Verrückter Trip in ein anderes Leben - Jaana Humpert - E-Book

Verrückter Trip in ein anderes Leben E-Book

Jaana Humpert

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Beschreibung

Mit gebrochenem Herzen und verloren in den Wirren seines Lebens, nimmt sich der wohlhabende Unternehmer Seppo eine Auszeit und begibt sich auf eine Reise ins Ungewisse. In einem schlichten Wohnmobil durchstreift er Europa, auf der Suche nach Antworten und nach sich selbst. Doch das Schicksal hat andere Pläne für ihn. In Deutschland trifft er auf die freche Tramperin Lizzy, die sein geordnetes Leben auf den Kopf stellt. Mit ihrer impulsiven, chaotischen Art treibt sie den kontrollierten Finnen häufig in den Wahnsinn und doch fühlt er sich endlich wieder lebendig. Zwischen ihnen entsteht eine unerwartete Bindung, die von Geheimnissen und Lügen überschattet wird. Als Seppo erkennt, dass seine Gefühle für Lizzy tiefer gehen, ist es bereits zu spät - sie hat ihn verlassen. Verzweifelt versucht er, sie zurückzugewinnen, doch auch Lizzy kämpft mit ihren eigenen Dämonen. Haben die beiden eine Chance auf ein gemeinsames Glück? Oder sind ihre Unterschiede zu groß, um überwunden zu werden? Eine humorvolle und emotionale Liebesgeschichte über zwei Menschen, die lernen, dass Gefühle keine Grenzen kennen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Verrückter Trip in ein anderes Leben

 

Roman

 

von

 

Jaana Humpert

 

