie sind die stillen Schaffer. Ohne sie kämen die Arbeiter nicht in die Fabriken und die Waren nicht an die Konsumenten. Ohne sie gäbe es in den Gaststätten kein Essen und Kranke würden nicht versorgt. Zu lange wurden sie von den Schweizer Gewerkschaften ignoriert. Die Unia versucht, diese gewerkschaftliche Wüste zu begrünen. Die Autoren geben in diesem Buch einen Überblick über eine Vielzahl von Aktionen, in denen Dienstleistende gemeinsam den Kampf aufnahmen.

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Andreas Rieger, Pascal Pfister, Vania Alleva

Verkannte Arbeit

Andreas Rieger

Pascal Pfister

Vania Alleva

Verkannte Arbeit

Dienstleistungsangestelltein der Schweiz

Dank

Danken möchten wir zuallererst den aktiven Vertrauensleuten aus den Tertiärbranchen der Unia, mit denen wir in Hunderten von Gesprächen viele der Gedanken dieses Buches entwickelt haben. Einige von ihnen haben sich auch für die Interviews zur Verfügung gestellt.

Ebenso danken wir unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Unia und anderen Gewerkschaften.

Schliesslich danken wir den vielen Fachpersonen, die uns beraten haben. Namentlich erwähnt seien Alessandro Pelizzari, Carlo Knöpfel, Christine Michel, Daniel Oesch, Eva Geel, Mauro Moretto, René Levy, Robert Fluder, Ueli Mäder, Walter Schöni und Werner Bosshard, die uns wichtige Feedbacks gegeben haben.

© 2012 Rotpunktverlag

www.rotpunktverlag.ch

Redaktion: Michael Stötzel

Umschlagfotos: Mit freundlicher Genehmigung der Unia.

978-3-85869-509-3 E-Book

978-3-85869-510-9 Mobi

Inhalt

Einleitung

1. Tertiarisierung in der Schweiz

Die Verlagerung der Beschäftigung in den Dienstleistungssektor

Die Branchen des Dienstleistungssektors

Die Ausweitung der Frauenerwerbsarbeit

Wachsende Arbeitsmigration

Diskussion: »Die grosse Hoffnung«

2. Die soziale Lage der Dienstleistungsangestellten

1,9 Millionen Beschäftigte mit »unteren Löhnen«

Oft prekäre Arbeitsbedingungen

Diskussion: Der Fahrstuhl blieb stecken

3. Wahrnehmung und Bewertung der Dienstleistungsarbeit

Die Gesprächspartnerinnen und -partner

Charakter der Dienstleistungsarbeit

Unbeachtet und nicht wertgeschätzt

Gesellschaftliche Verortung

Diskussion: Die namenlose Klasse

4. Die Mittelstandsillusion

Allumfassende Mittelschicht?

»Klassenkampf existiert. Klar.«

Nichts als die Arbeitskraft

Diskussion: Die Entstehung von Klassen

5. Geschichte der Organisierung im privaten Tertiärsektor

Organisierungsansätze im Tertiärsektor bis zum Ersten Weltkrieg

Radikalisierung und gewerkschaftliche Organisierung 1918

Von der Anerkennung zur Integration der Gewerkschaften

Seit den 1980er-Jahren: Aufbruch und Syndikalisierung

Diskussion: Ein neuer Zyklus der gewerkschaftlichen Organisierung

6. Zukunft der Gewerkschaften im privaten Dienstleistungssektor

Gewerkschaftliche Organisierung im europäischen Umfeld

Projekte der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst

Das Projekt Unia

Den eingeschlagenen Weg weitergehen

Anhang

Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen im privaten Dienstleistungssektor

Literatur (Auswahl)

