Verratene Kinder - Nicole Glocke - E-Book

Verratene Kinder E-Book

Nicole Glocke

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Beschreibung

Am 18. Januar 1979 flüchtet der Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit Werner Stiller in die Bundesrepublik Deutschland. Mit sich führt er zwei Koffer geheimer Unterlagen, durch die kurz darauf mehrere Westagenten enttarnt werden. Unter ihnen ist der Vater von Nicole Glocke, Mitarbeiter in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken. Er wird verhaftet, für die Neunjährige bricht eine Welt zusammen.
Über zwei Jahrzehnte später unternimmt die Tochter den Versuch, sich mit den Motiven ihres Vaters auseinanderzusetzen. Doch dieser verweigert die notwendigen Informationen, und die Akten über ihn sind vernichtet. Ihre Recherchen richten sich deshalb zunehmend auf den Mann, der das Trauma ihrer Kindheit ausgelöst hat, Werner Stiller. Sie sucht die Begegnung mit ihm und findet so den Kontakt zu seiner Tochter Edina, die Stiller mit seiner Familie in der DDR zurückgelassen hat.
Die rasch wachsende Vertrautheit zwischen den etwa gleichaltrigen Frauen führt zu einem schonungslosen Rückblick auf ihre Vergangenheit und auf die Väter. Sie fühlten sich getäuscht und verlassen und waren lange Zeit gezwungen, sich der Lüge und dem Schweigen zu beugen. Das hat ihr Leben auf unterschiedliche Weise geprägt. Nunmehr versuchen sie, den eigenen Standort zu bestimmen und ohne die Väter ihr wahres Leben zu finden.

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Seitenzahl: 274

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Nicole Glocke/Edina Stiller

Verratene Kinder

Nicole Glocke/Edina Stiller

VERRATENE KINDER

Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland

Die im Text mit* gekennzeichneten Namen wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen geändert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Juni 2014 (entspricht der 2. Druck-Auflage von März 2014) ©Christoph Links Verlag GmbH, 2003 Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: Ch. Links Verlag, unter Verwendung eines Fotos von Shutterstock (60437521) Satz: Marina Siegemund, Berlin

ISBN 978-3-86284-284-1

Inhalt

Der Übertritt

Die Väter

Werner Stiller

Karl-Heinz Glocke

Die Töchter

Edina Stiller

Das erste Wiedersehen 1990

Nicole Glocke

Das Schlüsselerlebnis 1999

Edina Stiller

Ich habe viel geweint und immer wieder nach ihm gefragt

Nicole Glocke

Ich habe mich so geschämt

Edina Stiller

Das Leben ging weiter, und irgendwann dachte ich nicht mehr an ihn

Nicole Glocke

Versuch einer Annäherung an den Vater. Wer war Werner Stiller?

Edina Stiller

Erst jetzt fühlte ich mich wirklich verlassen

Nicole Glocke

Die ganze Nacht dachte ich an diesen einen Satz

Edina Stiller

Ich wollte meinen Vater nicht noch einmal verlieren

Nicole Glocke

Wir müssen ohne die Väter unser wahres Leben finden

Nachwort

Zu den Autorinnen

Der Übertritt

Am 18. Januar 1979 gelang Werner Stiller, Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit, im zweiten Anlauf die Flucht in die Bundesrepublik Deutschland. Mit sich trug er zwei Koffer, in denen sich geheime, hoch informative Unterlagen befanden, die unter anderem zur sofortigen Verhaftung von 17 Westagenten des MfS führten. Mindestens 15 weitere Agenten flohen aus Furcht vor ihrer Enttarnung in die DDR.

Noch am gleichen Abend wurde in Berlin die Familie Stillers – seine Ehefrau und die beiden Kinder – durch Mitarbeiter des MfS von ihrer Umwelt isoliert, mit rigidem Kontaktverbot belegt und wenige Tage später an einen anderen Ort verbracht.

Der Verrat Stillers traf sie vollkommen unvorbereitet.

Zehn Tage später erfolgte im Ruhrgebiet durch das Bundeskriminalamt eine Hausdurchsuchung bei der ahnungslosen Familie des durch Stiller enttarnten MfS-Agenten Karl-Heinz Glocke, langjähriger Spion in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (RWE). Er befand sich zu der Zeit auf einer Dienstreise; die Vermutung, er habe sich bereits in die DDR absetzen können, erwies sich als unrichtig. Glocke wurde am darauffolgenden Tag an seinem Arbeitsplatz verhaftet.

Zurück blieben seine Ehefrau und zwei Kinder.

Die Väter

Werner Stiller

Geboren 1947 in Weßmar als unehelicher Sohn einer geschiedenen Landarbeiterin; zwei Schwestern. 1966 Abitur; 1966–71 Studium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, Diplom-Physiker. 1967 Eintritt in die SED; 1970 Heirat; 1970 Werbung als IM des Ministeriums für Staatssicherheit; 1971 Mitarbeiter der Physikalischen Gesellschaft der DDR; 1972 Einstellung beim MfS, Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), Sektor Wissenschaft und Technik; 1976 Oberleutnant; Spionage für den Bundesnachrichtendienst; 1979 Übertritt in die Bundesrepublik Deutschland; 1979 Scheidung (in Abwesenheit), zwei Kinder.