I

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1 Seppo

Es war einer dieser Tage! Seppo hatte fluchtartig das Büro verlassen, war aber nicht weit gekommen. Sein Ausriss endete am Tresen einer Jazzbar, direkt gegenüber dem Firmensitz der Kehonen-Werke — eine der größten, wenn nicht sogar die größte Schokoladenmanufaktur Finnlands. Sein Unternehmen, die Bürde, die sein Vater ihm beim Ableben aufgehalst hatte. Danke für gar nichts! Seit dem Studium quälte er sich täglich in den Betrieb, sich seiner Verantwortung für fast zweitausend Mitarbeiter bewusst. Die Firma erwirtschaftete beeindruckende Umsätze, was zu großen Teilen der Kreativabteilung zu verdanken war, die mit immer neuen Ideen überraschte. Seinen Leuten gab er am heutigen Desaster keine Schuld. Er allein hatte es verbockt. Die Verträge mit dem deutschen Unternehmen über den exklusiven Export einiger hochwertiger Artikel aus ihrem Sortiment waren schon fast unterschrieben gewesen, und dann war der Deal auf der Zielgraden doch noch geplatzt. Wieso hatte er sich bloß zu dieser Dummheit hinreißen lassen? Das waren nicht die ersten Geschäfte mit den Deutschen, er kannte deren Eigenarten. Sie waren eiskalte Händler, die sich nicht unter Wert verkauften. Seppo hasste es, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten. Sie waren arrogant und penibel genau — und leider die wichtigsten Geschäftspartner für ein erfolgreiches Unternehmen. Im Laufe der Verhandlungen hatte ihn eine unbändige Wut gepackt, und er hatte das Bedürfnis verspürt, ihnen eine Lehre zu erteilen. Seppo kippte den Wodka mit einem Schluck herunter und gab dem Barkeeper ein Zeichen, nachzuschenken. Eine Lektion hatte jedoch nur eine Person erhalten, und das war er selbst. Nachdem er sich im Rahmen des Gesprächs geweigert hatte, auf ihre Forderungen einzugehen, obwohl diese mehr als fair waren, waren die Männer mit einem Lächeln aufgestanden. Da war es wieder, dieses überhebliche Grinsen, das dem Gegenüber verdeutlichte, dass er verloren hatte. „Dann tut es uns leid, Herr Kehonen. So werden wir nicht zusammenkommen. Wir lassen Ihnen unser Angebot hier, Sie können es gerne überdenken und sich gegebenenfalls bei uns melden!“ Dann waren sie in ihren spießigen, nachtblauen, nahezu identischen Anzügen davongerauscht, die Nasen gefühlte elf Meter hoch über dem Boden. Ihnen war klar, dass sie Seppo an gewissen Teilen seines männlichen Geschlechts gepackt hatten. Stimmte er den Forderungen nicht zu, würde seiner Firma ein Millionendeal durch die Lappen gehen, und die Alternative war nicht besser: Er musste den arroganten Schlipsträgern in den Allerwertesten kriechen. Nach Seppos drittem Glas Wodka setzte die Livemusik ein. Das Einzige, was er mehr hasste als die Deutschen, war Jazz. Er gab dem Kellner seine Kreditkarte, um die Drinks zu bezahlen, und war froh, dem Lärm, den andere Menschen Musik nannten, zu entfliehen. So stand er auf der abendlichen Straße Helsinkis. Den lauten Straßen Helsinkis! Seppo war bei seinen Großeltern in Lappland aufgewachsen und er liebte die Ruhe, die Natur. Die finnische Hauptstadt raubte ihm den letzten Nerv. Ihn zog es in seine eigenen vier Wände, wo er sich auf die Couch werfen und von Netflix berieseln lassen würde. Morgen war ein neuer Tag! Die Villa, ebenfalls aus dem Nachlass seines Vaters, war zu Fuß erreichbar. Er schloss die Haustür auf, schlüpfte aus den Schuhen und schlenderte in die Küche. Aus dem Kühlschrank nahm er eine Flasche Bier, öffnete sie und trottete über den endlos langen Flur durch die Empfangshalle zum Fernsehzimmer. Zu seiner Überraschung war das Sofa, auf dem er den heutigen Abend sturzbesoffen ausklingen lassen wollte, belegt. Ein nackter Hintern fuhr hoch und runter, dazu vernahm er das leise Geräusch eines verwundeten Tieres. Klang das nicht nach einem Pavian? Seppo setzte sich in den Sessel, lockerte seine Krawatte und betrachtete das Schauspiel. Wer hätte gedacht, dass dieser beschissene Tag um noch einen weiteren Höhepunkt bereichert werden würde? Die Person, die diese befremdlichen Töne von sich gab, schien in Wahrheit kein Affe zu sein. Anhand der langen, blonden Haare und den schlanken Beinen, die sich fest um den rödelnden Hintern geschlungen hatten, meinte Seppo seine Frau Tarja zu erkennen. Er trank einen Schluck von dem Bier und überlegte. Es war definitiv auszuschließen, dass er der Kerl war, der in diesem Moment einen lauten Schrei ausstieß, um daraufhin in sich zusammenzusacken. Wie seltsam, denn es war sein Haus, seine Couch und vor allem seine Gattin, die jetzt etwas sagte, was den Fremden zum Lachen brachte. In diesem Augenblick drehte Tarja den Kopf und erkannte Seppo. Die Frau sprang auf, wobei der Mann von ihr rutschte und mit einem harten Aufprall neben dem Sofa auf dem Boden landete. Erst quiekte er vor Schmerzen auf, dann erblickte er den ungebetenen Besucher und wiederholte das Geräusch voller Panik. Tarja nahm ihre Bluse vom Boden und versuchte damit, ihre nackten Brüste zu bedecken. Sie versteckte ihren Körper, dabei war Seppo der Mann, dem sie vor über zehn Jahren das Ja-Wort gegeben hatte. Diese ganze Situation kam ihm derart surreal vor, dass er intuitiv laut auflachte. „Verdammt, was tust du hier?