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Über 70 Prozent der schweizerischen Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor. Von diesen verdienen zwei Drittel weniger als 6000 Franken im Monat. Sie kommen selten in den Blick, obgleich alle Welt von der »Dienstleistungsgesellschaft« redet. Als Dienstleister im öffentlichen Bewusstsein präsent sind Banker, Informatiker und Lehrerinnen, kaum aber Reiniger, Verkäuferinnen, Chauffeure oder Pflegerinnen. Ihre Arbeit steht nicht im Fokus des öffentlichen, wissenschaftlichen oder journalistischen Interesses. Dabei stellen sie die Mehrheit der Dienstleistungsangestellten. Diese Gruppe der Beschäftigten hat kein öffentliches Gesicht. Sie hat nicht einmal einen allgemein geläufigen Namen. Diese Menschen und ihre Arbeit ins rechte Licht zu rücken, ist eines der Ziele des vorliegenden Buches.

Die Tertiarisierung, also die enorme Ausweitung der Dienstleistungsbeschäftigung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, ist eine Tatsache, auf die in vielen aktuellen Gesellschaftsanalysen Bezug genommen wird. Sie hat das Alltagsbewusstsein erreicht. So sehr, dass viele denken, die Arbeiterschaft sei ausgestorben und wir lebten in einer Mittelschichtsgesellschaft. Leider werfen aber nur wenige einen vertieften Blick auf die reale Basis der Dienstleistungsarbeit. Die meisten Vorstellungen von ihr basieren deshalb eher auf Fantasie denn auf Tatsachen. Nicht alle Dienstleistenden sind auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben geklettert, wie sich dies frühere Analytiker der Tertiarisierung erhofft hatten. Vielmehr sind gerade grosse Teile der Beschäftigten des Dienstleistungssektors den Prekarisierungstendenzen der letzten Jahre ziemlich schutzlos ausgeliefert. Sie verdienen oftmals weniger als ihre Kollegen auf dem Bau, in Industrie und Gewerbe. Sie sind von Aufstiegschancen abgeschnitten, und ihre Arbeitsbedingungen beeinträchtigen Privatleben und Gesundheit stark.

Die Arbeit der Mehrheit der Dienstleistungsangestellten ist in einem doppelten Sinn verkannt. Sie wird nicht nur schlecht entgolten, sondern sehr oft nicht wertgeschätzt, ja manchmal verachtet. Man weiss wenig über ihre Arbeit und hält sie für unwichtig. Dabei würde die Gesellschaft ohne sie stillstehen. Die stillen Schafferinnen und Schaffer in den Dienstleistungsbranchen sind für das Funktionieren der Wirtschaft ebenso wichtig wie die Produktions- und Kopfarbeiter. Ohne Transportpersonal würden weder die Arbeiter in die Fabriken noch die Waren an die Verkaufsorte kommen. Ohne Verkäuferinnen und Verkäufer würde alles in den Regalen liegen bleiben. Wer verpflegt die Mitarbeiter in der Kantine? Wer sorgt für die Angehörigen im Alters- oder Pflegeheim? Wer hält die Büros sauber? Wer sorgt für sichere Lagerhallen? Wer bringt die Akademiker und technischen Experten rechtzeitig ans Meeting? Und wer pflegt die kranken Mitarbeitenden wieder gesund?

Die fehlende Anerkennung der Dienstleistungsangestellten hat verschiedene Gründe. Sie ist sehr stark mit der Ideologie der Mittelschichtsgesellschaft verknüpft. In der Fremdwahrnehmung, aber oft auch in der Selbstwahrnehmung werden die Dienstleistenden über einen Kamm geschoren und in der Mitte der gesellschaftlichen Hierarchie verortet. Sie gelten im Gegensatz zu den Arbeitern in Fabriken und auf Baustellen als Angestellte, als etwas Besseres. Doch das ist eine Illusion. Je länger, je mehr. Unsere Analyse zeigt ganz klar, dass die meisten Dienstleistenden sozial viel näher bei der Arbeiterschaft sind als bei den Mittelschichten.

