VERREGNET - Hans-Jürgen Louven - E-Book

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Hans-Jürgen Louven

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Beschreibung

Nach „Hans-Jürgen, das Lamm ist da – als Gastarbeiter in der Türkei“ (Verlag Herder, 2011) zeigt Hans-Jürgen Louven in seinem neusten Werk als Heimkehrer nach Europa überraschende Entwicklungen in der Gesellschaft auf. Der Autor wird zuvor im August 2019, u. a. in Verbindung mit seiner Tätigkeit für ein europäisches Hilfswerk, von der türkischen Regierung ausgewiesen. „Verregnet“ beschreibt jetzt, was danach geschah … Biografisch werden wir zunächst in den nicht leichten Prozess der Rückkehr nach Europa hineingenommen. Doch bleibt das Buch hier nicht stehen: Offenlegende und manchmal überraschende Eindrücke eines „Zurückgekehrten“ zeigen auf, was viele unter uns heute denken, aber wenige aussprechen. Louven spricht dabei zeitweise als Lehrer, hin und wieder als Migrant und spontan auch einfach mal von Mensch zu Mensch ...

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

„Eingetaucht“ – geprüft und für Schrott befunden – …

Einleitung: „Vom Regen in die Traufe …“ 

Teil 1:  Der Regen 

Aufbruch rückwärts

Letzte Begegnungen  

Balkan – und doch kein Asylant 

Servus!

Erleichtert 

Erste Schritte  

Teil 2: Neue Kleider 

Gewitterfronten 

Die Gedanken sind frei!?

Alt vor jung?

Exit

Mann sein, und doch nicht …

Kultur und Migration

Wer wird denn hier verfolgt?

Teil 3 : Feste Wurzeln

Ich weiß, wo du wohnst

Mein Haus auf festem Grund

Wahrheit, die frei macht

„Ich will etwas Neues tun!“

Nachwort: Europas neue Kleider

Hans- Jürgen Louven

VERREGNET

Aus dem Regen zu neuen Kleidern

Mitgedacht in Europa

Originalausgabe

Vorarlberg in Österreich 2021

Alle Rechte vorbehalten

Layoutsatz und Umschlaggestaltung

©Viktoria Greuling

Impressum: Hans-Jürgen Louven

Bludenz/Vorarlberg/Österreich

Kontakt: [email protected]

„Und ihr werdet die Wahrheit erkennen,

und die Wahrheit wird euch frei machen.“

(Jesus Christus, Johannesevangelium 8,32)

„Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.“

Ulrich Parzany

„Eingetaucht“ – geprüft und für Schrott befunden – …

 