“ Er verstummte und schaute sie erstaunt an. „Ich wohne hier! Nein, stopp: Soweit mir bekannt ist, ist das sogar mein Haus!“ Tarja hatte sich wieder unter Kontrolle und kniff die Augen wütend zusammen. Völlig anders ihr Gast: Der arme Kerl erkannte mit Grauen, dass zwei Hände nicht ausreichten, um seine Männlichkeit vor dem gehörnten Ehemann zu verstecken und die schmerzende Stelle am Kopf zu reiben. Man sah schon jetzt, dass dort, wo er auf das Parkett geknallt war, eine riesige Beule wachsen würde. „Dein Lover benötigt Eis!“ Seppo trank einen Schluck aus seiner Flasche und beobachtete die Szene. Obwohl es sich hier um die Tragödie seines Lebens handelte, unterhielt ihn das Ganze besser als jeder Film auf Netflix. Die Affäre seiner Frau sprang so schnell in die Klamotten, dass sich ein Bein in der Jeans verfing. Fast wäre der große Mann ein weiteres Mal gestürzt, und Seppo bekam etwas Mitleid mit dem Unbekannten. Tarja kleidete sich ebenfalls an, aber wesentlich weniger hektisch. Dabei waren ihre blauen Augen zornig auf den Ehemann gerichtet. Dieser seufzte und ließ den Kopf gegen das Sesselpolster sinken. Sie vögelte auf seiner Couch einen anderen, und Seppo trug die Schuld! Verkehrte Welt! Inzwischen war der Fremde mehr oder weniger angezogen und stand verlegen in der Tür. Nervös hob er zum Abschied die Hand, woraufhin Seppo ihm zuprostete. Dann war er allein mit der Furie, die sich seine Ehefrau schimpfte. Tarja überschüttete ihren Mann mit Vorwürfen. Dass er nie Zeit hätte, der Sex mit ihm zu selten und katastrophal sei, da er mit den Gedanken nur in der Firma sei, dass er sie nicht als Frau wahrnehme. Seppo schloss die Augen und hörte sich ihr Gezeter an. Er wartete geduldig, bis ihre Litanei endete oder sie vielleicht auch nur Luft schnappte, um ihren nächsten Angriff zu starten. Dann war sie endlich einige Sekunden lang still. „Wer ist der Kerl?“ Sie straffte die Schultern, das blonde Haar zerzaust, und schaute ihn trotzig an. „Er heißt Marc und ist Türsteher in meinem Lieblingsclub!“ Seppo hatte keine Ahnung, um welchen Club es sich handelte, und es interessierte ihn auch nicht. „Wie lange geht das mit euch schon?“ Bei dieser Frage wirkte sie jetzt doch etwas verlegen. „Das war das erste Mal!“ Natürlich war es das! Er betrachtete seine beeindruckend schöne Frau. Als sie sich kennenlernten, hatte sie noch auf den internationalen Laufstegen gearbeitet. Er hatte sie vor über elf Jahren in Helsinki auf einer Gala getroffen und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. In ihren durchtrainierten, weiblichen Körper mit fast 1,80 Größe, ihre langen, blonden Haare und Augen mit der Farbe von Meerwasser. Die finnische Presse feierte sie von Anfang an als das Traumpaar. Der Millionenerbe und das Model! Leider war ihr Charakter nicht so hübsch wie ihr Äußeres. Tarja war egoistisch, berechnend und herrisch. Seppos Vater hatte die junge Frau abgelehnt und von seinem Sohn einen Ehevertrag verlangt. Heute war der froh, dass der alte Herr ihn damals unter Druck gesetzt hatte. Tarja würde nur mit den Sachen abhauen, mit denen sie bei ihm aufgeschlagen war. Das war der Finnin klar und schien ihr in dem Moment ebenfalls durch den Kopf zu rauschen. Mit wippendem Gang näherte sie sich Seppo und ließ sich dann auf der Lehne des Sessels nieder. Er schloss die Augen und atmete den Duft ihres teuren Parfüms ein. Ihr Geruch hatte ihn schon immer verrückt gemacht, so wie fast alles an dieser Frau. Warmer Atem erhitzte sein Ohr und eine weiche Hand legte sich auf seine Wange. „Ich liebe nur dich! Andere Männer sind billiger Trost, weil du nie Zeit hast! Ich bin mir deiner Gefühle nicht sicher, und das ist verletzend.“ Geschickte Finger öffneten die ersten drei Knöpfe seines Hemdes und glitten über seine Haut. Seppo ergriff ihr Handgelenk und hinderte sie daran, ihn weiter zu berühren. „Ich werde jetzt in unser Schlafzimmer gehen und möchte dich vorerst nicht mehr sehen. Übernachte bei deinen Türstehern, im Gästezimmer oder hier, auf der durchgebumsten Couch, nur nicht in meiner Nähe.“ Er stand auf und verließ den Raum, nicht ohne am Kühlschrank vorbeizugehen und sich mit einigen Flaschen Bier einzudecken.

