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Eine Familie bleibt ihrem Auftrag treu 10 Tage Zeit bleibt Familie Louven, um ihre geliebte Heimat in der Türkei zu verlassen. Vor über 20 Jahren ist die deutsch-österreichische Familie Gottes Auftrag gefolgt, um ein neues Leben in der fremden Kultur zu beginnen. Als 2018 ein amerikanischer Pastor inhaftiert und 60 Christen des Landes verwiesen werden, spitzt sich die Lage für Familie Louven zu. Doch der Familienvater beschließt zu kämpfen: Im Vertrauen auf Gott setzt er vieles in Bewegung, um im geliebten Lebensumfeld bleiben zu können. Als die Polizei ihn schließlich holen will, muss er fliehen – ungewiss, was die Zukunft bringen wird… inkl. 16-seitigem Bildteil
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2021
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7524-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6087-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2021 SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Weiter wurden verwendet:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen
Umschlaggestaltung: Erik Pabst, www.erikpabst.de
Titelbild: Sape Oscar
Autorenfoto: © Walter Rösler
Bildteil: © Hans-Jürgen Louven
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Meiner treuen Renate und unserer tapferen Hanna, die mir nicht nur in diesen so bewegten Tagen, sondern auch sonst auf dem Weg und in einer ach so anderen Kultur zur Seite standen.
»Nicht uns, HERR, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre um deiner Gnade und Treue willen! Warum sollen die Heiden sagen: Wo ist denn ihr Gott?Unser Gott ist im Himmel; er kann schaffen, was er will.«
Psalm 115,1-3
Über den Autor
»Kaçak« – auf der Flucht …
Vorwort
Vorwort von Hans-Georg und Margret Hoprich (DMG Deutschland)
Teil 1: Aufbrüche
1 | Aufbruch rückwärts
2 | Wieder vor Ort
3 | Alltag im Orient
4 | Gelernt ist gelernt …
5 | Die Feste feiern, wie sie fallen
6 | Versehen verstehen …
7 | Keine Arbeiter ohne Ernte!
8 | Die Kirche im Dorf
9 | Ein Unglück kommt selten allein
Teil 2: Ausgewiesen
10 | Gewitterfronten
11 | Einfach gehen?
12 | Und er führte mich hinaus ins Weite …
13 | Wir gehen an die Öffentlichkeit
14 | Sie kamen heute Morgen
15 | Abgetaucht
16 | Warten und Hoffen
17 | Istanbul Airport, die erste
Teil 3: Was er will!
18 | Doch nur ein Intermezzo …
19 | Istanbul Airport, die zweite
20 | Da und doch nicht
21 | »Siehe, ich wirke Neues!«
Nachwort
Begleitwort von Volker Kauder
Anhang: Zum Thema Religionsfreiheit in der Türkei
Bericht der »Freedom of Belief« Initiative des Norwegischen Helsinkikomitees 2019
Aktueller Menschenrechtsbericht protestantischer Kirchen in der Türkei 2020
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HANS-JÜRGEN LOUVEN (Jg. 1961) ist Lehrer für Sport und Biologie, arbeitet aber gerne im interkulturellen Bereich. Mit seiner Frau Renate, Tochter Hanna und einem Team betrieb er zuletzt historische Gästehäuser in der Nähe von biblischen Orten in der Türkei. Heute lebt das Ehepaar in Vorarlberg/Österreich.
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Vom Stadtzentrum hinunter in Richtung der umliegenden Dörfer bewegte ich mich zielstrebig und zügig auf dem Mountainbike, um zu unserer kleinen Farm am Stadtrand zu kommen. Mein Atem ging regelmäßig, die Gedanken jedoch waren in großer Aufruhr.
Gerade eben hatte mein Anwalt mir eröffnet, dass ich gesucht würde und eigentlich nur zwei Möglichkeiten hätte: »Du kannst einige Tage in Abschiebehaft verbringen und darauf warten, dass sie dich außer Landes schaffen. Oder du versteckst dich irgendwo so lange, bis im günstigsten Fall deine Ausweisung aus der Türkei vom Gericht ausgesetzt wird.«
Während ich diese zwei Optionen gedanklich hin- und herwälzte, wählte ich auf meinem Weg in Richtung Stadtrand nun bewusst kleinere und zum Teil auch holprige Feldwege, um mein Ziel zu erreichen. Dort würde ich meine in diesen Tagen so tapfere Tochter Hanna sehen und einige Dinge mit ihr besprechen können.
