Verluste und Trauer würdigen – Impulse für die pflegerische Praxis - Katharina Rizza - E-Book

Verluste und Trauer würdigen – Impulse für die pflegerische Praxis E-Book

Katharina Rizza

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Beschreibung

Wenn schwer kranke Menschen tief in ihrem Inneren begriffen haben, dass ihr Leben akut bedroht ist und die kurativen Behandlungsmöglichkeiten ihre Grenze erreicht haben, beginnt ein schmerzlicher Trauerprozess. Gerade Pflegekräfte erleben durch ihren nahen Kontakt zu Kranken und Angehörigen viel von diesem Leid. Zu den eigentlichen Kernaufgaben professioneller Pflege gehören Gesundheitsförderung und -wiederherstellung sowie die Leidlinderung. Auch die Selbstwirksamkeit von Patient:innen wird gestärkt. Pflegerisches Handeln orientiert sich dabei an der Befindlichkeit und den Bedürfnissen der kranken Menschen. Ihre Trauer ist eine natürliche Reaktion auf Verlust und kein Krankheitssymptom, das gelindert oder "weggemacht" werden kann. Der Weg zur Verlustbearbeitung geht durch die Trauer hindurch. Pflegende, die trauernde Kranke wahrnehmen und würdigen, können deren Trauerprozess fördern und den inneren Wachstums- und Heilungsprozess unterstützen.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

 

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer.

Katharina Rizza

Verluste und Trauer würdigen – Impulse für die pflegerische Praxis

Mit einem Vorwort von Monika Müller

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 4 Abbildungen und 1 Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Ulrike Adam/photocase.de

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2856

ISBN 978-3-647-99394-2

Inhalt

Vorwort

Einführung

1 Zum Grundverständnis von Pflege

1.1 Grundaufgaben der professionellen Pflege

1.2 Gesundheit fördern

1.2.1 Was ist Gesundheit?

1.2.2 Wie kann Gesundheit gefördert werden?

1.2.3 Welche Pflegetheorie begründet die Aufgabe der Gesundheitsförderung?

1.3 Leiden lindern

1.3.1 Der personzentrierte Ansatz in der Pflege

1.3.2 Der leiborientierte Ansatz in der Pflege

1.3.3 Bindungsangebot

1.4 Kommunizieren

1.4.1 Man kann nicht nicht kommunizieren

1.4.2 Verschiedene Gesprächsanlässe

1.4.3 Das Kurzgespräch

1.5 Begegnen

1.5.1 Begegnungen zwischen zwei Menschen

1.5.2 Begegnungen sind Resonanzerfahrungen

1.5.3 Grundhaltungen für Begegnungen

1.5.4 Ebenen der Begegnung – das Vier-Ohren-Modell

2 Was ist Trauer?

2.1 Trauer ist die Reaktion auf ein Verlusterlebnis

2.2 Trauer schmerzt

2.3 Trauer ist ein Heilungsprozess

2.4 Trauer ist ein Weg

2.5 Trauer ist keine Krankheit

3 Trauer in der pflegerischen Praxis

3.1 Trauer wahrnehmen

3.1.1 Trauer wahrnehmen als Chaos der Gefühle

3.1.2 Trauer wahrnehmen in den verschiedenen Typologien

3.1.3 Trauer wahrnehmen durch Körperveränderungen

3.1.4 Trauer wahrnehmen durch Schmerzausdruck

3.2 Trauer begegnen

3.3 Trauer auslösen und zur Sprache bringen

3.4 Trauer bezeugen und würdigen

3.4.1 Trauer ist so verschieden wie die Menschen

3.4.2 Keine Trauer ist weniger schlimm

3.5 Die Seele schützen

3.6 Den Anpassungsprozess unterstützen

3.7 Trösten

3.7.1 Der Trauer gemeinsam Raum geben

3.7.2 Trösten über Literatur und Dichtung

3.7.3 Trösten durch »Erwärmen«

3.7.4 Trösten durch Hüten und Bergen

3.7.5 Trösten über den Leib

3.7.6 Trost in der Religion

3.8 Trauer bei Angehörigen

3.8.1 Was Angehörige brauchen

3.8.2 Den Tod begreifen

3.8.3 Nachgespräche

3.9 Trauer bei älteren Menschen

3.10 Trauer und Demenz

4 Besondere Situationen

4.1 Trauer und Scham

4.2 Trauer und Schuld

4.3 Trauer und Hoffnung

4.4 Trauer und Sinn

4.5 Erschwerte Trauer

4.5.1 Risikofaktoren für erschwerte Trauer

4.5.2 Erschwerte Trauer erkennen

4.5.3 Was Pflegepersonen tun können

4.6 Trauer und Suizidalität

5 Wie kann ich mich auf Trauersituationen vorbereiten?

5.1 Denkwissen und Erfahrungswissen

5.2 Mit meinen eigenen Gefühlen zurechtkommen

 

Schlussworte

Literatur

Die schwersten Wege

Die schwersten Wege

werden alleine gegangen,

die Enttäuschung, der Verlust,

das Opfer,

sind einsam.

Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet

und sich keiner Bitte versagt

steht uns nicht bei

und sieht zu

ob wir es vermögen.

Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken,

ohne uns zu erreichen

sind wie die Äste der Bäume im Winter.

Alle Vögel schweigen.

Man hört nur den eigenen Schritt

und den Schritt den der Fuß

noch nicht gegangen ist aber gehen wird.

Stehen bleiben und sich Umdrehn

hilft nicht. Es muß

gegangen sein.

Nimm eine Kerze in die Hand

wie in den Katakomben,

das kleine Licht atmet kaum.

Und doch, wenn du lange gegangen bist,

bleibt das Wunder nicht aus,

weil das Wunder immer geschieht

und weil wir ohne die Gnade

nicht leben können:

die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,

du bläst sie lächelnd aus

wenn du in die Sonne trittst

und unter den blühenden Gärten

die Stadt vor dir liegt

und in deinem Hause

dir der Tisch weiß gedeckt ist.

Und die verlierbaren Lebenden

und die unverlierbaren Toten

dir das Brot brechen und den Wein reichen –

und du ihre Stimmen wieder hörst

ganz nahe

bei deinem Herzen.

Hilde Domin

Vorwort

»Die Menschen, die ihre letzte Lebenszeit bei uns verbringen, leiden an ihrer vielschichtigen Trauer. Wir sind doch da, um Symptome zu lindern, Schmerzen einzustellen. Wie sollen wir aber denn mit dieser immensen Trauer umgehen? Wie können wir diese Verlustschmerzen lindern? Wie ihnen die Trauer nehmen?« – So klagte eine Krankenpflegerin in einer Palliative-Care-Fortbildung.

Mit dem Zeitpunkt, an dem schwer kranke Menschen zum ersten Mal tief in ihrem Innern begriffen haben, dass ihr Leben und ihre Lebendigkeit akut bedroht sind und die kurativen Behandlungsmöglichkeiten ihre Grenze erreicht haben, beginnt ein heftiger und schmerzlicher Trauerprozess. Unabhängig davon, ob er mitgeteilt werden kann und will oder nicht, unabhängig davon, ob es zwischenzeitlich wieder berechtigte oder auch unberechtigte Hoffnung auf Wiederherstellung oder Heilung gibt.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass in vielen Menschen in der Unaushaltbarkeit der schmerzlichen eigenen Trauer und des mitfühlenden Trauererlebens anderer nur der eine Wunsch aufkommt: der Trauer auszuweichen, sie »wegzumachen« (wegmachen zu lassen). Dieses das Leben so beschwerende Trauern glauben Menschen nicht aushalten zu können. Dabei wäre dies der einzige Weg, das Phänomen der Trauer nicht nur als tiefe Krise, sondern auch als Chance wahrnehmen zu lernen.

Gerade Pflegekräfte erleben durch ihren nahen Kontakt zu Kranken und Angehörigen viel von diesem Leid. Aufgrund ihrer wesentlichen pflegerischen Aufgaben und mangelnden Zeitkontingents werden sie keine Trauerbegleitung im tradierten Sinn anbieten und durchführen.

Und doch haben sie eine ganz entscheidende Aufgabe für die Trauer der Schwerkranken und deren Zugehörigen. Pflegende begleiten einen sehr intensiven Zeitraum vom Versterben bis zur Abholung vom Bestatter bzw. bis zum Verlegen des Leichnams in die Prosektur.

Da ist:

•die Begegnung mit dem Schmerz der Patient*innen und Zugehörigen vor, während oder nach dem Versterben;

•die Übermittlung von Anzeichen des nahenden Sterbens;

•die Beantwortung von Angehörigenfragen nach dem Zeitpunkt des Versterbens, nach Möglichkeiten und Sinn ihrer Anwesenheit;

•die Gestaltung der (räumlichen) Verabschiedung;

•das Halten und Sichern der Würde bei der Versorgung des Leichnams.

Die Aufgaben der Pflegenden in der Begleitung und dem Umgang mit Trauernden betreffen einen nur sehr kurzen, aber sehr sensiblen Zeitraum, der Auswirkung auf die weitere Verlustbearbeitung hat.

