Vermisst - Der Fall Emily - Christine Brand - E-Book

Vermisst - Der Fall Emily E-Book

Christine Brand

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Beschreibung

Eine verzweifelte Mutter, ein seit Jahren verschwundenes Mädchen und eine Wendung, die Ex-Polizistin Malou Löwenberg zutiefst erschüttert ... Ein neuer Band der packenden Cold-Case-Reihe von Nr.-1-Bestsellerautorin Christine Brand.

Malou Löwenberg: rebellische und engagierte Ex-Polizistin, jetzt Privatdetektivin, spezialisiert auf Cold Cases. Sie will Menschen finden, die seit Langem vermisst sind. Ihre erste Klientin ist Vera König, die seit vier Jahren nach ihrer Tochter sucht. Emily wäre heute sieben, und Vera ist überzeugt, dass sie noch lebt. Malou stößt bei ihren Ermittlungen auf die Spur eines internationalen Kinderhändlerrings. Doch auch Emilys Vater verhält sich höchst verdächtig. Plötzlich macht Malou eine schockierende Entdeckung und blickt in Abgründe, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Inspiriert von wahren Begebenheiten, abgründig und nervenzerreißend spannend – die neue Reihe der erfolgreichen SPIEGEL-Bestsellerautorin.

Lesen Sie auch die spannende Milla-Nova-Reihe und »Wahre Verbrechen«: Christine Brand schreibt über ihre dramatischsten Fälle als Gerichtsreporterin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 573

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Malou Löwenberg: rebellische und engagierte Ex-Polizistin, jetzt Privatdetektivin, spezialisiert auf Cold Cases. Sie will Menschen finden, die seit Langem vermisst sind. Ihre erste Klientin ist Vera König, die seit vier Jahren nach ihrer Tochter sucht. Emily wäre heute sieben, und Vera ist überzeugt, dass sie noch lebt. Malou stößt bei ihren Ermittlungen auf die Spur eines internationalen Kinderhändlerrings. Doch auch Emilys Vater verhält sich höchst verdächtig. Plötzlich macht Malou eine schockierende Entdeckung und blickt in Abgründe, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Autorin

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental in der Schweiz, arbeitete als Redakteurin bei der »Neuen Zürcher Zeitung«, als Reporterin beim Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Neben ihren erfolgreichen Milla-Nova-Krimis und der True-Crime-Reihe »Wahre Verbrechen«, hat die SPIEGEL-Bestsellerautorin mit ihrer Cold-Case-Reihe »Vermisst« auf Anhieb Platz 1 der Schweizer Jahresbestsellerliste erobert. Christine Brand lebt in Zürich und auf Sansibar.

Von Christine Brand bereits erschienen

Blind · Die Patientin · Der Bruder · Der Unbekannte · Der Feind · Wahre Verbrechen I und II · Vermisst – Der Fall Anna

Christine Brand

Vermisst

Der Fall Emily

Kriminalroman

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformation nach GPSR)

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

JaB · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Ggermering

ISBN 978-3-641-31884-0

www.blanvalet.de

Prolog

Emily ist weg.

Der Gedanke fühlt sich falsch an, sie will ihn nicht denken, versucht, ihn aus dem Kopf zu drängen. Er hat nichts mit ihrer Realität zu tun. Sie sitzt auf dem Stuhl und wartet. Knetet sich die Hände, presst die Knie zusammen, bis es schmerzt. Starrt die Wand an und hört gezwungenermaßen der Frau zu, die am Schalter wild gestikulierend auf den Polizisten einredet. Die Handtasche ist ihr entrissen worden, mitten in der Altstadt, am helllichten Tag. Ihr Geldbeutel steckte darin, Kreditkarten, Ausweis, Handy – alles geklaut.

Die Worte prallen an ihr ab, nichts ist mehr von Belang. Sie schaut zu dem jungen Mann, der ihr gegenübersitzt, ein Auge halb geschlossen, leerer Blick, die Kapuze seines Pullis tief ins Gesicht gezogen. Draußen ist der Himmel zu grau, drinnen das Neonlicht zu grell. Vor dem Fenster hängen in schmale Streifen geschnittene Jalousien, an der Wand fragt ein Plakat: Fit für die Straße? Davor steht ein Ständer mit Flyern, die vor Einbrechern im Haus und vor Betrügern im Internet warnen. Daneben vier weitere Stühle mit blauer Polsterung, passend zum Farbton des Linoleumbodens. Es riecht nach altem Staub.

Ein Raum, in dem man sich nicht aufhalten möchte, ein Ort, wo sie nicht sein will. Trotzdem sitzt sie hier und wartet. Weil sie das Kind verloren hat. Obwohl es nicht sein kann, nicht wirklich sein kann, das Leben ist im Irrtum.

Ein leerer Buggy.

Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen. Weil sie sich geirrt hat. Es ist nicht passiert, unmöglich. Sie steht auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt in dem Moment der Polizist hinter der Glasscheibe.

Ein freundliches Gesicht, wache Augen. Sie stellt sich vor den Schalter, lehnt sich nach vorn, will etwas sagen, aber es geht nicht.

»Ist Ihnen etwas zugestoßen?«, hakt er nach.

»Das … das Kind.«

»Was ist mit Ihrem Kind?« Der Tonfall in seiner Stimme verändert sich augenblicklich.

»Es ist weg. Verschwunden.« Ein Schluchzen erfasst sie, erst jetzt.

»Setzen Sie sich, bitte nehmen Sie Platz, ich hole eine Kollegin.«

Der Polizist ruft nach jemandem. Der junge Mann auf dem Stuhl blickt kurz auf und wendet den Kopf gleich wieder ab. Sie bleibt stehen und wundert sich, was sie hier macht. Wie nur hat es so weit kommen können?

1.

Zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten checkt Malou Löwenberg ihr Handy. Kein Anruf, keine Nachricht, keine E-Mail, nichts. Alles andere wäre auch eine Überraschung, denn sie hat den Ton auf maximale Lautstärke gestellt, damit sie ja keine Meldung verpasst. Aber das Handy bleibt seit Tagen stumm, es ist zum Verzweifeln. Malou schiebt den leeren Teller von sich weg; heute vermochte nicht einmal ihr Lieblingsessen Palak Paneer ihre Stimmung zu heben. Shahid, dem die Imbissbude gehört und der Malou so oft bedient, dass er sich zuweilen als ihr Privatkoch rühmt, tritt zu ihr und räumt das schmutzige Geschirr weg.

»Seit du nicht mehr bei der Polizei arbeitest, musst du wenigstens nicht mehr ständig wegrennen und das Essen stehen lassen.« Shahid grinst, doch Malous Blick lässt ihn sofort wieder ernst werden. »Ist alles in Ordnung? Läuft das Geschäft?«

»Nein. Und nein. Ich verstehe es nicht: Ich habe eine Website gestaltet, ein Büro eingerichtet, in zwei Zeitungen sind Artikel über mich und meine Arbeit erschienen – trotzdem warte ich noch immer auf meinen ersten Auftrag. Seit zwei Wochen schon, und nichts als Funkstille!«

»Sei nicht so ungeduldig, das braucht etwas Zeit. Der erste Auftrag wird kommen, bestimmt! Und zwar bald.«

Nun blickt auch Shahid auf Malous Handy, fast so, als wollte er es beschwören, und exakt in dem Moment erklingt der Titelsong von Kill Bill, den Malou als Klingelton heruntergeladen hat. Malou und Shahid blicken einander an und lachen laut auf.

»Siehst du?« Shahid nickt wissend.

Malou wedelt mit der Hand, um ihn zu verscheuchen, räuspert sich und nimmt den Anruf entgegen.

»Vermisstenbüro, Malou Löwenberg am Apparat.«

Shahid, der gar nicht daran denkt, sich auch nur einen Millimeter wegzubewegen, hört neugierig mit.

»Guten Abend, Frau Baumgartner«, sagt Malou einige Sekunden später. »Ein Vermisstenfall? Das tut mir leid. Und ja, dann sind Sie bei mir richtig. Aber wir müssen das nicht am Telefon besprechen.« Malou wirft Shahid einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich kann gerne zu Ihnen nach Hause kommen … Ja, ich habe Zeit.« Sie wühlt in der Tasche nach einem Kugelschreiber und kritzelt eine Adresse auf die Papierserviette, die Shahid ihr hinschiebt. »Ich bin in etwa zwanzig Minuten bei Ihnen. Bis gleich.«

»Da hast du deinen ersten Auftrag!« Shahid klatscht in die Hände, als Malou das Gespräch beendet.

»Es ist erst eine Anfrage, wir werden sehen. Ich muss los.«

»Viel Glück!«

Kaum sitzt Malou auf ihrer braunen Vespa, die sie liebevoll Bruna nennt, stellt sie fest, dass sie aufs Klo müsste. Doch dafür ist es nun zu spät, das muss warten. Zum Glück ist ihre Blase nach all den Jahren im Polizeidienst härteerprobt; Malou weiß, dass sie es lange aushält, wenn der Gang auf die Toilette nicht drin ist. Sie fährt durch die Berner Altstadt, ignoriert ohne schlechtes Gewissen ein Fahrverbot, passiert den Bärengraben, biegt rechts ab und tuckert die steile Straße hoch, die Brunas Motor zum Husten bringt.