Diese »Illusion des Besonderen« hat auch dazu geführt, dass die gewerkschaftliche Organisierung im Dienstleistungssektor weit hinter derjenigen in der Industrie und auf dem Bau zurückgeblieben ist. So sind lange keine wirkungsmächtigen Organisationen entstanden, die den Arbeitenden im dritten Sektor zu mehr Anerkennung hätten verhelfen können. Allerdings waren es auch die Kollegen und Funktionäre aus den Industrie- und Baugewerkschaften, welche die Entwicklung der Tertiarisierung nicht ernst genug genommen und somit in der Schweiz, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, den gewerkschaftlichen Aufbau im privaten Tertiärsektor verschlafen haben. Erst kurz vor der Jahrhundertwende begannen die Organisationen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes mit der Aufbauarbeit im privaten Tertiärbereich. Seither konnten einige Fortschritte erzielt werden, und die grösste Schweizer Gewerkschaft, die Unia, organisiert mittlerweile immerhin gegen 50 000 Beschäftigte aus dem privaten Dienstleistungssektor. Die Fortsetzung dieses Aufbaus bleibt aber eine der grossen Herausforderungen für die Schweizer Gewerkschaften.

Die Autorin und die Autoren arbeiten seit Jahren innerhalb der Unia bzw. ihrer Vorgängerorganisationen konkret am gewerkschaftlichen Aufbau und an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen im Dienstleistungsbereich. Mit dem vorliegenden Buch wollen wir einen Beitrag dazu leisten, das Wissen über die einzelnen Bereiche der privaten Dienstleistungsbeschäftigung und die damit verbundenen Arbeits- und Lebensbedingungen zu mehren.

In Kapitel 1 beschreibt Pascal Pfister die Tertiarisierung, die Hoffnung, welche mit ihr verbunden wurde, und die Entwicklung der verschiedenen Dienstleistungsbranchen in der Schweiz.

In Kapitel 2 untersuchen Andreas Rieger und Pascal Pfister auf empirischer Grundlage die Löhne. Es zeigt sich, dass zwei Drittel der Angestellten im Dienstleistungsbereich weniger als 6000 Franken im Monat verdienen, also keineswegs auch nur mittlere, geschweige denn hohe Löhne. Auch die Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen dieser Beschäftigten sind bescheiden.

Um den Dienstleistenden ein Gesicht zu geben, sie selbst zu Wort kommen zu lassen und die Wahrnehmung ihrer selbst zu hinterfragen, hat Pascal Pfister Interviews mit Gewerkschaftsmitgliedern aus Gastgewerbe, Verkauf, Museum, Transport und Sicherheit geführt. Sie erzählen in den Kapiteln 3 und 4 von ihrer Arbeit und davon, wie sie sich selbst und wie andere ihren Platz in der Gesellschaft sehen.

Die allgegenwärtige Rede von der Mittelstandsgesellschaft wird in Kapitel 4 von Andreas Rieger und Pascal Pfister genauer unter die Lupe genommen. Es zeigt sich, dass mit diesem Begriff Tatsachen verschleiert werden und es auch heute noch Klassen in der Gesellschaft gibt. Wie die Mehrheit der Industrie- und Bauarbeiter verfügen Dienstleistungsangestellte meist über nichts anderes als ihre Arbeitskraft. Sie sind völlig von der Lohnarbeit abhängig. Auch wenn die etwas besser verdienenden unter ihnen nicht schlecht leben, so handelt es sich um einen Wohlstand auf Abruf. Ein gemeinsames Bewusstsein über die soziale Lage hat sich aber bei den Angestellten im privaten Dienstleistungsbereich noch kaum herausgebildet.

Die Angestellten pflegten in der Geschichte lange die Illusion, etwas Besonderes zu sein, und organisierten sich, wenn überhaupt, in Berufsorganisationen und nicht in Gewerkschaften. Dies zeichnet Andreas Rieger in Kapitel 5 nach. Erst in den letzten zwanzig Jahren haben die Gewerkschaften ihre Aktivitäten im privaten Dienstleistungsbereich verstärkt. Insbesondere die Unia hat sich dies zur Aufgabe gemacht. Im Verlaufe des Jahrhunderts wandelten sich zudem mehrere bisher berufsständisch geprägte Arbeitnehmerverbände zu eher gewerkschaftlichen Organisationen und näherten sich dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund an.