Noch eine kleine Wegstrecke hatte ich vor mir: Diese stand im Winter oft unter Wasser und wurde auch im Sommer selten von Fahrzeugen genutzt. Endlich näherte ich mich der kleinen Brücke, die Besuchern den unbefestigten Weg zu unserem Grundstück wies. Wenn irgendein behördlich scheinendes oder gar offensichtlich als solches erkennbares Polizeiauto davorstand, würde ich schleunigst das Weite suchen. Doch ich hatte Glück: Vor dem Haus standen nur zwei mir bekannte Fahrzeuge von guten Freunden unserer Familie. Mein Blick wanderte zu der schmalen Eingangstür, und als ich mich näherte, erkannte ich, dass sich Hanna mit einigen unserer Freunde auf unserer Farm eingefunden hatte. Ich begrüßte sie und erklärte ihnen kurz die Situation. Mitgefühl stand auf ihren Gesichtern geschrieben. Ich war »kaçak« – auf der Flucht …
Niemals hätte ich gedacht, dass ich nach all den Jahren in der Türkei jemals in eine solche Bedrängnis geraten würde. Und doch war es so. Noch hatte ich mich nicht entschieden, welche der zwei von meinem Anwalt erwähnten Möglichkeiten ich wählen würde …
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In unserem ersten Buch (Verlag Herder 2011: Hans-Jürgen, das Lamm ist da) beschrieben wir unseren Weg zunächst als Ehepaar, dann als Familie von Deutschland bzw. Österreich zu einer uns besonders in der ersten Zeit sehr fremden und ungewohnten Kultur. Über viele verschiedene Stationen ging es für uns als »Gastarbeiter« in der Türkei nicht nur zu einem neuen Lebensumfeld, sondern hinein in Beziehungen zu vielen Menschen, Familienverbänden und letztlich einer Kultur, in die wir uns mehr und mehr einfügten, ohne unsere eigene Identität und eigenen Überzeugungen zu verleugnen. Wir erzählten auch, dass wir nach fast zehn Jahren die schwere Entscheidung trafen, für zunächst einmal einige Jahre den Weg zurück nach Europa anzutreten. Dort sollte Hanna, damals 11 Jahre alt, die weiterführende Schule absolvieren und auch ich wollte als später Referendar noch einmal die Schulbank drücken.
Wir berichteten von den verschiedenen Herausforderungen dieser Re-Integration und beleuchteten dabei auch einige gesellschaftspolitische Fragen der Zeit, zum Beispiel die Integration der schon damals hohen Zahl von Migranten und Asylanten in Deutschland. Wir verstanden uns manchmal mit unseren in Asien gemachten Erfahrungen als eine kleine Brücke und Hilfe zum zwischenmenschlichen Verständnis der Kulturen. Das Buch endete mit einem Hinweis auf die Gefahren, aber auch den Reichtum eines »Lebens auf dem Fluss« und der Frage nach möglichen Wurzeln der Identität. Auf den letzten Seiten schrieb ich, dass wir uns durchaus eine weitere Zeit in unserem lieb gewonnenen asiatisch-türkischen Umfeld vorstellen konnten. Und so ist es dann auch gekommen … allerdings nicht immer so, wie wir es uns erwartet hätten, wie der Prolog dieses Buches zeigt. Es war aber mindestens genauso lehrreich und spannend wie unsere erste Zeit.
Auch wenn manche der nachfolgenden Seiten die Türkei in einem sehr anderen Licht zeigen, als es unser erstes Buch getan hat, soll dies keine Abrechnung mit einem Staatssystem sein, das uns als Familie hier und da und besonders zum Schluss großes Unrecht zugefügt hat. Wir leben aus der Vergebung und sind uns sehr wohl auch unserer eigenen über die Jahre gemachten Fehler bewusst.