»Gute, tapfere Bruna, du schaffst das«, flüstert Malou, während sie ihr Gewicht nach vorne verlagert. Irgendwann wird die Vespa unter ihrem Hintern altersbedingt verenden, doch zum Glück ist es heute noch nicht so weit. Zu Malous Rechten öffnet sich der Blick über Berns Altstadt; die untergehende Sonne tüncht die Dachlandschaft in ein oranges Rot, und die Aare hat sich um die Häuser gebettet wie ein dunkelgrüner Schal. Obwohl der Fluss ein pittoreskes Bild abgibt, denkt Malou unvermittelt an all die Leichen, die sie schon daraus geborgen hat … Bis sie sich zwingt, sich wieder auf die Straße zu konzentrieren.

Fünfzehn Minuten nach dem Anruf ihrer ersten potenziellen Klientin stellt Malou ihre Vespa am Grüneckweg vor einem stattlichen Backsteinhaus ab. Sie registriert die teuren E-Bikes im Fahrradständer und die edlen Gartenmöbel auf der Terrasse. Wer hier wohnt, kennt keine Geldsorgen, denkt Malou, als sie die Umgebung mit geübtem Polizistinnenblick scannt. Baumgartner steht an einem der vier Briefkästen. Malou öffnet das Gartentor und steigt die vier Stufen zur Haustür hoch. Sie hatte keine Zeit, sich gedanklich auf das Gespräch vorzubereiten, doch auch das ist sie gewohnt; als Polizistin wusste sie selten, was sie in der nächsten Minute erwartete.

Sie drückt auf die Klingel, der Summer ertönt. Die Frau, die ihr Sekunden später im zweiten Stock die Wohnungstür öffnet, begrüßt Malou so überschwänglich, als wären sie beste Freundinnen.

»Wunderbar, dass Sie da sind, bitte treten Sie ein.« Frau Baumgartner ergreift Malous Hand und zieht sie förmlich in die Wohnung hinein. »Sie schickt der Himmel, niemand will mir mehr helfen, Oscar zu finden.«

Malou löst sich vom Griff der Frau. Sie ist wohl etwa um die fünfzig; erste graue Strähnen, die gerade noch attraktiv wirken, Fältchen um die Augen, die schon nicht mehr als Lachfalten durchgehen. Erst jetzt realisiert Malou, dass sie sie am Telefon nicht einmal gefragt hat, ob es sich bei Oscar um ihren Ehemann handelt. Bitte lass es kein Kind sein, denkt sie, nicht bei meinem ersten Fall. Doch Malou weiß, dass sie nicht wählerisch sein darf. Menschen verschwinden in jedem Alter, leider immer wieder auch Kinder, und nach einigen Jahren oder schon nach Monaten, wenn sich keine neuen Spuren mehr finden lassen, wird der Fall als ungelöst zu den Akten gelegt und vergessen. Schon klar, die Polizei kann nicht ewig ermitteln, die aktuellen Delikte haben Priorität. Aber manchmal lassen sich Cold Cases nach Jahrzehnten doch noch aufklären, wenn man sich nur die Zeit nimmt und sich die Mühe macht – das hat Malou mit ihrem letzten Fall bewiesen. Obwohl sie offiziell gar nicht ermitteln durfte … Nicht zuletzt darum hat sie ihre Stelle bei der Abteilung Leib und Leben der Kantonspolizei Bern gekündigt und sich als private Ermittlerin selbstständig gemacht: Sie will jene vermissten Menschen finden, nach denen die Polizei nicht mehr sucht, weil zu viel Zeit vergangen ist. Auch das hat sie vergessen zu fragen, fällt Malou ein: Wie lange Oscar schon vermisst wird.

»Ich habe in der Zeitung von Ihrem Vermisstenbüro gelesen«, fährt Frau Baumgartner fort. »Und ich wusste sofort: Sie sind meine Frau! Sie werden Oscar finden!«

»Lassen Sie uns erst mal Platz nehmen.«

»Sie müssen wissen: Wir haben schon alles versucht, aber ich bin sicher, bei Ihnen sind wir richtig. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass Oscar noch lebt.«

Malou hat ein ungutes Gefühl; die Frau setzt zu große Hoffnungen in sie. »Vielen Dank, dass Sie sich an mich gewendet haben«, sagt sie, als sie endlich zu Wort kommt. »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen zunächst einige Fragen zu Oscar stellen. Danach können wir entscheiden, wie wir weiter verfahren wollen. Ist das so für Sie in Ordnung?«

»Ja, natürlich, darum sind Sie ja hier.«

Malou holt ihr schwarzes Notizbuch aus der Tasche, klappt es auf und kritzelt eine 1 oben auf die erste Seite, dahinter setzt sie den Namen Oscar Baumgartner.

»Wie alt war Oscar, als er verschwand?«

»Er war neun.«

»Das tut mir leid.« Also doch ein Kind. Malou schluckt schwer, lässt sich aber nichts anmerken. »Was ist passiert, wie lange ist das her?«

»Noch nicht ganz ein Jahr.«

»Noch kein Jahr?«, fragt Malou überrascht.

Seltsam, dass sie sich nicht an den Fall erinnert. Er hätte in ihrer damaligen Abteilung landen müssen, wenn hinter Oscars Verschwinden ein Verbrechen vermutet wurde. Und bei einem verschwundenen Kind geht man im ersten Moment in der Regel immer vom Schlimmsten aus. Malou ist sich sicher, dass sie den Namen des Kindes nicht vergessen hätte; ihr erster Schwarm in der Schule hieß Oscar. Warum zum Teufel … Der Vater, denkt Malou, es muss um einen Sorgerechtsstreit gehen, der Vater hat den Sohn nicht mehr zurückgebracht. Oder aber …

»Ist Oscar hier im Kanton Bern verschwunden?«, fragt Malou.

»Ja, in der Stadt Bern.«

»Und die Polizei war involviert?«

»Nein, man sagte mir, sie sei für solche Fälle nicht zuständig.«

Malou schüttelt irritiert den Kopf. »Können Sie mir erzählen, wie und wo Oscar verschwunden ist?«

»Wir waren an der Aare spazieren. Ich habe ihn für einen Moment aus den Augen verloren – und plötzlich war er nicht mehr da.«

»Um Himmels willen, ist er ertrunken?«

»Nein, das ist unmöglich, er ist ein guter Schwimmer.«

In der Aare sind schon die besten Schwimmer ertrunken, denkt Malou, die Strömung des Flusses wird oft unterschätzt. Doch sie spricht den Gedanken nicht laut aus. Ihr Blick wandert zum Regal, das an der Wand steht, zu den gerahmten Fotografien.

»Darf ich?« Sie erhebt sich und schaut die Bilder an. Sie zeigen einen Jungen; am ersten Schultag, im Wald vor einem Feuer, einmal wirft er einen Stock für einen Hund. Bilder aus einer anderen Zeit, als das Leben der Familie Baumgartner noch glücklich war. Malou nimmt den Rahmen mit der letzten Fotografie zur Hand und setzt sich wieder.

»Ist das Oscar?«

»Ja, aber da war er noch deutlich jünger.«

Etwas passt nicht. Der Junge auf dem Bild ist mindestens neun, kaum jünger, aber mit neun soll er doch verschwunden sein.

»Wo ist Oscars Vater?«, fragt Malou.

»Ich kenne ihn nicht.«

»Sie kennen den Vater Ihres Sohnes nicht?«

»Doch, den Vater meines Sohnes kenne ich schon, er ist beim Bowling.«

»Moment.« Malou blickt auf das Foto, dann wieder zu Frau Baumgartner. »Oscar ist nicht Ihr Sohn?«

In dem Augenblick öffnet sich die Tür, ein Junge, der jenem auf den Fotos zum Verwechseln ähnlich sieht, wirft einen Blick herein und schmeißt seine Sporttasche in die Ecke. Nach einem kurzen »Hallo« ist er auch schon wieder in einem anderen Zimmer verschwunden.

»Nein! Oscar ist unser Dackel!« Frau Baumgartner klingt wie eine Lehrerin, die eine Schülerin korrigiert.

»Wie bitte? Sie vermissen Ihren Hund?«

»Habe ich das am Telefon nicht erwähnt?«

Nein, hat sie nicht, denkt Malou. Sie verkneift sich ein Lachen, zu absurd erscheint ihr die Situation. Ein Dackel!

»Es tut mir leid …«

»Nein, bitte sagen Sie nicht …« Panik blitzt in Frau Baumgartners Augen auf.

»Ich ermittle ausschließlich in Fällen von vermissten Menschen, ich suche nicht nach entlaufenen Tieren.«

»Aber vielleicht ist Oscar entführt worden!«

Als Malou Frau Baumgartners enttäuschtes Gesicht sieht, wankt sie innerlich gefühlte zehn Sekunden lang, ob sie sich nicht doch erweichen lassen und den Auftrag annehmen soll. Aber es geht nicht. Ihr erster Fall wird nicht die Suche nach einem Dackel namens Oscar sein. Sie war Ermittlerin bei der Mordkommission, sie ist doch keine ehrenamtliche Mitarbeiterin von Vier Pfoten! Malou entschuldigt sich erneut und verspricht Frau Baumgartner, ihr Kontakte von Tierheimen und Tierschutzvereinen zu schicken, die sich vielleicht ihres Problems annehmen könnten. Trotzdem gestaltet sich der Abschied eisig; die überbordende Freundlichkeit von Frau Baumgartner ist verflogen, sie blickt grimmig und scheint ihren Gast so schnell als möglich hinausbugsieren zu wollen. Malou atmet erleichtert auf, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fällt, und schüttelt halb enttäuscht, halb amüsiert den Kopf.