Am nächsten Morgen erwachte Seppo in dem großen Ehebett. Sein Kopf schmerzte, und es kam ihm vor, als hätte er nicht eine Minute geschlafen. Er duschte lange und kalt, doch das änderte nichts an seinem erschöpften Zustand. Er band seine Krawatte vor dem Spiegel und erinnerte sich nervös daran, welche Aufgabe ihm heute bevorstand. Er würde sein Letztes bisschen Würde über Bord werfen und bei den Deutschen zu Kreuze kriechen. Seppo betrachtete sich einige Sekunden lang im Spiegel. Er wirkte erschreckend blass, ein Eindruck, den das dunkelgraue Hemd nur noch verstärkte. Am kommenden Wochenende sollte er unbedingt entspannen, nach Lappland fliegen, sich endlich ausruhen. Kein Geräusch war in der Villa zu hören, entweder schlief Tarja oder sie war nicht daheim. Mit beidem konnte er leben! Nachdem Seppo den Kaffeevollautomaten betätigt hatte, nahm er einen Schluck der heißen, braunen Flüssigkeit. Verwundert beobachtete er, dass seine Hände zitterten. Er dachte darüber nach, seinen Fahrer zu rufen, doch den Gang über zwei Straßen schaffte Seppo auch allein. Er stellte seine halb volle Tasse auf dem Tisch ab, zog das Jackett seines Anzuges an und brach auf, in Richtung der Kehonen-Werke. Der Finne überlegte gerade, wie er das Gespräch mit den Deutschen am günstigsten hinter sich bringen könnte, da durchfuhr ihn ein Schwindel. Seppo klammerte sich an die nächste Laterne und schloss kurz die Augen. In dem Moment überkam ihn eine nie gekannte Übelkeit, gleichzeitig verspürte er diese unerträglichen Schmerzen. Er schaute verwirrt an sich herunter, davon überzeugt, irgendwo an seinem Körper eine Verletzung vorzufinden. Bevor Seppo etwas erkennen konnte, waren seine Beine nicht mehr in der Lage, das Gewicht zu halten, und er knickte ein. Eine Hand auf seine vor Schmerzen brüllende Brust gedrückt, dachte er an einen Antikriegsfilm, den er vor Jahren einmal gesehen hatte. In der Schlussszene lag einer der Darsteller ebenfalls so auf den Knien, mit erhobenen Armen, weil der rettende Hubschrauber ohne ihn davonflog. Seppo hoffte, dass er ähnlich cool wirkte, wenn sein Ableben schon hier, mitten auf den verhassten Straßen Helsinkis, stattfand. Ein irres Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, ausgelöst durch den Schwachsinn, der ihm im Angesicht des Todes durch den Kopf rauschte. So viel dazu, dass das ganze Leben an einem vorbeizog, bei ihm war es ein alter Hollywoodstreifen! Er hörte Stimmen, hektisches Rufen nach einem Krankenwagen, und dann wurde es schwarz um ihn herum.