„Dieses Fahrzeug ist technisch am Ende. Das taugt nur noch für den Schrott.“ Der technische Sachverständige sprach nach ungefähr zwei Stunden Untersuchung in der Prüfhalle dieses vernichtende Urteil über unseren VW-Oldtimer. Zusammen mit einer Mitarbeiterin hatte der Angestellte der Landesregierung unseren LT-28, liebevoll ausgebaut zum Wohnmobil und jetzt 32 Jahre alt, auf Herz und Nieren geprüft. „Aber wir sind mit diesem Wagen doch 2800 km von der Türkei bis nach Österreich gut gefahren …“ entgegneten wir später konsterniert ob dieser für uns unverständlichen Nachricht. „Sie können froh sein, wenn sie das Gelände mit diesem Fahrzeug überhaupt noch verlassen können“ hieß es jetzt noch eine Spur schärfer, und der Sachverständige wandte sich dem Büro zu. Hier sollte nun der Prüfbericht ausgearbeitet und Rücksprache mit dem Leiter der Prüfstelle gehalten werden. Verwirrt und aufgewühlt ging ich zu meiner Frau Renate, die sich unterdessen am Rand des Geländes mit einer fremdländischen Frau unterhielt. „Sie wollen unseren Wagen stilllegen“ sagte ich knapp auf den ihren fragenden Blick hin. „Wieso denn das? – und schon bewegte sich Renate entschlossen in Richtung der Mitarbeiterin des TÜV, die an der Untersuchung wesentlich beteiligt war. Nach kurzem Dialog der beiden Frauen fanden wir uns vor unserem Oldtimer wieder. Während ich noch einige Dinge in der Fahrerkabine sortierte, kam dann der Prüfer zu uns, diesmal in Begleitung des Leiters der Prüfhalle: „Wir müssen dieses Fahrzeug aus dem Verkehr nehmen. Es ist nicht für den Verkehr tauglich. Wir nehmen die Kennzeichen ab und diese in Verwahrung. Sie werden dann über die Bezirkshauptmannschaft zur türkischen Botschaft geschickt“. Argumentieren würde hier nichts nützen, merkte ich, und so enthielt ich mich weiterer Fragen und Kommentare. Dass unser Wagen ja noch bis zum Frühjahr nächsten Jahres gültigen TÜV in der Türkei hatte. Und dass ein Mitarbeiter, mit dem ich vor der Untersuchung sprach, mir noch während der Mittagspause erklärte, dass ja der türkische TÜV wesentlich unter Mitarbeit eines österreichischen TÜV-Vorstehers aufgebaut worden wäre. Und mein türkischer TÜV-Bericht sogar neben TÜV Türk mit TÜV Süd bezeichnet ist… Und jetzt erkennen sie diesen Bericht nicht an, nehmen sogar noch das erst vor fünf Monaten geprüfte Fahrzeug aus dem Verkehr! Auf dem mir dann ausgehändigten österreichischen Prüfbericht waren auf drei Din-A4-Seiten insgesamt 48 (!) Mängel verzeichnet. Unter diesen auch der schwere (!) Mangel, dass sich am Rande der Windschutzscheibe noch zwei nicht mehr gültige Vignetten befanden … 

Meine Frau und ich saßen wenig später im Nahverkehrszug nach Bludenz. Zuvor hatte Renate noch im Sekretariat der Prüfstelle vorgeschlagen, dass wir ja auch die Kennzeichen dorthin mitnehmen könnten, schließlich wohnen wir nur wenige Minuten von der Bezirkshauptmannschaft der „Alpenstadt“ entfernt. Aber auch das hatte man uns verwehrt, es sei schließlich eine Amtshandlung und die türkischen Kennzeichen müssten von ihnen selbst dem Amt zugestellt werden. Nun denn, wir kauften uns gleich eine Monatskarte für ganz Vorarlberg, unser Wagen würde wohl nach solchem Prozedere nicht sehr bald wieder in den hiesigen Straßenverkehr zugelassen werden. Die Stimmung war gedrückt und der Zug langsam; er hielt an allen Stationen im von den Einheimischen liebevoll genannten „Ländle“. Viele Gedanken gingen uns beiden durch den Kopf, eigentlich hätten wir am selben Tag noch einige Kleinmöbel mit unserem Oldtimer bei Freunden abholen wollen und auch noch in Feldkirch etwas für unsere Tochter Hanna. Nichts von dem konnten wir nun noch tun, unseren VW und die Kennzeichen hatten wir in Lauterach zurückgelassen. „Sağlık olsun“ sagt man in der Türkei in solchen Situationen: „Gesundheit möge sein“. (wörtlich, also im übertragenen Sinne etwa: „es gibt doch Wichtigeres im Leben“) … Gott sei Dank hatten wir diese noch, auch das in diesen Coronazeiten überhaupt nicht selbstverständlich.

Wir ließen uns einen trockenen Rotwein zum Abendessen nicht nehmen und stießen auf weitere Erfahrungen als „Heimkehrer“ nach Europa an. Und die ließen nicht lange auf sich warten … 