Doch kaum fährt sie mit Bruna wieder stadteinwärts, sinkt ihre Stimmung zielsicher Richtung Tiefpunkt. Auf einmal ist Malou überzeugt, dass es eine Fehlentscheidung war: Sie hätte ihren Job als Polizistin niemals hinschmeißen dürfen. Sie wird mit ihrem Vermisstenbüro kläglich scheitern und schon bald pleite sein. Das einzige Vernünftige wäre, ihren Ex-Chef Sandro Bandini anzurufen, ihm gegenüber einzugestehen, dass sie alles falsch gemacht hat, und ihn zu bitten, ihr die alte Stelle wiederzugeben. Wahrscheinlich würde er sie mit Handkuss zurücknehmen. Doch Malous Stolz erweist sich einmal mehr als Hürde; sie kann unmöglich wie ein geprügelter Hund auf dem Präsidium angekrochen kommen.

Ein vermisster Dackel! Das kann sie nicht einmal Shahid erzählen – der würde sich kringeln vor Lachen. Dabei ist es gar nicht lustig. Malou dreht frustriert das Gas auf. Als sie auf den Tacho blickt, merkt sie, dass die Nadel wieder einmal hängt. Also schlägt sie kräftig mit der Faust darauf, die Tachonadel schnellt in die Höhe, so sehr, dass sie sofort die Bremse zieht. Sie will den vermaledeiten Tag nicht noch mit einem Bußgeld krönen.

Obwohl es schon fast acht Uhr abends ist, beschließt Malou, nicht direkt nach Hause, sondern zuerst noch rasch ins Büro zu fahren, um den Briefkasten zu leeren – auch wenn ihre Hoffnung bescheiden ist, darin etwas vorzufinden. Sie stellt Bruna vor dem ehemaligen Bestattungsinstitut ihres Vaters ab, das ihr als neuer Arbeitsplatz dient. Vermisstenbüro steht da jetzt in großen Lettern, und darunter, etwas kleiner: Private Ermittlungen – Malou Löwenberg. Sie hat den Schriftzug über dem Schaufenster eigenhändig neu gemalt. Noch vor zwei Wochen war sie stolz darauf gewesen, jetzt kommt es ihr auf einmal lächerlich vor. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Dass die Leute vor ihrem Büro Schlange stehen würden?

Malou klappt den Briefkastenschlitz auf, blickt hinein – leer. Als sie die Tür öffnet, erklingt über ihr das Glockenspiel. Das ist das Einzige, das vom Bestattungsinstitut erhalten geblieben ist, die restliche Einrichtung hat sie entsorgt. Wo früher in einem Regal an der Wand verschiedene Urnenmodelle standen, hängen jetzt Korkplatten, auch die Stecknadeln sind bereit, um Bilder, Fotografien, Karten und Notizen anzupinnen und in einen Zusammenhang zu bringen. Aber die Wand ist noch leer. Kein einziger Fall – nur ein vermisster Dackel. Malou schüttelt resigniert den Kopf. Sie setzt sich an den Schreibtisch und stützt das Kinn in die Hände. Was hat sie getan? Sie wünscht sich ihren alten Job zurück, sie vermisst das Adrenalin, den Kick, sie vermisst sogar ihren Chef, obwohl sie sich so oft über ihn geärgert hat.

Ein Klimpern lässt Malou zusammenfahren; das Glockenspiel. Sie blickt auf. In der Tür steht eine stylish gekleidete Frau. Pechschwarzes Haar, hoch geschnittene Stirnfransen über einem symmetrischen Gesicht, wacher Blick aus blaugrünen Augen, die auffallend weit auseinanderstehen. Sie muss um die vierzig sein, etwa in Malous Alter.

»Bin ich hier richtig, wenn ich mein Kind vermisse?«, fragt sie, bevor Malou auch nur ein Wort sagen kann.

2.

»Allez!«

Ein einziges Wort. Vier Gestalten rücken vor, nicht mehr als Schatten, die vom Schwarz der Nacht verschluckt werden. Drei Männer geben einem vierten Deckung, der sich am Tor zu schaffen macht. Jede Bewegung folgt einer einstudierten Choreografie. Ein Nicken, ein Zeichen mit der Hand, drei ziehen sich zurück, der vorderste aktiviert den Zünder und sucht dann wie seine Kollegen ebenfalls Schutz.

Ein Knall zerreißt die Stille. Niemand rührt sich, nichts passiert. Fünf Sekunden, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden vergehen. Der Rauch verzieht sich träge, ein Lichtstrahl huscht über das Tor. Der Durchgang ist frei. Beinahe lautlos, in krassem Kontrast zu dem Lärm, den sie gerade eben verursacht haben, huschen die Männer in Kampfmontur ins Gebäude. Die Waffen im Anschlag, sichern sie die Halle hinter dem verbogenen Tor, ihre Taschenlampen fressen Kegel in das Dunkel, sie tanzen nach links, nach rechts. Der Raum ist leer, keine Maschinen, keine Waren, keine Regale – nur etwas Müll hat sich hier und da im zentimeterhohen Staub verloren. Es ist offensichtlich, dass in der alten Gerberei schon seit langer Zeit kein Leder mehr behandelt wurde. Doch die Fußspuren im Staub, die in den hinteren Teil der Halle führen, verraten, dass jemand hier war. Die Männer nicken sich wortlos zu, dringen weiter in das Gebäude vor, stoßen Türen auf, sichern Raum um Raum.

»Sauber!«, flüstert eine Stimme in Alex’ Ohrknopf. »Sauber«, ertönt es wenig später auf dem gleichen Kanal, »sauber«, »sauber«, »sauber«.

Ansonsten bleibt es still. Keine Schüsse. Kein Laut.

Wieder knarzt es im Ohrknopf. »Wir sind durch, da ist keiner.«

»Merde!« Alex muss sich zusammenreißen, am liebsten würde er die Taschenlampe auf den Boden schmettern. Er war sich so sicher, dass sie sich hier verstecken, dass sie sie heute kriegen würden. Und jetzt: ein Flop. Alles vergebens, zurück auf Start. »Putain!«

Alex hasst Niederlagen, er war schon als Kind ein schlechter Verlierer. Als er die Fabrikhalle betritt, geht das Licht an, es brennt in seinen Augen, zu hell.

»Alex?«, fragt eine Stimme in seinem Ohr. »Kannst du mal kommen?«

Alex folgt den Spuren im Staub durch die Halle und geht durch eine Tür, hinter der er seinen Kollegen Stéphane vermutet. Als er den Raum betritt, erkennt er auf den ersten Blick, dass er sich nicht getäuscht hat.

»Wir sind zu spät«, sagt Stéphane.

Sie waren auf der richtigen Fährte, einzig das Timing war miserabel. Nicht seine Schuld, was Alex’ Frust keineswegs kleiner macht. Er schaut sich um: kahle Betonmauern, in einer Ecke steht ein Tisch, daneben, auf einer Bierkiste, ein Gaskocher. In einer der Pfannen hat sich etwas Undefinierbares eingebrannt. Unter dem Tisch liegt ein Müllsack, vollgestopft mit gebrauchtem Plastikgeschirr, PET-Flaschen, Zigarettenstummeln. Wer hier war, hat sich nicht die Zeit genommen, hinter sich aufzuräumen. Sie müssen sich sehr sicher fühlen.

Alex dreht sich um. Auf der anderen Seite des Raumes liegen mehrere Matratzen auf dem Boden, sie sind mit fleckigen Laken bezogen, drei zerschlissene Schlafsäcke, mehrere Kissen, alles ist schmutzig.

Alex spürt eine Hand auf seiner Schulter.

»Sie waren hier.«

»Ich habe nicht daran gezweifelt.«

»Und jetzt?«

»Wir machen weiter.«

Da liegt etwas. Alex geht hinüber zu den Matratzen, bückt sich und hebt einen grauen Plüschkoala auf. Dem Bären fehlt ein Auge, ein Arm hängt nur noch an einem Faden. Alex’ Herz fühlt sich an, als versuchte jemand, es in der Faust zu zerquetschen.

3.

Malou schnellt vom Stuhl hoch, geht auf die Frau zu, die noch immer in der Tür steht, und reicht ihr die Hand.

»Malou Löwenberg, ja, Sie sind hier richtig.«

Die Tür fällt ins Schloss. Die Töne des Glockenspiels über den Köpfen der beiden Frauen verklingen wie eine verblassende Erinnerung. Noch immer halten sie sich die Hand.