Als Seppo wieder zu sich kam, herrschte Totenstille. Totenstill war angesichts der Lage, in der er sich bei seiner letzten Erinnerung befunden hatte, alles andere als positiv. Doch dann war er da, ein unverkennbarer Piepston, und der Finne atmete erleichtert auf. Das war das typische Geräusch einer Patientenüberwachung im Krankenhaus. Das bedeutete, dass er vermutlich noch am Leben war. Langsam öffnete Seppo die Augen und schaute sich in dem weißen, unpersönlichen Zimmer um. Neben ihm sass ein Mann, eindeutig ein Arzt, aber zeitgleich identifizierte er ihn als Anti, seinen besten Freund seit Kindertagen. Sie waren in Lappland aufgewachsen, nahe Rovaniemi, und in jungen Jahren zusammen in die finnische Hauptstadt gezogen. „Da bist du ja wieder!“ Seppo versuchte, sich aufzurichten, doch sein Kumpel drückte ihn zurück in die Kissen und betätigte stattdessen den Knopf, der die Lehne automatisch hochstellte. „Was ist passiert?“ Anti reichte ihm ein Glas Wasser. „Herzinfarkt!“ Seppo starrte ihn an und ließ die nüchternen Worte seines Gegenübers einen Moment lang sacken. „Wie kann das sein? Ich bin doch erst vierzig Jahre alt!“ Sein Freund sah ihn ernst an. „Genau darüber solltest du dir Gedanken machen! Das war eine Warnung, es war ein leichter Infarkt, der dank der schnellen Hilfe von Passanten keine bleibenden Schäden an deinem Herzmuskel hinterlassen wird. Der nächste könnte deine letzte gute Tat auf dieser schönen Erde sein.“ Seppo war geschockt, Bilder von seinem Ableben stürmten durch sein Gehirn. Es dauerte einige Minuten, bis er das Gehörte halbwegs verarbeitet hatte, dann wurde er geschäftlich. „Was schlägst du vor?“ Anti sah ihn mit ernstem Blick an. „Steig aus, mach eine Pause. Du stehst kurz vor einem Burn-Out oder sogar dem Finale. Dein Körper benötigt Ruhe. Flieg mit deiner Frau in die Karibik, leg dich in die Sonne und tu einfach mal nichts!“ Seppo hob die Hand, um seinen Kumpel zu unterbrechen. Mit kurzen Worten schilderte er ihm die Situation, die er am Vorabend in seinem Haus vorgefunden hatte. Anti seufzte. „Ok, dann wohl ohne Tarja. Ist vielleicht sogar besser! Fahr für einige Wochen raus, nach Lappland oder ziellos durch Europa. Du musst den Kopf frei bekommen, dich entspannen. In deiner Firma sind fähige Leute, die können den Betrieb auch eine Zeit lang ohne dich schmeißen!“ Anti erhob sich. „Ich muss los, im OP wartet jemand, der nicht so viel Glück hatte wie du. Der arme Vogel bekommt durch unseren Eingriff hoffentlich noch ein paar schöne Jahre geschenkt!“ Noch lange nachdem sein Freund den Raum verlassen hatte, starrte Seppo auf die weiße Tür. Dann fällte er eine Entscheidung!

 

 

 