1980 USA; mit neuer Identität 1981 Studium an der Washington University of St. Louis, Master of Business Administration; dann Tätigkeit als Börsenmakler in New York; 1983 London; 1990 Rückkehr nach Frankfurt (Main); 1993 Immobilienhändler in Leipzig, danach in Budapest tätig, wo er noch heute lebt.

Karl-Heinz Glocke

Geboren 1934 in Herne als ältester Sohn einer Bergarbeiterfamilie; zwei Schwestern. Volksschule; Lehre als Maschinenschlosser; arbeitet in diesem Beruf bis 1963. Heirat 1959; zwei Kinder. Besuch der Technikerschule, 1964 Abschluß als Maschinenbautechniker; 1964–1969 Studium an der Freien Universität Berlin, Diplom-Soziologe. 1971 Eintritt in die CDU; Anwerbung als Agent des Ministeriums für Staatssicherheit; Tätigkeit als Personalreferent und Personalleiter in verschiedenen Firmen; nebenberuflich Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie an der Fachhochschule Hagen; ab 1976 bis zu seiner Verhaftung 1979 Leiter der Personalwirtschaft bei den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken. 1980 wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt; lebt im Ruhrgebiet.

Die Töchter

Edina Stiller

Das erste Wiedersehen 1990

Das plötzliche Rucken reißt mich aus meinen verworrenen Träumen. Was ist passiert? Ich spüre, wie der Zug langsamer rollt. Sind wir schon da? Das kann nicht sein. Laut Fahrplan sollen wir um drei Uhr in Frankfurt ankommen. Jetzt ist es erst zwei. Als ich aufstehe, um den Zugbegleiter zu fragen, ruckelt es ein wenig, und der Zug fährt wieder an. Erleichtert kehre ich zu meinem Platz zurück. Ich drehe meinen Kopf zum Fenster und sehe die herbstliche Landschaft mit zunehmender Geschwindigkeit an mir vorbeirauschen und nehme sie doch nicht wahr.

Meine Empfindungen schwanken wieder zwischen Erwartung und Zweifel. Wie wird er sein, dieser Mann, der sich Peter Fischer nennt und mein Vater ist und über den ich erst vor kurzer Zeit die Wahrheit erfahren habe, die mir noch immer unfaßbar erscheint? Wie wird er aussehen? Werde ich ihn erkennen? Wird er mich erkennen? Ich war ja noch ein Kind, als er uns verließ. Warum hat meine Mutter mir auch die Wahrheit erzählen müssen, nachdem ich jahrelang so gut wie möglich versucht hatte, die Lüge zu akzeptieren? Warum hat sie mich nicht in dem Glauben lassen können, daß er mit einer zehn Jahre älteren Kellnerin durchgebrannt war und nichts mehr mit uns zu tun haben wollte? Jetzt weiß ich, daß er ein durch seine Republikflucht bekannt gewordener und beruflich erfolgreicher Mann ist, der die ganze Welt gesehen hat. Bestimmt stellt er sehr hohe Erwartungen an mich, die ich gar nicht erfüllen kann. Dabei will ich doch, daß er mich akzeptiert und stolz auf mich ist …

»Wir erreichen gleich den Hauptbahnhof Frankfurt!« tönt es schließlich in meine Gedanken hinein. Der Zug kommt zum Stehen. Ich richte aufgeregt mein Haar, nehme meinen Koffer und steige aus dem Zug. O Gott, so viele Leute! Am Ende des Bahnsteigs erblicke ich einen Mann, der auf jemanden zu warten scheint. Das kann nur er sein. Und tatsächlich: Er kommt auf mich zu, er hat denselben leicht schaukelnden Gang wie ich und lächelt mir ein wenig unsicher entgegen. Ich versuche, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen, um nicht gleich einen ungünstigen Eindruck zu machen. Selbstbewußtsein ist nicht gerade meine Stärke. Plötzlich ist der Mann bei mir und nimmt mich in seine Arme. Liebe und Abwehr durchströmen gleichzeitig meinen Körper. Was tut er da, ich kenne ihn doch gar nicht, und dennoch verspüre ich für einen kurzen Moment ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Er läßt mich los, und wir sehen einander an. So klein habe ich ihn mir gar nicht vorgestellt, aber er hat ein sympathisches Äußeres. Besonders gut gefallen mir seine wachen, jungenhaften braunen Augen.

Als erstes fragt er mich, ob es mir gut gehe und wie mir die Zugfahrt gefallen habe. Ich antworte etwas Belangloses und hoffe, daß es nicht allzu dumm klingt. Er nimmt meinen Koffer, wir gehen zu seinem Auto, steigen ein, und er sagt, daß ich ein hübsches Mädchen sei. Na ja, was soll er auch anderes sagen. Meine Angespanntheit will nicht nachlassen, mir liegen so viele Fragen auf der Zunge, aber ich bekomme einfach den Mund nicht auf. Auch der Mann, der so nah neben mir sitzt und mein Vater sein soll, schweigt. Ich blicke stumm auf die Leuchtreklamen, die vielen Cafés und die hohen Frankfurter Häuser. In meine Gedanken hinein sagt er mir, daß er mich erst einmal bei sich absetzen und dann noch einmal in die Bank fahren müsse. Damit habe ich nicht gerechnet, aber ich hoffe, daß er sich danach Zeit für mich nehmen wird.