»Es tut mir leid – Sie vermissen Ihr Kind?«

Die Frau nickt, schaut sich um.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Malou lässt die Hand der Frau los, tritt einen Schritt zurück und weist in den hinteren Teil des Raumes, der durch einen Paravent vom Büro getrennt ist. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Wasser bitte, ein Glas Wasser wäre gut.«

»Einen Moment.«

Also doch noch ein vermisstes Kind, denkt Malou bedrückt, als sie in der Küche einen Krug mit Wasser füllt und eine Limette zerschneidet. Sie hätte sich einen einfacheren Einstieg gewünscht. Malou legt die Schnitze in eine Schale, stellt zwei Gläser und den Krug auf ein Tablett und kehrt damit in den Geschäftsraum zurück. Sie stellt alles auf den Salontisch, um den sie drei Vintage-Sessel drapiert hat. Sie hat sich lange überlegt, wie sie ihr Vermisstenbüro gestalten soll. Sich mit ihren Klienten vorne an den Schreibtisch zu setzen, als wollten sie einen Versicherungsabschluss besprechen, war undenkbar – gleichzeitig durfte das Setting nicht an ein Zimmer bei einem Therapeuten erinnern. Darum hat sie verschiedene Sessel besorgt, Second-Hand-Einzelstücke, auch der Salontisch ist ein Fundstück aus dem Brockenhaus. Daneben steht ein gut gefülltes Bücherregal, darum herum hat Malou Topfpflanzen platziert, sodass man sich ein bisschen wie bei jemandem daheim im Wohnzimmer fühlt – das hofft sie zumindest.

Kaum hat Malou die Gläser gefüllt und sich in den zweiten Sessel gesetzt, beginnt die Frau unaufgefordert zu erzählen.

»Mein Name ist Vera. Vera König. Ich bin hier, weil meine Tochter entführt worden ist. Sie ist sieben Jahre alt, fast acht.«

Malou registriert sofort, dass Vera König im Präsens über ihre Tochter spricht. Sie redet Hochdeutsch, doch die Aussprache einiger Worte verrät ihr, dass sie schon eine Weile in der Schweiz leben muss. Die Frau ist ihr auf Anhieb sympathisch; sie gehört zu jenen Menschen, bei denen sie in den ersten Sekunden spürt, dass sie – unter anderen Umständen – Freundinnen werden könnten, obwohl sie den Grund dafür nicht benennen kann. Malou mustert Vera Königs Gesicht: grobe Brauen über ihren blaugrünen Augen, leicht zurechtgezupft, das schwarze Haar trägt sie zu einem mittellangen Bob geschnitten, die Stirnfransen verleihen ihr einen intellektuellen Touch. Jetzt, bei genauerer Betrachtung, erkennt Malou, dass das Leben in dem attraktiven Gesicht Spuren hinterlassen hat. Der innere Schmerz lässt sich äußerlich selten verbergen.

»Mögen Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Ja. Darum bin ich hier.«

Malou greift zu ihrem Notizbuch, schiebt es dann aber wieder zur Seite. »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich das Gespräch aufzeichne? Ich kann Ihnen besser zuhören, wenn ich nicht mitschreiben muss.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden.«

Malou holt ihr altmodisches Diktafon aus der Tasche, drückt die Aufnahmetaste und prüft, ob das Lämpchen brennt. »Danke, dass Sie sich an mich wenden. Ich schlage vor, wir führen zunächst ein unverbindliches Gespräch, in dem ich Ihnen erste Fragen stelle. Danach besprechen wir das weitere Vorgehen. Ist das für Sie in Ordnung?«

Vera König nickt, doch sie wirkt, als wäre sie mit den Gedanken woanders. Malou versucht, ihren Blick einzufangen und festzuhalten.

»Bitte erzählen Sie: Wann und wo ist Ihre Tochter verschwunden?«

»Es sind jetzt mehr als vier Jahre vergangen, aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern geschehen. Wochen, Monate, Jahre – nichts zählt mehr. Es gibt nur noch das Davor und das Danach. Zeit hat ihre Bedeutung verloren.«

»Was ist damals passiert?«

»Ich war mit Emily auf dem Spielplatz Schützenweg in Bern. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gemacht habe, wahrscheinlich rasch die Nachrichten auf meinem Handy gecheckt, auf jeden Fall habe ich einen kurzen Moment nicht hingesehen – und als ich mich wieder Emily zuwandte, war der Buggy leer.«

Malou erinnert sich an den Fall, er ereignete sich, bevor sie zur Mordkommission gewechselt war. Sie arbeitete damals im Drogendezernat, aber natürlich hatte sie davon gehört.

»Die Polizei lancierte eine große Suchaktion, richtig?«

»Ja, sie haben nach Emily gesucht, aber sie blieb verschwunden. Sie wurde bis heute nie gefunden.«

»Damals war sie drei?«

»Fast vier.«

»Konnte ausgeschlossen werden, dass sie selbst aus dem Buggy geklettert ist?«

»Ich weiß, dass sie nicht weggelaufen ist.«

Jetzt ist es Vera König, die Malous Blick fixiert.

»Haben Sie jemanden gesehen? Befand sich jemand in Ihrer Nähe, ist Ihnen etwas aufgefallen?«

»Nein.«

»Fühlten Sie sich in den Tagen davor beobachtet, oder wurden Sie von einem Fremden angesprochen?«

»Nicht dass ich mich daran erinnern würde.«

»Warum sind Sie sich so sicher, dass Emily entführt worden ist?«

Wieder dieser Blick. Malou muss sich zwingen, den ihren nicht abzuwenden.

»Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Dann ist das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, für Sie vielleicht schwierig nachzuvollziehen: Ich weiß es einfach. Ich kann es spüren. Und ich bin ebenso sicher, dass sie noch lebt.«

Malou nickt und schweigt. Es bringt nichts, Vera Königs Bauchgefühl Statistiken entgegenzuhalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein knapp vierjähriges Kind vier Jahre nach seinem Verschwinden noch am Leben ist, ist verschwindend klein – es ist zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich. Trotzdem kann es sich lohnen, noch einmal einen Effort zu leisten, um das Kind vielleicht doch noch zu finden – oder zumindest, um die Wahrheit darüber zu erfahren, was ihm zugestoßen ist.

»Frau König …«

»Vera, bitte.«

Wäre sie noch Polizistin, würde Malou ablehnen, um die professionelle Distanz zu wahren. Doch was damals galt, muss heute nicht mehr zwingend gelten.

»Einverstanden. Vera, ich will ganz ehrlich zu dir sein: Wenn die Polizei Emily nicht gefunden hat, ist die Chance, dass ich mehr Erfolg haben werde, gering.«

»Aber du könntest es versuchen?« Veras Frage klingt eher wie eine Feststellung.

»Ich kann es versuchen.«

Vera öffnet ihre Handtasche, zieht einen Umschlag heraus und legt ihn vor Malou auf den Salontisch. »Hier sind 10 000 Franken. Es ist eine Anzahlung. Wenn du mehr Geld für deine Recherchen brauchst, sag es mir. Ich will, dass du Emily findest.«

Malou blickt auf den Umschlag. Wie seltsam es sich anfühlt, Geld für einen Job ungewissen Ausgangs anzunehmen – ganz anders als zuvor, als sie ihr Polizistensalär für ihre Arbeit erhielt. Was, wenn sie scheitert? Was, wenn sie die Hoffnung, die Vera in sie setzt, enttäuschen wird? Malou gibt sich einen Ruck.

»In Ordnung. Ich werde nach Emily suchen.«

Jetzt ist es Vera, die Malou die Hand hinstreckt. Erneut dauert der Händedruck ein wenig zu lang. Vera löst sich aus dem Griff, langt nach ihrer Tasche und zieht einen Bundesordner heraus. Sie legt ihn auf den Salontisch und schiebt ihn zu Malou hinüber. Malou schlägt ihn auf; er ist voller Zeitungsartikel.

Als sie darin zu blättern beginnt, stellt sie fest, dass Vera wohl jeden Schnipsel, der über den Fall Emily publiziert worden ist, auf ein Papier geklebt und in den Ordner geheftet hat. Von allen Seiten lacht Malou ein Mädchen entgegen, die pechschwarzen Haare links und rechts zu Zöpfen zusammengebunden, Sommersprossen auf der Nase, helle Augen wie die Mutter. Stets die gleiche Fotografie.

»Kann ich mir den Ordner ausleihen?«

»Darum habe ich ihn mitgebracht.«

Malou streicht mit dem Finger über das Gesicht des Kindes. Hoffentlich, denkt sie, bist du noch am Leben. Hoffentlich kann ich dich finden.

4.

Malou schreckt aus einem Traum hoch. Sie hatte das Gefühl, zu stürzen, aber sie weiß nicht mehr, warum. Sie blickt hinüber zum Wecker – 06.55 –, sinkt zurück ins Kissen und schließt erneut die Augen. Sie ist kein Morgenmensch. Der Traum … Ein letzter Fetzen scheint gerade noch fassbar. Da war ein Kind – Emily, sie hat von Emily geträumt! Allerdings sah das Mädchen in ihrem Traum anders aus als auf den Fotos in den Zeitungsartikeln, die sie gestern bis spät nachts gelesen hat; es war älter, etwa sieben oder acht, also so alt, wie Emily heute wäre. Malou versucht, sich zu erinnern, worum es in dem Traum ging, aber es gelingt ihr nicht. Sie weiß einzig, dass es kein guter war.

Sie wälzt sich auf die andere Seite und probiert, noch einmal einzuschlafen, doch schon nach zwei Minuten gibt sie auf. Geduld war noch nie ihre Stärke. Malou schlurft hinüber ins Badezimmer, wirft einen Blick in den Spiegel und schaut in ein vom Schlaf zerknittertes Gesicht. Frisch sieht anders aus. Ihre kurz geschnittenen roten Haare stehen wirr vom Kopf ab, unter ihren Augen liegen Schatten, und ihr Teint wirkt noch blasser als sonst. Sie streckt die Zunge raus, ihr Zungenpiercing blitzt kurz auf, dann saugt sie die Wangen ein, öffnet danach den Mund weit, schließt ihn wieder und wiederholt das Grimassenschneiden mehrere Male. Irgendwer hat mal behauptet, Gesichtsgymnastik sei wirkungsvoller als jede Faltencreme. Nützt es nichts, schadet es auch nicht, denkt Malou, während sie mit dem Kopf näher zum Spiegel rückt, um ihre Haut zu inspizieren. Erschüttert stellt sie fest, dass sie keine Falten sieht, weil sie sich selbst nur unscharf wahrnimmt. Sie wird sich eine Lesebrille zulegen müssen. Bald.