Übrigens: Die Episode mit unserem Oldie war damit noch LANGE nicht abgeschlossen; es folgten weitere, sehr bewegte Tage. Zunächst dauerte es unverhältnismäßig lange (und es brauchte zunächst einen weiteren Besuch per Zugfahrt zur Prüfstelle), bis die inzwischen wohl vergessenen Kennzeichen zur BH nach Bludenz geschickt wurden. Inzwischen hatte ich dort mehrmals den zuständigen Beamten über den Vorgang informiert. Der wiederum konnte nichts tun, bevor er die Nummerntafeln und Papiere des Fahrzeugs vorliegen hatte. Danach wurde dann entschieden, dass diese an die türkische Botschaft in Wien geschickt werden sollten. Zwar hatte ich dem Beamten in Kenntnis der Gegebenheiten zuvor erklärt, dass diese dann unter Umständen bei den türkischen Behörden verlorengehen könnten, aber auch dieses Wagnis wurde eingegangen. Ich bemühte mich in den nächsten Tagen, diesem für uns wichtigen Postgut nachzugehen (schließlich brauchten wir ja die Kennzeichen und Fahrzeugpapiere für die Abmeldung des Autos in der Türkei) und sprach mehrmals mit entsprechenden Stellen in Wien. Da sich die türkische Botschaft nicht zuständig sah (das Ganze war wohl auch für die türkischen Behörden ein wohl seltener, wenn nicht gar einzigartiger Vorgang), wurde unser Paket mich wichtigem Inhalt an das türkische Generalkonsulat, ebenfalls in Wien, weitergeleitet. Auch dort rief ich mehrmals an und gelangte letztlich wirklich zu der Person, die das weitere Vorgehen nun zu entscheiden und auch zu verantworten hatte. Nach kurzem Vorgespräch traute ich meinen Ohren dann kaum: „Ja, was machen wir denn nun damit? Sollen wir Ihnen die Nummerntafeln zurückschicken?“ – Ja, das war eines der Dinge, die ich an der Türkei so liebte und, zurück in Europa, nun vermisste: mal fünf gerade sein lassen, spontan und unkonventionell reagieren. Wir einigten uns letztlich darauf, dass die Schilder und der Fahrzeugschein zur Abmeldung durch das Konsulat in die Türkei geschickt wurden. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich mit diesen in der Hand beim Beamten der BH vorstellig geworden wäre … 

  

Einleitung: „Vom Regen in die Traufe …“ 

Unser Abenteuer mit unserem Oldtimer und dem österreichischen TÜV sollte bei weitem nicht die einzige Überraschung in unseren ersten Wochen als „Heimkehrer“ in Europa bleiben. Warum wir als deutsch-österreichisches Ehepaar nach so vielen Jahren im Orient überhaupt zurückgekehrt sind, unter welchen Umständen wir dann auf der in unseren Medien zuletzt so oft genannten „Balkanroute“ bis nach Kärnten/Österreich kamen und wie sich die Zeit danach in Europa gestaltete – all das erfahren Sie nun in diesem Buch. Dabei liegt mir im Gegensatz zu meinem ersten Buch („Hans-Jürgen, das Lamm ist da“ – als Gastarbeiter in der Türkei, Verlag Herder 2011) diesmal weniger daran, die Unterschiede der Kulturen herauszustellen, als aufzuzeigen, wie es jemandem gehen kann, der nach vielen Jahren in einem anderen Erdteil zurück nach Europa kommt und hier wahrnimmt, wie sich die Gegebenheiten verändert haben. Oft staunend, manchmal sogar ungläubig verwundert, haben Renate und ich solche Veränderungen wahrgenommen und anschließend unter uns oder auch mit einheimischen (und nicht ausgewanderten) Freunden diskutiert und reflektiert. Wir haben dabei nicht nur einmal bemerkt, dass uns Dinge als „schräg“ auffielen, die den unter uns lebenden Zeitgenossen zwar auch vielerorts bekannt waren, aber trotzdem nicht geäußert werden oder gar in der Öffentlichkeit genannt. Was die Zeitgenossen betrifft, gibt es aber durchaus Ausnahmen. So begegnete uns eine bereits ältere Frau aus einem Dorf im Montafon/Vorarlberg schon im August 2020 im Blick auf einige der später genannten Dinge mit der damals für mich noch überraschend gewagten Aussage: „Ja, da seid ihr wohl vom Regen in die Traufe gekommen!“ … Darum, und aus Liebe zu unseren Herkunftsländern und zu Europa, werde ich besonders im zweiten Teil des Buches in einigen Bereichen aufzeigen, was ich meine. Quellen und sich daraus ergebene Fakten werden belegen, dass unsere Gesellschaft krankt. Und diese Krankheiten sind nicht Schnupfen und Erkältung oder Corona, sondern solche, die Europa wie einen von Krebs Befallenen dahinsiechen lässt. Ja, wenn wir diese „neuen Kleider“ (ich werde gleich erklären, worum es geht) nicht bald ablegen und wie im Märchen von Hans Christian Andersen als völlig unpassend erkennen, wird unsere Gesellschaft unweigerlich in den Abgrund rutschen. Doch werden wir bei dieser erschreckenden Diagnose keinesfalls stehen bleiben. Es gibt eine überraschend einfache Lösung des Dilemmas: Kind sein! Wie dies gemeint ist und von jedem von uns praktiziert werden kann, erfahren Sie im dritten und abschließenden Kapitel des Buches.