Der Wagen hält vor einem Haus, und ich mag meinen Augen kaum trauen. Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt. Eine Nobelvilla steht neben der anderen, umgeben von gepflegten Gärten. Aus der DDR kenne ich vor allem diese ewig gleichen Plattenbauten. Ich kann mich an keine Wohngegend erinnern, die in ihrer Exklusivität dieser hier auch nur entfernt geähnelt hätte. In seiner Wohnung erlebe ich die nächste Überraschung. Dafür, daß hier nur eine Person lebt, erscheint sie mir überdimensional groß. Das Wohnzimmer wirkt durch die spärliche und ohne die in der DDR übliche Schrankwand sehr luxuriös, es stehen dort lediglich ein edler Tisch, eine Couch, Sessel, eine CD-Anlage, und an den Wänden hängen ein paar dekorative Bilder. Die Stimme meines Vaters reißt mich aus meinem Staunen. Er stellt meinen Koffer in das Eßzimmer, sagt im Vorbeigehen, daß er sich beeilen werde, und ist auch schon weg.

Zumindest habe ich jetzt die Möglichkeit, mir die Wohnung genauer anzuschauen. Das Bad ist riesengroß und rundum gefliest, im Schlafzimmer befinden sich ein sehr schönes Doppelbett und eine große Schrankwand, die ich auch gleich öffne. Da hängen, perfekt gebügelt, lauter Anzüge mit Markennamen wie Joop und Boss. Schließlich entdecke ich die Speisekammer und bin begeistert. Sie ist angefüllt mit Dingen, die ich noch nie gesehen habe. Ich nasche ein wenig, in dem Moment klingelt es an der Wohnungstür. Zögernd öffne ich, und vor mir steht eine Frau wie aus dem Filmmagazin. Sie ist klein, zierlich, mit rehbraunen Augen in einem ebenmäßigen Gesicht, die dunklen Haare zu einem Knoten zusammengefaßt, und erinnert mich an Pam aus Dallas. Sie schaut mich genauso überrascht an wie ich sie und fragt nach Peter Fischer. Ich antworte ihr, daß er noch einmal in die Bank gefahren sei, und schon ist sie in der Wohnung und sagt, daß sie auf ihn warten werde. Sie setzt sich im Wohnzimmer in einen Sessel, mustert mich kurz, und dann schweigen wir uns an. Zum Glück läßt mein Vater tatsächlich nicht lange auf sich warten. Ich höre, wie er die Tür aufschließt, und sofort beginnen er und diese fremde Frau eine heftige Diskussion in englischer Sprache. Sie scheinen vergessen zu haben, daß ich im Zimmer bin. Leider reicht mein Schulenglisch nicht aus, um zu verstehen, worum es geht. Endlich bemerken sie, daß ich auch noch da bin. Mein Vater macht uns flüchtig miteinander bekannt und schlägt vor, irgendwo etwas essen zu gehen. Wir fahren in einen Biergarten, und kaum daß wir uns an einen der langen Holztische gesetzt haben, führen die beiden ihren Streit fort. Zwischendurch stellen sie mir ein paar belanglose Fragen und wenden sich dann sofort wieder einander zu. Diese Frau ist mir unsympathisch. Das ist mein Vater, möchte ich ihr am liebsten sagen, er gehört mir! Nach einer mir endlos erscheinenden Zeit verabschiedet sie sich, wir fahren zurück in die Wohnung, und ich bin froh, ihn endlich für mich zu haben.

Das sei seine amerikanische Ehefrau, erzählt er mir unterwegs, und es werde aufgrund einiger unüberwindlicher Diskrepanzen wahrscheinlich bald zur Scheidung kommen. Er holt Wein, und wir setzen uns in das Wohnzimmer. Er fragt mich nach meiner schulischen Vergangenheit aus und warum ich eine solche Lehre gewählt habe und findet es komisch, daß gerade ich als seine Tochter Chiffreur bei der NVA geworden bin. Er fragt nach meinem Bruder, nach meinem Verhältnis zu ihm und zu meiner Mutter und nach meinen Beziehungen zu Männern. Ich antworte auf viele Fragen reserviert und bleibe die ganze Zeit gehemmt.

Obwohl mich der Tag sehr erschöpft hat, kann ich lange nicht einschlafen. Mir ist das Herz so voll, und viele Gedanken schießen mir durch den Kopf. Dieser Mann ist zwar mein Vater, aber er ist mir auch fremd. Ob sich mit der Zeit eine Nähe einstellen wird?

Ich bin gespannt auf den kommenden Tag, doch am Morgen erklärt mir mein Vater, daß er leider keinen Urlaub bekommen habe und wieder in die Bank müsse. Ich bemühe mich, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. So habe ich mir unser erstes Zusammensein nach über zehn Jahren wirklich nicht vorgestellt. Hätte er nicht wenigstens für die kurze Dauer meines Besuches Urlaub nehmen können? Er gibt mir etwas Geld, erklärt mir den Weg ins Zentrum, verspricht, daß er sich beeilen werde, und geht.