Indem sie der Trauer begegnen, nämlich die Trauer erlauben und nicht vor ihr zurückschrecken, ebnen sie Patient*innen und Hinterbliebenen den Weg in das Trauern. Es geht ja nicht darum, Trauer zu lindern oder sie gar wegzumachen, sondern darum, sie zuzulassen, ihr das Recht des Vorhandenseins zuzusprechen und sie fließen zu lassen.

Ich bin sehr dankbar, dass sich Katharina Rizza mit ihrem Buch dieser Begegnung mit der Trauer durch Pflegekräfte gewidmet hat, und wünsche allen Leser*innen Bestätigung ihres Wissens und neue Erkenntnisse.

Monika Müller

Einführung

Der Patient auf einer hämatologisch-onkologischen Station liegt in sich gekehrt und stumm im Bett. Seine Prognose ist schlecht und er ist noch jung. Auf die Pflegefachpersonen reagiert er nicht. Auf sie wirkt er abweisend und unfreundlich. Zu keinem aus dem Team hat er einen näheren Kontakt. Alle meiden ihn und gehen nur noch in sein Zimmer, um das Nötigste zu verrichten. Im Team ist kein Verständnis für sein Verhalten.

Dieser Mensch trauert. Und seine Trauer wird vom Team nicht als solche wahrgenommen. Er trauert um sein Leben, das in wenigen Wochen oder Monaten beendet sein wird. Im Team ist dieses Phänomen nicht bekannt. Der Patient durchlebt seine Trauer sehr einsam.

In der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenschwester wird das Thema »Trauer« kaum berührt. Medizinisches und pflegerisches »Fachwissen« scheinen wichtiger als der Umgang mit Menschen und ihren Verlustgefühlen. Auch Themen, die der Persönlichkeitsbildung und Wertorientierung dienen könnten, wie etwa Ethik, werden meist auf der rein kognitiven Ebene behandelt.

Das ist bedauerlich. Denn im Gesundheitssystem – und besonders im hospizlich-palliativen Kontext – haben wir es immer auch mit trauernden Menschen zu tun. Wir betreuen und behandeln Menschen, die um ihre Gesundheit oder ihr zu Ende gehendes Leben trauern. Wir begegnen Menschen, die um ihre kranken oder sterbenden Lieben trauern. Und doch scheint Trauer in unserem ökonomisch durchgestylten Gesundheitssystem wenig Platz zu haben.

Pflegerisches Handeln orientiert sich an der Befindlichkeit und den Bedürfnissen eines Menschen. Das setzt voraus, dass Befinden und Anliegen wahrgenommen und anerkannt werden. Trauer wird selten beachtet. Daher widmet sich dieses Buch dem Thema »Trauer und Pflege« unter der Fragestellung: Wie können professionell Pflegende in ihrem beruflichen Alltag trauernde Menschen wahrnehmen und ihnen begegnen?

Hinführend werden zunächst Kernaufgaben der Pflege entfaltet und Grundgedanken zu Trauer aufgezeigt. Das dritte Kapitel orientiert sich an der pflegerischen Praxis und behandelt Schritte zur Begegnung der Trauer in der pflegerischen Praxis. Hier wird konkret nachgefragt, was Pflegefachpersonen tun können, um Trauer zu begegnen, und wie sie diese Begegnung gestalten können. Es wird sich herausstellen, dass diese Tätigkeiten intrinsisch sind, also zum Wesen pflegerischer Tätigkeit gehören und immer schon impliziert sind. Das vierte Kapitel behandelt verschiedene und fast alltägliche Pflegephänomene und beleuchtet diese aus der Perspektive der Trauer. Das fünfte Kapitel geht schließlich der Frage nach, inwiefern es möglich ist, sich auf Trauersituationen vorzubereiten.

Der Fokus liegt auf Trauerbegegnungen bei schwer kranken und sterbenden Patient*innen im stationären Akutbereich, auf onkologischen und geriatrischen Stationen, in spezialisierten Hospiz- und Palliativeinrichtungen sowie der allgemeinen Palliativversorgung im ambulanten und stationären Langzeitbereich. Das Buch ist entstanden aus einem Lehrgang »Trauer erwärmen« bei Monika Müller und Thorsten Adelt. Diesen beiden gilt mein besonderer Dank.