Kapitel 2 Lizzy

Sie hatte sich direkt hinter die Auffahrt zum Rastplatz gestellt und hielt ihren Daumen in die Höhe. Jahrelange Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass das die Chancen erhöhte, eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Wie erwartet, dauerte es nicht lange, bis ein LKW neben ihr stoppte. „Wohin?“ Der Fahrer wirkte nicht sonderlich sympathisch, aber bei dieser Art zu reisen nahm man, was kam. „Richtung Süden!“ Der Mann schien einen Augenblick zu überlegen, dann nickte er. „Bis Kassel kannst du mitfahren, aber ich muss erst meine Pausenzeit einhalten!“ Sie lächelte ihn an, doch bevor sie in den Wagen stieg, trat sie vor den LKW und fotografierte das Nummernschild mit ihrem Handy. Der Mann hinterm Steuer reagierte genervt. „Kommst du jetzt, oder was?“ Eilig lief Lizzy um den Wagen herum, öffnete die Tür und kletterte auf den Sitz, die große Reisetasche an sich geklammert, den Rucksack auf ihren Bauch geschnallt. Nachdem sie endlich alles verstaut hatte, startete der Mann das Fahrzeug, bremste jedoch schon nach ein paar Metern abrupt wieder ab. „So, hier machen wir Rast!“ Die junge Frau hatte erwartet, dass der Mann seine Stulle oder eine Thermoskanne hervorholen würde, aber er hatte sich zu ihr gedreht und starrte sie an. Etwas an diesem Blick gefiel Lizzy ganz und gar nicht! In ihr keimte der unangenehme Verdacht auf, dass sie sein Lunchpaket werden sollte. Der Kerl wirkte unsauber, sein Karohemd war voller Flecken, und an den schmutzigen Füssen trug er offene Sandalen. Sie hatte seinen vorschnellenden Arm nicht kommen sehen, da packte er sie schon am Genick. Der Mann war kräftig und Lizzy schnappte einen Moment nach Luft. „Jetzt können wir uns ein wenig amüsieren, bevor die Reise losgeht.“ Die Stimme des Kerls war belegt, und es gab keinen Zweifel daran, was er vorhatte. Angeekelt wehrte Lizzy sich, als er ihr Gesicht immer näher an den Schritt seiner versifften Shorts schob und sie ahnte, was er unter „amüsieren“ verstand. Erfüllt von Panik, riss sie sich los, schlug nach dem Mann und erwischte ihn mit dem Ellenbogen am Auge. Der schrie vor Schmerzen auf und knallte daraufhin ihren Kopf gegen die Beifahrerscheibe. Lizzy sah Sterne, doch sie fing sich schnell wieder. Ihr blieb nur diese kleine Chance zur Flucht. Endlich fanden ihre verzweifelt tastenden Hände den Hebel, und die Tür sprang sofort auf. Lizzy stürzte mehr aus dem LKW, als dass sie kletterte. Die Reisetasche hatte sie im Fallen erwischt, doch ihr Rucksack und die Jacke lagen noch im Fahrzeug. Das war ihr in diesem Moment egal, wütend zeigte sie dem notgeilen Arschloch den Mittelfinger und bedachte ihn mit ihren besten Schimpfworten. Der Dreckskerl hielt weiterhin eine Hand auf sein lädiertes Auge gedrückt. Dann warf er ihren Rucksack und die Jacke auf den Asphalt, ließ den Motor an und verschwand, hoffentlich für immer, aus Lizzys Sichtfeld. Sie raffte ihre Sachen zusammen und setzte sich auf einen Felsblock, der als Absperrung diente. Ihr Kopf schmerzte und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was hätte passieren können. Ihre Hände zitterten, und sie war unfähig, etwas gegen die Tränen zu unternehmen, die ihr über das Gesicht liefen. Fast wäre schon diese Station ihrer Reise in einem Desaster geendet. Von nun an würde sie auf ihr Gefühl hören, bevor sie in ein Auto stieg. Sie schloss die Augen und dachte an Pepe Melcovic und daran, dass sie all das für ihn auf sich nahm. Es war über ein Jahr her, dass sie ihn kennengelernt hatte. Lizzy, mal wieder obdachlos, hatte auf einer Parkbank gesessen, als ein eleganter, älterer Herr neben ihr stehen blieb. „Ist der Platz noch frei?“ Er hatte einen leichten Akzent und seine blauen Augen faszinierten sie sofort. Lizzy hatte gelächelt und genickt. Ihr Gespräch dauerte lange, und am kommenden Tag trafen sie sich erneut. Wieder auf der einen Bank, wieder, um angeblich Enten zu füttern. Eine Woche später betrachteten sie sich als Freunde. Heute wusste sie nicht, ob Pepe sie gerettet hatte oder umgekehrt. Der alte Mann stammte aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus einer Ecke des heutigen Kroatien. Schnell hatte er durchschaut, dass das junge Mädchen mit den verfilzten Haaren kein Zuhause hatte. Etwa einen Monat nach ihrem Kennenlernen hatte er sie eines Nachmittags mit ernstem Blick angesehen. „Ich weiß, dass meine Bitte etwas unverschämt ist, und du denkst vermutlich, dass ich ein frecher, alter Bock bin. Meine Gesundheit baut in letzter Zeit immer weiter ab, und ich kann nicht mehr allein leben. Meine Tochter würde mich lieber heute als morgen in ein Pflegeheim verfrachten. Für sie ist mein Verfallsdatum abgelaufen, ich bin ein Störfaktor auf ihrem Weg zum Erbe. Leider ist aus dem Mädchen ein genauso böser Schrubber geworden, wie ihre Mutter schon einer war!“ Lizzy hatte sich gefragt, worauf ihr Gegenüber hinauswollte. „Mein Haus ist groß, und ich habe ein Gästezimmer. Magst du bei mir einziehen, mir vielleicht etwas im Haushalt zur Hand gehen und gelegentlich Gesellschaft leisten? Ich kann dir für deine Leistung einen fairen Lohn bezahlen, außerdem eine kostenlose Unterkunft und warme Mahlzeiten. Die musst du allerdings vorher, für uns beide, zubereiten!“ Bei den letzten Worten hatte er ihr schelmisch zugezwinkert und Lizzy hatte laut aufgelacht. „Aber du kennst mich doch gar nicht, vielleicht bin ich eine Verrückte oder eine Mörderin, die dich nachts im Schlaf überfällt und dir den Hals durchschneidet!“ Pepe sah sie ernst an. „Und, bist du das?“ Sie schüttelte hektisch mit dem Kopf. „Natürlich nicht!“ Daraufhin zuckte der alte Mann mit den Schultern und grinste. „Dann hätten wir das ja auch geklärt!“ Das war der Anfang einer besonderen Freundschaft. Das Zusammenleben mit Pepe war aufregend und ihr neuer Arbeitgeber war voller Abenteuerlust! Sie gingen in den Freizeitpark, wo sie Achterbahn und Riesenrad fuhren, sie begleitete ihn zum Seniorentanz, wo Pepe sich köstlich darüber amüsierte, wie neidisch die anderen alten Säcke auf seine jugendliche Begleiterin waren. Die Abende verbrachten sie mit Gesellschaftsspielen, am liebsten Schach, das er ihr zuvor mühsam beigebracht hatte. Manchmal, meist wenn sie kroatischen Pflaumenschnaps getrunken hatten, erzählte er von früher. Von seiner Heimat, von den Eltern, dem Bauernhof, den einer seiner Brüder übernommen hatte, ihn aber im Krieg 1991, zusammen mit seinem Leben, verlor. Dann wurden seine Augen glasig und seine Stimme klang belegt. Lizzy holte ihm in diesen bewegenden Augenblicken das Akkordeon aus dem Schrank und Pepe sang kroatische Lieder. Lizzy war davon so berührt, dass sie leise weinte. Dann legte der alte Mann das Instrument weg, nahm das Mädchen in die Arme und redete tröstend, in seiner Muttersprache, auf sie ein. Seit einigen Wochen baute Pepe gesundheitlich immer weiter ab. Anfangs hatte er ohne Lizzys Hilfe nicht mehr aufstehen können, blieb häufig tagelang im Bett. Sie las ihm aus seinen Lieblingsbüchern vor, oder sie spielten Karten. Doch auch das wurde ihm irgendwann zu anstrengend. Dann sass sie einfach nur bei ihm, hielt seine Hand und genoss die Nähe. Dieser alte Mann war ihr in der kurzen Zeit mehr Familie gewesen, als sie je zuvor eine gehabt hatte. Als sich sein Zustand weiter verschlechterte, besuchte ihn seine Tochter Susanne. Wie der Kroate versprochen hatte, was sie ein Miststück, wie man es kaum ein zweites Mal fand. Sie fegte durch die Wohnung und scannte alle Wertgegenstände, wobei sie Lizzy wie eine verwesende Ratte betrachtete. Sie rauschte in das Zimmer ihres Vaters und knallte seiner Mitbewohnerin die Tür vor der Nase zu. Lizzy hörte, dass laut diskutiert wurde, und zum ersten Mal klang Pepes Stimme wütend. Schon nach zwanzig Minuten stürmte Susanne wieder aus dem Raum und blieb nah vor Lizzy stehen. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, als die kaltherzige Frau sprach: „Ich habe dich kleine Schlampe durchschaut. Du brauchst nicht glauben, dass du dir etwas von Vaters Erbe erschleichen kannst, eher klage ich dich in Grund und Boden!“ Lizzy rang nach schlagfertigen Worten, da schepperte die Haustür zu. Langsam schlich sie zu Pepe, der schockierend bleich aussah. „Hast du einen Augenblick Zeit?“ Sie nickte und setzte sich auf die Bettkante. Die Hand des alten Mannes zitterte, als er ihre ergriff. „Ich habe eine große Bitte an dich. Doch dieser Gefallen ist nicht legal und könnte dich in Schwierigkeiten bringen. Ich werde dir nicht böse sein, wenn du ablehnst!“ Lizzy lachte. „Wenn du nicht langsam auf den Punk kommst …!“ Pepe grinste. „Ich sterbe darüber hinweg, meinst du?“ Dann wurde er ernst und begann zu erzählen.

