Vermisst - Der Fall Anna - Christine Brand - E-Book

Vermisst - Der Fall Anna E-Book

Christine Brand

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Beschreibung

Eine charismatische Ermittlerin und ein erschütternder Cold Case: Am fünften Geburtstag ihres Sohnes verschwand eine junge Mutter – und sie ist nicht die einzige ... Auftakt der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Christine Brand

Malou Löwenberg ist Kommissarin beim Morddezernat und ein Findelkind. Als sie Dario kennenlernt, ist sie von seiner Geschichte fasziniert: Darios Mutter verschwand an seinem fünften Geburtstag spurlos. Obwohl alles dagegenspricht, glaubt er, dass seine Mutter noch lebt. An ihre eigene Geschichte erinnert, beginnt Malou zu ermitteln. Sie stößt auf immer mehr Vermisstenfälle: Alle Frauen verschwanden am fünften Geburtstag ihrer Kinder und alle Kinder erhalten ebenso wie Dario bis heute mysteriöse Geburtstagskarten …

Lesen Sie auch die spannende Milla-Nova-Reihe und »Wahre Verbrechen»: Christine Brand schreibt über ihre dramatischsten Fälle als Gerichtsreporterin.

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Seitenzahl: 538

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Buch

Malou Löwenberg ist Kommissarin beim Morddezernat und ein Findelkind. Als sie Dario kennenlernt, ist sie von seiner Geschichte fasziniert: Darios Mutter verschwand an seinem fünften Geburtstag spurlos. Obwohl alles dagegenspricht, glaubt er, dass seine Mutter noch lebt. An ihre eigene Geschichte erinnert, beginnt Malou zu ermitteln. Sie stößt auf immer mehr Vermisstenfälle: Alle Frauen verschwanden am fünften Geburtstag ihrer Kinder, und alle Kinder erhalten ebenso wie Dario bis heute mysteriöse Geburtstagskarten …

Autorin

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental in der Schweiz, arbeitete als Redakteurin bei der Neuen Zürcher Zeitung, als Reporterin beim Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Neben ihren erfolgreichen Milla-Nova-Krimis und der True-Crime-Reihe »Wahre Verbrechen« erscheint jetzt mit »Vermisst – Der Fall Anna« der erste Band ihrer neuen Cold-Case-Reihe mit Malou Löwenberg. Christine Brand lebt in Zürich und auf Sansibar.

Von Christine Brand bereits erschienen

Blind · Die Patientin · Der Bruder · Der Unbekannte · Der Feind · Wahre Verbrechen

Christine Brand

Vermisst

Der Fall Anna

Kriminalroman

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Copyright © 2024 bei Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

JaB · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30097-5V002

www.blanvalet.de

Prolog

Er macht sich so klein wie möglich. Die Beine angewinkelt, den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen. Er presst die Hände auf die Ohren, so fest, dass es schmerzt. Will nichts sehen, nichts hören, unsichtbar sein. Er zittert am ganzen Körper, möchte weinen, aber die Angst ist größer. Still sein. Sich nicht rühren. Wenn Papa ihn nicht findet, vergisst er vielleicht, dass es ihn gibt.

Doch sein Herz schlägt viel zu laut, es wird ihn bestimmt verraten. Wenn du dich fürchtest, denk an etwas Schönes, sagt Mama immer. Verzweifelt versucht er, sich an etwas Schönes zu erinnern, doch es fällt ihm nichts ein. Ohne dass er es merkt, beginnt er leise zu summen und sich dabei kaum merkbar vor und zurück zu wiegen, vor und zurück. Er muss an etwas Schönes denken. Sich nicht rühren. Unsichtbar sein.

Obwohl er sich die Ohren zuhält, hört er ihn brüllen. Es klingt, als wäre er weit weg, aber er weiß, dass er ganz nah ist. Die Worte versteht er nicht, aber er spürt den Hass darin. Dann plötzlich ein Schrei, der sich anfühlt wie ein Schmerz. Er zuckt zusammen und unterdrückt ein Wimmern.

Er will aufstehen, rausgehen, davonrennen, so weit weg wie möglich, doch er traut sich nicht. Sich nicht bewegen. An etwas Schönes denken. An Mama, die ihm die Gutenachtgeschichte vorliest. Ihm kommt das Märchen von Räuber Hotzenplotz in den Sinn, er denkt an das Feenkraut, das Kasperl unsichtbar macht. Er möchte wie Kasperl sein, der den Räuber überlistet. Aber er ist nicht Kasperl, er hat nicht so viel Mut. Könnte er sich doch nur verzaubern … unsichtbar werden – oder fliegen können, das möchte er auch.

Geräusche dringen zu ihm durch. Etwas knallt gegen eine Wand, stürzt zu Boden. Er zuckt zusammen. Keinen Laut von sich geben. Unsichtbar sein.

Über seinem Kopf hängen Papas gebügelte Hemden. Er trägt sie nur im Büro. Wenn Papa von der Arbeit nach Hause kommt, hört er schon an seinen Schritten, ob es ein guter Abend wird oder ein schlechter. Heute waren seine Schritte schwer und schleifend. Es begann bereits, als er die Tür öffnete. Versteck dich, hat sie gesagt. Versteck dich, schnell!

Er ist wie immer in den Schrank gekrochen. Und wie jedes Mal wird ihm schon wieder schlecht vom Gestank der kleinen weißen Mottenkugeln, die Mama auf die Wäsche legt. Der Geruch wird ihm sein Leben lang Übelkeit verursachen, doch das ahnt er noch nicht. In seinem Jetzt existiert keine Zukunft – im Jetzt gibt es nichts anderes auf dieser Welt als ihn selbst, den kleinen Jungen, der regungslos im dunklen Schrank sitzt, obwohl er sich vor der Dunkelheit fürchtet, und der sich doch nicht raustraut, weil draußen alles noch viel schlimmer ist als drinnen.

In dem Augenblick erschüttert ein Knall das Haus. Er spürt ihn am ganzen Körper, es zerreißt seine Ohren. Er kreischt laut auf und hält sich schützend die Arme über den Kopf. Auf einmal ist da ein Rauschen wie ein Wasserfall, es dauert einen Moment, bis er begreift, dass der Lärm in seinen Ohren sitzt. Das Rauschen wird leiser, verschwindet, und plötzlich herrscht Stille.

Er wartet. Vielleicht möchte er doch lieber Räuber Hotzenplotz sein, der starke, böse Mann. Weil der sich vor nichts und niemandem zu fürchten braucht. Warum ist es so still? Vorsichtig öffnet er die Augen. Durch eine Holzspalte in der Schranktür fällt ein schmaler Streifen Licht. Er beugt sich nach vorn, hält sein Auge möglichst nahe an den Spalt und versucht hindurchzulinsen. Er erkennt den beigen Teppich, ein Bein des Bettgestells, mehr nicht. Er möchte nachsehen, doch er wagt es nicht. Wie versteinert kauert er im Schrank, selbst wenn er wollte, könnte er sich nicht rühren, er fühlt sich wie eingefroren. Sogar das Atmen fällt ihm schwer.

Es ist zu ruhig. Die Stille macht seine Angst noch größer.

1.

Nicht vergessen: Heute, 14 Uhr. Es kommt sonst keiner. Danke! LG Ludwig.

Mist! Malou Löwenberg klickt die Nachricht weg. Sie hat den Termin völlig verschwitzt und verflucht sich selbst dafür, dass sie Ludwig letzte Woche zugesagt hat. Ludwig, der alte Friedhofsgärtner, der beste Freund ihres Vaters – damals, als Vater noch ein anderer war.

»Einmal Palak Paneer für die Frau Malou!«, brüllt Shahid hinter der Theke in einer Lautstärke, als müsse er ein Wett-Schreien gewinnen. Trotzdem geht seine Stimme beinahe im dudelnden Bollywood-Song unter, der aus den Lautsprechern dröhnt. Im antik anmutenden TV-Kasten über Shahids Kopf tanzen schöne Frauen in bunten Saris in Endlosschleife.

Malou blickt auf die Uhr; fast halb zwei, das ist noch zu schaffen, doch fürs Essen bleibt eigentlich keine Zeit. Dabei hat sie bereits das Frühstück wegen eines vermeintlichen Einsatzes sausen lassen, der sich vor Ort als Fehlalarm entpuppte. Ihr Magen knurrt unbehaglich. Also greift Malou trotzdem zum Teller, den Shahid ihr über die Theke reicht, stellt sich damit an einen Stehtisch und schaufelt eiligst übergroße Bissen Spinat und Frischkäse in sich hinein. Fünf Gabeln müssen reichen, danach muss sie los, wenn sie rechtzeitig auf dem Friedhof sein will. Handy einstecken, Tasche umhängen, noch ein letzter Bissen … die Gabel entgleitet ihr um ein Haar, sie kann sie gerade noch fassen, doch die Ladung Spinat landet nicht in ihrem Mund, sondern auf ihrem Pulli, exakt auf Brusthöhe.

»Verflucht!«, schimpft sie, ohne dass jemand sie hört; die Musik ist viel zu laut.

Mit der Papierserviette versucht Malou den Fleck hastig wegzuwischen, was nur bedingt gelingt: Er wird zwar blasser, dafür umso größer. Grün auf Gelb, großartig, das perfekte Outfit, um eine Grabrede zu halten, denkt sie sarkastisch. Ein Glück, dass niemand außer Ludwig sie sehen wird.