Trotz den zaghaften Erfolgen steckt die Entwicklung eines Selbstverständnisses der Lohnabhängigen im privaten Dienstleistungssektor noch in den Anfängen und ebenso eine starke gewerkschaftliche Organisierung.

In Kapitel 6 richtet Vania Alleva den Blick auf die Zukunft. Welche Herausforderungen stellen sich der Gewerkschaftsbewegung? Wie sind die Erfahrungen in anderen Ländern Europas? Welche Ansätze lassen sich weiterverfolgen, und woran lässt sich anknüpfen? Was muss sich ändern, um die Arbeitsbedingungen und Lebenslagen der Lohnabhängigen auch in den privaten Dienstleistungsbranchen zu schützen und zu verbessern?

1. Tertiarisierung in der Schweiz

Die einst bäuerlich geprägte Schweiz erlebte in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung. Es entstand eine vielfältige Industrie, in der Textilien, Maschinen, Uhren, chemische Erzeugnisse und andere Produkte hergestellt wurden. 1900 zählte die Schweiz 1,6 Millionen Erwerbstätige, davon arbeiteten 0,7 Millionen in der Industrie und im Gewerbe – über 40 Prozent der Beschäftigten. 1960 betrug die Zahl der Erwerbstätigen dann insgesamt bereits 2,8 Millionen, davon weit über 40 Prozent in Industrie und Gewerbe. War bis dahin die Industrie der Hauptsektor, wurden nun die Dienstleistungen immer wichtiger. Immer mehr Menschen arbeiteten hinter Verkaufstheken und an Schreibtischen, am Telefon und später auch am Computer. Oder sie sorgten sich in der Freizeit- und Tourismusbranche um das Wohl der Kundinnen und Gäste. Sie bereiteten Informationen auf und stellten sie einer Gesellschaft zur Verfügung, in der Ausbildung und Wissen immer wichtiger wurden. Es brauchte auch immer mehr Personal, um die Pflege und das gesundheitliche Wohl der Menschen zu garantieren. Das Wachstum der Beschäftigung nach 1960 von 2,8 auf 4,5 Millionen im Jahr 2009 basierte ausschliesslich auf den Dienstleistungsbranchen. Zunehmend konnte die Nachfrage nach bezahlter Arbeitskraft nicht mehr mit Schweizer Männern gedeckt werden. Jetzt wurden Ausländer und vor allem auch Frauen rekrutiert. Der Anteil der Frauen an der Beschäftigung stieg von 33 (1960) auf 46 Prozent (2009).

Die Verlagerung der Beschäftigung in den Dienstleistungsbereich war Teil eines tief greifenden Prozesses. Die Tertiarisierung, wie diese Entwicklung auch genannt wird, vollzog sich in allen westlichen Industriestaaten. Sie prägte die Wahrnehmung von Politikern und Entscheidungsträgern in der Wirtschaft. Nicht mehr Handwerk, sondern Wissen und Information wurden als die Grundlagen der Wertschöpfung betrachtet.1 In Grossbritannien zum Beispiel waren 1970 47 Prozent der Beschäftigten in der Industrie und dem verarbeitenden Gewerbe tätig. 2007 waren es noch 14 Prozent!2 Diese De-Industrialisierung war in Deutschland und der Schweiz zwar weniger umfassend. Immerhin sank die Industriebeschäftigung aber auch in diesen beiden Ländern bis 2009 auf 23 Prozent. In der Schweiz gingen in der Krise der 1990er-Jahre in Bau und Industrie fast 200 000 Arbeitsplätze verloren. Das prägte das Bewusstsein. Volkswirtschaftlicher Erfolg schien so umso mehr vom Dienstleistungssektor abzuhängen: von den Banken und Versicherungen. Manche Zeitanalytiker schossen aber über das Ziel hinaus und erklärten die Industrie in der Schweiz zum Auslaufmodell.