Der junge Pepe Marcovic war im Alter von zwanzig Jahren nach Deutschland gekommen, da er in seiner Heimat keine Anstellung gefunden hatte und der elterliche Hof nicht genug abwarf, um alle erwachsenen Kinder zu ernähren. Er ergatterte einen Job in einem Kalkwerk, anfangs als Hilfskraft, wurde er durch Fleiß und Sympathie schnell zum Vorarbeiter. Er, der attraktive Kroate mit den meerblauen Augen, gefiel den Frauen, doch er hatte sein Herz nur an eine verloren: Marianne. Sie war die Tochter des Chefs, dem Besitzer der Kalkwerke. Der Herr Papa war wenig begeistert, dass sein einziges Kind ausgerechnet mit dem ungelernten Gastarbeiter um die Ecke kam. Doch die junge Frau bekam immer, was sie wollte — ein Charakterzug, den Pepe nach der Hochzeit ebenfalls zu spüren bekam. Seine Ehe entwickelte sich nach und nach zu einem Albtraum. Marianne hatte kaum ein freundliches Wort für ihren Mann übrig. Sein Einkommen reiche in ihren Augen nicht aus, weshalb sie immer wieder Geld von ihrem Vater bekamen. Aus ihrer Sicht hatte er nicht genug Ehrgeiz, und es bereitete ihr kein schlechtes Gewissen, ihn in der Öffentlichkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit bloßzustellen. Sie hasste es, wenn er auf seinem Akkordeon spielte, und schämte sich, dass ihr Mann aus Jugoslawien stammte. Bei Fremden stellte sie sich sogar mit ihrem deutschen Mädchennamen vor. Mit der Geburt der Tochter verschlimmerte sich die Situation dann sogar noch. Als das Kind schließlich alt genug war, hackten zwei Frauen auf Pepe herum. Umso erleichterter war der Mann, als sein Schwiegervater ihn nach Österreich auf einen Lehrgang schickte. Zwei Wochen lang sollte er im Salzburger Land auf Buchführung geschult werden, um später einmal den Betrieb zu übernehmen. Anfangs war er froh, von zu Hause fortzukommen, doch dann lernte er sie kennen: seine Anna! Die junge Frau arbeitete in dem Hotel, in das man ihn einquartiert hatte. Sie hatte braune Haare, ihre Augen waren fast schwarz und sie schien immer fröhlich zu sein. Es traf Pepe wie ein Blitz, und auch das Mädchen fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Zwischen den beiden entstand eine liebevolle Beziehung, und sie verbrachten jede freie Minute miteinander. Am Tag der Abreise schworen sie sich, bald wieder zusammenzukommen und ihr weiteres Leben gemeinsam zu verbringen. Zurück in Deutschland, erklärte Pepe seiner Frau noch am selben Abend, dass er sie verlassen würde. Ihre Reaktion fiel schlimmer aus als erwartet: Erst machte sie ihm eine Szene, dann heulte sie, dann folgte wieder eine Szene. Letztendlich teilte sie ihm mit sachlicher Stimme mit, dass er nie glücklich werden würde. Sie würde seinen Ruf ruinieren, mithilfe ihres Vaters dafür sorgen, dass er keine Anstellung bekam, und sie würde Annas Leben ebenfalls in tausend Einzelteile zerlegen. Das war der Punkt, an dem Pepe einen langen Brief schrieb und die Beziehung zu der Österreicherin beendete. Er kannte Marianne. Ihr Vater verfügte über genug Einfluss und Geld, um Annas Zukunft über die Grenzen hinaus zu zerstören. Er konnte sie nur schützen, wenn er den Kontakt zu ihr sofort abbrach. Doch vergessen hatte er Anna nie, und als seine Frau vor einigen Jahren an Krebs starb, machte er sich auf die Suche nach der jungen Österreicherin. Das Ergebnis seiner Recherchen riss eine nicht mehr heilende Wunde in sein Herz. Er erfuhr, dass Anna kurz nach ihrer Trennung von einem Auto erfasst worden und an der Unfallstelle verstorben war. Man hatte ihre Asche auf dem Unterberg verteilt. Das war der Ort, an dem Pepe und Anna sich zum ersten Mal geküsst hatten. Der Kroate hatte sich sofort in sein Auto gesetzt und war dorthin gefahren. Als er auf dem Berg stand, an dem seine Beziehung zu dem Mädchen begonnen und ihre Überreste die letzte Ruhe gefunden hatten, weinte Pepe. Er hatte in seinem ganzen Leben genau zwei Mal Tränen vergossen: an dem Tag, als ihn die Trauer um seine große Liebe erfasste, und heute, als er seiner Mitbewohnerin davon erzählte. Auch Lizzy weinte angesichts dieser traurigen Geschichte ohne Happy End, und so lagen sie sich lange in den Armen. Irgendwann hob das Mädchen die Decke an und kuschelte sich darunter, ihren Kopf auf der Brust des Kroaten. „Du erinnerst mich sehr an meine Anna!“ Pepe seufzte leise und streichelte der jungen Frau mit seiner zittrigen Hand über die filzigen, langen Haare. Einige Zeit lagen sie da, fühlten Trost in dem Herzschlag und der Wärme des jeweils anderen. Endlich fand Lizzy ihre Stimme zurück. „Sag, was soll ich für dich tun?“ Dann erzählte er ihr von seinem Wunsch, und das Mädchen schluckte. Er animierte sie zu einer Straftat. Als der alte Mann geendet hatte, richtete er sich auf, wühlte in seinem Nachtschrank und überreichte ihr einen Umschlag. „Öffne den bitte erst nach meinem Tod.“ Sie nahm das dicke Papier entgegen, und wieder brannten Tränen in ihren Augen. Die Vorstellung, Pepe zu verlieren, zerriss ihr das Herz. Für sie stand es außer Frage, dass sie ihm seinen letzten Wunsch erfüllen würde! Alles, was legal war, hatte er in seinem Testament geregelt und Lizzy eine Kopie davon überreicht. Das Original musste er von einem Notar beglaubigen lassen, darum hatte er den Mann, der zeitgleich ein langjähriger Freund war, für den nächsten Tag einbestellt. Als Pepe eingeschlafen war, stand Lizzy auf und setzte sich auf den Stuhl. Dabei betrachtete sie den Kroaten, der in den letzten Monaten zu ihrer einzigen Familie geworden war. Sie spürte, dass sich seine Atmung verlangsamte, zog ihr Handy hervor und rief den Hausarzt. Als der nach fünfzehn Minuten eintraf, konnte er nur noch den Tod des alten Mannes feststellen. Da Lizzy offiziell, mit Arbeitsvertrag, Pepes Angestellte war, konnte Susanne sie nicht sofort aus dem Haus werfen, und es blieb ein kurzes Zeitfenster, um Vorbereitungen zu treffen. Das war vor fast drei Wochen gewesen, und sie hatte den Verlust nicht ansatzweise verarbeitet. Jetzt, auf dem Stein hockend, an einer Autobahnraststätte, verlassen von allem, kamen die Bilder in ihr hoch. Pünktlich dazu setzte ein unvorstellbarer Platzregen ein, der sie innerhalb von Sekunden durchnässte. Gott musste sie wirklich hassen! Wieder flossen die Tränen. Lizzy trauerte, über ihre Situation, den Verlust ihres einzigen Freundes und die beschissene Erfahrung mit dem Dreckskerl aus dem LKW, der ihr an die Wäsche wollte. So sass sie da, leise schluchzend, in dem prasselnden Regen, als ein roter Kastenwagen neben ihr hielt. Sie betrachtete den Fahrer, der die Seitenscheibe heruntergelassen hatte. Der Mann war älter, etwa um die vierzig Jahre, blond und hatte umwerfend blaue Augen. Sofort hatte sie das Bild von Pepe vor sich und schluckte. „Steig ein!“ Seine Stimme war dunkel und hatte einen ihr unbekannten Akzent. Seinem Tonfall war anzumerken, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen.