Es kommt sonst keiner.

Malou überlegt, ob sie mit einem Uber oder mit einem Taxi zum Bremgartenfriedhof fahren soll, doch sie entscheidet sich für den Roller; damit bewegt sie sich in der Stadt am schnellsten. Sie winkt Shahid kurz zu und erntet einen tadelnden Blick, weil sie ihr Essen praktisch unberührt stehen lässt. Sie zuckt mit den Schultern. Er kennt das schon: Seine Imbissbude in der Berner Altstadt liegt nur wenige Minuten von der Polizeizentrale entfernt und ist seit Jahren Malous erste Anlaufstelle, wenn sie Hunger hat – und sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie wegen eines Einsatzes vorzeitig aufbrechen musste.

Als Malou hinaus in die Gasse tritt, rumpelt über ihr ein Donner. Sie blickt hoch und sieht, wie sich eine regenschwere Wolke vor die Sonne schiebt. Das hat ihr gerade noch gefehlt! Doch wenn sie schnell genug fährt, wird sie dem Regen entkommen. Das hofft Malou zumindest.

Bruna, so nennt sie ihre schokoladenbraune Vespa, steht auf dem Fahrradparkplatz gleich gegenüber. Malou hat deswegen kein schlechtes Gewissen – es gibt schlicht zu wenig Motorrad-Abstellplätze in dieser Stadt. Trotzdem ist sie froh, dass man ihr den Beruf nicht an der Nase ansehen kann, wenn sie Bruna jeweils nicht ganz legal hier parkt. Mit ihrem roten Kurzhaarschopf und dem Zungenpiercing, das frech aufblitzt, wenn sie spricht, würde Malou eher als Barkeeperin in einem linksautonomen Kulturzentrum durchgehen. Ganz zu schweigen von dem kleinen roten Stern, den sie sich in einer durchzechten Nacht im Suff hat zwischen die Schulterblätter stechen lassen. Eine Jugendsünde. Zum Glück bekommt kaum jemand das Tattoo je zu Gesicht.

Malou öffnet den Topcase-Koffer, entnimmt ihm den Helm. Schon malen fette Regentropfen dunkle Punkte auf den Asphalt. Doch sie hat keine Wahl: Nur mit dem Roller hat sie eine Chance, rechtzeitig auf dem Friedhof zu sein. Sie setzt den Helm auf und tritt auf den Kickstarter. Zum Glück springt der Motor an, das ist bei Brunas fortgeschrittenem Alter keine Selbstverständlichkeit. Malou schafft es knapp zum Stadtzentrum hinaus, bis aus den Tropfen zuerst Bindfäden werden und schließlich ein Graupelschauer einsetzt.

»Heilandsack!«

Ihr Schimpfen nützt nichts, es wird nur noch schlimmer: Hagelkörner knallen auf ihren Helm und gegen das Visier, kleine, spitze Nadelstiche malträtieren ihren Körper. Die Straße verwandelt sich in eine weiße Rutschbahn, zum Glück ist sie gleich da. Malou bremst nach der Kreuzung vorsichtig ab, will rechts in die Friedhofseinfahrt einbiegen, da zieht es ihr auf dem glitschigen Zebrastreifen das Vorderrad weg. Bevor sie begreift, was passiert, liegt sie schon am Boden.

»Scheiße!«, flucht Malou laut. »Scheißtag!«

Tage wie diese gehören aus dem Kalender gestrichen, und zwar schon, bevor sie begonnen haben. Hätte sie Ludwig bloß gesagt, sie hätte keine Zeit! Aber sie schafft es einfach nicht, Nein zu sagen, wenn er bei ihr anklopft.

Malou kann sich nicht erinnern, wie und wann es angefangen hat. Schon als sie noch ein kleines Mädchen war, hat Pa sie jeweils mitgenommen, wenn zu einer Beerdigung keine Trauergäste angemeldet waren. Ihr Vater besaß ein kleines Bestattungsinstitut in Bern. War jemand gestorben, der weder Freunde noch Angehörige hatte, standen die kleine Malou, ihr Vater und Ludwig, der Friedhofsgärtner, zu dritt am frisch ausgehobenen Grab. Keiner hat einen einsamen Tod verdient, hatte Pa immer gesagt. Er sprach dann jeweils einige Worte zum Abschied, und seit er dazu nicht mehr in der Lage ist, hat sie den Job übernommen. Nicht ganz freiwillig; es hat sich so ergeben, weil Ludwig nicht die richtigen Worte findet. In der Regel macht es Malou nichts aus, im Gegenteil; es gibt ihr sogar ein gutes Gefühl, jemandem einen letzten Gefallen zu erweisen, obwohl oder vielleicht gerade weil sie den Menschen nicht gekannt hat.

Heute aber macht es ihr sehr wohl etwas aus: Hätte Ludwig sie nicht aufgeboten, säße sie jetzt nicht hier in einer Pfütze mitten auf der Straße. Zum Glück scheint nicht viel passiert zu sein. Malou rappelt sich hoch, klopft sich ab und versucht herauszufinden, ob noch alles dran und noch alles heil ist. Handgelenk und Ellenbogen sind aufgeschürft, nicht schlimm, das Knie schmerzt etwas, die Jeans ist zerrissen, der Stoff blutverfärbt, aber auch hier: nur eine Schramme. Sie scheint sich nicht ernsthaft verletzt zu haben, Bruna allerdings hat etwas mehr abgekriegt: Der rechte Rückspiegel ist abgebrochen, ein übler Kratzer ziert die Backe des Rollers. Malou hebt den Spiegel auf und stemmt mit einem Ächzen die Vespa hoch. Sie schiebt Bruna Richtung Friedhofseingang und stellt sie davor ab. Hätte sie sich doch ein Taxi genommen, denkt Malou, als sie über den Kiesweg zum Krematorium humpelt.

»Da bist du ja!«, ruft Ludwig ihr entgegen. Er scheint ihren desolaten Zustand nicht einmal zu bemerken. »Danke, dass du kommen konntest.«

»Hallo, Ludwig.« Malou versucht so zu tun, als wäre es das Normalste auf der Welt, völlig durchnässt, mit Loch in der Hose, Spinatfleck auf dem Pulli und aufgeschürftem Knie als einziger Trauergast zu einer Beerdigung zu erscheinen.

»Das Wetter passt zum heutigen Tag.« Ludwig reicht ihr einen Schirm.

So kann man es auch sehen, denkt Malou – als ob der Schirm jetzt noch etwas bringen würde. Sie will gerade zu einer Schimpftirade ansetzen, über das Wetter und die Straße und darüber, dass sie mit knapp vierzig Jahren noch immer nicht gelernt hat, Nein zu sagen, doch da blickt sie auf die Urne neben Ludwigs Füßen und wird sich auf einen Schlag bewusst, dass viele noch um einiges übler dran sind. Wie auf Knopfdruck hört der Hagelschauer auf, wenigstens etwas. Er wird von einem feinen Sommerregen abgelöst, der sich wie Dunst anfühlt.

»Es weiß niemand, dass wir das heute tun«, flüstert Ludwig so leise, dass Malou ihn kaum versteht.

Sie wundert sich, was er damit meint, doch sie fragt nicht nach, sie will das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen. Ludwig blickt noch einmal zum Himmel hoch, dann seufzt er, schließt den Schirm, stellt ihn in die Ecke, bückt sich nach der Urne und umfasst sie mit beiden Händen.

»Bist du bereit?«

Malou nickt. Im Gleichschritt gehen sie los, sie kennt den Weg; die Toten ohne Familie und Freunde werden im Gemeinschaftsgrab beigesetzt, auf einer kleinen Wiese, wo die Urne in den Boden gelassen oder die Asche direkt in die Aschengruft gegeben wird. Sie geben ein seltsames Gespann ab, als sie bedächtig den langen, geraden Weg entlangschreiten, an dessen Seiten die Bäume Spalier stehen: Der alte Friedhofsgärtner, der eigentlich schon vor Jahren in Rente hätte gehen müssen, und neben ihm die Polizistin, die ihren Schirm ausstreckt, damit Ludwig trocken bleibt, während sie selbst aussieht, als wäre sie in eine Regentonne gefallen.

Vor dem Gemeinschaftsgrab hält Ludwig inne, es ist bereits ein Stück Erde ausgehoben, ein kleines, viereckiges Loch, in dem die Urne ihren letzten Bestimmungsort finden wird. Der Regen fällt wieder stärker. In der Stille, die so manchem Friedhof eigen ist, ist nichts als das Prasseln der Tropfen auf dem Schirm zu hören.

»Du kannst anfangen.« Ludwig nickt Malou zu.

Erst jetzt fällt ihr ein, dass sie nicht einmal weiß, ob sie hier eine Frau oder einen Mann zu Grabe tragen.

»Wie hieß der Mensch?«

Sonst gibt Ludwig ihr immer im Voraus Namen und Alter der verstorbenen Person bekannt. Er wird es wohl vergessen haben. Auch er ist nicht mehr der Jüngste.

»Der Mann hieß Sascha Vogt. Er wurde achtundzwanzig Jahre alt.«

Malou räuspert sich, sie will gerade zu einer ihrer kurzen Reden ansetzen, die sie in verschiedenen Variationen auswendig kennt, doch im nächsten Augenblick erstarrt sie. Sie braucht ein paar Sekunden, um sich wieder zu fassen.