Machen wir uns nun gemeinsam auf die Reise: vom Orient über den Balkan nach Österreich, hin zu fragwürdigen Sichtweisen und Praktiken im neuen Europa und einer überraschend einfachen Lösung des sich anbahnenden Desasters. Steigen Sie ein, wir beginnen unsere Reise in einer der schönsten Kleinstädte, die ich kenne: Kleinasien, Türkei, im Juli 2020 … 

  

Teil 1:  Der Regen 

Aufbruch rückwärts

  

„Ihr Gesuch wurde von der Direktion abgelehnt. Die Aufenthaltserlaubnis wird leider nicht verlängert. Sie haben zehn Tage, um das Land zu verlassen.“ Überrascht blicke ich auf die junge Frau im Büro der lokalen Stelle der Immigrationsbehörde. „Wir haben hier unser Haus und eine Farm, leben seit ca. 20 Jahren in der Stadt. – Was ist denn der Grund der Ablehnung?“ „Das wissen wir auch nicht, das Schreiben kam von der Direktion in Ankara.“ Die Dame legte mir das entsprechende Schreiben der Immigrationsbehörde in der Hauptstadt der Türkei vor. Viele mögliche Gründe einer Nicht-Erteilung der Aufenthaltserlaubnis waren hier aufgeführt. Keines dieser Felder war jedoch angekreuzt. Nur hinter dem letzten Punkt war ein Häkchen gesetzt: „ANDERE GRÜNDE“ …

Auch wenn ich im Anschluss an diese für uns als ganze Familie sehr ernüchternde Erklärung mit der Dame und anderen Mitarbeitern der Behörde zu diskutieren versuchte, danach einen Rechtsanwalt beauftragte und wir bis zum höchsten Gericht der Türkei zogen, war dieser Besuch auf der Immigrationsbehörde der Anfang unseres Aufbruchs als Ehepaar zurück vom Orient in die „heimischen Gefilde“ Europas. Ungefähr 20 Jahre hatten wir zuvor unseren Wohnsitz in Muğla, einer reizenden und vom Tourismus noch relativ unentdeckten türkischen Kleinstadt in der Südwest-Türkei. Nur ca. 25 Autominuten zu einer der schönsten Küsten des Landes und nicht weit weg von manchen biblischen Orten der neutestamentlichen Zeit sowie drei Weltwundern der Antike. Hatten wir in unseren ersten Jahren dort als Vertreter einer deutschen Reisegesellschaft gearbeitet, waren wir später Teilhaber einer türkischen GmbH mit der Verwaltung von zwei historischen Gästehäusern in der wunderschönen Altstadt unserer Wahlheimat. Seit 2015 vertraten wir dann eine österreichische Hilfsorganisation in der Türkei und bildeten eine Brücke zur Flüchtlingshilfe von christlich-türkischen Gemeinden in diesem großen Land mit vielen hilfsbedürftigen Asylbewerbern aus Syrien, dem Iran, Afghanistan und anderen Ländern.  