Da wir um einen wissen, der einen hohen Preis bezahlt hat, dürfen wir frei und offen von dem erzählen, was Gott in und durch uns und um uns herum getan hat. Es sei ihm zur Ehre und wir hoffen und beten, dass es auch manchen Leser ermutigen und inspirieren wird.
In Berücksichtigung des Umfeldes und zu ihrem eigenen Schutz wurden die Namen etlicher Mitarbeiter und einheimischer Freunde verändert.
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Wir hatten das Privileg, Familie Louven in den vergangenen Jahren in ihrem Dienst und Einsatz begleiten zu dürfen. Als Leiter des Bereichs Auslandsdienste (»TAM«) des Bundes Evangelikaler Gemeinden in Österreich (www.BEG.or.at) wurden wir immer wieder mit Leidenschaft und Nachdruck von Renate und Hans-Jürgen eingeladen, sie doch einmal auf ihrem Arbeitsfeld zu besuchen. Im Dezember 2018 packten wir die Gelegenheit beim Schopf und reisten nach Muğla, einem wunderschön gelegenen Ort in den Bergen von Kleinasien! Wir erlebten Gastfreundschaft in ihrer reinsten Form, tiefe Gemeinschaft und einen Crash-Kurs zum Thema »Einführung in die türkische Kultur«! Louvens ungefärbte Liebe zu den Menschen um sie herum – so vorbehaltlos –, ihr natürlicher Umgang mit ihnen – so offen und ohne Scheu – haben uns zutiefst beeindruckt!
»Das ist wirkliche Heimat für sie«, »Sie sind in ihrem Element«, »Sie suchen kreative Wege, um diese Kultur mit der befreienden Botschaft zu erreichen«, »Sie kümmern sich um solche, die das Angebot Jesu schon angenommen haben und teilweise dem Unverständnis und den Repressalien ihrer Familienangehörigen und ihres weiteren Umfelds ausgesetzt sind« – das waren nur ein paar der Eindrücke, die sich uns tief eingeprägt haben.
Ihr weit gereistes Oldtimer-Wohnmobil entpuppte sich als ein treues Gefährt, das flexibel und überall einsetzbar als Begegnungsort, mobiles Wohnzimmer und Teestube diente. Viele wichtige Gespräche wurden darin geführt, Menschen bei einer Tasse Tee mit Isa (Jesus) bekannt gemacht. Ob am Meer oder in den kleinen Dörfern in den Bergen um Muğla – das Wohnmobil war der Hingucker und machte die Menschen neugierig …
Die Yayla – die liebevoll gehegte kleine Farm auf dem Land – diente als sicheres Plätzchen der Begegnung mit Gleichgesinnten und als willkommener Rückzugsort … Manch fröhliches christliches Lied mischte sich in das Vogelgezwitscher rundum.
Einen besonderen Eindruck wollen wir nicht vergessen zu erwähnen: Die Visionen und Ideen, die Hans-Jürgen und Renate immer wieder angetrieben haben und bis heute antreiben, leidenschaftlich nach neuen Mitarbeitern im »Weinberg« zu suchen und dafür zu werben … Sie freuten sich über Hauseltern fürs Gästehaus, über Besucher aus dem Ausland, die eine Zeit lang in ihre geliebte Kultur eintauchen wollten.
Louvens große Liebe zu Land und Leuten ist definitiv auf uns übergesprungen und die Begegnungen mit den einheimischen Geschwistern, die intensive geistliche Gemeinschaft mit ihnen (trotz der Anfeindungen von außen), vor allem mit »Richard«, dem alten Tierarzt mit seiner Wundergeschichte der Bekehrung …; der Familienabend mit dem Dutzend VW-Oldtimer-Fans in Louvens kleinem Wohnzimmer, bei dem wir von den »Yamyams« (türk. für »Menschenfresser«) aus unserer Zeit in Papua-Neuguinea als DMG-Missionare (www.DMGint.de) und von der Brücke erzählen konnten, die Gott zu uns Menschen baut …
All dies und noch viel mehr wird uns unauslöschlich in Erinnerung bleiben! Unglaublich, was man in einer knappen Woche mit Familie Louven alles erleben kann …!