»Sascha Vogt? Der Sascha Vogt?«

»Ja. Keiner hat einen einsamen Tod verdient. Nicht einmal er.«

»Echt jetzt? Und das sagst du mir erst jetzt?« Malou wird laut. Sie ist fassungslos, dass Ludwig ihr verschwiegen hat, wen er da in der Urne bei sich trägt.

»Hätte ich es dir im Voraus gesagt, wärst du nicht gekommen.«

»Natürlich wäre ich nicht gekommen! Du hast mich hereingelegt!« Malou verspürt den starken Drang, Ludwig mit dem Schirm eins überzuziehen.

»Ich wollte nicht, dass du mich im Stich lässt.«

»Himmel, Ludwig! Der Kerl hat vor drei Wochen mehrere Frauen erschossen! Er ist ein Attentäter, ein Frauenhasser!«

»Trotzdem hat er eine würdige Beerdigung verdient. Er ist auch nur ein Mensch.«

»Da bin ich mir nicht so sicher!«

»Jetzt hörst du dich an wie ein Bulle.«

»Ich bin ein Bulle! Ich war dort! Ich habe das Blutbad gesehen, das er angerichtet hat, der Scheißkerl!«

»Malou, bitte! Nicht auf dem Friedhof …«

Malou vernimmt ein Rascheln. Wahrscheinlich hat sie eines der Rehe aufgescheucht, die an ruhigen Tagen hier nach Nahrung suchen. Sie versucht, sich zu beruhigen. Doch alles in ihr drin sträubt sich dagegen, die letzten Worte für diesen Menschen zu sprechen. Für Sascha Vogt, den Frauenmörder.

»Können wir es nicht einfach rasch hinter uns bringen?« Ludwig klingt bittend, er weiß, welchen Ton er bei ihr anschlagen muss.

»Was zum Teufel soll ich denn sagen?« Malou fährt sich fahrig durchs nasse Haar. Sie hasst es, hier zu sein, am liebsten würde sie Ludwig einfach stehen lassen und gehen.

»Irgendetwas.« Ludwig zögert. »Aber nichts Gemeines.«

»Sag du doch was!«

»Ich kann nicht!«

»Und ich soll dann können?«

»Es bringt nichts, hier am offenen Urnengrab herumzustreiten. Ich bitte dich!«

Malou gibt nach. Sie räuspert sich, sucht nach Worten, die sie nicht finden will, richtet sich gerade auf und betrachtet das dunkle, viereckige Loch in der nassen Erde.

»Ich stelle nun die Urne ins Grab«, kündigt Ludwig an, als ob sie das nicht sehen würde.

In Malous Hals scheint etwas festzustecken, sie hustet kräftig, bevor sie zu ihrer Rede ansetzt.

»Sascha Vogt. Ruhe auch du in Frieden. Vor allem ruhe! Ich bin froh, dass du nicht mehr lebst.«

Sie schaut zu, wie Ludwig zum Spaten greift und das Loch zuschaufelt. Als sie wieder aufblickt, meint sie in einem Busch hinter den Gräberreihen eine Bewegung wahrzunehmen. Ein Reh? Irritiert versucht sie auszumachen, ob es sich um ein Tier handelt, dem Geräusch nach muss es etwas Großes sein. Doch sie sieht nichts. Als sie sich abwendet, schaudert sie.

2.

Bastians Kopf knallt gegen die Wand. Er sackt zusammen und sinkt zu Boden, doch das hält Liam nicht davon ab, weiter auf ihn einzudreschen. Ein Tritt in den Bauch. Bastian entweicht ein dumpfes Grunzen. Er windet sich. Liam holt schon wieder zum nächsten Schlag aus.

»Liam!« Dario stürzt quer durch den Aufenthaltsraum, er will dazwischengehen, doch sein Fuß bleibt an einem Stuhlbein hängen, und er knallt der Länge nach hin.

Die Jungs, die gerade noch Liam angefeuert haben, johlen begeistert. Dario ignoriert sie, kommt wieder auf die Beine, kriegt Liam am Pulli zu fassen und zerrt mit aller Kraft daran. Ein Ratschen verrät, dass der Stoff reißt. Liam hält inne, dreht sich um und starrt erst seinen Pulli, dann Dario ungläubig an.

»Mein Nike-Hoodie!«

Wenigstens hat er von Bastian abgelassen, denkt Dario. Doch nun richtet sich Liams Wut gegen ihn.

»Du Drecksau!«, brüllt Liam Dario ins Gesicht. Dann wendet er sich Bastian zu. »Hast du gesehen, was der Psycho gemacht hat?«

»Schluss jetzt!« Dario versucht, äußerlich ruhig zu bleiben. Um keinen Preis dürfen die Jungs ihm seine Unsicherheit anmerken. Zu seinem Erstaunen ist Bastian bereits wieder auf den Beinen. Dass er aus der Nase blutet, kümmert ihn offensichtlich nicht. Auch scheint er bereits vergessen zu haben, wer der Verursacher seiner Blessur ist: Er stellt sich neben Liam, begutachtet den Pulli und wirft Dario ebenfalls einen hasserfüllten Blick zu. Bastian ist etwa gleich groß wie Dario, Liam überragt ihn um einen halben Kopf. Dario weiß, dass er keine Chance hätte, wenn sie auf ihn losgingen; beide sind durchtrainierte Kraftpakete. Er fühlt sich völlig überfordert.

»Was geht hier ab?«, fragt in dem Moment eine Stimme hinter ihm. Michael, sein Kollege und Vorgesetzter. Dario atmet innerlich auf. Gerade noch mal gut gegangen. Zu zweit werden sie die Situation beruhigen können.

»Forster ist durchgedreht, er ist auf mich losgegangen und hat meinen Hoodie zerrissen! Dabei hab ich gar nichts getan!«

»Das heißt Herr Forster!«, sagt Michael scharf. »Und Bastians Nase sieht nicht danach aus, als ob du nichts getan hättest.«

»Das war nicht Liam. Ich bin über den Stuhl gestürzt und blöd gegen die Wand geknallt.« Bastian lügt, ohne mit der Wimper zu zucken.

Na super, das nennt man Dankbarkeit, denkt Dario frustriert, während er den Blick seines Kollegen sucht und die Augen verdreht. In Momenten wie diesen hasst er seinen Job, mehr noch, er fürchtet ihn. Gerade eben hat er richtig Angst gehabt, das darf nicht passieren. Und das alles ausgerechnet heute, an seinem Geburtstag – wobei hier niemand weiß, dass er etwas zu feiern hätte. Wobei, feiern … das macht er nicht. Nicht an diesem Tag. Dario schüttelt den Gedanken ab.

Es ist an der Zeit, sich nach einem neuen Beruf umzusehen, denkt er. Tramchauffeur, zum Beispiel, oder Krankenpfleger, bloß nichts mehr mit schwer erziehbaren Jugendlichen, das ist auf Dauer nicht auszuhalten. Am Ende des Tages sagt einem nicht einmal jemand danke.

»Bastian, du gehst in die Krankenstation und lässt deine Nase verarzten. Liam, du verschwindest in deinem Zimmer, ich will dich heute nicht mehr sehen, sonst kriegst du Hausarrest.«

»Das ist unfair! Forster hat angefangen!«, motzt Liam.

»Ausgerechnet.« Dario verwirft die Hände.

»Raus jetzt«, sagt Michael ruhig, aber bestimmt.

Bastian und Liam machen einen Abgang.

»Und ihr kümmert euch wieder um euren eigenen Kram.«

Die Jungs, die das Spektakel amüsiert mitverfolgt haben, murren zwar leise, wenden sich dann aber ab und ziehen sich zurück. Dario bewundert Michael für seine unaufgeregte Autorität. Er selbst kriegt die Jungs einfach nicht in den Griff, und er weiß nicht, woran es liegt. Es ist zum Verzweifeln.

»Bist du okay?« Michael reißt ihn aus seinen Gedanken.

»Alles in Ordnung, danke.«

Dario sieht Michael an, dass er ihm nicht glaubt. Zu Recht. Er will nur noch nach Hause, er braucht Urlaub, am liebsten für immer. Es gibt Tage, da saugen die Jungs alle Energie aus ihm raus, sodass er sich nach der Arbeit fühlt wie eine leere Hülle. Das ist es nicht wert. Dario blickt auf die Uhr; fast vier. Bald Feierabend nach seiner Frühschicht. Zum Glück.

»Ich mach bald Schluss. Ich schreib noch rasch den Rapport, dann bin ich hier weg. War ein Scheißtag, aber morgen wird es bestimmt besser.«

Michael nickt, obwohl sie beide wissen, dass auch der nächste Tag wieder schwierig sein wird.

»Schon mal drüber nachgedacht, eine Auszeit zu nehmen? Oder wenigstens Urlaub? Der Job verschleißt dich. Du siehst nicht gut aus, wenn ich das so direkt sagen darf.«

»Es geht schon, danke.«

Noch während er den Satz zu Ende spricht, merkt Dario, dass er sich selbst belügt.