Die Vermutung, dass meine de-facto-Ausweisung aus der Türkei mit dieser letztgenannten Tätigkeit zu tun hatte, bestätigte sich später. Bis heute hat der türkische Staat zwar nie offen den eigentlichen Grund der Ausweisung klar genannt (er würde auch im Widerspruch zu den eigenen Gesetzen stehen), aber die Parallele zu inzwischen schon über 60 (!) ebenfalls ausgewiesenen christlichen Mitarbeitern aus den verschiedensten Ländern und der allgemeine politische Kurs der türkischen Regierung lässt auf ganz klare oberste Richtlinien schließen. So musste auch der von uns beauftragte Rechtsanwalt erkennen, dass es nicht nur in unserem Fall nicht mit rechten Dingen zuging. Er war zum Schluss fast verzweifelt über so offensichtlich ungerechte Entscheidungen der Behörden und befassten Gerichte. Die vielen ähnlichen Fälle von Ausweisungen werden zunehmend auch von der internationalen Presse, von Menschenrechtsorganisationen und politischen Gremien beobachtet und thematisiert. 

Um den Ausgang eines Gesuchs unseres Rechtsanwalts um Aussetzung des Verfahrens abzuwarten, überzog ich die mir gesetzte Ausreisefrist um einige Tage. Wenig später stand ein Polizeiwagen vor unserer Tür (nur unsere junge Tochter war aber gerade zu Hause), und als ich nach einigen weiteren Tage das Land immer noch nicht verlassen hatte, beobachteten Nachbarn zivile Polizei, die in der Nähe unseres Hauses Menschen nach meinem Verbleib und meinen derzeitigen Tätigkeiten befragten. Gott sei Dank lebten wir ja bereits seit ungefähr 20 Jahren mit einigen Unterbrechungen im gleichen kleinen Reihenhaus, so dass die Nachbarn uns recht gut kannten und uns von diesen Vorgängen berichteten. Manche waren sogar entrüstet über das Vorgehen der Behörden und der Polizei; etwa 1500 Menschen aus der Türkei unterschrieben später eine mit einem Video verbundene Petition mit dem bezeichnenden Titel „Hans soll bleiben“ (zu sehen unter https://youtu.be/cMHoww-n2Pg). 

Trotz all dem und einer zaghaften Intervention der deutschen Botschaft in Ankara (zu mehr sah man sich in Deutschland wohl nicht in der Lage; einer der anderen Ausgewiesenen hörte sogar in Berlin hinter vorgehaltener Hand die Aussage: „Wir können wegen einiger Einzelschicksale nicht die guten Beziehungen zur Türkei gefährden.“) machte die türkische Regierung keinen Rückzieher in ihrer wohl von ganz oben veranlassten Politik. Es kam der Tag des zumindest vorläufigen Abschieds von unserer langjährigen Heimat. Abschied nicht nur von einem uns lieb gewordenen Land und seiner Kultur, unserem Haus und der von uns im Sommer bewohnten Farm, unseren immer noch bestehenden Gästehäusern und der langjährigen Arbeit. Es bedeutete vor allem auch Abschied von vielen uns lieb gewordenen Menschen. Und von einigen solchen möchte ich Ihnen hier kurz erzählen …  

  

Letzte Begegnungen  

Von den vielen letzten Begegnungen möchte ich im Folgenden einige herausgreifen, von meinem langjährigen Friseur bis zu unserem eigenen Kind. Zu ihrer Sicherheit habe ich die Namen meiner türkischen Freunde geändert.

Berber Mahmut 

„Diesen Sommer brauchen wir nicht auf Touristen zu warten. Überhaupt geht das Geschäft gar nicht gut. Und dann kommt auch noch dieses Virus …“ Geschickt und routiniert wie immer ließ mein Friseur Mahmut seine Schere durch die Haarsträhnen tanzen, ich muss ihm auch gar nicht mehr sagen, wie er meine Haare schneiden soll. „Es wird nicht besser“, fügte er hinzu. „Wir sind so ein reiches Land, werden aber einfach schlecht geleitet.“ Dem ist nichts hinzufügen, es wird auch nicht von mir erwartet. Hier in unserer Region an der türkischen Ägäis wissen die allermeisten von der krummen Regierungspolitik und wählen auch dementsprechend. Die Regierungspartei AKP versucht zwar auch an der Ägäis, in die Gesellschaft hineinzuwirken und ihre Leute einzuführen, bekommt aber von den wenigsten Einheimischen eine Stimme, geschweige denn den in manch anderen Landesteilen verbreiteten Applaus. Nein, der Staatspräsident wird hier nicht als Prophet oder Messias gesehen … 