Traurig frühstücke ich allein und beschließe, mir etwas Schönes zu kaufen, vielleicht wird es mir dann besser gehen. Trotz des Reichtums und des Prunks, den diese Stadt ausstrahlt, bemerke ich an vielen Ecken Bettler und sonstige heruntergekommene Gestalten. Das kannte ich aus der DDR nicht. Ich will das Elend nicht sehen und wende mich den Auslagen in den Geschäften zu. Was es in Cottbus oder Ost-Berlin zu wenig gab, ist hier in verschwenderischem Überfluß vorhanden. Nach einer Weile fühle ich mich wie erschlagen. Dann schaffe ich es aber doch noch, für mich etwas Passendes zum Anziehen zu erstehen, und mache mich auf den Rückweg. Wider Erwarten ist mein Vater doch schon da. Er hat eingekauft und ist dabei, für uns zu kochen. Es berührt mich, ihn in der Küche hantieren zu sehen, und ich bin überrascht, wie gut er kochen kann.

Der Abend und die drei folgenden Tage verlaufen dann etwa in der gleichen Weise. Er geht jeden Tag in die Bank, abends besuchen wir ein Restaurant oder er kocht selbst. Er fragt nach Einzelheiten aus meinem Leben und dem unserer Familie und erzählt von sich, seiner Flucht, die ihn um Haaresbreite vor seiner Verhaftung rettete, dem aufregenden Leben mit der neuen Identität, seiner Arbeit, seinen Reisen und den Frauen. Zwischendurch erkundigt er sich fortwährend nach meinem Wohlbefinden und versucht mich mit lustigen Anekdoten aus seiner Vergangenheit zum Lachen zu bringen. Schließlich ist es auch für ihn nicht einfach, sich plötzlich auf eine fast erwachsene Tochter einzustellen, und ich mache es ihm bestimmt auch nicht leicht. Ich weiß, daß ich manchmal ziemlich reserviert auf andere Menschen wirke und sie deswegen Schwierigkeiten haben, mit mir umzugehen. Gerade bei Menschen, die mir auf die eine oder andere Art sehr wichtig sind, schaffe ich es nur schwer, mich zu öffnen, und bei ihm fällt es mir besonders schwer, weil ich nicht weiß, was er von mir erwartet. So frage ich auch nicht weiter nach den Gründen für seinen damaligen Weggang.

Beim Abschied bin ich einerseits traurig, mir ist, als hätte ich etwas Wichtiges versäumt und als sei mir zugleich etwas Wesentliches vorenthalten worden, denn eine wirkliche Nähe zu ihm ist nicht entstanden. Andererseits fühle ich aber auch so etwas wie Erleichterung. In seiner Gegenwart empfinde ich ständig ein Gefühl der Minderwertigkeit, spüre den Druck, ihm gefallen zu wollen und seinen Anforderungen zu entsprechen.

Natürlich ist es unmöglich, in der kurzen Zeit des ersten Wiedersehens ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, aber während der Zug langsam aus dem Bahnhof rollt, fühle ich bereits die Unsicherheit in mir hochsteigen, ob uns dies nach den langen Jahren der Trennung überhaupt noch gelingen kann.

Nicole Glocke

Das Schlüsselerlebnis 1999

Nie hätte ich gedacht, daß es so leicht sein würde, in Berlin eine Wohnung zu finden. Schon die zweite Wohnungsbesichtigung hatte sich als Erfolg erwiesen. Mein neues Zuhause lag direkt am See und war viel gemütlicher und größer als meine alte Wohnung in Bonn. Zwar wollte ich eigentlich nicht mehr im Erdgeschoß wohnen, aber der See hatte mich fasziniert, und eines war mir klar: Eine derartig schöne Lage würde ich so schnell nicht wieder finden.

Trotzdem freute ich mich überhaupt nicht auf Berlin. Ich empfand die Stadt teilweise als häßliche und vergangenheitsbeladene Steinwüste, ihre Größe erschien mir unheimlich, und ich fühlte mich in ihr verloren. Bonn hingegen war ein kleines, ruhiges und überschaubares Städtchen. Aber was hätte ich tun können? Ich arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einer Bundestagsabgeordneten und hatte mich bei der Einstellung verpflichtet, nach Berlin zu ziehen. Jeden Tag verfluchte ich den Beschluß des Bundestages, den Parlamentssitz hierherzuverlegen. Andererseits, so meine Überlegung, hatte der Umzug auch etwas Gutes. Er bot die Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen und weit weg von meiner Familie und meiner Heimatstadt im Ruhrgebiet ein völlig neues Leben zu beginnen – trotz allen Abschiedsschmerzes und aller Bedenken.

Nach zwei Tagen war ich mit dem Auspacken der unzähligen Umzugskisten und dem Einrichten meiner neuen Wohnung fertig. Ich freute mich, noch ein paar Tage freizuhaben, weil sich der Büroumzug etwas verzögerte, ging täglich im See schwimmen und genoß die Sonne. Ich fühlte mich im Grunewald wohl. Die Ruhe hier tat mir gut.

Eines Abends, als ich wieder schwimmen gehen wollte, stand ein Mann auf dem Steg. Ich schätzte ihn auf etwa 50 Jahre. Er wirkte etwas verloren und schaute mich unsicher an. Wir stellten uns gegenseitig als neue Nachbarn vor, sprachen über etwas Belangloses, und ich beendete das Gespräch mit einem Sprung ins Wasser. Als ich wiederkam, stand er noch an derselben Stelle, blickte mich an, und ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte. Ich beschloß, nicht auf ihn zu achten, und ging in meine Wohnung.