Seine Stimmung wird nicht besser, als er eine Dreiviertelstunde später mit dem Tram durch die Altstadt von Bern nach Hause fährt. Er lehnt den Kopf an die Fensterscheibe, blickt hinaus und sieht all die Menschen, die auf den Restaurant-Terrassen sitzen, sich zulachen, ausgelassen wirken, glücklich sind. Er will so sein wie sie, doch die Arbeit frisst ihn auf und ermüdet ihn. Zu müde, um auszugehen oder um Freunde zu treffen, sogar an seinem Geburtstag. Zu müde, um etwas für sich selbst zu tun. Er ist erst fünfunddreißig und fühlt sich schon wie ein Greis.

»Das kanns doch nicht sein«, sagt er laut.

Die junge Frau auf dem gegenüberliegenden Sitz blickt kurz auf, wendet sich dann aber gleich wieder ihrem Handy zu.

Als Dario sich für die sozialpädagogische Ausbildung entschieden hatte, gab es keine Zweifel. Er war sicher, dass er mit jungen Menschen arbeiten wollte, mit Jugendlichen, die es schwer hatten im Leben. Er wollte für diejenigen da sein, die nicht wohlbehütet in einer Familie aufwachsen können. So, wie damals für ihn Menschen da waren, als er von einem Tag auf den anderen allein war. Doch heute, nach über zehn Jahren im Job, muss er sich eingestehen, dass er sich geirrt hat: Die Jungs sind nicht wie er. Er kann ihnen nichts mehr geben, sie fordern ihm zu viel ab.

Aber einfach alles hinschmeißen? Und was soll er sonst machen, er hat doch nichts anderes gelernt?

Das Tram rumpelt um die Kurve. Die Sonnenstrahlen tauchen die Altstadtgasse in ein gelboranges Licht, die Schatten der Menschen sind lange, schlaksige Gestalten. Die Welt da draußen scheint mit seinem Leben nichts zu tun zu haben. Auf einmal fühlt sich Dario sehr allein.

Was würde sie ihm wohl raten?

Dario versucht sich vorzustellen, wie sie ihm zuhören würde, wenn er ihr von seinen Zweifeln erzählte. Wie sie mit ihm das Dafür und Dagegen abwägen würde, wenn er sie nach ihrer Meinung fragte. Er ist sicher, sie wüsste, was das Richtige für ihn wäre.

Dario schluckt schwer. Wie sehr sie ihm fehlt, obwohl er sich nicht an sie erinnert.

3.

Malou nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie im Polizeirevier die Treppe zu ihrem Büro hocheilt. Sie ist spät dran, nicht nur, weil sie unfreiwillig eine Grabrede für einen Attentäter gehalten hat, sondern auch, weil sie auf der Rückfahrt einen Umweg zu ihrem Motorradmechaniker einlegen musste. Er hat versprochen, sich sofort um Bruna zu kümmern, morgen könne sie den Roller wieder abholen.

Malou nickt ihren Kollegen Florence und Bernard kurz zu, als sie das Großraumbüro betritt, dann checkt sie als Erstes die Mails. Nichts passiert, seit sie am Mittag das Büro verlassen hat. Überhaupt herrscht grundsätzlich Flaute. Es ist immer dasselbe: Entweder geschieht alles gleichzeitig und die Welt scheint unterzugehen, oder aber es passiert gar nichts. Zwischentöne scheint es nicht zu geben.

Ihre Kollegen kümmern sich um zwei versuchte Tötungsdelikte im Bereich häuslicher Gewalt, Routinearbeit, sie selbst hat im Moment keinen aktuellen Fall zu betreuen. Es ist ihr gerade recht. Die letzten Wochen haben ihr zugesetzt. Was mit ihrer Kollegin Bettina passiert ist, hat sie noch nicht weggesteckt: Eine falsche Entscheidung, ein Finger am Abzug, eine Bewegung von ein paar Millimetern zu viel – schon ist man nicht mehr Polizistin, sondern eine Kriminelle hinter Gittern. Was Malou am meisten erschüttert hat, ist die Erkenntnis, dass sie in Bettinas Situation sehr wahrscheinlich genau gleich gehandelt hätte – im Wissen um die Konsequenzen und obwohl sie Polizistin ist. Schließlich sind auch sie nur Menschen. Dass sie Bettina auf diese Art und Weise als Kollegin verloren hat, macht ihr zu schaffen. Zum ersten Mal überhaupt macht sich Malou Gedanken darüber, ob sie hier noch am richtigen Ort ist. Aber Polizistin zu sein ist für sie mehr als ein Beruf. Es ist die Art und Weise, wie sie ihr Leben führen will: Im Einsatz gegen die Verbrecher, im Namen der Opfer.

Malou checkt ihre To-do-Liste. Alle Berichte sind geschrieben, sie hat nichts Weiteres zu tun, als auf das nächste Delikt zu warten. Allein das erscheint ihr auf einmal makaber. Darum beschließt sie zu erledigen, was sie seit Monaten vor sich herschiebt: In ihrem Schreibtisch gibt es eine Schublade, die sie noch immer nicht aufgeräumt hat.

Malou hat die Stelle in der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Bern erhalten, weil ihr Vorgänger vorzeitig aus dem Dienst geschieden war: Ramon wurde während eines Einsatzes erschossen. Als sie seinen früheren Arbeitsplatz bezogen hatte, war der Schreibtisch noch nicht geräumt worden. Also hatte sie seine persönlichen Gegenstände in eine Kiste gepackt und alles andere weggeschmissen – alles, außer den Inhalt dieser letzten Schublade, in der mehrere Hängeregister verstauben. Sie hatte sich vorgenommen, die Dossiers erst zu sichten, bevor sie sie entsorgen würde. Nur ist sie bis heute nie dazu gekommen.

Malou zieht die Schublade heraus, greift sich vier Register und klappt die erste Mappe auf. Der Fall 11. April, steht auf dem Etikett. Sie weiß sofort, worum es geht: Innerhalb von fünf Jahren haben sich zwei Tötungsdelikte exakt am gleichen Datum ereignet – am 11. April 2010 sowie am 11. April 2015, an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Opfern auf unterschiedliche Art und Weise. Nichts scheint die zwei Delikte zu verbinden, außer das Datum und die Tatsache, dass an beiden Tatorten eine identische männliche DNA-Spur gesichert wurde, die mit größter Wahrscheinlichkeit dem Täter zuzuordnen ist. Zwei Mal der gleiche Täter. Trotzdem sind beide Fälle bis heute ungeklärt: In der DNA-Datenbank gab es keinen Treffer. Malou fragt sich, ob Ramon etwas Neues zu den beiden Cold Cases herausgefunden hat, doch ihre Hoffnung zerschlägt sich schnell: Die Mappe enthält einzig Zeitungsartikel über die Verbrechen, mehr nicht. Malou wirft sie in die Plastikkiste, in der das Altpapier gesammelt wird.

Das zweite Dossier ist mit dem Namen Nathalie beschriftet. Der Name sagt Malou nichts. Sie schlägt die Mappe auf, überfliegt die ersten Seiten des kopierten Rapports; ein Vermisstenfall. Nathalie Kipfer, siebenunddreißig, hielt sich am Nachmittag des 7. August 2016 mit Freundinnen und deren Kindern in einem Wald bei Interlaken auf, wo sie Fang den Wolf spielten. Von einem Augenblick auf den anderen war sie verschwunden. Ihre Freunde dachten zunächst, Nathalie sei vorzeitig nach Hause gegangen, doch dort trafen sie sie nicht an. Also riefen sie die Polizei. Die Suche wurde sofort lanciert, doch von der Frau fehlte jede Spur, fast so, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden. Malou schüttelt den Kopf; es gibt nichts, das es nicht gibt. Neben der Kopie des Rapports liegen der Akte handschriftliche Notizen bei, die von Ramon stammen müssen. Malou liest die Stichworte durch, erkennt darin aber keinen Sinn, sie ist sich nicht mal sicher, ob sie sich auf den Fall beziehen. Sie zögert, dann legt sie die Mappe auf den Schreibtisch. Sie wird ihren Chef Sandro Bandini danach fragen.

Auf dem nächsten Hängeregister liest Malou den Namen Carole Stein. An diesen Fall erinnert sie sich, obwohl sie damals, als die Koma-Patientin Carole Stein entführt worden war, noch nicht in der Abteilung gearbeitet hat. Bandinis Team konnte den Fall lösen. Malou blättert die Unterlagen trotzdem rasch durch. Sie enthalten nichts, das archiviert werden sollte, also wirft sie auch dieses Dossier in die Kiste mit dem Altpapier.

Die letzte Mappe ist nicht näher bezeichnet. Als Malou sie aufklappt, blickt sie einer jungen Frau mit kurzem schwarzem Haar und runder Brille ins Gesicht. Sie streckt der Person hinter der Kamera mit frechem Grinsen die zu einem Victory-Zeichen gespreizten Finger entgegen. Darunter steht, dass die sechsundzwanzigjährige Beatrice Strebel aus Deutschland seit dem 5. Mai 1996 als vermisst gilt. Die Radiojournalistin arbeitete für einen Schweizer Lokalsender und war per Anhalter nach Biel unterwegs, um über eine Ausstellung des Fotomuseums zu berichten, doch dort ist sie nie angekommen. Malou blättert weiter und stößt auf einen Zeitungsartikel, auf dem jemand mit gelbem Leuchtstift einige Stellen angestrichen hat. Demnach wurden vier Jahre nach Beatrice’ Verschwinden in einem abgelegenen Waldstück ihre sterblichen Überreste entdeckt. Malou findet nichts darüber, ob der Täter je gefasst werden konnte. Sie wird Sandro fragen, ob Ramon an diesen Fällen gearbeitet hat, vielleicht kann sie sich ja dem einen oder anderen Cold Case annehmen. Malou holt in der kleinen Büro-Küche einen nassen Lappen, setzt sich neben dem Schreibtisch auf den Boden und macht sich daran, die Schublade auszuwischen.