Das ist »grosser Quatsch«, sagte der verstorbene Swatch-Gründer Nicolas Hayek in einem Interview mit der Gewerkschaftszeitung work. »Seit vier Jahrzehnten behaupten Banker und Betriebswirtschaftler, die Zeit der Handarbeit sei vorbei. Ohne Produktion sind wir vielleicht noch immer reich, für eine gewisse Zeit, aber wir sind dann ein abhängiges Land ohne eigene Kultur. Unsere grösste Stärke ist doch, dass wir Hand und Kopf zusammenarbeiten lassen.«3 Die Schweiz ist zweifellos eine Dienstleistungsgesellschaft geworden, aber eine industrialisierte Dienstleistungsgesellschaft. Darauf weist auch der grosse Theoretiker der Dienstleistungsgesellschaft, Manuel Castells, hin. Struktur und Dynamik der industriellen Tätigkeit spielten für die Gesundheit einer Dienstleistungswirtschaft eine wesentliche Rolle, schreibt er. Viele Dienstleistungen seien von ihrer Verknüpfung mit der Industrie abhängig. Manche würden auch direkt für Industrieunternehmen erbracht. Die industrielle Aktivität (nicht die Beschäftigung!) sei insofern weiterhin für die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung.4 Auch der Aussenhandel, so der Schweizer Historiker Hans-Jörg Gilomen, ist zu einem grösseren Teil Export und Import von Waren und industriellen Gütern.5 Dennoch: Immer mehr Menschen arbeiten in Dienstleistungsbranchen. 2009 waren es in der Schweiz 73,4 Prozent aller Beschäftigten. Sie verrichten Hand- und Kopfarbeit, befriedigen die verschiedensten Bedürfnisse und halten die Wirtschaft am Laufen.

Die Verlagerung der Beschäftigung in den Dienstleistungssektor

In amtlichen und wissenschaftlichen Statistiken wird die Wirtschaft üblicherweise in drei Sektoren unterteilt. Der erste oder primäre Sektor umfasst Tätigkeiten der Land- und Forstwirtschaft und der Rohstoffgewinnung (extraktive Tätigkeiten). Dem zweiten oder sekundären Sektor werden die güterproduzierenden Tätigkeiten in der Industrie, dem verarbeitenden Gewerbe und der Bauwirtschaft zugerechnet. Hier geht es um die Verarbeitung von Rohstoffen bzw. Rohprodukten zu Gebrauchsgütern (transformative Tätigkeiten). Im dritten oder tertiären Sektor werden die Dienstleistungen zusammengefasst. Darunter fallen ganz verschiedene Bereiche wie Handel, Gesundheit, Banken, Bildung, Verkehr oder Sicherheit.

Ein Blick auf die historische Statistik verdeutlicht die Bedeutungszunahme des dritten Sektors in der Schweiz. Seit den 1960er-Jahren ist der Anteil des dritten Sektors am Bruttoinlandprodukt (BIP) grösser als derjenige der beiden anderen Sektoren.6Darstellung 1 zeigt, dass der Tertiärsektor um 1970 auch bei der Beschäftigung die Führungsposition übernahm. Während in den letzten vierzig Jahren die Beschäftigung im zweiten Sektor schrumpfte, verdreifachte sie sich im Dienstleistungsbereich. Das heisst, 2009 arbeiteten dort fast zwei Millionen mehr Menschen als noch 1970. Eine immense Ausweitung!

Darstellung 1:Beschäftigte nach Sektoren in der Schweiz1960 bis 2008 (in Tausend)

Quelle: Bis 1980 Historische Statistik der Schweiz, ab 1990 BFS ETS.