Statt zu duschen, benetzt sie nur die Haare mit Wasser, um sie in Form zu bringen, dann putzt sie sich die Zähne und trägt etwas Wimperntusche auf, die ihre katzenhaften Augen ein wenig dunkler und größer erscheinen lässt.

»Du hast einen ersten Fall«, sagt sie laut zu ihrem Spiegelbild, das jetzt schon etwas ansehnlicher wirkt. »Und was für einen! Ein vermisstes Kind. Emily.«

Malou ist unsicher, ob sie sich darüber freuen oder sich Sorgen machen soll. Sie wendet sich ab, holt frische Kleidung aus dem Schrank, schlüpft in Jeans und Pulli, steigt in ihrem Dreizimmerhäuschen die Treppe hinab und begibt sich auf direktem Weg hinaus in den Garten. Geschickt fischt sie mit einer Pinzette eine Heuschrecke aus einem zur Zuchtstätte umfunktionierten Aquarium und trägt das zappelnde Insekt ins Wohnzimmer.

»Frederick, Frühstück!«

Als sie das Terrarium öffnet, fehlt von ihrem Chamäleon jede Spur. Sie sieht nichts als grüne Pflanzen, obwohl sie genau weiß, dass er irgendwo da mittendrin sitzt. Seine Tarnung ist wie immer bestechend, denkt Malou mit einem Anflug von Neid. Sie findet sich immer von Neuem in Situationen wieder, in denen sie sich gerne ebenso unsichtbar machen würde wie er.

Frederick gehört eigentlich nicht ihr, aber er lebt schon so lange bei ihr, dass sie mittlerweile doch irgendwie zusammengehören. Sie hat ihn von einer Frau übernommen, die von ihrem Ehemann halb totgeschlagen worden war. Ins Frauenhaus durfte sie Frederick nicht mitnehmen, und nun lebt sie in einer Einzimmerwohnung, in der keine Haustiere erlaubt sind. Darum hat Malou jetzt nicht nur ein Chamäleon als Mitbewohner, sondern betreibt zusätzlich eine Heuschrecken- und Goldfliegenzucht im Garten. Würde sie die einzelnen Tiere zählen, sie müsste eine Bewilligung für einen Kleinzoo einholen.

Malou setzt die Heuschrecke auf einem Pflanzenblatt im Terrarium ab und entschuldigt sich bei ihr. Das ist das Mindeste, was sie tun kann, wenn sie die bedauernswerte Kreatur Frederick zum Fraß vorwirft. In dem Moment schießt aus dem Nichts eine blaue Zunge hervor, und der grüne Hüpfer ist verschwunden. Zwischen zwei Blättern erkennt Malou Fredericks Kopf, zwei zuckende Beine ragen aus seinem Maul.

»Guten Appetit.«

Malou schließt das Terrarium und überlegt, ob sie sich selbst auch ein Frühstück zubereiten soll. Sie entscheidet sich dagegen; sie will heute das erledigen, wofür sie gestern Abend keine Zeit mehr fand: den Besuch bei ihrem Vater. Sie wird unterwegs frische Croissants besorgen und sie ihm mitbringen.

Wenig später klopft Malou im Zentrum Zerebrum an die Tür der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft ihres Vaters, und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis Margaretha öffnet. Als sie endlich aufschließt, ist Malou auf den ersten Blick klar, warum: Die Wohngruppenbetreuerin ist über und über mit Porridge bekleckert.

»Was ist passiert?«, fragt Malou.

»Manfred.« Margaretha verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern. »Er ist ausgetickt, weil ich Urs zuerst bedient habe. Es ist jeden Morgen das gleiche Theater.«

»Hat Pa was abgekriegt?«

»Nein, keine Sorge, er frühstückt wie immer in seinem Zimmer.«

Malou nickt, bedankt sich und schlägt den Weg zu Pas winzigem Zuhause ein. Es ist eigenartig, wie schnell man sich an eine Situation gewöhnt, von der man zuvor dachte, dass man sie niemals würde akzeptieren können. Seit bald zwei Jahren wohnt ihr Vater nun schon im Wohnheim für Demenzkranke – obwohl er noch nicht mal siebzig ist. Pa, der nicht ihr leiblicher Vater ist, ihr aber mehr Vater war, als jemand anderes es je hätte sein können. Jetzt ist er nur noch ein Schatten seiner selbst, und Malou weiß nie genau, was sie erwartet – oder treffender gesagt, wer sie erwartet: Manchmal ist er Pa, manchmal ist er eine Version von Pa, und manchmal ist er ihr völlig fremd. Sie klopft an die Tür. Als es drinnen still bleibt, drückt sie die Klinke runter und öffnet vorsichtig.

»Pa, darf ich reinkommen?«

Sie vernimmt ein unverständliches Murmeln und deutet es als ein Ja.

Ihr Vater sitzt in seinem Polsterstuhl und hat ihr den Rücken zugewandt. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee, die Scheibe Toast hat er nicht angerührt, doch vom Rührei hat er gegessen.

»Hallo Pa, ich bin’s, Malou.«

Er wendet den Kopf, lächelt sie an. »Malou, komm herein.«

»Ich habe dir Croissants mitgebracht. Die mit Füllung, die du so gern magst.«

Jetzt wird Pas Lächeln noch etwas breiter. Malou kann nicht beurteilen, ob er sie erkennt oder ob er ihren Namen bloß wiederholt hat, um diesen Eindruck zu erwecken.

»Wie geht es dir?« Sie legt ihm ein Croissant mit Vanillefüllung auf den Teller und setzt sich auf den zweiten Stuhl.

»Mir geht es mal gut, mal schlecht.« Er blickt das Croissant an, als sähe er so etwas zum ersten Mal in seinem Leben.

»Geht es denn jetzt gerade eher gut oder eher schlecht?« Malou bricht das Croissant für ihn entzwei.

»Ich denke gut.« Jetzt greift er doch nach einer Hälfte, nimmt einen Bissen, und an seiner Mimik erkennt Malou, dass er sich an den Geschmack erinnert. »Sehr lecker, danke«, sagt er mit vollem Mund.

»Ludwig lässt dich grüßen«, schwindelt Malou, die Ludwig schon länger nicht mehr gesehen hat.

»Danke.«

Noch immer kann sie nicht abschätzen, ob Pa weiß, dass sie seine Tochter ist, oder ob er das Gefühl hat, mit einer Fremden zu reden. Er wird immer geschickter darin, zu verschleiern, dass er sich nicht erinnert.

»Sind Sie die neue Physiotherapeutin?«, fragt er in dem Augenblick und gibt ihr damit die Antwort.

»Nein, ich bin Malou, deine Tochter.«

»Ah so.«

Malou lässt sich die Enttäuschung nicht anmerken. In den letzten Monaten sind Pas helle Augenblicke rarer geworden. Sie hat sich daran gewöhnt, dass ihre Gespräche manchmal Monologe sind, aber sie versucht hartnäckig, diese Tatsache zu ignorieren.

»Ich habe einen ersten Fall«, berichtet sie ihrem Vater.

»Einen ersten Fall«, wiederholt Pa.

»Meinen ersten Fall als Privatdetektivin.«

»Ah so.«

»Eine Frau hat sich bei mir gemeldet, die ihr Kind seit vier Jahren vermisst.« Malou schaut Pa dabei zu, wie er gedankenabwesend die zweite Hälfte des Croissants in Angriff nimmt. »Es ist schwierig, in einem Vermisstenfall zu ermitteln, in dem bereits alles unternommen worden ist, um die Person zu finden.«

»Das Croissant ist wirklich lecker.«

»Ich weiß genau, was als Erstes zu tun ist, wenn ein Kind als vermisst gemeldet wird, wie die Suche gestartet wird, wie die Ermittlungen laufen. Aber jetzt …«

»Kann ich bitte noch ein zweites haben?«

Malou halbiert das zweite Croissant, das eigentlich für sie gedacht war, und legt Pa beide Teile auf den Teller.

»Auf jeden Fall muss ich mir die Polizeiakten beschaffen.«

»Mmmmh«, murmelt Pa kauend.

»Früher hätte ich mich dafür einzig ins System einloggen müssen. Jetzt bin ich darauf angewiesen, dass mir einer meiner früheren Kollegen einen nicht ganz legalen Gefallen erweist.«

»Es ist immer gut, Freunde zu haben.«

Malou muss lächeln. Wie recht er hat. »Das Problem ist, dass die eine Kollegin, die ich um Hilfe bitten könnte, selbst im Gefängnis sitzt – und mit dem anderen Kollegen habe ich mich verkracht.«

»Dann musst du dich eben wieder entkrachen.«

Malou streicht ihrem Vater zärtlich über den Arm. Obwohl er meist in einer anderen Welt lebt, gibt er ihr noch immer Ratschläge, so wie damals, als sie ein Kind war, und auch später noch, wenn sie hin und wieder verzweifelt bei ihm anklopfte.