»Was machst du da? Verspäteter Frühjahrsputz?«

Malou blickt auf. Ihr Chef Sandro steht vor ihr und schaut auf sie hinab.

»Ich habe die letzten Akten von Ramon gesichtet, die er in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte.«

Sofort verschwindet das leise Schmunzeln aus Sandros Gesicht. Ramons Verlust lastet noch immer schwer auf dem Team.

»Danke, das hätte eigentlich erledigt werden sollen, bevor du seinen Arbeitsplatz bezogen hast.«

»Ich bin auf zwei Dossiers gestoßen.« Malou erhebt sich. »Sagt dir der Name Beatrice Strebel etwas?«

»Ja, natürlich.«

»Wurde der Täter je gefasst?«

»Leider nein.«

»Ein Cold Case … hat sich Ramon damit beschäftigt?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Vielleicht ist er auf etwas gestoßen …«

»Ich glaube kaum. Ich bin sicher, dass damals alles Menschenmögliche unternommen wurde, jedoch erfolglos.«

»Aber heute ist mehr möglich als 1996 … Ich könnte prüfen, ob man an den Asservaten Spuren sichern kann, die man damals noch nicht auswerten konnte.«

»Ach, Malou, wir haben so viele ungelöste Fälle – aber wir haben schlicht nicht die Zeit, jeden aus dem Archiv zu holen und ihn neu aufzurollen. Manchmal muss man akzeptieren, dass nicht jedes Verbrechen aufgeklärt werden kann.«

Malou will gerade widersprechen, sie ist anderer Meinung. Doch sie schweigt; sie mag keine Diskussion vom Zaun brechen.

»Ich könnte doch zumindest mal reinschauen, solange ich nichts anderes zu tun habe.«

»Nein. Falls was passiert, musst du sofort einsatzbereit sein. Bestimmt hast du nach dem Stöckelschuh-Fall einen Berg Überstunden angehäuft. Mach ein paar Tage frei, damit du Energie tanken kannst. Ich bin sicher, es dauert nicht lange, bis wir wieder alle Kräfte nötig haben.«

»Aber …«

»Ich meine es ernst. Wenn wir schon mal Zeit zum Ausruhen haben, müssen wir sie nutzen.«

Womöglich hat Sandro recht, denkt Malou. Die letzten Wochen waren emotional anstrengend. Vielleicht werden ihr ein paar freie Tage guttun.

»Okay, ich bleib morgen mal zu Hause. Aber melde dich, falls ihr mich braucht.«

»Darauf kannst du wetten.«

Eine halbe Stunde später fährt Malou im Tram über die Kornhausbrücke Richtung Altstadt. Als sie aus dem Fenster blickt, sieht sie die Menschen auf dem Kornhausplatz an den Tischen sitzen, lachend, ausgelassen ihren Feierabenddrink genießend, und sie fragt sich, was sie mit dem angebrochenen Abend anfangen soll, jetzt, da sie morgen unverhofft nicht zur Arbeit muss. Auszugehen wäre verlockend, ein Date wäre eine willkommene Abwechslung. Also öffnet sie auf ihrem Handy die Tinder-App und scrollt sich durch die letzten Chats. Sie wecken keine guten Erinnerungen, was noch untertrieben ist – tatsächlich waren ihre letzten beiden Verabredungen mittlere Katastrophen. Beim einen Blind Date stellte sich heraus, dass der Mann fünfzehn Jahre älter war, als er angegeben hatte. Als sie ihn damit konfrontierte, erklärte er allen Ernstes, dass er schließlich auch auf seinen Profilbildern fünfzehn Jahre jünger sei, er habe daher das korrekte Alter angegeben, das mit den Fotos übereinstimme. Auf Malous Hinweis, dass er stattdessen aktuelle Bilder hochladen könnte, winkte er entrüstet ab: Das sei undenkbar, weil sich dann einzig Frauen in seinem Alter melden würden, die natürlich viel zu alt für ihn seien – eine männliche Logik, mit der Malou nichts anfangen kann. Beim letzten Tinderdate – Roland oder Rolf oder Robert – musste sie einen narzisstischen Monolog über sich ergehen lassen, und als sie im Anschluss eine Fortsetzung im Bett freundlich ablehnte, stellte er ihr nach und versuchte sie in einer Gasse von hinten anzufallen. Sein Fehler, dass er ihr nicht eine einzige Frage gestellt hatte und daher nicht ahnen konnte, dass sie Polizistin ist. Sie ist sicher, dass er die Abfuhr inklusive Landung auf dem harten Pflaster nicht so schnell vergessen wird.

Malou löscht die Männer aus ihrer Chatliste und beginnt, sich durch die neuen »Angebote« auf Tinder zu blättern. Sie wischt nach links, links, links, links, schneller als im Sekundentakt, keines der Gesichter weckt bei ihr auch nur den kleinsten Funken Sympathie. Ihr Daumen will gerade ein weiteres Mal nach links wischen, als sie stoppt und ihn in der Luft verharren lässt. Dieses Foto schaut sie etwas länger an. Der Mann mit dem Nickname Herakles sieht tatsächlich aus wie ein griechischer Halbgott: Nachtschwarzer Haarschopf, dunkle Augen, die halb ernst, halb belustigt in die Kamera blicken. Eine sehr lange, schlanke Nase, kräftige Augenbrauen und dünne Lippen.

Eine von Malous Freundinnen ist überzeugt, dass Männer mit dünnen Lippen schlechte Küsser sind. Sie sagt ebenfalls, Männer mit »Augen Abstand null«, also mit engstehenden Augen, seien mit wenig Intelligenz ausgestattet. Doch Herakles’ Augen liegen zum Glück weit genug auseinander. Das Risiko, dass er ein schlechter Küsser ist, nimmt Malou in Kauf, sie will ihn schließlich nicht gleich heiraten. Doch dann sieht sie, dass er vier Jahre jünger ist als sie. Männer, die vier Jahre jünger sind als sie, interessieren sich meist ausschließlich für Frauen, die mindestens fünf Jahre jünger sind. Malou wischt sein Bild trotzdem nach rechts.

Treffer!

Überrascht stellt sie fest, dass er ihr ebenfalls einen Like gegeben hat. Da Malou nicht zu jenen Frauen gehört, die das Gefühl haben, Männer müssten immer den ersten Schritt tun, sondern im Gegenteil lieber diejenige ist, die die Zügel in der Hand hält, schreibt sie ihn gleich an.

Kalimera, Herakles, heute schon was vor? Wie wäre es mit einem Feierabendwein auf der Münsterplattform? Gruß, Malou (kein Nickname, ich habe nichts zu verbergen)

Eine Lüge, denkt sie, als sie auf den Button Senden drückt.

4.

Dario steht seit gefühlten fünf Minuten im Hauseingang und starrt auf seinen Briefkasten. Als ob er spüren könnte, dass sich darin vielleicht das befindet, vor dem er sich fürchtet und das er doch herbeisehnt. Schließlich wendet er sich ab und steigt, ohne nach der Post zu sehen, zu seiner Wohnung im dritten Stock hoch. Er dreht den Schlüssel zweimal um – er schließt immer doppelt ab –, betritt den Flur und stellt seine Tasche auf den Stuhl, der neben der Garderobe steht. Dann begibt er sich in jedes seiner drei Zimmer – Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Wohnraum. Er stellt sicher, dass niemand da ist, und prüft, ob jemand da war. Das scheint nicht der Fall zu sein; alles steht genau dort, wo er es hingestellt hat, nichts ist aus der Ordnung geraten, er würde es sofort merken, wenn etwas verändert wäre.

Er weiß, dass andere ihn einen Kontrollfreak nennen würden, und vielleicht ist er das auch. Aber er hat seine Gründe. Als er sicher ist, dass niemand in seinen privaten Bereich eingedrungen ist, begibt er sich ins Wohnzimmer, setzt sich auf das schwarze Ledersofa, stützt das Gesicht in die Hände und beginnt zu weinen.

»Scheißtag«, sagt er laut, als er sich wieder etwas gefasst hat.

Eine Weile sitzt er einfach nur da, starrt ins Leere und geht in Gedanken noch einmal die Situation von heute Nachmittag durch. Er fragt sich, was passiert wäre, wenn Michael nicht just im richtigen Moment im Aufenthaltsraum aufgetaucht wäre. Er mag es sich gar nicht vorstellen. Obwohl Dario weiß, dass es so nicht weitergehen kann, schafft er es doch nicht, etwas zu ändern. Er hasst sich dafür, dass er das Leben nicht besser in den Griff kriegt, dafür, dass alles immer schiefläuft. Und auch dafür, dass er an seinem Geburtstag allein zu Hause sitzt und heult. Am liebsten würde er sich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis der Tag vorbei ist. Vielleicht wird er genau das tun: ins Bett gehen und erst morgen wieder aus seinem Schneckenhaus hervorkriechen.