Der Bedeutungsverlust der Industrie ist relativ zu sehen. Zwar ging die Beschäftigung auch absolut zurück, etwa um ein Fünftel von 1960 bis 2009. In Boomphasen stieg die Beschäftigung aber auch im Sekundärsektor, so in den 1980er-Jahren und auch im Aufschwung ab 2004. Bis zur Krise 2008 wurden 66 000 zusätzliche Personen angestellt. Allerdings gingen in den Krisenphasen der 1970er- und 1990er-Jahre weit mehr Arbeitsplätze verloren. Entscheidend ist aber, dass die Ausweitung der Beschäftigung von 2,8 Millionen 1960 auf 4,5 Millionen 2009 auf den Dienstleistungssektor zurückzuführen ist. 1960 umfasste dieser eine Million Beschäftigte, heute sind es mehr als dreimal so viele, nämlich 3,3 Millionen. Und im Aufschwung zwischen 2004 und 2008 wurden sage und schreibe 300 000 Frauen und Männer zusätzlich angestellt. Dazu kommt, dass auch immer mehr Stellen in der Industrie eigentlich Dienstleistungen beinhalten, aber statistisch dem zweiten Sektor zugerechnet werden. Die Beschäftigung im dritten Sektor wird also offensichtlich immer wichtiger. Was steckt dahinter?

Der Tertiarisierung liegt ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturwandel zugrunde. Im letzten Jahrhundert konnten in der Industrie wie zuvor in der Landwirtschaft gewaltige Produktivitätssteigerungen erreicht werden. Das heisst, das Verhältnis von eingesetzten Produktionsfaktoren (Arbeit, Maschinen, Rohstoffe) und produzierten Gütern wurde massiv verbessert. Oder anders gesagt: Die Unternehmen konnten mit weniger Arbeitern mehr Produkte herstellen. Die Tertiarisierung ist demnach Folge

– von technologischem Fortschritt, Automatisierungen und Rationalisierungen im zweiten Sektor, die zu einer Freisetzung der Arbeitskräfte führte.

– der Informatik-Revolution: Mit der Informatisierung und dem Computer setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Technologie durch, welche besonders im Dienstleistungssektor immense Rationalisierungspotenziale hervorbrachte. Vor allem machte sie erstmals massive Automatisierungsschübe in der Büroarbeit möglich, die vorher relativ rationalisierungsresistent war.

– von Outsourcing: Industrieunternehmen lagerten insbesondere seit den 1990er-Jahren zunehmend auch Dienstleistungstätigkeiten an rechtlich eigenständige Firmen aus. Früher gehörten die Beschäftigten in der Reinigung und Kantine, der Betriebsdruckerei, der Sicherheits- oder der Informatikabteilung zum Mutterbetrieb. Sie waren Teil der Belegschaft der industriellen Betriebe. Nach der Auslagerung wurden sie der Tertiärbranche zugeordnet.

– von Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung: Die zunehmende weltwirtschaftliche Integration im Zuge der Globalisierung führte zu einer verstärkten Arbeitsteilung auf globaler Ebene. Viele Produktionsprozesse, ja ganze Branchen wurden von den westlichen Ländern in Entwicklungs- und Schwellenländer ausgelagert, während oftmals nur noch die Verwaltungsund Entwicklungstätigkeiten im Westen zurückblieben.

Die Steigerung der Beschäftigung im dritten Sektor ist schliesslich durch Veränderungen auf der Nachfrageseite verursacht. Weil Industrieprodukte durch die Rationalisierungen günstiger wurden, blieb mehr Kaufkraft für Dienstleistungen übrig. Der gestiegene Wohlstand und die sozialen Fortschritte (steigende Einkommen, sinkende Arbeitszeit, Ferien) führten dazu, dass der »unersättliche Hunger nach Tertiärem«7 zunehmend gestillt werden konnte. Man denke beispielsweise an die Freizeit- und Tourismusindustrie.