Am nächsten Abend stand er wieder auf dem Steg. Weil ich gerade dabei war, meine Wäsche aufzuhängen, begrüßte ich ihn nur kurz. Er schwärmte von seiner Dachterrasse und lud mich ein, sie zu besichtigen. Ich spielte Freude vor, insgeheim aber dachte ich, daß ich nicht hingehen würde, weil ich Gesprächspartner in meinem Alter suchte.

Ein paar Tage später änderte ich meine Meinung: Ich war neu in der Stadt und kannte niemanden, so daß ich die Abende allein verbrachte. Daher schellte ich eines Nachmittags doch bei meinem neuen Nachbarn und berief mich auf seine Einladung. Er schien sich zu freuen und bat mich zu sich herein. Im ersten Augenblick dachte ich, ich wäre in einem Haus aus Goethes Zeiten. Antike Möbel verliehen der Einrichtung etwas Düsteres, an den Wänden hingen Bilder, die Szenen aus der Zeit der preußischen Könige darstellten, und dann die vielen Uhren: Standuhren, kleine Uhren, große Uhren. Und alle gingen sie falsch. So also leben die Berliner, ging es mir spontan durch den Kopf. Wir stiegen auf die Dachterrasse. Sie war wirklich sehr schön, eine so große und mit Pflanzen stilvoll geschmückte Dachterrasse hatte ich noch nie gesehen. Der Ausblick über den Grunewald war überwältigend. Die Blätter spiegelten sich im Sonnenlicht, und die Dächer boten einen bizarren Anblick: spitze Dächer und flache Dächer, solche mit bogengeschmückten Dachfenstern und imitierten Fachwerkfassaden, mit Mansarden und Erkern.

Ich sagte zu meinem Nachbarn, daß es sich während der Sommermonate hier bestimmt herrlich feiern ließe. Das bestätigte er. Während der achtziger Jahre hätten hier tatsächlich viele Partys stattgefunden, alle Sitzplätze seien besetzt gewesen, aber diese Zeiten seien vorbei und nicht mehr wiederbelebbar. Was das denn für Zeiten gewesen seien, wollte ich wissen, aber er antwortete nicht. Dafür sprach ich um so mehr. Ich erzählte, daß ich bald Geburtstag hätte, am 7. Oktober, und äußerte meine Hoffnung, bis dahin neue Bekannte kennengelernt zu haben. Da hatte doch auch die DDR Geburtstag, sagte er, und konnte es gar nicht glauben. Ich selbst habe nie daran gedacht, schließlich war ich völlig westlich sozialisiert. Ich wechselte das Thema und erzählte, daß mein Büro im früheren DDR-Justizministerium in der Dorotheenstraße, früher Clara-Zetkin-Straße, sei. Da staunte er erneut. Sein Vater sei in diesem Gebäude während der fünfziger Jahre tätig gewesen, und zwar für die Justizministerin Hilde Benjamin, bevor er sich dann selbständig gemacht habe. Ob ich eigentlich wisse, wem ich gegenüber säße. Klar, lautete meine Antwort, das stehe doch auf seinem Klingelschild: Manfred Vogel. Ob ich denn nicht wisse, wer sein Vater sei, fragte er weiter. Ich dachte im ersten Moment an Hans-Jochen Vogel, aber der hatte bekanntlich nicht für Hilde Benjamin gearbeitet. Dasselbe galt für Bernhard Vogel. Damit blieb als einzige prominente Person dieses Namens nur noch Wolfgang Vogel übrig. Ja, bestätigte mein Nachbar, Wolfgang Vogel sei sein Vater, der Wolfgang Vogel, der den Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke, den Freikauf der politischen Häftlinge und die Ausreise von DDR-Bürgern organisiert hatte.

Ich weiß bis heute nicht, was nach diesen Worten mit mir geschah. Plötzlich nahm ich Manfred Vogel und meine Umwelt nur noch verschwommen wahr. Eine Dunkelheit legte sich um mich, und dann sah ich gar nichts mehr. Es gelang mir nur noch zu sagen, daß wir aufgrund unserer Väter eigentlich gut zusammenpaßten. Vogel wollte wissen, was ich damit meinte, und ich stammelte, daß ich es ihm nicht erzählen könne, weil es halt nicht gehe und weil ich noch nie darüber gesprochen hätte. Dann sagte ich nichts mehr. Als die Stille ihm zu lang wurde, ging er in sein Haus.

Ich aber sah mich als neunjähriges Kind im dunklen Flur meiner elterlichen Wohnung stehen, die von Polizeibeamten in Zivil durchsucht wurde. Einzelne Wortfetzen wie Spionage, Staatssicherheitsdienst und Gefängnisstrafe drangen in mein Ohr. Dinge, die ich nicht kannte, die mir Angst machten und mit denen ich mich später nie auseinandergesetzt, die ich über 20 Jahre in mir verborgen und über die ich nie mit jemandem gesprochen habe. Meine Mutter wollte dies so, und irgendwann habe ich ihren Wunsch verinnerlicht.