Auch wegen dieser wertvollen Erlebnisse kam die Schreckensnachricht über Hans-Jürgens offizielle Ausweisung wie ein Schock. Wir wurden hier in Österreich ja zeitnah durch aktuelle WhatsApp-Berichte mit hineingenommen in die Ereignisse, die sich damals schier überschlagen haben. Und doch lag in all dem die gnädige Hand unseres Herrn so sichtbar auf seinen Kindern! Bis heute können sie in ihrer geliebten Wahlheimat wirken, was für sich alleine schon ein großes Wunder ist! Wenn unser Gott eine Türe aufmacht, wer sollte sie schließen?!
Von Herzen wünschen wir dem nunmehr zweiten spannenden Buch viele aufmerksame Leser! Mögen sie ganz neu inspiriert und ermutigt werden, für dieses faszinierende Land zu beten und in jeder Situation völlig auf Gott zu vertrauen! Er wird’s wohl machen!
Hans-Georg und Margret Hoprich
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Bereits 1994 hatten meine Frau Renate und ich ungefähr ein Jahr nach unserer Eheschließung den Entschluss verwirklicht, miteinander in die Türkei zu ziehen. Schon davor hatten wir unabhängig voneinander erste Erfahrungen mit der türkischen Kultur und den Menschen gesammelt. Während Renate als Krankenschwester in Österreich immer wieder einmal mit türkischen Patienten zu tun hatte und letztlich mit einigen von ihnen eine Reise in die Türkei unternahm, machte ich ungefähr zeitgleich bei verschiedenen Sommeraufenthalten in der Türkei überwiegend positive Erfahrungen mit Land und Leuten. Von unseren christlichen Heimatgemeinden in diesem Weg bestätigt, wurden wir von den Freunden in Deutschland und Österreich verabschiedet.
Zwischen 1994 und 1996 waren wir schwerpunktmäßig mit dem Erlernen der Sprache und dem Hineinfinden in die Kultur beschäftigt. Wir konnten uns aber bereits damals gut vorstellen, langfristig im Land zu bleiben und dort eine Arbeit aufzubauen. Mit allerlei ersten Erfahrungen und recht guter Kenntnis der Sprache kehrten wir zunächst für einen verlängerten Aufenthalt nach Europa zurück (unsere Tochter Hanna wurde im April 1997 dort geboren). Nachdem wir in Deutschland in Verbindung mit einer christlichen Reisegesellschaft kamen, konkretisierten sich unsere ersten Pläne und Vorstellungen zunehmend. Im Mai 1998 machten wir uns dann als Familie auf den Weg in den Südwesten der Türkei, wo wir zunächst eine Wohnung bezogen und ich dann wenig später sehr zentral in der Stadt ein Verbindungsbüro für die besagte Reisegesellschaft eröffnete.
War anfangs unsere Aufgabe noch mehr auf unsere Stadt und das Umfeld begrenzt, bauten wir in den nachfolgenden Jahren zwei historische Häuser zu Gästehäusern um und gründeten hierzu eine GmbH im Land selbst. Unsere Gäste konnten Ausflüge zu den umliegenden biblischen Orten (zum Beispiel Ephesus, Laodicea und Hierapolis) machen. Weitere Mitarbeiter kamen aus Europa hinzu und unsere Tätigkeit weitete sich aus. Wir hatten Besucher von überall her und in der Stadt und im Umfeld wurden wir immer bekannter, trug unsere Tätigkeit im Tourismus doch auch zum Wohl der Stadt bei. Der »Glaubenstourismus« (so nannte man unsere Tätigkeit auch übersetzt in der Türkei) führte immer wieder zu Gesprächen mit den Einheimischen über den christlichen Glauben. Darüber freuten wir uns, lag uns das doch sehr auf dem Herzen.
Nachdem Hanna in der Türkei eine recht sorglose Kindheit erlebt und nach der Vorschule auch die ersten Jahre der Grundschule gut absolviert hatte, stellte sich die Frage nach ihrer künftigen schulischen Ausbildung. Es gab noch einige weitere wichtige Faktoren (zum Beispiel unsere familiäre Situation), sodass wir uns schließlich nach ausgiebiger Prüfung und Beratung zu einem damals für uns schwierigen Schritt durchrangen: Wir entschlossen uns 2008, zumindest für eine längere Zeit nach Europa zurückzukehren und Hanna dort ihre Schulbildung beenden zu lassen.