»Ein Kind ist verschwunden?«, fragt Pa plötzlich unvermittelt.

»Ja, ein Mädchen. Es war erst drei Jahre alt. Heute wäre es sieben.«

»Es wird kaum mehr am Leben sein.«

»Ich weiß es nicht, aber ich werde versuchen, es herauszufinden.«

»Suchst du auch nach deiner Mutter?«

Malous Körperspannung verändert sich auf einen Schlag, sie setzt sich aufrecht hin, ist sofort hoch konzentriert. Pa hat schon lange nicht mehr von sich aus von ihrer Mutter gesprochen. Von ihrer leiblichen Mutter.

»Ich habe den Brief von ihr gefunden, den du erwähnt hast. Das habe ich dir schon erzählt.«

»Ja.«

»Und ja, ich werde mich auf die Suche nach ihr machen. Bald.«

»Lass nicht zu viel Zeit verstreichen.«

Malou wartet, es klang, als wollte Pa noch etwas anfügen, aber er schweigt, sein Blick wandert weg, als würde er ihn nach innen richten.

»Pa?«

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, schließt die Augen und verschwindet in der Welt, zu der Malou keinen Zugang hat. Sie erhebt sich, wuschelt Pa liebevoll durchs Haar, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Mach’s gut, Pa. Ich komme in ein paar Tagen wieder.«

»Gut.«

Malou steht bereits in der Tür, da hört sie, dass Pa doch noch etwas murmelt. Sie hält inne und versteht gerade noch das Ende seines Satzes: »… denn plötzlich sind sie alle tot.«

5.

Die Sonnenstrahlen zeichnen ein Abbild des Fensters auf den Parkettboden; sechs in die Länge gezogene Rechtecke, paarmäßig übereinander angeordnet. Laurent Petit sitzt an seinem Schreibtisch und klickt mit dem Finger nervös auf der Computermaus herum. Alex Collin würde am liebsten aufstehen und sie seinem Chef aus der Hand nehmen, aber er bleibt sitzen.

»Alex, ich weiß wirklich nicht, wie du dir das vorstellst. Die Aktion ist gescheitert …«

»Wir waren sehr nahe dran.«

»Nicht nahe genug.«

Alex stellt fest, dass er zu schwitzen beginnt, wie immer, wenn er das Gefühl hat, dass ihm die Kontrolle entgleitet. Ruhig bleiben, raunt er sich in Gedanken selbst zu. »Ich weiß, wir sind zu spät gekommen. Aber das war nicht unser Fehler. Wir mussten viel zu lange auf die Bewilligung für den Zugriff warten. Beim nächsten Mal werden wir sie kriegen.«

»Oder beim übernächsten oder beim überübernächsten Mal? Alex, ich brauche meine Leute anderswo, wir haben schon zu viel investiert. Bis hierher, und nicht weiter. Ich muss die Reißleine ziehen, du weißt selbst, dass es bei uns an allen Enden brennt.« Mit einem Ruck steht Laurent Petit auf, tritt ans Fenster und blickt auf die Rue Gabriel-Vicaire hinab, als ob es dort etwas zu sehen gäbe.

Alex will etwas einwenden, doch sein Chef schneidet ihm das Wort ab.

»Glaub mir, ich bin auch nicht glücklich über die Situation.«

Alex erhebt sich nun ebenfalls, gesellt sich zu seinem Chef ans Fenster und schaut auf dieselbe Straße hinab; nur ein paar geparkte Wagen, kein Mensch ist unterwegs. Etwas weiter weg sieht er einen roten Fleck; seine Ducati Monster, sie ist noch da, was alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist: In Paris wird geklaut, als wäre die Stadt ein großer Selbstbedienungsladen.

»Laurent, ich bitte dich, wir können jetzt nicht aufgeben. Nicht, nach allem, was wir bereits erreicht haben.« Alex bemüht sich, ruhig und sachlich zu klingen. »Hör zu, wir haben es geschafft, mehrere manipulierte Kryptohandys in eine Gruppe einzuschleusen, bei der es sich höchstwahrscheinlich um unsere Männer handelt; während sie sich sicher wähnen, lesen wir mit, was sie kommunizieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie erwischen.«

»Wir haben aber keine Zeit.«

Draußen ist der Motor eines Rollers zu hören, er röhrt, als ob er keinen Auspuff hätte. Etwas weiter weg schlägt eine Kirchenglocke die volle Stunde.

»Wenn wir jetzt aufgeben, haben wir alles verloren; die vielen Arbeitsstunden, die eingesetzten Mittel, alles für nichts und wieder nichts«, hält Alex entgegen. »Und vor allem: Sie werden nicht aufhören. Es wird weitere Opfer geben. Das kannst du doch nicht zulassen?«

Laurent Petit schweigt. Alex weiß, dass das ein gutes Zeichen ist – und der beste Moment, um seinen letzten Trumpf zu spielen.

»Und was, wenn die Presse davon Wind kriegt?«

»Also gut.«

Alex ballt unauffällig die Faust.

»Du kriegst zwei Wochen, keinen Tag mehr. Es ist ein letzter Versuch. Wenn du sie bis dann nicht findest, ist es vorbei.«

Alex nickt, wendet sich ab und verlässt den Raum ohne ein weiteres Wort.

Im gleichen Moment, in dem Alex in Paris aus dem dunklen Flur hinaus an die Sonne tritt, prasseln in der Berner Junkerngasse Regentropfen an eine Fensterscheibe. Würde jemand zur Wohnung im zweiten Stock hochschauen, würde er hinter dem Glas Vera Königs verschwommene Gesichtszüge erkennen. Aber es schaut niemand hoch. Die Menschen verstecken sich unter Regenschirmen, die wie bunte Punkte über die Pflastersteine tanzen. Wer keinen dabeihat, eilt Schutz suchend unter die Lauben. Als ob Regen jemandem schaden würde.

Vera liebt den Regen, dabei war sie früher eine Sonnenanbeterin. Doch seit es passiert ist, erträgt sie schönes Wetter nicht mehr, weil man dann von ihr erwartet, gut gelaunt zu sein. Aber die gute Laune ist ihr abhandengekommen. Nichts ist mehr wie vorher, sie ist nicht mehr die Frau, die sie einmal war, führt nicht mehr das Leben, das sie einst führte; sie hat nicht nur ihr Kind, sondern auch sich selbst verloren. In ihr drin gibt es nur noch Trauer und Wut, Verzweiflung und diese bodenlose Müdigkeit. Und vielleicht eine winzige Prise Hoffnung, die gerade jetzt wieder ein bisschen größer geworden ist.

Vera hat in der Zeitung von Malou Löwenbergs Vermisstenbüro gelesen, von dieser Ex-Polizistin, die so gar nicht aussieht wie ein Bulle, was ihr sofort sympathisch war. Seit sie mit ihr gesprochen hat, ist sie erneut dieser getriebenen Ungeduld verfallen, die sie nur zu gut kennt. Alle paar Minuten checkt sie ihr Handy in der Hoffnung, dass eine Nachricht reingekommen ist. Sie möchte Malou schreiben oder sie anrufen und sie fragen, ob sie schon etwas herausgefunden hat, obwohl ihr klar ist, dass es dafür viel zu früh ist. Doch Vera hält es kaum aus, sich nicht bei Malou zu melden. Sie ist des Wartens müde nach den letzten vier Jahren, in denen sie nichts anderes gemacht hat. Sie mag nicht mehr. Sie kann nicht mehr. Sie fühlt sich nur noch leer. Aber Aufgeben ist keine Option.

Vera wendet sich vom Fenster ab, durchquert den riesigen Raum, der Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem ist, und setzt sich an den Holztisch. Sie greift nach dem Papier, das immer bereitliegt, sie kann nicht zählen, wie viele Briefe sie schon geschrieben hat, wie viele Zeilen und Worte, die wohl niemals gelesen werden. Aber so will sie nicht denken, so darf sie nicht denken. Das Schreiben hilft ihr, gibt ihr Kraft, besonders dann, wenn die Verzweiflung am größten ist. Vera beginnt den nächsten Brief.

Geliebtes und vermisstes Kind, mein Ein und Alles, wo immer Du bist.

Ich habe eine Frau gefunden, die mir helfen wird, Dich zu finden. Sie ist etwa gleich alt wie ich, ich glaube, ich mag sie. Sie war früher Polizistin bei der Mordkommission. Ich frage mich, warum sie damit aufgehört hat, habe sie aber nicht darauf angesprochen. Doch ich habe gelesen, dass sie gut war in ihrem Job: Sie hat letztes Jahr einen großen Fall gelöst. Obwohl sie etwas distanziert wirkte, haben wir uns sofort verstanden. Gleichzeitig habe ich gespürt, dass sie Angst vor dem Auftrag hat, wobei Angst vielleicht das falsche Wort ist, Respekt wäre wohl passender. Respekt vor der Aufgabe und Angst davor, meine Hoffnung zu zerstören. Aber davor muss sie sich nicht fürchten, daran habe ich mich gewöhnt; zu viele Hoffnungen sind schon gestorben, zu viel ist passiert, es kann nicht schlimmer werden. Auf jeden Fall wird Malou Löwenberg die Ermittlungen aufnehmen, wird prüfen, was die Polizei damals übersehen hat. Es kann nicht sein, dass ein Kind spurlos verschwindet, das ist unmöglich. Jemand muss etwas gesehen haben, jemand weiß, wo Du Dich befindest. Ich zwinge mich, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen. Aber wie soll ich es schreiben – ich kann Dir nicht genau erklären, warum, aber ich habe das Gefühl, dass der Besuch in Malous Vermisstenbüro entscheidend war und die Wende bringen wird. Ich wünsche es mir so sehr. Denn seit Du weg bist, fehlt ein Teil von mir. Jeden Morgen muss ich mir von Neuem bewusst machen, dass es wahr ist, dass Du nicht mehr da bist. Es kann nicht sein, dass es Dich nicht mehr gibt. Denn wenn es Dich nicht mehr gäbe, wäre auch ich nicht mehr hier. Wir werden Dich finden. Wir werden wieder zusammen sein.