1 Zum Grundverständnis von Pflege

1.1 Grundaufgaben der professionellen Pflege

Der pflegende Beruf ist hochkomplex und äußerst differenziert. Florence Nightingale nannte den Pflegeberuf eine Kunst. Der US-amerikanische Berufsverband (American Nurse Association) definiert Pflege als »das Erkennen und die Behandlung menschlicher Reaktionen auf gesundheitliche Probleme«. Menschen reagieren unterschiedlich auf Krankheiten. Professionelle Pflege unterstützt sie bei ihrer Gesunderhaltung oder ihrem Gesundwerden. Das erfordert individuelles Anwenden von fundiertem Fachwissen sowie die Bereitschaft zu und Kompetenz für Beziehungsarbeit. Im Fokus steht der Mensch, nicht die Krankheit.

Der International Council of Nurses (ICN; https://www.icn.ch), dem auch die deutschsprachigen Berufsverbände angehören, nennt vier grundlegende Aufgaben des professionellen Pflegeberufs:

•Gesundheit fördern,

•Krankheit verhüten,

•Gesundheit wiederherstellen sowie

•Leiden lindern.

Was bedeuten diese Grundgedanken, wie können wir die Aufgaben verstehen? Nach außen hin sichtbar erscheinen im Wesentlichen folgende Aufgaben: In Krankenhäusern sind Pflegefachpersonen diejenigen, welche die ärztlichen Anordnungen befolgen und Medikamente austeilen, Infusionen anhängen, Untersuchungen organisieren und das große Zusammenspiel der verschiedenen therapeutischen Berufe koordinieren. Sie unterstützen, wo nötig, bei den »Aktivitäten des täglichen Lebens« (ATL) und anderen gesundheitlichen Bedürfnissen von Menschen, sie beraten, schulen oder geben Auskunft zu Fragen der Gesunderhaltung und Krankheitsverhütung. Ähnlich, aber anders gewichtet, sind die Tätigkeiten im ambulanten und stationären Langzeitbereich. All diesen Tätigkeiten liegt eine ständige Beziehungsarbeit zugrunde, geprägt von einer fürsorgenden Haltung mit hohem ethischem Anspruch.

Damit ist das Wesen des pflegerischen Berufs allerdings keineswegs ausreichend beschrieben. Wir kommen ihm ein Stück näher, wenn wir die Begriffe »Gesundheit« und »Leidlinderung« genauer betrachten.

1.2 Gesundheit fördern

1.2.1 Was ist Gesundheit?

Gesundheit ist ein Menschenrecht. So lautet die Grundaussage der Ottawa-Charta von 1986 (https://www.euro.who.int/ottawa). Das Anliegen der UNO und ihr Auftrag an die Staaten: Lebensumstände und Entwicklungsbedingungen der Völker und Menschen sollen so verbessert werden, dass allen Menschen Gesundheit möglich sein kann. Die WHO definiert Gesundheit als »Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit« (https://www.who.int). Diese Definition fußt auf dem sozialwissenschaftlichen Modell für Gesundheit und ist politisch motiviert.

Gesundheit ist Befinden. In der Pflege orientiert sich Gesundheit vor allem am Wohlbefinden des Menschen und einer ausreichenden und zufriedenstellenden Bedürfnisbefriedigung in den Alltagsaktivitäten. Für die professionelle Pflege hat sich dafür im deutschsprachigen Raum das ursprünglich von Juchli kommende und von Krohwinkel weiterentwickelte Modell der »Aktivitäten des täglichen Lebens« als praxistauglich erwiesen. Anhand der zwölf bzw. 13 Grundaktivitäten des Menschen können Probleme mit seiner Gesundheit analysiert und es kann entsprechend darauf eingewirkt werden.

Jeder Patient ist Experte seiner eigenen Gesundheit.

Gesundheit ist ein Prozess. Zeit unseres Lebens finden wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Selbstständigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Gesundheit wird ständig ausbalanciert zwischen den individuell gegebenen Möglichkeiten und eingrenzenden Beschränkungen des Lebens. Leid und Ungleichgewicht (Heterostase) sind existenzielle Gegebenheiten, die zum Menschsein gehören. Gesundheit ist also kein Zustand, sondern dynamisches Geschehen. Sie kann beeinflusst werden.

Gesundheit ist eine Haltung. Der Medizinsoziologe Antonovsky sagt: »We are all terminal cases. And we all are, so long as there is a breath of life in us, in some measure healthy« (Antonovsky, 1988, zit. nach Lorenz, 2016, S. 24). Wir sind alle endliche und begrenzte Wesen. Aber solange wir atmen, sind wir zu einem gewissen Grad immer auch gesund. Auf Antonovsky geht das Salutogenese-Modell zurück, das besagt, dass der Mensch wesentlich selbst zu seiner Gesundheit beiträgt. Eine zentrale Aufgabe des Menschen sei die Auseinandersetzung mit Einflüssen seines Umfelds, und solange sich der Mensch als fähig empfindet, diese Herausforderungen anzunehmen, und gewillt ist, sie zu bestehen bzw. daran zu wachsen, weil er einen Sinn darin sieht oder der Herausforderung eine Bedeutung geben kann, solange wird er sich gesund fühlen. Dieses Empfinden nannte Antonovsky Kohärenzgefühl. Es resultiert aus den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit.