In der Folge lebten wir für ca. sechs Jahre am Niederrhein in Deutschland; daran schloss sich noch ein weiteres Jahr in Renates Heimat Vorarlberg an. Ich selbst arbeitete in der Zeit als Lehrer bzw. holte zunächst noch mein Referendariat nach, das mir nach meinem Lehramtsstudium noch fehlte, da wir damals schon in die Türkei ausgereist waren.
Immer wieder merkten besonders Hanna und ich jedoch, dass wir uns eigentlich nicht vorstellen konnten, unserem vorherigen Lebensumfeld für immer fernzubleiben. Erinnerungen an die Zeit in der Türkei, unsere Freunde dort, das zurückgelassene Umfeld kamen immer wieder in Gedanken hoch. Regelmäßig kehrten wir in die Türkei zurück – zwischendurch in den Ferien und Hanna auch einmal als Austauschschülerin für eine längere Zeit. Während all der Jahre behielten wir unser Haus dort. Zudem wurde unsere Arbeit mit den Gästehäusern von unseren ehemaligen Mitarbeitern weitergeführt, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen. Von daher war es für uns durchaus eine Option, wieder in die Türkei und zur alten Arbeit zurückzukehren. Immer wieder führten mich die Gedanken und Gebete zurück zum früheren Umfeld und zur für uns noch nicht abgeschlossenen Arbeit.
»Was machst du eigentlich hier?« Diese Frage kam zum Teil unerwartet und in unterschiedlichen Situationen in mir hoch. Zum Beispiel als ich als Lehrer auf dem Weg in die nächste Schulklasse war, den Schlüssel für den Bio-Fachraum in der Hand haltend. Oder als Zuschauer des Karnevalszuges, der sich durch die Straßen meiner rheinischen Heimatstadt schlängelte. Was machte ich eigentlich hier? Ich dachte dann besonders an unser gerade leer stehendes Haus in der Türkei sowie die geräumige und jetzt ebenfalls ungenutzte Farm am Stadtrand; ich dachte an die verschwindend geringe Zahl von christlichen Arbeitern dort und unsere über Jahre und zum Teil recht mühsam erworbenen Sprach- und Kulturkenntnisse. Auch als wir vom Rheinland in Renates Heimatland Österreich zogen und ich eine tolle Anstellung als Lehrer an einer gerade gegründeten christlichen Schule bekam, verstummte diese Frage in mir nicht: »Was machst du eigentlich hier?«
Nachdem ich sie nicht mehr wegschieben konnte, brachte ich sie auch vor unsere Gemeindeältesten. Eine kurze Auszeit am Bodenseeufer in Meersburg wollte ich dazu nutzen, mehr Klarheit über unseren weiteren Weg zu gewinnen.
Zunächst wollten wir noch einige alte Freunde besuchen, die in der Vergangenheit manche Arbeiten im Hintergrund für uns erledigt hatten. Hatte ich bereits in Deutschland manchmal den Eindruck gehabt, dass Gott mich zu einer weiteren Einsatzzeit in der Türkei ermutigen wollte, wertete ich das Statement eines Mitarbeiters dort als einen sehr deutlichen weiteren Hinweis in diese Richtung: »Ich habe den Eindruck, Gott ruft euch in die Türkei zurück. Mir ist Apostelgeschichte 13 in den Sinn gekommen, wo Paulus und Barnabas zu ihrem Dienst unter den Völkern ausgesandt werden.«
»Das ist das, was ich auch empfinde«, konnte ich damals nur sagen und war ziemlich dankbar, dass Gott uns noch vor unseren Einkehrtagen eine solche Bestätigung gegeben hatte. Auch Renate, die im Blick auf eine weitere Ausreise in die Türkei weniger enthusiastisch war als ich, sah es so. Somit hatten wir eine klare Antwort auf unsere Frage bekommen. Wir verbrachten dann eine unbeschwerte Zeit in unserem kleinen Hotel in Meersburg und lernten neben dem nahen Thermalbad auch einige Christen aus der Schweiz kennen.