Manfred Vogel kam zurück und fing eine unverfängliche Unterhaltung an. Ich aber wollte nach Hause gehen. Er begleitete mich zur Tür, und ich hatte den Eindruck, daß er fürchtete, ich würde nicht mehr wiederkommen.

Ich lag die halbe Nacht wach und fühlte in mir ein inneres Fieber aufsteigen. Ich hatte mich so gefreut, über 500 Kilometer entfernt von meiner Familie zu leben, und plötzlich wurde ich mit deren Geschichte in einer Weise konfrontiert, die mir unheimlich war. Die Psychologie hatte doch recht: Alles, was verdrängt wird, kehrt eines Tages wieder. Irgendwann schlief ich ein und träumte von Bonn. Am nächsten Tag rief ich meinen Kollegen an und meldete mich krank. Es war das erste Mal, daß ich wegen privater Konflikte nicht zum Dienst fähig war.

Zwei Überlegungen gingen mir durch den Kopf: Zunächst stellte ich mir die Frage, ob es mir gelingen würde, meinem Nachbarn als erstem Menschen überhaupt von meinem Vater zu erzählen, ob ich mich befreien könnte von einem traumatischen Erlebnis, das ich seit 20 Jahren in mir trug. Ich war davon überzeugt, daß, wenn ich diese einmalige Chance zur Auseinandersetzung nicht ergriff, ich nie wieder eine bekommen würde. Zum anderen dachte ich viel über die Begriffe Zufall und Schicksal nach. In der Schule hatte ich den Satz aufgeschnappt, daß der Zufall der Deckname des Schicksals sei. Wie auch immer dieser Satz zu deuten ist, Max Frisch hat meiner Meinung nach die beste Antwort auf diese Frage gegeben: Das Verblüffende, das Erregende jeden Zufalls und jeder zufälligen Bekanntschaft besteht darin, daß das eigene Gesicht klarer wird. Der Zufall zeigt einem Menschen an, wofür er zur Zeit aufnahmebereit ist, kein Mensch erlebt Zufälle, die nicht speziell zu ihm gehören. Für mich hieß das, daß die Zeit gekommen war, mich intensiv mit der Biographie meines Vaters und deren Folgen für mich auseinanderzusetzen.

Edina Stiller

Ich habe viel geweint und immer wieder nach ihm gefragt

Wir wohnten damals mit meinem Vater im Berliner Stadtteil Johannisthal, im Sterndamm 34. Ich sehe den für DDR-Zeiten typischen unscheinbaren Wohnblock noch heute vor mir. Unsere Wohnung lag im Erdgeschoß, in der Mitte. Sie bestand aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer Küche und einem Bad und war für eine dreiköpfige Familie ziemlich eng bemessen. Einige Mitbewohner des Hauses sind mir im Gedächtnis geblieben. Links neben uns wohnten die Linders. Sie waren ein älteres, freundliches Ehepaar, und die Frau hatte stets Bonbons in ihrer Schürzentasche, von denen sie mir immer welche gab, wenn wir uns sahen. In der Wohnung rechts neben uns lebten die Meiers. Sie hatten einen etwa 14jährigen Sohn, Lutz, den ich damals sehr mochte, und eine etwas jüngere Tochter. Bei feierlichen Anlässen waren wir oftmals bei ihnen. Am schönsten waren die Kindergeburtstage, die wir mit vielen Spielen verbrachten. Eines gefiel mir besonders gut. Wir saßen in der Runde und würfelten der Reihe nach. Wer eine Sechs hatte, konnte ein Stück Westschokolade nach dem anderen essen, bis er bei der nächsten gefallenen Sechs abgelöst wurde. Ich würfelte immer ganz schnell und war voller Ungeduld, bis ich wieder an die Reihe kam. Ich beneidete stets die Kinder, die in der Schule voller Stolz Süßigkeiten und neues Spielzeug von ihrer Westverwandtschaft präsentierten. Wir hatten keine Westverwandtschaft, aber von seiten meiner Mutter, die eine gebürtige Ungarin ist, einige Verwandte in Ungarn. Einmal im Jahr sind wir regelmäßig zu meinen Großeltern gefahren, wo ich dann Spielzeug und schöne Kinderkleidung bekam, an die in der DDR nicht zu denken gewesen war. Für uns stellte zur damaligen Zeit Ungarn den »Westen« dar.

Am liebsten mochte ich den Sohn der Familie Fraß. Seine Eltern waren ein lustig anzusehendes Paar. Der Vater, über 1,80 Meter groß, mit dunklem Haar und einer Brille, überragte seine wasserstoffblondgefärbte Frau um mindestens zwei Köpfe, obwohl sie immer hochhackige Schuhe trug. Ihr Sohn Jörg war in meinem Alter und damals mein bester Freund. Ich habe zwei Erinnerungen an ihn: Wir gingen beide in die erste Klasse und mußten unsere Jacken immer auf den Schulflur vor dem Klassenzimmer an die dafür vorgesehenen Haken hängen. Da wir uns wieder einmal gestritten hatten und ich ihm eins auswischen wollte, entwendete ich ihm 50 Pfennig aus seinem Portemonnaie, das in der Jacke steckte. Von dem Geld kaufte ich mir Süßigkeiten und stellte mir sein entgeistertes Gesicht vor, das er machen würde, wenn er den Verlust seines Geldes entdeckte. Als ich nach Hause kam, stand mein Vater schon in Position und ließ ein ziemliches Donnerwetter über mich ergehen. Mein lieber Freund hatte geahnt, daß ich ihm das Geld weggenommen hatte, und mich verpetzt. Ich habe ihn dafür verabscheut und nicht einsehen wollen, daß meine Tat Diebstahl gewesen war. Danach war für einige Zeit erst einmal Funkstille zwischen uns.