Doch zunächst holt er aus dem Schrank im Arbeitszimmer die silberfarbene Geldkassette hervor. Er klaubt den Schlüssel aus seinem Geldbeutel und schließt sie auf. Vorsichtig nimmt er die Fotografien heraus und legt sie einzeln vor sich auf den Tisch. Es sind nicht viele, doch mehr hat er nicht. Jedes Jahr an seinem Geburtstag schaut er sie sich an, es ist längst ein Ritual geworden, daran hält er sich fest wie an so vielen anderen Ritualen, die das Leben für ihn erträglicher machen.

Fünf rechteckige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, daneben eine Handvoll quadratische Fotos, die mal farbig waren und nun aussehen, als hätte sie jemand mit einem Sepia-Filter aufgenommen. Er betrachtet Bild für Bild, bei einem hält er besonders lange inne. Es ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, ein Spiel mit Schatten und Licht. Dario streicht mit dem Zeigefinger sanft über das abgebildete Gesicht. Er schließt die Augen, seufzt schwer und fasst innerlich einen Entschluss: Er wird kündigen – und bevor er sich eine neue Arbeitsstelle sucht, wird er eine Auszeit nehmen und das tun, was er schon seit vielen Jahren tun will und immer wieder vor sich her geschoben hat. Vielleicht aus Angst, weil es manchmal einfacher ist, die Wahrheit nicht zu kennen. Doch das Warten heilt die Wunden nicht. Dario legt die Fotos zurück in die Kassette und versorgt sie wieder zuunterst im Schrank des Arbeitszimmers.

In dem Moment erklingt ein leises Pling aus seiner Tasche. Kein Signalton, den er auf Anhieb erkennt, das kann keine normale WhatsApp oder SMS sein. Er sucht sein Handy und sieht auf dem Display, dass über die Tinder-App eine Nachricht eingegangen ist. Das passiert selten genug – und wenn’s dann mal passiert, natürlich in einem Augenblick wie diesem, wenn Dario alles andere als in Stimmung ist, sich mit einer Frau zu treffen. Aber es spielt keine Rolle, nach zu vielen Enttäuschungen hat er die Hoffnung eh aufgegeben, auf diesem Weg eine Freundin zu finden. Trotzdem neigt er zu einem gewissen Fatalismus; dass er just in diesem Moment der Einsamkeit eine Nachricht erhält, ist womöglich ein Zeichen. Auch ist seine Neugierde zu groß, um sie zu ignorieren. Entschlossen öffnet er die App.

Das Gesicht, das auf dem Display erscheint, kommt ihm sofort bekannt vor. Er erinnert sich, dass er ihr einen Like gegeben hat, gleichzeitig ist er sicher, dass er der Frau mit dem frechen Kurzhaarschnitt und dem neugierigen Blick auch schon mal im echten Leben begegnet ist. Doch er hat keine Ahnung, wo das gewesen sein könnte. Womöglich im Olmo-Laden, wo er manchmal Klamotten kauft? Nein, die Frau dort hat schwarze Haare, nicht rote. Der Name unter dem Foto sagt ihm nichts: Malou. Ihre Nachricht klingt nett, und sie ist direkt: Malou bittet um ein Date, heute Abend schon. Dario schüttelt unwillkürlich den Kopf. Einen schlechteren Tag hätte sie sich nicht aussuchen können. Er blickt auf die Uhr; es ist noch nicht ganz sechs, zeitlich wäre es also machbar, aber, nein, no way, er kann unmöglich in seiner üblen Stimmung zu einem Blind Date fahren. Dario klickt die Nachricht weg und legt das Telefon zur Seite. Bleibt sitzen. Denkt nach. Greift wieder zum Handy und öffnet die App erneut.

Hallo, Malou, danke für die Nachricht. Ich glaube, ich bin dir schon mal begegnet. Liebe Grüße, Herakles.

Er hält inne, löscht die letzten drei Worte, die er geschrieben hat, und ersetzt sie durch: Herzlich, Dario.

Im selben Moment, in dem Dario auf Senden klickt, realisiert er, dass er Malou gerade unbedacht einen der unmöglichsten Anmach-Sprüche geschrieben hat. Wahrscheinlich wird er nie wieder von ihr hören. Rasch tippt er eine zweite Nachricht an die Unbekannte, die ihm bekannt vorkommt.

Entschuldige, das klang jetzt wohl gerade ziemlich plump, aber ich habe wirklich das Gefühl, dich vom Sehen her zu kennen.

Kaum hat er die Nachricht abgeschickt, bereut er sie schon wieder. Wahrscheinlich macht er damit alles nur noch schlimmer. Er hätte sich besser vorher in Ruhe eine gute Antwort zurechtgelegt, statt einfach draufloszuschreiben. Dario will gerade eine dritte Nachricht tippen, da ploppt eine Mitteilung von Malou auf.

Ja, originell geht anders, aber ich verzeihe dir. Dafür bezahlst du den Drink auf der Münsterplattform. Um acht?

Als ob es keine Widerrede gäbe, denkt Dario, doch gleichzeitig realisiert er, dass er gar nicht widersprechen will.

Okay, acht Uhr auf der Münsterplattform. Ich werde dich finden!

Kaum ist die Meldung weg, fragt sich Dario, ob das eine gute Idee ist – wahrscheinlich wäre die Option Bettdecke über dem Kopf die bessere gewesen.

Als Dario wenig später unter der Dusche steht, pfeift er eine Ohrwurm-Melodie vor sich hin, ohne sich dessen bewusst zu sein. Danach geht es ihm schon viel besser. Vielleicht, sagt er sich, wird das Date – anders als die vielen anderen zuvor – ja ausnahmsweise interessant oder sogar lustig werden. Womöglich wird er nun doch endlich der Frau seiner Träume begegnen, sie wird sich in ihn verlieben, und sie werden glücklich sein bis ans Ende ihrer Tage. Oder so … Auf jeden Fall wird ihm etwas Abwechslung guttun.

Es ist kurz nach sieben. In einer halben Stunde muss er los; es bleibt gerade noch genug Zeit, den ersten Schritt zu tun, um seinen Entschluss von heute Abend umzusetzen. Er geht rüber in die Küche, nimmt eine Rhabarber-Schorle aus dem Kühlschrank, setzt sich an den Tisch und klappt den Laptop auf. Dario öffnet das Dokument, an dem er seit einer gefühlten Ewigkeit arbeitet, das er mindestens schon hundertmal umgeschrieben und noch immer nicht fertiggestellt hat. Er löscht den ersten Satz und schreibt ihn noch einmal neu.

Mein Name ist Dario Forster. Ich brauche Eure Hilfe.

5.

Der Mann, der Malou gegenübersitzt, sieht verboten gut aus, doch leider scheint er den Mund nicht aufzukriegen. Wenn nicht sie redet, herrscht Schweigen. Das verspricht einmal mehr, ein langweiliger Abend zu werden. Malou fragt sich, warum sie sich das immer wieder antut. Die Ausbeute an interessanten Dates und aufregenden Nächten ist verglichen mit dem Aufwand, den sie dafür betreibt, mehr als bescheiden: Auf ein abwechslungsreiches und im besten Fall sogar bereicherndes Blind Date kommen etwa drei bis vier verschwendete Abende, an denen sie sich zusammenreißen muss, damit sie nicht einschläft. Trotz der miserablen Bilanz schreibt sie doch immer wieder Männer auf Tinder an, sie kann sich selbst nicht genau erklären, warum.

Malous Problem ist, dass sie zwar beziehungsfrei leben, aber nicht auf Sex verzichten will. Mit lockeren Affären hat es nie richtig hingehauen, weil sie nie lange locker blieben: Geht sie mehrmals mit dem gleichen Mann ins Bett, kann sie schon fast darauf wetten, dass entweder er sich oder sie sich verliebt, allerdings nie beide gleichzeitig. Und dann wird es sofort kompliziert. Darum bevorzugt sie One-Night-Stands. Doch so wie der Abend gerade läuft, sieht es auch heute danach aus, dass sie es sich besser allein bei sich zu Hause gemütlich gemacht oder sich mit einer ihrer Freundinnen getroffen hätte.

Mit den Freundinnen ist es aber auch so eine Sache: Die meisten von ihnen sind unflexibel geworden, seit sie Kinder haben. Und das verträgt sich nicht gut mit Malous Job. Sie muss zugeben, dass sie keine einfache Freundin ist; ihr Beruf geht immer vor, und sie kann nicht mehr zählen, wie viele Verabredungen sie hat absagen müssen oder, schlimmer noch, wie oft sie mitten während eines gemeinsamen Abendessens aufspringen und eine Freundin sitzen lassen musste, weil sie zu einem Einsatz gerufen wurde. So oft, dass sie lieber gar keine Verabredungen mehr trifft – weil die Chance groß ist, dass es dann doch nicht klappt. Darum bevorzugt Malou kurzfristige Treffen – was schwierig ist, weil die Leute meist einen vollen Terminkalender und dadurch jede Spontanität verloren haben. Zumindest das ist Dario, der ihr noch immer schweigend gegenübersitzt, hoch anzurechnen: Er hat spontan Zeit gehabt. Ein Punkt für ihn.

Vor Malou steht ein Glas Weißwein, Dario trinkt Bier. Sie stoßen an, doch mehr als ein Prosit ist ihm nicht zu entlocken. Es ist klar, dass Malou das Gespräch in Gang halten muss, wenn sie sich nicht den ganzen Abend gegenübersitzen wollen wie zwei stumme Fische.