Die Branchen des Dienstleistungssektors

In den Statistiken werden die unterschiedlichsten Tätigkeiten und Branchen als dritter Sektor zusammengefasst. Gemeint sind alle weder extraktiven noch transformativen Tätigkeiten. Diese Klassifizierung erschwert die Analyse der Dynamik im dritten Sektor. Verschiedene Autoren haben deshalb eine Differenzierung angeregt. Manuel Castells hat den tertiären Sektor in vier verschiedene Bereiche unterteilt:8

– distributive Dienstleistungen,

– produktionsbezogene Dienstleistungen,

– soziale Dienstleistungen,

– personenbezogene Dienstleistungen.

Darstellung 2:Schema der Dienstleistungsbereiche

Castells unterschlägt allerdings die Unterschiede zwischen staatlichen, nicht profitorientierten und privatwirtschaftlichen Arbeitgebern im Dienstleistungsbereich. Der staatliche Dienstleistungsbereich umfasst in der Schweiz hauptsächlich soziale und distributive Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, Verwaltung, Verkehr). Je nach Fragestellung haben die Kategorien »staatlich« und »privatwirtschaftlich« eine grössere oder geringere Bedeutung. Soweit die Unterschiede relevant sind, kommen wir darauf zurück. Die Einteilung nach Castells richtet sich nach dem Charakter der vollbrachten Dienstleistungen. Werden sie für Personen erbracht oder für Unternehmen? In welchem Zusammenhang stehen sie mit dem Produktionsprozess in der transformativen Wirtschaft? Auch diese Unterscheidung ist natürlich nicht immer eindeutig, aber sie hilft, die Dynamik innerhalb des Dienstleistungssektors klarer zu erfassen. Sie erlaubt zum Beispiel die Klärung der Frage, welche Branchen das Wachstum der Tertiärbeschäftigung in den letzten vierzig Jahren hauptsächlich getragen haben.

Darstellung 3 zeigt die Beschäftigtenanteile des zweiten Sektors und der Bereiche des Dienstleistungssektors 1960 und 2009. Die Beschäftigung im zweiten Sektor überragte 1960 noch jeden einzelnen Dienstleistungsbereich um ein Mehrfaches, zum Beispiel achtmal die sozialen Dienstleistungen und vierundzwanzigmal die Dienstleistungen an Unternehmen und Private. 2009 hingegen arbeiteten in diesen beiden Bereichen nahezu gleich viele Erwerbstätige wie im gesamten zweiten Sektor.

Darstellung 3:Erwerbstätige im Dienstleistungsbereich1960 und 2009 (in Tausend)

Quelle: Historische Statistik der Schweiz, BFS ETS.

In den letzten fünfzig Jahren verdreifachte sich die Anzahl der Erwerbstätigen im Handel beinahe. Die personenbezogenen Dienstleistungen haben sich mehr als verdoppelt. Die sozialen Dienstleistungen wiederum verfünffachten sich beinahe, die Dienstleistungen an Private und Unternehmen stiegen um das 15-Fache, währenddem Verkehr und Kommunikation sich etwas mehr als verdoppelten. In dieser Zeit stagnierte hingegen die Zahl der Staatsangestellten bei Bund, Kantonen und Gemeinden, was auch auf Auslagerungen und die (Teil-)Privatisierung von staatlichen Betrieben zurückzuführen ist. Die Detailbetrachtung der letzten fünfzig Jahre ergibt folgendes Bild (vgl. Darstellung 4):

– Distributive Dienstleistungen (Handel, Verkehr und Kommunikation): Der Handel erlebte einen ersten Beschäftigungsschub 1960 bis 1970 und dann vor allem 1980 bis 1990. In der Krise der 1990er-Jahre sank die Anzahl der Beschäftigten wieder um 68 000 Personen. Der Bereich dürfte kaum mehr wachsen, da neue Rationalisierungen bevorstehen. Im letzten Jahrzehnt kam es nur noch zu einer Zunahme von 36 000 Erwerbstätigen. Auch Verkehr und Kommunikation erlebten in den 1980er-Jahren einen kleinen Boom. Danach gab es jedoch praktisch kein Wachstum mehr.