Im Anschluss konnten wir uns direkt konkreter an die Vorbereitungen machen. Noch war vieles offen, aber die grundsätzliche Frage nach unserem zukünftigen Einsatzort schien nun geklärt. Der Abschied von der neu gegründeten christlichen Entdecker-Schule in Vorarlberg, manchen türkischen Bekannten im Umfeld und natürlich den Freunden aus der Gemeinde war zwar nicht nur leicht, aber die Qualität neuer Herausforderungen war gewiss …
Nach der Übergabe unseres gemieteten Hauses und der Einlagerung einiger Möbel und Gegenstände bei Freunden machten wir uns im Sommer 2015 auf die Wieder-Ausreise in den Orient. Unsere damals 19-jährige Tochter Hanna würde uns zunächst nicht begleiten, weil sie nach ihrem Schulabschluss einen Einsatz mit einer christlichen Organisation in Südamerika machen würde. Sie würde allerdings noch vor diesem Einsatz für ein paar Wochen zusammen mit einem Team von jungen Leuten zu uns stoßen.
Am Tag unserer Abreise aus Österreich nahmen wir noch an einer letzten Zusammenkunft bei Renates Arbeitsstelle im Betreuten Wohnen teil. Es war schon Nachmittag, als wir uns dann letztlich von dort verabschiedeten und uns mit unserem Renault Kangoo und einigen Bananenschachteln im Laderaum über die Grenze nach Liechtenstein und die Schweiz aufmachten. Der erste Abschnitt unserer Reise führte uns in Richtung Chur und die Schweizer Alpen, durch den Gotthardtunnel hindurch nach Italien. Bei einbrechender Dunkelheit suchten wir uns einen Schlafplatz und wurden bei einem Rastplatz vor der Autobahn nach Mailand fündig. Zunächst breiteten wir unser Luftbett auf einem Grünstreifen aus, zogen später jedoch etwas näher zu den Waschplätzen um. Die Nacht war nicht die allerbeste, wir fanden aber dennoch genug Schlaf, um gestärkt Richtung Ancona und damit unserer zuvor gebuchten Fähre weiterfahren zu können.
Am Hafen angekommen, fanden wir nach dem Check-in noch etwas Zeit zur Orientierung, bevor es in das Innere des großen Fährschiffes ging. Igoumenitsa in Griechenland war wie auch schon bei früheren Fahrten in die Türkei unser Ziel. Die Überfahrt war gut, die Nacht verbrachten wir wie gewohnt unter freiem Himmel auf dem Zwischendeck. Griechenland empfing uns mit einem wolkenlosen, blauen Himmel. Unser kleines Auto erklomm geübt die ersten größeren Steigungen der relativ neuen Autobahn Richtung Thessaloniki. Hinter dem biblischen Beröa und der Metropole Thessaloniki wiesen schon die ersten Hinweisschilder Richtung Türkei.
An der Grenze bei Ipsala angekommen, waren wir bei Weitem nicht die Einzigen, die Richtung Asien wollten. Wie gut, dass wir das Prozedere schon kannten und alle nötigen Papiere inklusive gültigem Versicherungsschein für den asiatischen Teil der Türkei vorweisen konnten. Zügig wurden wir abgefertigt und bereits hinter der Grenze passierten wir wie schon oft zuvor das große Schild »Türkiye’ye hoşgeldiniz« – willkommen in der Türkei!