Kohärenzgefühl resultiert aus den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Verstehbarkeit bezeichnet das Gefühl, zu verstehen, was in dieser (meiner) Welt geschieht; Handhabbarkeit bedeutet, dass ich das, was ich verstanden habe, umsetzen und gestalten kann; Sinnhaftigkeit meint, einen Sinn in meinem aktuell möglichen Leben zu erkennen.

Gesundheit ist ein hochkomplexes Geschehen. In Antonovskys Salutogenese-Modell spielen personale und psychische Ressourcen neben körperlichen und konstitutionellen Gegebenheiten eine große Rolle. Ressourcen können intern oder extern sein. Externe Ressourcen sind ein tragfähiges soziales Netz, ein sicherer Arbeitsplatz und finanzielle Absicherung, sinnstiftende Hobbys, gesunde Ernährung und Lebensführung. Als interne Ressourcen gelten positives Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, hohe Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenzen, innere Ausgeglichenheit und Integrität, optimistisch-bejahende Sicht des Lebens, soziale Fähigkeiten wie Vertrauen und Offenheit.

1.2.2 Wie kann Gesundheit gefördert werden?

Die psychosoziale und emotionale Verfasstheit eines Menschen spielt im pflegerischen Alltag eine wichtige Rolle. Der Patient ist nicht passiver Empfänger von Pflege, sondern aktiver Mitgestalter und »Experte seiner Gesundheit«. Professionelle Pflege betrachtet den Menschen als körperliches, psychisches, soziales und spirituelles Wesen. In der Palliative Care werden diese vier Ebenen bei der Schmerz- und Symptomlinderung sowie Förderung der Lebensqualität stets mitbedacht. Wünsche, Bedürfnisse, Belastungen und Probleme interagieren über die verschiedenen Ebenen und beeinflussen sich gegenseitig. Emotionsprozesse beeinflussen den körperlichen Zustand und umgekehrt.

Grundlage pflegerischen Handelns bilden die Pflegediagnosen. Diese beurteilen auf klinischer Basis aktuelle und potenzielle Gesundheitsprobleme. Der Fokus liegt dabei, im Unterschied zu medizinischen Diagnosen, nicht auf Krankheitssymptomen, sondern sie beschreiben umfassend die Patientenreaktionen auf aktuelle und potenzielle Gesundheitsstörungen. Sie sind daher ergänzend zu medizinischen Diagnosen zu verstehen und dienen der Erarbeitung von Pflegezielen, Pflegeplanung, Pflegemaßnahmen und deren Evaluation. Pflegediagnosen unterstützen die ganzheitliche Behandlung und schließen Lücken medizinischer Diagnosen. Beispielsweise bleiben medizinische Diagnosen so lange bestehen, bis der Patient oder die Patientin »gesund« ist. Pflegediagnosen sind prozesshaft angelegt. Sie ändern sich im Laufe der Behandlung.

Die Pflegewissenschaftlerin Bartholomeyczik (2006) bezeichnet Pflegen als »die Kompetenzen wiederherstellen bzw. fördern, die die autonome Bewältigung des Alltags ermöglichen«, und betont, dass Gesundheitsförderung »in allen Phasen von Gesundheit und Krankheit möglich und nötig« ist. Generell tragen meist mehrere Faktoren zur Stärkung von Gesundheit bei. Brieskorn-Zinke (2004, S. 99 ff.) nennt fünf Ebenen, an denen Pflegeberufe ansetzen können: 1) auf der Körperebene beim Vermitteln von Körpergefühl, Selbstwahrnehmung und Selbstaufmerksamkeit, 2) auf der psychisch-emotionalen Ebene durch »konstruktive Unterstützung« bei kritischen Lebensereignissen, wie sie etwa durch Krankheit hervorgerufen werden, 3) auf kognitiver Ebene durch Wissensvermittlung, 4) auf der Ebene der Fertigkeiten durch Anleitung und Schulung und 5) auf psychosozialer Ebene, wo die Beziehungsgestaltung eine wesentliche Rolle spielt. Zentrales Anliegen der Gesundheitsförderung sei die Stärkung des Selbstwertgefühls.