»Du wohnst also auch in der Stadt?«

»Ja.«

Stille.

»Und du meinst, wir seien uns schon mal begegnet?«

»Ja, aber ich weiß nicht mehr, wo.«

Pause.

Hoffentlich, denkt Malou, habe ich ihn nicht irgendwann verhaftet. Sie studiert Darios Gesicht, doch es kommt ihr nicht bekannt vor. Auch er mustert sie aufmerksam und blinzelt nervös. Weit unter ihnen rauscht das Wasser der Aare, das im Schwellenmätteli über das Stauwehr hinabstürzt, hinter ihnen auf dem Rasen spielen Kinder vergnügt Fangen, an den Tischchen neben ihnen plaudern die Menschen angeregt miteinander. Hin und wieder bricht ein Lachen aus dem Stimmenteppich heraus. Alle scheinen sich zu amüsieren, während Malou langsam die Fragen ausgehen.

»Was arbeitest du denn so?« In der gleichen Sekunde, in der Malou den Satz ausspricht, realisiert sie, wie fantasielos er sich anhört.

»Ich arbeite in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche.«

So viele Worte am Stück sind ein neuer Rekord. Vielleicht, denkt Malou, wird das doch noch etwas. Womöglich ist er einfach schüchtern.

»Dann haben wir etwas gemeinsam; ich arbeite mit schwer erziehbaren Erwachsenen.«

»Was machst du genau?«

Endlich stellt er eine Frage – allerdings just jene, die Malou nicht gleich zu Beginn beantworten mag. Es gibt Männer, die finden es abenteuerlich, dass sie ein Bulle ist. Es gibt andere, die stehen auf und verschwinden, sobald sie es erfahren.

»Nein, erzähl du.« Malou weicht aus. »Warum hast du den Job gewählt? Ich stelle mir die Arbeit schwierig vor.«

»Das ist sie auch!«

Auf einmal scheint ein anderer Mensch vor Malou zu sitzen. Die Worte sprudeln plötzlich aus Dario heraus, als hätte sie per Knopfdruck eine Schleuse geöffnet. Er erzählt ihr, dass er einen schrecklichen Tag hinter sich hat, dass er beinahe von zwei Jugendlichen verprügelt worden wäre und dass er sich die Frage stellt, ob er den Job aufgeben soll.

»Am Abend bist du mit den Nerven am Ende, und keiner dankt es dir.« Dario zuckt ratlos mit den Schultern.

»Warum hast du dich denn entschieden, in dem Heim zu arbeiten?«, hakt Malou nach.

»Ich weiß nicht.« Dario zögert. »Doch, eigentlich weiß ich es schon. Es ist wegen Anna.«

Malou atmet tief ein. Sie macht sich darauf gefasst, dass sie gleich eine unglückliche Liebesgeschichte zu hören bekommt. Auch das wäre nicht das erste Mal. Manche Männer verspüren aus unerklärlichen Gründen schon beim ersten Date den Drang, das ganze Drama zu schildern, das sie mit ihrer Ex-Partnerin erlebt haben. Wobei die Rollen der Schuldigen und des Unschuldigen sofort verteilt sind. Doch die erwartete Jammertriade folgt nicht, Dario schweigt.

»Wer ist Anna?«, fragt Malou darum vorsichtig nach.

»Anna ist meine Mutter, die mich verlassen hat, als ich fünf war. Ich kam zunächst zu meiner Oma, die aber vier Jahre später verstarb. Danach bin ich in verschiedenen Heimen aufgewachsen und weiß daher, wie wichtig es ist, dass dort gute Betreuer arbeiten; deshalb bin ich Sozialpädagoge geworden. Aber die Arbeit frisst mich auf. Ich bin nicht sicher, wie lange ich das noch aushalte. Eigentlich habe ich mich heute Nachmittag entschieden zu kündigen.«

»Was meinst du mit: Sie hat dich verlassen?«

»Sie ist einfach verschwunden. Und ließ mich zurück. Genau heute vor dreißig Jahren.«

»Oh, das tut mir leid.« Jetzt ist es Malou, die nicht weiß, was sie sagen soll. Auf einmal erscheint ihr Dario nicht mehr langweilig. Er und seine Geschichte beginnen sie zu interessieren – vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit und versucht nicht, sich mit einem erfundenen Familiendrama interessanter zu machen, als er tatsächlich ist.

»Wie ist sie denn verschwunden? Hat man nach ihr gesucht?«

»Ich war damals wie jeden Tag im Kinderhort. Anna, also meine Mutter, war alleinerziehend, meinen Vater habe ich nie gekannt. Es ist seltsam; ich habe kaum Erinnerungen an die Zeit, bevor sie wegging, aber an diesen Tag erinnere ich mich genau. Die Sonne schien. Vor dem Kinderhort war ein Planschbecken aufgestellt, es war hellblau mit roten Blumen drauf, und die Erzieherin hatte es mit Wasser gefüllt. Wir haben am Nachmittag im Garten mit den anderen Kindern meinen Geburtstag gefeiert. Nach dem Baden haben sie für mich Happy Birthday gesungen, ich habe mitgesungen, weil ich zu spät realisierte, dass ich nur zuhören sollte. Ich trug eine spitz zulaufende, goldene Papp-Mütze und durfte die fünf Kerzen auf der Schokoladentorte ausblasen. Dann hat jeder ein Stück bekommen. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass dies der schönste Geburtstag meines Lebens sei. Und das Beste sollte erst noch folgen. Anna hatte versprochen, dass sie mich spätestens um sechs abholen würde und dass wir dann zusammen zu McDonald’s zu einem Geburtstagsessen gehen würden. Wir waren sonst nie auswärts essen, das war etwas ganz Besonderes. Ich erinnere mich, wie ich voller Vorfreude ungeduldig auf sie gewartet habe, und weiß noch, wie ich erst wütend wurde, weil sie zu spät kam, dann traurig, weil ich meinte, sie habe mich vergessen, und wie ich schließlich Angst bekam, als ich die Unruhe der Hortleiterin spürte. Sie war es dann auch, die die Polizei anrief. Anna ist einfach nicht gekommen. Sie hat mich nie mehr abgeholt.«

Einen Moment lang schweigen sich Dario und Malou an. Zu bedrückend ist der Gedanke an den kleinen Jungen, der auf die Mutter wartet, die nicht mehr kommt.

»Hast du nicht eben gesagt, dass all das heute vor exakt dreißig Jahren geschehen ist?«, fragt Malou nach.

»Ja.«

»Dann ist heute dein Geburtstag?«

»Ja, aber ich feiere nicht. Weil Anna an diesem Tag verschwunden ist.«

»Verständlich. Die Polizei hat sie nie gefunden?«

»Nicht eine Spur. Auch ihr Fahrrad, mit dem sie zur Arbeit gefahren ist und mit dem sie mich abgeholt hätte, blieb für immer verschwunden.«

Malou hat in den professionellen Modus gewechselt, sie möchte Dario am liebsten hundert Fragen stellen.

»Hatte deine Mutter damals einen Freund, der etwas mit ihrem Verschwinden zu tun gehabt haben könnte?«

»Ich kann mich an keinen Freund erinnern.«

»Und du weißt nicht, wer dein Vater ist?«

»Nein.«

»Hat die Polizei das nicht herausgefunden?«

»Ich weiß nicht einmal, ob sie nach ihm gesucht haben.«

»Der Name deiner Mutter war Anna?«

»Ja.«

»Und ihr Nachname?«

»Forster. Warum willst du das alles so genau wissen? Du klingst wie eine Polizistin.«

Malou zögert, dann rückt sie mit der Sprache heraus. »Ich bin Polizistin. Ich kann mir den Fall mal ansehen. Vielleicht finde ich die Akte im Archiv.«

»Echt jetzt, du bist Polizistin?«

»Ja, ich arbeite bei der Mordkommission.«

»Wow, das hätte ich nicht gedacht. Allerdings glaube ich nicht, dass meine Mutter ermordet worden ist«, sagt Dario. »Ich bin sogar sicher, dass sie noch lebt.«

»Warum?«, fragt Malou.

»Weil sie mir jedes Jahr eine Geburtstagskarte schickt.«

6.

Sie haben getrunken. Sie haben geredet. Dario hat Malou seine Geschichte erzählt und ihr gestanden, dass er sich heute nicht getraut hat, den Briefkasten zu leeren. Als ob man sich vor einer Geburtstagskarte fürchten könnte, denkt Malou. Doch genau das scheint der Fall zu sein. Darum sind sie nun hier: Malou hat Dario angeboten, den Briefkasten für ihn zu öffnen oder zumindest dabei zu sein, damit er das nicht allein tun muss. Zum einen, weil sie Dario wirklich helfen will, zum anderen, weil sie selbst unbedingt wissen möchte, ob er auch heute eine mysteriöse Karte erhalten hat wie all die anderen Jahre zuvor.

Dario schließt die Haustür auf, bleibt vor den Briefkästen stehen, starrt seinen an und scheint sich nicht überwinden zu können. Malou überlegt, wie es ihr in seiner Situation ergehen würde. Sie ist sicher, sie würde sich auf den Briefkasten stürzen.

»Soll ich?«, fragt Malou.

Dario nickt.