– Die Beschäftigung im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen ging bis 1970 sogar zurück. Hier ist der Rückgang des hauswirtschaftlichen Personals in Rechnung zu stellen, immer weniger Bürgerfamilien konnten und wollten sich eine Hausangestellte leisten. Stark wuchs die Branche zwischen 1980 und 1990, als die Tourismus- und Freizeitindustrie sich ausweitete. In den neun Jahren nach 2000 gesellten sich immerhin 57 000 neue Erwerbstätige dazu, davon 12 000 im Bereich der Hauswirtschaft.

– Soziale Dienstleistungen: In diesem Bereich wuchs die Anzahl der Erwerbstätigen in all den Jahren relativ konstant. Dabei fiel auch hier das stärkste Wachstum in die zehn Jahre nach 1980. Der Boom bei den sozialen Dienstleistungen geht nicht nur auf das Gesundheits- und Sozialwesen, sondern auch auf das Unterrichtswesen zurück. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg auch in der öffentlichen Verwaltung, stagniert aber als Folge der Sparpolitik seit einiger Zeit wieder.

– Dienstleistungen für Unternehmen und Private: Dieser Bereich begann bereits 1970 stark zu wachsen, um in den 1980er-Jahren förmlich zu explodieren (fast 300 000 neue Jobs). Die 1990er Jahre führten auch in diesem Bereich zu einer starken Abschwächung des Wachstums. Ab 2000 kam es aber wieder zu einem starken Anstieg, dem stärksten aller Bereiche. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends entstanden hier 180 000 neue Arbeitsplätze. Waren 1960 gerade mal 56 000 Personen in diesem Bereich beschäftigt, erreicht er 2009 mit 819 000 Erwerbstätigen Augenhöhe mit der Industrie.

Darstellung 4:Zu- und Abnahme der Erwerbstätigen1970 bis 2009 (in Tausend)

Quelle: Bis 1980 Historische Statistik der Schweiz, ab 1990 BFS ETS.

Im Bereich der Dienstleistungen für Unternehmungen werden sehr verschiedene Tätigkeiten zusammengefasst,9 von der Arbeit in Architektur- und Ingenieurbüros über Wirtschaftsprüfung, Werbung, Personalvermittlung und Sicherheitsdienste bis zu Reinigung und der Arbeit in Callcenters. Die Zahl der Beschäftigten in diesem ständig wachsenden Bereich betrug im Jahr 2007 340 000. Es handelt sich also um sehr beschäftigungsrelevante Tätigkeiten.

– Den grössten Anteil von 24 Prozent hatten 2005 die Architektur- und Ingenieurbüros.

– An zweiter Stelle folgten bereits die Reinigungskräfte mit 16 Prozent.

– Dann folgen mit jeweils etwas mehr als 10 Prozent der Beschäftigten Wirtschaftsprüfer, Treuhänder, Unternehmens- und PR-Berater, sowie mit 9 Prozent Manager in Holdinggesellschaften.

– 6 weitere Prozent erbringen nicht weiter definierte sonstige unternehmensbezogene Dienstleistungen, etwa genau so viele arbeiten in der Rechtsberatung und in der Werbung.

– Wach- und Sicherheitsdienste beschäftigen 2005 beinahe 3 Prozent.

Die Entwicklung im staatlichen Teil des Dienstleistungssektors ist widersprüchlich. Die Zahl der Beschäftigten, die direkt bei Bund, Kantonen und Gemeinden angestellt sind, stieg zwischen 2000 und 2010 von 150 000 auf 184 000, was wenig ist. Gestiegen sind zudem, wenn auch weniger ausgeprägt als in Privatunternehmen, die Beschäftigtenzahlen der Staatsangestellten im Bereich Gesundheit, Bildung und bei anderen sozialen Dienstleistungen. Hingegen wurden auch viele staatliche Betriebe ausgelagert und (teil-)privatisiert mit der Konsequenz, dass einige Unterhaltsarbeiter und Dienstleistende, zum Beispiel Reinigungsequipen, in die Privatwirtschaft entlassen wurden.

Die Ausweitung der Frauenerwerbsarbeit