Meine zweite Erinnerung an Jörg ist völlig anders: Eines Nachmittags haben wir uns mit einem weiteren Jungen hinter das Müllhäuschen gestellt, uns die Hosen heruntergezogen und mit Stöckchen an uns herumgespielt. Wir fanden das lustig und dachten uns nichts weiter dabei, doch ein anderer Junge hat uns beobachtet und es unseren Eltern erzählt. Ich glaube, das war das erste und letzte Mal, daß mein Vater mir den Hintern versohlte, und ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum meine Eltern sich derartig darüber aufregten.

In den Kindergarten bin ich gern gegangen. Er lag genau gegenüber unserem Wohnblock auf der anderen Straßenseite. Das Gebäude ähnelte einer länglichen Baracke, an die sich im hinteren Bereich ein großer Platz zum Spielen anschloß. Für meine Mutter war es sehr erleichternd, daß sie nur den Sterndamm zu überqueren brauchte, denn frühmorgens war sie meistens unter Zeitdruck. Die Kindergärtnerinnen unternahmen viel mit uns. Im Sommer zum Beispiel, wenn es sehr heiß war, stellten sie ein großes Schwimmbassin auf, in dem wir gruppenweise planschen konnten. Wir hatten immer großen Spaß.

An meinen Vater habe ich eine Erinnerung, die mich mein Leben lang verfolgt hat. Es muß tief in der Nacht gewesen sein, als mich lautes Geschrei aus dem Schlaf riß. Ich schlich vorsichtig zur Wohnzimmertür, und als ich schließlich den Mut gefunden hatte, sie zu öffnen, sah ich, wie mein Vater meine Mutter schlug. Ich stürzte mich zwischen die beiden und schrie meinen Vater an, daß er meiner Mutter nicht weh tun solle. Mein Vater hat daraufhin das Zimmer fluchtartig verlassen, meine Mutter lag auf der Couch, weinte und sagte mir, daß es nicht so schlimm sei und ich mir keine Sorgen machen solle. Aus heutiger Sicht denke ich, daß es Erwachsenen oftmals nicht bewußt ist, wie feinfühlig Kinder auf Konflikte reagieren und wieviel sie wirklich mitbekommen. Diese Szene wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Meine Mutter hatte am nächsten Tag ein blaues geschwollenes Auge, und mein Vater ist mit mir in den Vergnügungspark im Plänterwald gefahren. Wir saßen uns in einer Gondel auf dem Riesenrad gegenüber, und er versuchte, mir den nächtlichen Vorfall zu erklären. Er konnte mir dabei nicht richtig in die Augen sehen. Er sagte mir, daß Menschen, die sich eigentlich lieben, auch manchmal streiten und dabei eine Situation mitunter außer Kontrolle geraten kann. In diesem Moment empfand ich ihn als einen Fremden und habe ihn dafür gehaßt, daß er mich dazu gebracht hatte, so zu empfinden.

Damals konnte ich das Ausmaß dieser Situation natürlich nicht einschätzen. Aber dieser Vorfall hat zum Teil mein späteres Männerbild geprägt. Als ich über zehn Jahre später von dem Übertritt meines Vaters in den Westen erfuhr, erzählte mir meine Mutter, daß sie in jener Nacht einen Koffer mit Dollarnoten in der Wohnung gefunden hatte. Sie wollte daraufhin den Vorgesetzten meines Vaters informieren. Mein Vater, der damals aufgrund seiner ständigen Angst vor der Enttarnung nervlich fast am Ende gewesen war, hatte die Kontrolle über sich verloren und sie geschlagen. Danach hatte er sich mit seiner Dienstpistole in sein Auto gesetzt und war weggefahren, um sich zu erschießen. Angeblich aber sei keine Kugel mehr in dem Magazin gewesen. Meine Mutter versichert mir heute noch, daß mein Vater sie weder vorher noch nachher jemals tätlich angegriffen hat. Das glaube ich ihr.

Leider fehlen mir sonst viele Erinnerungen an meinen Vater. Meine Mutter sagt heute, daß er mir immer ein sehr guter und fürsorglicher Vater gewesen sei. Wenn er zu Hause war, was vor allem in der letzten Zeit vor seinem Übertritt immer seltener vorgekommen sei, habe er jede freie Minute mit mir verbracht. Ich hätte ihn als Kind wahnsinnig geliebt. Aber diese Gefühle muß ich wohl tief in meinem Innern begraben haben. Nach seinem Übertritt, als ich glauben mußte, meinen Vater nie wiederzusehen, hat die Verdrängung bei mir wahrscheinlich schon eingesetzt.