Dass die Türkei im Wandel war, hatten wir schon bei zwischenzeitlichen Besuchen mitbekommen, und auch die Medien in Europa berichteten mehr oder weniger ausführlich in Wort und Bild darüber. R. T. Erdoğan an der Spitze des Staates und die ebenfalls von ihm geleitete »Ak Parti« (Partei für Gerechtigkeit und Wachstum) führten bereits zu dieser Zeit das Land in eine neue Richtung. Wie sich dies im Lebensalltag der türkischen Bevölkerung auswirkte, würden wohl unsere nächsten Jahre hier vor Ort zeigen. Dass es Auswirkungen hatte, merkten wir allerdings sehr bald an den Beziehungen der Menschen untereinander. Wir hatten nämlich den Eindruck, dass es zwischenmenschlich, verglichen mit unseren früheren Erfahrungen in der Türkei, eine Spur kälter geworden war. Und das lag ganz sicher nicht an den gerade sommerlich heißen Temperaturen und der Mentalität der Menschen um uns herum …
Wie ganz anders war es früher gewesen … Ich erinnere mich da zum Beispiel rückblickend noch gut an einen Abend in der kleinen Stadt Gelibolu unweit der sich für uns jetzt nähernden Meerenge zwischen Europa und Asien. Es muss im Sommer 2010 gewesen sein, also zwei Jahre nach unserer damaligen Rückkehr nach Deutschland. In den Schulferien hatten wir uns als Familie zusammen mit einer jungen Abiturientin auf den Weg in unsere frühere Wahlheimat gemacht. Von türkischen Bekannten eingeladen, verbrachten wir einen Abend in der kleinen Hafenstadt direkt an der Meerenge zwischen Europa und Asien. Schon kurz nach dem Abstellen unseres Autos befanden wir uns mitten im pulsierenden Leben des Ortes. Junge und ältere Menschen bewegten sich durch das orientalisch geprägte Umfeld (obwohl wir uns noch auf dem europäischen Kontinent befanden), saßen in den direkt an die Straßen grenzenden Teegärten, kauften bei den umliegenden Straßenhändlern ein, freuten sich einfach ihres Seins. Immer wieder trafen von der gegenüberliegenden Seite der Meeresenge (also der asiatischen Seite) kleinere oder manchmal auch größere Fährschiffe ein, andere machten sich mit dem Auto von Gelibolu auf den Weg nach Asien.
»Das Leben inhalieren« heißt ein Lied des österreichischen Interpreten Wolfgang Verocai – das passte sehr gut zu den Menschen, die sich da auf den Straßen tummelten. Und ganz allgemein zum Orient: Zeit haben, warme Temperaturen und herzliche menschliche Beziehungen, sich fallen lassen, genießen, einander Freund sein … Warum haben wir eigentlich hier in Europa so vieles von dem »verlernt«? Ich erinnere mich noch an Kindheitstage am Niederrhein, an denen wir im Sommer draußen auf der damals wenig befahrenen Straße vor den Häusern spielten. Die Erwachsenen saßen auf den Treppen und unterhielten sich mit den Nachbarn rechts und links, deren Namen sie noch kannten. Wer hat uns weisgemacht, dass Fernseher und Internet dies ersetzen können? Was inhalieren wir da eigentlich – das Leben? Oder vielleicht etwas ganz anderes?
Doch zurück zu unserer Wiederausreise im Sommer 2015: Nachdem wir die Spitze der Meerenge bei Çanakkale mit der Fähre umfahren hatten, waren wir jetzt wirklich in Asien. Wir hatten Europa zurückgelassen und bewegten uns in Erwartung vieler neuer Ereignisse in Richtung unseres früheren Wirkungsortes im Südwesten des Landes. Zur Rechten lag die Ägäis und einige der antiken und zum Teil biblischen Orte der Türkei: Troja, Assos, Troas … Wir näherten uns nun langsam der großen Metropole Izmir, dem früheren Smyrna, und waren froh um die mittlerweile weiter ausgebaute Umgehungsstraße mit Blick auf die großen Häuserfronten zu beiden Seiten. Schon heimisch kamen uns anschließend die ersten Hinweisschilder Richtung Aydin vor, unserer Nachbarprovinz im Norden. Das antike Ephesus zur Rechten passierend fuhren wir weiter auf der Autobahn, ließen Aydin links liegen und erklommen nun bald die letzte große Steigung zu dem Hochplateau, auf dem auch »unsere« Stadt Muğla liegt.