In Liebe, Mama

Vera König legt den Stift beiseite, faltet das Papier zweimal und steckt es in einen Umschlag. Dann schlüpft sie in die Schuhe, wirft einen Blick auf den Regenschirm – und lässt ihn im Ständer stehen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, geht sie eiligen Schrittes davon.

6.

Malou hat es gerade noch rechtzeitig ans Trockene geschafft. Sie blickt durchs Schaufenster der Crêperie La Chouette nach draußen und beobachtet die Passanten, die versuchen, dem Regen zu entkommen, was ihnen nicht gelingt. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, liegt die alte Reitschule, die heute ein alternatives Kulturzentrum ist. Die Männer, die vor dem Eingang abhängen, suchen unter dem Vordach eines Erkers Schutz. Alles sieht aus wie immer, fast so, als wäre nichts geschehen. Einzig ein Gedenkstein mit vierzehn Namen, ein paar verwelkte Blumen und einige Grablichter erinnern an das schreckliche Attentat, das hier vor bald zwei Jahren verübt wurde.

Malou wendet den Blick ab. Sie versucht, die Speisekarte zu studieren, doch sie kann sich nicht darauf konzentrieren, ihre Gedanken schweifen immer wieder zu Bernard. Überrascht stellt sie fest, dass sie nervös ist. Sie schaut hinaus, doch von ihm ist noch nichts zu sehen. Kein Wunder, sie ist fast eine Viertelstunde zu früh.

Dann musst du dich eben wieder entkrachen, hat Pa zu ihr gesagt. Genau das wird sie versuchen. Bernard hat sofort eingewilligt, sich mittags mit ihr zu treffen. Sie hat sich am Telefon entschuldigt, dass sie sich so lange nicht gemeldet hat, und ihm gesagt, es sei an der Zeit, ihn endlich um Verzeihung zu bitten. In dem Punkt war er mit ihr einig, und sie schlug ein gemeinsames Mittagessen vor. Auch damit war er einverstanden. Weil er nicht viel Zeit hat, haben sie sich in der Crêperie in der Nähe des Polizeipräsidiums verabredet. Und jetzt ist sie auf einmal so nervös, als würde sie nicht ihren Ex-Teamkollegen treffen, sondern als hätte sie ein Date. Wahrscheinlich, weil sie nicht genau weiß, ob er noch immer sauer auf sie ist oder noch immer in sie verliebt, was sie beides nicht hofft – und wohl auch, weil sie genau weiß, dass sie im Unrecht war. Sie fühlt sich gleich in zweifacher Hinsicht schuldig: zum einen, weil sie ihn nach seiner überschwänglichen Anmache fälschlicherweise des Einbruchs und des Stalkings verdächtigt hatte. Andererseits, weil es einen sehr eigennützigen Grund gibt, warum sie sich gerade jetzt zu einer Aussprache treffen und die Trümmer, die sie hinterlassen hat, aus dem Weg räumen will: Sie hofft, dass er ihr verzeiht – und sich bereit erklärt, ihr einmal mehr einen Gefallen zu erweisen. Darüber wird er kaum erfreut sein. Sie wird diplomatisch geschickt vorgehen müssen, sodass er gar nicht merkt, dass sie ihn ganz nebenbei um Hilfe bittet.

Malou vernimmt ein Rumsen, die Glastür wird allzu kräftig aufgestoßen, und ein Hüne stürzt herein. Bernard schüttelt sich wie ein Hund, er ist klitschnass.

»Scheißwetter«, sagt er, als er sich zu Malou herunterbeugt und sie mit drei Wangenküssen begrüßt, als ob nie etwas zwischen ihnen gestanden hätte. Sie atmet innerlich auf.

Bernard entledigt sich seiner Jacke, hängt sie an die Garderobe und setzt sich Malou gegenüber auf den Stuhl, mit einem breiten Grinsen, das sie ebenfalls zum Lachen bringt.

»Danke für dein Friedensangebot«, sagt er munter. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, dass du mich um einen Gefallen bitten willst.«

Malous Lachen verschwindet aus ihrem Gesicht. Von wegen diplomatisches Geschick … Sie fühlt sich von Bernard sofort durchschaut und senkt beschämt den Blick.

»Ha, wusste ich es doch!«

Malou meint zu hören, dass in Bernards Stimme Enttäuschung mitschwingt. »Bernard, es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Und ich will mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich lag falsch, ich habe dir unrecht getan, ich würde es verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben möchtest.«

Bernard schweigt und schaut Malou erwartungsvoll an, also fährt sie fort. »Was ich aber bedauern würde. Ich habe unsere Freundschaft immer geschätzt und wünsche mir, dass wir sie aufrechterhalten können. Du warst mir in einer schwierigen Situation der beste Freund, und mir fiel nichts Besseres ein, als dich falsch zu beschuldigen und dir zu misstrauen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«

»Ja.«

»Was ja?«

»Ich verzeihe dir. Was nicht heißt, dass ich dein damaliges Verhalten verstehe. Ich meine: Du hättest mich haben können und hast dich für einen Mann entschieden, der dir nachgestellt und dir nicht gutgetan hat.« Bernard sagt es mit einem Schmunzeln, doch Malou weiß, dass er es ernst meint.

»Du hast ja recht.«

»Immerhin scheint die Einsicht da zu sein.«

»Entschuldige.«

»Entschuldigung angenommen. Ich finde, ein gemeinsames Abendessen wäre als Wiedergutmachung angebracht …«

»In Ordnung.«

»Gut.« Bernard nickt zufrieden. »Darf ich dich noch was fragen?«

»Klar.«

»Hast du wegen mir den Dienst quittiert?«

»Nein, Bernard, nein!« Malou schüttelt heftig den Kopf. »Es waren mehrere Gründe; die ganze Geschichte, unser Chef, der mich nicht in dem Cold Case ermitteln ließ, die Sache mit Bettina, die meinen Gerechtigkeitssinn erschüttert hat, das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, immer einen Schritt zu spät zu kommen und nichts bewirken zu können. Es stimmte einfach nicht mehr.«

»Und jetzt?« Bernard blickt Malou skeptisch an. »Ist es jetzt besser, oder vermisst du deinen alten Job?«

Malou zögert. Obwohl sie sich vorgenommen hat, niemandem von der Sache mit Oscar zu erzählen, tut sie es nun doch. Sie berichtet Bernard von ihrem vermeintlich ersten Auftrag und von dem Moment, als sie realisierte, dass Frau Baumgartner weder ihren Ehemann noch ihren Sohn vermisste, sondern ihren Dackel. Bernard kann sich vor Lachen kaum auf dem Stuhl halten. Doch als Malou fortfährt und ihm berichtet, dass sie danach von Zweifeln überflutet wurde und beinahe ihren Ex-Chef Sandro angerufen hätte, um ihn zu bitten, sie erneut einzustellen, wird er wieder ernst.

»Sandro würde dich mit Handkuss nehmen, wir ersaufen in der Arbeit. Komm zurück!«

»Nein, ich kann nicht. Überdies habe ich nun tatsächlich einen ersten Fall. Es geht um …«

»Haben Sie schon etwas gefunden?«, fragt in dem Moment der Kellner.

»Ich nehme die Crêpe mit Bûche de chèvre, Blattspinat und Schinken.« Bernard bestellt ohne einen Blick auf die Karte, er scheint hier Stammgast zu sein.

»Ich auch«, sagt Malou rasch.

»Erzähl von deinem ersten Fall.« Bernard nimmt den Faden sofort wieder auf, als der Kellner außer Hörweite ist.

»Es geht um ein vermisstes Mädchen, ihr Name ist Emily.«

»Ich erinnere mich, das muss etwa drei, vier Jahre her sein.«

»Ja, sie verschwand von einem Kinderspielplatz.«

»Du bist dir aber bewusst, dass damals alles unternommen wurde, um die Kleine zu finden? Du wirst kaum was Neues herauskriegen.«

»Jetzt redest du genau wie Sandro. Dass die Polizei damals ermittelte, heißt noch lange nicht, dass nichts übersehen wurde.« Malou klingt trotziger als beabsichtigt. »Wenn ich so denken würde wie du, könnte ich mein Vermisstenbüro gleich wieder schließen. Es lohnt sich immer, noch einmal einen Blick auf einen ungelösten Fall zu werfen. Vielleicht gibt es heute Spuren, die damals noch nicht sichtbar waren – weil sich jemand doch noch an etwas erinnert oder weil jemand heute bereit ist, zu reden, was damals noch nicht ging. Zum Beispiel die Freundin des Täters, die heute eine Ex-Freundin und daher gesprächiger ist.«

»Schon gut, schon gut, du hast ja recht. Allerdings beschleicht mich langsam der Verdacht, dass dein heutiges Friedensangebot tatsächlich an einen Gefallen meinerseits gekoppelt ist.«

Wieder wird Malou sofort rot, doch Bernard stupst sie freundschaftlich an.