Oktay Farmer und seine Frau Hatice 

Unsere lieben und jetzt schon betagten Freunde hatten, wie auch wir, wieder ihren kleinen Sommersitz auf der „Yayla“ (der türkischen Alm) bezogen. Beide sind inzwischen über siebzig, aber noch recht fit und aktiv, so dass sie über den Sommer mit etwas Hilfe gute Erträge von Obst und Gemüse ernten konnten. Wie die allermeisten Yayla-Bewohner teilen sie auch gerne und füllten uns eine Tüte mit Paprika und Bohnen. Die beiden wissen, wie auch viele andere in der Stadt (Neuigkeiten macht hier schnell die Runde), von meiner Ausweisung und bedauern sie sehr. Oktay und Hatice gehörten zu den Ersten, die die Petition für meinen Verbleib im Land unterschrieben.  

Aber auch sie selbst haben eine große Not. Nicht die frühere Krebserkrankung von Hatice (nach der schweren Operation muss sie seit Jahren immer wieder zur Kontrolle nach Izmir) ist es, die unsere Freunde in diesen Tagen besonders beschäftigt, sondern die Situation um ihr Haus. Wie die meisten anderen Yayla-Besitzer dürfen sie ein einfaches, funktionelles Sommerhaus auf ihrem Gelände ihr Eigen nennen. Zwar ist dieses nicht gerade groß und kaum isoliert (die meisten Farmer ziehen ohnehin im Herbst wieder in die nahe Stadt), aber es erfüllt seinen Zweck und bietet hier und da sogar einem Besucher Platz. Wenige Wochen zuvor war nun eines der Nachbargrundstücke unserer Freunde verkauft und in dem Zusammenhang auch neu vermessen worden. So weit, so gut – der Käufer möchte ja wissen, was genau er sein Eigen nennen darf. Da die letzte Messung schon Jahrzehnte zurücklag, war es auch nicht verwunderlich, dass die Grundstücksgrenzen nicht ganz mit dem alten Plan übereinstimmten. Dass das kleine Häuschen von Oktay und Hatice nun allerdings zum Teil auf dem Grundstück ihres neuen Nachbarn steht, bereitet ihnen große Sorgen. Europäisches Denken würde jetzt davon ausgehen, dass dies ja wohl ein Fehler der früheren (von der Stadtverwaltung bestellten) Landvermesser gewesen sein muss. Doch nein, so geht es im Orient leider nicht. Diesen Schuh zieht sich die Stadtverwaltung nicht an. Für Bereinigung und Spesen hat jeder Landbesitzer selbst zu sorgen.  

So sitzen wir bei unserer vorerst letzten Begegnung etwas betrübt zusammen. Hier ein vermutlich nicht mehr abzuwendender und mitnichten selbst verschuldeter Hausabriss, dort eine gegen die geltenden Gesetze des Landes erzwungene und juristisch nicht haltbare Ausweisung. Sağlık olsun … „Gesundheit möge sein“!

VW-Uzbek 

Nicht nur über unseren Oldtimer-VW waren wir in Kontakt mit einer Gruppe meist junger Menschen unserer kleinen Stadt gekommen. Das Gemeinsame dieser ca. zehnköpfigen Gruppe (plus z.T. Familie mit kleinen Kindern) ist entweder ein mehr oder weniger gut erhaltener VW-Käfer oder auch ein in unseren Breitengraden sehr teuer gehandelter T2-Bus (auch Bulli genannt). Uzbek ist der inoffizielle Vorsitzende der kleinen Gruppe. Auch er hat Familie, verwendet aber einen beachtlichen Teil seiner Freizeit für ihren liebevoll gepflegten gelben Bulli. Schön, dass auch seine Frau Fatma das Hobby teilt und ihre fröhliche kleine Tochter Ayse gern bei Ausflügen dabei ist.

---ENDE DER LESEPROBE---