Mit der Familie unternahmen wir viel. Ich kann mich kaum an Wochenenden erinnern, an denen wir nur zu Hause vor dem Fernseher gesessen hätten. Wir sind regelmäßig zum Mittagessen nach Altglienicke in die Fischgaststätte gefahren, was bei den heutigen Gaststättenpreisen undenkbar wäre. Zum Erstaunen meiner Eltern und der Bedienung konnte ich bereits als kleines Kind ohne weiteres eine große Forelle verputzen. Was das Essen betraf, hatte meine Mutter weder mit mir noch mit meinem Bruder Schwierigkeiten. Sie erzählt mir oft, daß vor mir nichts sicher gewesen sei, ich hätte alles in den Mund gesteckt, und dementsprechend hätte ich als kleines Kind auch ausgesehen.

Meine Eltern gingen mit mir oft in den Tierpark, ins Kino und zu kulturellen Veranstaltungen. Unsere Urlaube verbrachten wir fast immer an der Ostsee. Ich liebte es, den Strand entlangzulaufen, Ausschau zu halten nach seltenen Steinen und Muscheln und die für mich riesigen Wellen der Ostsee zu überspringen. Das waren für mich Momente des vollkommenen Glücks. In der Weihnachtszeit war es in der DDR üblich, daß die Betriebe der Eltern für die Kinder eine Weihnachtsfeier veranstalteten. Meine Mutter arbeitete damals als Chemotechnikerin in der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof und nahm mich immer zu diesen Feiern mit. Sie waren sehr lustig, und wir Kinder waren stets aufgeregt und voller Vorfreude, besonders deshalb, weil jedes Kind einzeln vor den Weihnachtsmann treten mußte und nach dem Singen eines Weihnachtsliedes oder dem Aufsagen eines Gedichtes ein Geschenk aus dem riesengroßen Sack in Empfang nehmen durfte.

Kurz vor dem Übertritt meines Vaters veränderte sich unsere familiäre Situation spürbar. Mein Vater war kaum noch zu Hause, und meine Mutter litt sehr darunter. Sie wußte zwar von seiner Geliebten, ahnte aber nicht, welches Ziel zum Lebensinhalt meines Vaters geworden war: die Flucht in den Westen. Er trank in dieser Zeit sehr viel, war ruhe- und rastlos und wegen der ständigen Angst vor seiner Enttarnung oft äußerst gereizt. Es kam immer häufiger zu Streitigkeiten, und meine Mutter dachte manches Mal an Trennung, brachte es aber nie über ihr Herz, weil sie meinen Vater nach wie vor sehr liebte. Später hat sie mir erzählt, daß sie zwischen meiner Geburt und der meines Bruders ein weiteres Mal schwanger gewesen sei, diese Schwangerschaft jedoch aufgrund der Ratschläge von Freunden und Bekannten, die um die bereits damalige Zerrüttetheit der Ehe wußten, abgebrochen habe. Traurig hat mich das eigentlich nicht gemacht, weil ich mir sagte, daß es, wenn sie nicht abgetrieben hätte, heute vielleicht meinen Bruder nicht gäbe. Ihn hat sie trotz erneuten Abratens bekommen, um die Ehe zu retten. Mein Vater wollte ihn nicht, aber von seiten meiner Mutter war er ein Wunschkind, und sie hat sich, Gott sei Dank, durchgesetzt. Als meine Mutter wegen Entbindungskomplikationen im Krankenhaus lag, lieferte mich mein Vater bei meiner Großmutter ab, um sich mit seiner Geliebten eine schöne Zeit zu machen, wie meine Mutter bis heute glaubt. Kann sein, daß die beiden zu dieser Zeit bereits ihre Fluchtplanung betrieben.

Als mein Bruder Andreas schließlich am 13. Februar 1978 geboren wurde, hat mein Vater sich dennoch für die kurze Zeit, die er noch bei uns war, rührend um ihn gekümmert. Ich bin froh darüber, daß mein Bruder damals noch zu klein war, um den Fortgang meines Vaters bemerken zu können. So sind ihm die Gefühle des Verlassenwerdens, der Einsamkeit und Enttäuschung erspart geblieben, weshalb er im Umgang mit unserem Vater heute vorbehaltloser und unbefangener ist als ich.

Den Tag, an dem mein Vater uns verließ, habe ich nur bruchstückhaft in Erinnerung. Den genauen Ablauf kenne ich nur aus den späteren Erzählungen meiner Mutter. Am 18. Januar 1979 ist er, wie an jedem anderen Tag auch, sehr früh aufgestanden, um sich für die Arbeit fertigzumachen. Das zumindest glaubte damals meine Mutter. Sie war ebenfalls früh wach und beobachtete, wie mein Vater meinen Bruder und mich liebevoll streichelte und zudeckte. Danach ist er nochmals zu ihr ans Bett getreten, um ihr zu sagen, daß er sie liebe, woraufhin sie sich abgewandt hat. Den Abend zuvor hatten sie einen ziemlich heftigen Streit gehabt, und sie war deshalb noch sehr böse auf ihn. Heute sagt sie, es sei das Schlimmste überhaupt, mit jemandem, den man liebt, im Streit auseinanderzugehen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich auszusprechen und die Dinge zu klären. Aber wie hätte sie ahnen können, daß sie ihn für viele Jahre nicht wiedersehen würde.