»Ist schon in Ordnung. Ich schau mal, ob ich die Polizeiakten aufspüren und kopieren kann.«

»Danke, Bernard.«

»Dafür sind Freunde schließlich da.«

»Ich schulde dir was.«

»Und Freunde sind wir ja jetzt wieder, oder?«

Bernard grinst, auch Malou muss lachen.

»Ja, sind wir, ich freu mich, danke, dass du nicht nachtragend bist.«

Der Kellner stellt die beiden Teller mit den Crêpes auf den Tisch. Erst jetzt realisiert Malou, wie hungrig sie ist.

»Guten Appetit«, murmelt sie bereits mit vollem Mund.

»Ich kann das heute Abend erledigen und dir die Akten vorbeibringen.« Bernard schneidet seine Crêpe in Stücke, hält inne. »Oder sie dir irgendwo übergeben«, schiebt er nach, weil die Erinnerung an seinen letzten Besuch bei Malou zu Hause keine gute ist.

»Was für dich besser passt«, meint Malou.

»Ich schau mal.« Bernard schiebt sich eine Portion in den Mund.

»Warst du damals selbst an dem Fall dran?«, fragt Malou.

»Nein. Aber ich erinnere mich, dass irgendwas seltsam war.«

Malou will gerade die nächste volle Gabel zum Mund führen, doch sie verharrt in der Bewegung. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß es nicht mehr, aber irgendwas war da.«

»Was war da?« Malou legt die Gabel auf den Teller.

»Ich kann es dir wirklich nicht mehr sagen. Vielleicht verwechsle ich auch etwas. Aber ich glaube, da war etwas, das bei mir ein ungutes Gefühl ausgelöst hatte.«

»Ein Bauchgefühl?«

»Ein Bauchgefühl.«

Sie blicken sich an und wissen, dass sie sich in einem Punkt einig sind: Mit dem Bauchgefühl liegt man fast immer richtig. Aber eben nur fast.

7.

»Das ist meins!«

»Nein, meins!«

»Aber ich habe zuerst damit gespielt!«

»Mama! Er hat mir das Auto weggenommen!«

Malou weiß genau, was gleich folgen wird, und sie muss nicht lange darauf warten: Das Mädchen, das neben der Rutsche auf dem Boden sitzt, holt tief Luft und setzt zu einem Schrei an, der es mit jedem Katastrophenalarm aufnehmen kann. Erstaunlich, dass ein so kleiner Mensch fähig ist, einen so großen Lärm zu verursachen, denkt sie. Die Mutter, die gerade noch in ein Gespräch mit einer Freundin vertieft war, kommt sofort angerannt, als drohte der Weltuntergang. Einmal mehr ist Malou dankbar dafür, dass sie nie den geringsten Kinderwunsch verspürt hat. Schon mit zwanzig war ihr klar, dass sie kinderfrei durchs Leben gehen wollte, und sie hat es nie bereut, im Gegenteil. Die Spielplatzwelt ist ihr daher völlig unvertraut, auf Spielplätze verirrt sie sich nur, wenn sie jemanden beschatten muss oder wenn sie zu einem Tatort geworden sind. So wie dieser hier.

Nachdem sie sich von Bernard verabschiedet und sich auch der Regen verzogen hatte, rief Malou Vera König an, um sie zu fragen, ob sie ihr vor Ort zeigen würde, wo genau Emily verschwunden sei. Vera war von der Idee verständlicherweise nicht gerade begeistert – zu schmerzhaft die Erinnerung –, willigte aber schließlich ein, sie auf dem Spielplatz Schützenweg zu treffen.

Malou ist absichtlich etwas zu früh dran; sie will zunächst alles allein in Augenschein nehmen, die Stimmung in sich aufsaugen, den Ort spüren. Sie setzt sich vor dem blau bemalten Schuppen auf eine Bank, die auf den Abenteuerspielplatz ausgerichtet ist, und beobachtet, wie es der Mutter gelingt, den Streit um das Spielzeugauto zu schlichten und das Mädchen zu beruhigen.

Als Kind hätte Malou diesen Spielplatz geliebt: Die Rutsche ragt aus dem Bauch eines bunt bemalten Piratenschiffs, gleich daneben steht ein echter Flugzeugrumpf, der als eine Art Burg dient. Fuck Nazis hat jemand an dessen Außenseite gesprayt, darüber prangt der Slogan: Kein Gott, kein Staat, kein Fleischsalat. Hinter der Schaukel rostet ein ausgedientes Auto-Chassis vor sich hin, an dessen Fahrertür ein roter Sowjetstern verblasst – derselbe, den sich Malou vor vielen Jahren im spätpubertären Übermut in einer alkoholgeschwängerten Nacht zwischen die Schulterblätter hat tätowieren lassen. Eine nachhaltige Jugendsünde. Alles hier wirkt kunterbunt und selbst gebastelt, ein Anarcho-Spielplatz, ein Paradies für Kinder. Kaum vorstellbar, dass sich hier vor wenigen Jahren das Drama um Emily ereignet hat. An einem Ort wie diesem vermutet man nichts Böses. Allerdings ist es hier auch nicht schwierig, ein Kind aus den Augen zu verlieren.

Aber Emily ist nicht während des Spielens verschwunden, ruft sich Malou in Erinnerung, sondern sie saß im Buggy und war plötzlich weg. Doch wer weiß, vielleicht war es auch ganz anders. Malou kennt das von sich selbst: Man hat das Gefühl, nur einen kurzen Moment unaufmerksam gewesen zu sein – tatsächlich hat man aber zwei, drei Kurznachrichten gelesen oder die E-Mails gecheckt, und schon sind mehrere Minuten vergangen, in denen ein kleines Mädchen ohne Weiteres aus dem Buggy klettern kann. Gut möglich also, dass Emily nicht aus dem Wagen geraubt wurde, sondern dass sie gerade dabei war, den Spielplatz zu erkunden, als ihr jemand begegnet ist, der die Situation kaltblütig ausgenutzt hat.

Malou steht auf und schreitet langsam den Spielplatz ab, versucht, sich in die Situation hineinzuversetzen. Vielleicht saß Vera damals auf derselben Bank wie sie gerade eben. Das Mädchen kann überallhin verschwunden sein, wenn die Mutter einige Minuten abgelenkt war. Malou geht zum Piratenschiff hinüber, blickt in dessen Bauch hinein, wendet sich um, schaut zurück zur Bank und erschrickt: Vera sitzt darauf. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt eine riesige Sonnenbrille, obwohl sich die Sonne nach dem Regen noch nicht wieder hat blicken lassen. Malou hat Vera nicht kommen sehen, rasch geht sie zu ihr hinüber. Statt ihr die Hand zu reichen, legt sie sie ihr auf die Schulter.

»Vera, bist du in Ordnung?«

»Ja, alles okay.«

Malou sieht ihr die Lüge an. Veras Gesicht wirkt blass, ihre Mimik ist versteinert, ihre Hände zittern. Sie ist nur noch ein Schatten jener Frau, die sie erst gestern im Vermisstenbüro aufgesucht hat. Malou hat ein schlechtes Gewissen, dass sie der Mutter eine erneute Tatortbegehung und den damit verbundenen Schmerz zumutet.

»Es tut mir leid, dass ich dich hergebeten habe, das war ein Fehler.«

»Nein, ist schon gut, alles gut.«

»Es wird nicht lange dauern. Ich habe mich schon umgesehen. Kannst du mir zeigen, wo du genau gestanden hast, als Emily verschwand, und wo sich der Buggy befand?«

Vera zeigt unbeholfen Richtung Piratenschiff.

»Können wir kurz hingehen?«, fragt Malou.

Wortlos steht Vera auf, sie bewegt sich wie ferngesteuert. Malou verspürt einen Stich im Herzen. Zwei Meter neben der Rutsche, fast genau dort, wo sich vorhin die Kinder gestritten haben, hält Vera inne, blickt sich um.

»Hier, ungefähr hier muss es gewesen sein.« Sie bewegt sich etwas nach rechts, kehrt wieder zurück. »Ja, hier, hier war das.«

»Und wo stand der Buggy?«

»Direkt neben mir, rechts von mir, vielleicht ein, zwei Schritte entfernt.«

»Weißt du noch, was du getan hast, als du abgelenkt warst? Nachrichten gelesen, telefoniert?«

»Ich weiß es nicht mehr. Mir fehlt die Erinnerung, da ist nur ein schwarzes Loch. Alles ist weg. Vielleicht hat mir jemand geschrieben, und ich habe rasch geantwortet, oder es war ein Anruf, ich erinnere mich einfach nicht. Ich weiß nur noch, wie ich mich zum Buggy umdrehte und nichts begriffen habe. Ich verstand im ersten Moment nicht, warum er leer war und was es bedeutete. Ich sah zwar, dass Emily nicht darin saß, aber es ergab für mich keinen Sinn. Doch dann begann ich, nach ihr zu suchen, nach ihr zu rufen, zu schreien … Ich habe sie nicht gefunden.«