Das Ankommen war dann ein sehr besonderer Moment: Zwar kannten wir das hier alles schon, aber es markierte doch wieder einen neuen Abschnitt in unserem Leben. Anders als 1998 bei unserer ersten Ausreise hatten wir nun bereits unser eingerichtetes Haus vor Ort, kannten seit vielen Jahren unsere Nachbarn, die Siedlung, das neben unserem Haus gelegene kleine Lebensmittelgeschäft … Und so waren die Menschen dort auch nicht überrascht, uns mit unserem Kangoo um die Ecke biegen zu sehen. Es war mehr wie nach Hause kommen als in eine fremde Kultur einziehen. Nur unsere deutschen Autokennzeichen schienen an ein insgesamt ca. siebenjähriges Intervall der Abwesenheit zu erinnern …
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Da waren wir nun erneut in unserer »Mahalle«. Obwohl dieses Wort im Deutschen wahrscheinlich am besten mit »Stadtteil« zu übersetzen wäre, ist es doch weit mehr als ein solcher. Eine Mahalle umfasst nicht nur Wohnblöcke, Straßen und Nachbarn. Sie ist vielleicht besser zu beschreiben als das ganze pulsierende, manchmal fast übersprudelnde Leben innerhalb eines Wohngebiets mit seinen jungen und alten Menschen, kleinen Geschäften, am Wegrand sitzenden Nachbarn, Feiern auf den Höfen und den Straßen. Hier hört man Kinder lachen, Frauen keifen, Männer diskutieren, Nachbarn von Balkon zu Balkon rufen. Hier geschieht Leben. Und in eine solche Mahalle waren wir damals aufgenommen worden und bald von vielen gekannt.
Es gibt einem Menschen eine große Sicherheit, in einem fremden Land nicht nur angekommen, sondern aufgenommen zu sein – einfach dazuzugehören. Diese Zugehörigkeit führt zu, wie wir erfahren haben, Rechten wie Pflichten, ist aber für mich ein unverzichtbarer Bestandteil wirklicher Integration. In einer Zeit, in der in Deutschland und anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft zum Teil heftig das Thema Integration diskutiert wird, ist es für mich keine Frage, dass eine solche Zugehörigkeit zur »Mahalle« einen unschätzbaren Wert hat. Und hier sind unbedingt beide Seiten gefragt. Nicht nur aus diesem Grunde sehe ich es als eine sehr schlechte Entwicklung in manchen deutschen Großstädten, dass deutsche Bürger und solche mit Migrationshintergrund, speziell einem türkischen, nicht etwa Seite an Seite, sondern in verschiedenen Wohngegenden getrennt voneinander leben. Solche Entwicklungen werden den zahlreichen Integrationsbemühungen der Bundesregierung sicherlich nicht zuträglich sein, sondern ein starkes Hindernis auf diesem Weg.
Unsere Mahalle bestand aus etlichen Wohnblöcken mit insgesamt 112 Häusern, die innerhalb einer sogenannten »Kooperative« gebaut worden waren. Eine Kooperative ist ein in der Türkei sehr häufig vorkommender Zusammenschluss verschiedener Einwohner einer Stadt. Man tut sich zu einer größeren Gemeinschaft zusammen, um mit vereinten Kräften und Überlegungen daran zu arbeiten, Besitzer einer eigenen Wohnung werden zu können. Die für einen Einheimischen oft hohen Kosten des Wohnungsbaus werden auf diese Weise verringert. Man finanziert gemeinsam einen Architekten, den Bauträger und die Materialien, sodass die Kosten auf mehrere Schultern umgelegt werden können. Da die zukünftigen Wohnungsbesitzer aber meist nur einen gewissen monatlichen Beitrag zahlen können und kaum Rücklagen haben, kann sich das Vorhaben oft sehr in die Länge ziehen. Das ist einer der Gründe, warum man in der Türkei viele noch unvollendete Bauvorhaben an den Straßen und in den Städten sieht. Die Zahlung der monatlich fälligen Beiträge kann schon mal ein Problem darstellen und Anlass zu Meinungsverschiedenheiten geben. Auch in unserer Mahalle hat es nach Aussagen unserer Nachbarn etliche Jahre gedauert, bis die einzelnen Bauten annähernd bezugsfertig waren. Sogar danach ist das Zusammenleben manchmal nicht unproblematisch, wie wir hier und da feststellen mussten.