»Gibst du mir den Schlüssel?«

Er streckt ihr seinen Schlüsselbund hin, weist auf den kleinsten Schlüssel, der daran befestigt ist. Malou greift nach ihm, öffnet den Briefkasten, zieht drei Kuverts heraus. Zwischen zwei Umschlägen steckt eine Postkarte.

»Bingo!« Malous Kommentar hallt im leeren Treppenhaus wider.

Das Bild auf der Karte zeigt einen Vogel Strauß mit einem Jungtier auf einer staubig-roten Piste, beide Tiere sind von hinten fotografiert. Malou hört, dass Dario neben ihr den Atem anhält. Sie dreht die Karte um. Handgeschrieben. Fein säuberliche Schrift, ausschließlich Großbuchstaben. Nebst der Adresse steht da nur ein einziger Satz:

MAMA HAT DICH LIEB.

Malou schaudert. Womöglich hatte sie mit ihrer Einschätzung unrecht; sie hätte darauf gewettet, dass Anna tot ist. So lange kann niemand untertauchen, ohne sich irgendwann einmal zu verraten. Oder etwa doch? Malou studiert die Briefmarke: Sie stammt aus der Schweiz, abgestempelt wurde sie im Briefzentrum Härkingen, wie die meisten Postzustellungen, die in die gelben Briefkästen eingeworfen werden. Es ist ein Jammer, dass die lokalen Poststempel vor einigen Jahren abgeschafft worden sind; so lässt sich heute nicht mehr feststellen, wo ein Brief aufgegeben wurde, was die Polizeiarbeit erschwert.

Dario nimmt ihr die Karte aus der Hand, liest den Text, reicht sie ihr zurück.

»Bist du okay?«, fragt Malou.

»Geht schon. Kommst du noch rasch mit hoch?«

Das »rasch« dauert dann doch etwas länger. Während Dario in der Küche Gläser holt, betrachtet Malou das Wohnzimmer mit professionellem Blick: Hier lebt ein ordentlicher Mensch, alleinstehend, mit einem guten Geschmack für einen schlichten Stil. Geregeltes Einkommen, Dario muss nicht jede Münze zweimal umdrehen. Ein schwarzes Ledersofa, daneben eine Corbusier-Liege, ein schnörkelloser, schlichter Salontisch aus Glas. Ein hüfthohes Bücherregal an einer Wand, darüber eine übergroße Fotografie mit dem Konterfei eines Schimpansen. Kein Fernseher, doch Malou entdeckt einen fix installierten Beamer an der Decke. Rechts vom Sofa steht ein Zeitungsständer aus den Siebzigerjahren, neben der Küchentür ein Servierwagen aus derselben Epoche, der in eine Bar umfunktioniert worden ist. An den Etiketten der Flaschen ist zu erkennen, dass Dario ein Whisky-Liebhaber ist. Jetzt kehrt er allerdings mit einem Weißwein ins Wohnzimmer zurück, er stellt die Gläser auf den Tisch, zieht den Korken, schenkt Malou ein, entschuldigt sich noch einmal, holt etwas aus einem weiteren Zimmer und setzt sich dann neben sie aufs Sofa. Er stellt eine silberfarbene Kassette auf den Glastisch, schließt sie auf und holt einen Stapel Fotografien hervor. Bilder seiner Mutter. Er breitet sie vor ihnen aus.

»Das sind die einzigen Fotos, die ich von Anna habe.«

»Eine schöne Frau.«

Malou meint es ehrlich, auch wenn die Frisur der dazumal noch jungen Anna völlig aus der heutigen Zeit gefallen ist. Das schwarze Haar ist dauergewellt und wirkt viel zu voluminös für ihr Gesicht, das darunter fast verschwindet. Schmale Nase, große, dunkle Augen. Die Frau wirkt zart und zerbrechlich, sie strahlt etwas Unschuldiges aus. Man möchte sie instinktiv vor dem Bösen auf dieser Welt beschützen, denkt Malou. Sie beobachtet, wie Dario mit dem Finger zärtlich über eine der Fotografien streicht. Auf dem Bild hält Anna ein Baby auf dem Arm. Das Kind strahlt begeistert in die Kamera, die Mutter blickt liebevoll auf den Kleinen. Das muss Dario sein.

»Sie schreibt jedes Jahr dasselbe. Nur diesen einen Satz.«

Malou will erneut zur Karte greifen, die auf den Briefumschlägen liegt, besinnt sich aber eines Besseren.

»Bist du sicher, dass es ihre Handschrift ist?«

»Nein, ich kenne ihre Handschrift nicht. Wie sollte ich mich auch daran erinnern. Aber wer sonst würde mir die Karten schreiben?«

Jemand, der ihm Schmerz zufügen will? Malou spricht den Gedanken nicht aus. »Seit wann erhältst du die Geburtstagskarten?«

»Solange ich mich zurückerinnern kann. Bereits im Kinderheim habe ich welche bekommen.«

»Eigenartig«, murmelt Malou vor sich hin. »Ich könnte die Karte ins Labor mitnehmen und sie auf DNA-Spuren untersuchen lassen«, sagt sie etwas lauter. »Hast du ein Plastiktütchen, mit dem ich sie transportieren könnte?«

»Das würdest du tun?«

»Natürlich nur, wenn du willst.«

Dario zögert. »Was soll das bringen?«

»Wenn wir auf der Karte eine fremde DNA sichern, können wir feststellen, ob die Person, von der sie stammt, mit dir verwandt ist. Ob es deine Mutter ist …«

»… dann wüssten wir, ob sie noch lebt!«

»Genau.«

»Und was, wenn sich keine fremde DNA-Spur finden lässt?«

»Dann wissen wir nicht mehr und nicht weniger als jetzt.«

»Aber es würde wohl bedeuten, dass sie nicht mehr lebt.«

»Nicht zwingend.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will.«

Erneut denkt Malou, dass sie in Darios Situation völlig anders handeln würde. Sie würde unbedingt wissen wollen, ob sich die DNA ihrer Mutter auf der Karte befindet.

»Warum nicht? Entweder sind wir nicht schlauer als heute, oder aber du kannst Zweifel ausräumen und erhältst Gewissheit, dass sie noch am Leben ist.«

»Einen Versuch wäre es wohl wert?« Darios Satz klingt wie eine Frage. Gleichzeitig erhebt er sich, geht in die Küche und kehrt mit einer durchsichtigen Plastiktüte zurück. »Passt das?«

Malou nickt. Sie stülpt sich die Tüte über die Hand, greift nach der Karte und zieht das Plastik darüber, sodass die Karte eingetütet ist und sie nicht noch mehr Spuren verwischen.

»Ich bin gespannt, ob wir etwas finden«, sagt Malou. »Schließlich geht es hier um einen Cold Case, um ein nie geklärtes Verbrechen.«

»Vielleicht.«

»Vielleicht?«

»Vielleicht ist sie auch einfach weggegangen. Weil ich ihr zu viel wurde. Oder weil ihr das Leben zu viel wurde. Ich würde das sogar verstehen, mir geht es auch manchmal so, dann würde ich mich am liebsten in den nächsten Zug setzen und irgendwohin fahren, Hauptsache weit weg.«

Auch Malou kennt das Gefühl. »Hast du selbst auch schon nach Anna gesucht? Oder nach deinem Vater?«

Dario schüttelt den Kopf.

»Du hast gar nichts unternommen?«, hakt Malou nach.

»Früher dachte ich, dass die Polizei sie finden wird«, erklärt Dario. »Dann habe ich mehrere Anläufe unternommen, selbst einen Aufruf zu lancieren, in den sozialen Medien, auf Facebook. Der Text liegt schon seit Jahren bereit, ich hatte einfach noch nie den Mut dazu.«

»Was hast du denn zu verlieren?«

Dario schaut Malou an. Sie registriert, dass sein Bein ihr Bein berührt. Es ist ihr angenehm.

»Vielleicht hast du recht, vielleicht sollte ich es einfach tun.«

»Ich habe fast immer recht«, flüstert Malou mit einem Schmunzeln. »Und ich finde, du solltest es einfach tun.«

Dario lehnt sich nach vorn, Malou spürt seine Lippen auf ihrem Mund, eine Berührung, die kaum eine Berührung ist, ein schüchternes Antasten. Sie öffnet die Lippen, sucht seine Zunge, und sie beginnen sich zu küssen. Zuerst vorsichtig, dann gierig, als wären sie beide zu lange auf Entzug gewesen.

»Darf ich?«, fragt Dario flüsternd, als er beginnt, Malou aus ihrem Shirt zu schälen.

»Ich bitte darum«, flüstert sie zurück, während sie sich an seinem Hemd zu schaffen macht. Es fühlt sich gut an. Er fühlt sich gut an. Es verspricht, eine schöne Nacht zu werden.

7.

»Ich kann nicht bei dir bleiben … ich kann nicht bei dir … ich kann nicht …«

Das Echo der Stimme hallt in ihm wider, die Worte werden leiser und entfernen sich, während auch das Bild verblasst, bis nur noch die Umrisse der Frau zu erkennen sind, die jung aussah, aber nicht mehr jung war. Anna. Seine Mutter entgleitet ihm, er will nach ihr rufen, doch es kommt kein Ton heraus, er hat seine Stimme verloren und streckt verzweifelt die Arme nach ihr aus, doch er kann sie nicht fassen, sie nicht erreichen, sie löst sich auf. Ist weg.