 

Kapitel 3 Seppo

Seppos Wohnmobil stand auf einem Rastplatz nahe einer Stadt namens Iserlohn und er hatte sein McDonalds-Menü vor sich ausgebreitet. Sein Essen nahm er immer auf dem Fahrersitz ein, um alles im Blick zu behalten. Auf seiner Reise hatte er diese Marotte entwickelt, um das Geschehen um sich herum beobachten zu können. Endlich fühlte er sich als ein Teil des normalen Lebens, abseits von Reichtum, Geschäftsterminen und Beobachtung durch die Öffentlichkeit. Der Parkplatz war an diesem späten Nachmittag fast vollständig belegt, viele LKW-Fahrer nutzten ihn für die Einhaltung ihrer Ruhezeit und es herrschte ein reges Treiben. Inzwischen lag sein Aufbruch über zwei Monate zurück. Der Tag, an dem er sich entschieden hatte, sein Leben zu ändern und für eine gewisse Zeit auszusteigen, kam ihm vor wie ein Neuanfang. Seppo hatte sich ein Wohnmobil gekauft, aber es war keines dieser teuren, fahrenden Häuser, sondern ein schlichter, möblierter Kastenwagen. Trotzdem geräumig, entsprechend seinem Wunsch, zum Minimalismus zurückzukehren. Es bestand aus einem breiten Hochbett, einem Raumbad mit Dusche, der kleinen, mit allen notwendigen Dingen ausgestattete Küche und einer Sitzecke, die er bis heute noch nicht ein einziges Mal genutzt hatte. Marco, ein Mitarbeiter aus der Technik, hatte das Fahrzeug nach Seppos Vorstellungen gekauft und eingerichtet. Kein Schnickschnack oder unnützer Ballast. Es war nicht nötig, dass die Leute ihm sein Geld schon von Weitem ansahen. Auf dieser Reise wollte er von den Menschen als normaler Mann gesehen werden, ohne Reichtum, Macht und Ansehen. So war er durch seine Heimat, dann durch Schweden und Dänemark gekurvt. Die Fähre hatte ihn im Anschluss in Deutschland abgeworfen, wo er vom nördlichen Teil in den Westen fuhr. So unsympathisch er die Deutschen fand, so begeistert war er von ihrer Heimat. Inzwischen im Sauerland angekommen, beschloss er, seine Tour allmählich zu beenden und nach Finnland zurückzukehren. Es war an der Zeit, seine Verpflichtungen wieder aufzunehmen. Er fühlte sich gesund, gestärkt und in der Lage, sich dem harten Geschäftsleben zu stellen. In diesem Moment wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Die Tür eines vor ihm parkenden LKWs öffnete sich und eine junge Frau sprang aus dem Fahrzeug. Sie gestikulierte wild in Richtung des Fahrers, eine große Tasche fest an sich gepresst. Ihr erhobener Mittelfinger war ein internationales Zeichen für Unmut. Als sie auf dem Asphalt stand, flogen eine Jacke und ein Rucksack aus dem Führerhaus. Dann dröhnte der Motor auf und das riesige Gefährt setzte sich in Bewegung. Seppos Blick kehrte zurück zu der Frau, während er sich eine Fritte in den Mund steckte. Die Frau hatte inzwischen ihre Sachen zusammengerafft und ließ sich auf einen der Felsblöcke fallen, die dort als Absperrung dienten. Sie war dünn, für seinen Geschmack zu dünn. Ihre Kleidung bestand aus zerrissenen Jeans und einem engen Top mit der Aufschrift „Ich habe auch Augen, du Arsch!“. Ihre dunkelbraunen Haare reichten bis zur Hüfte und waren zu hässlichen Filzlocken verworren. Seppo packte den Burger aus und fällte sein Urteil. Sie war eindeutig eine Prostituierte, die versuchte, unter den LKW-Fahrern einen Kunden zu finden. Vermutlich hatten sie über die Bezahlung gestritten. Tja, nicht sein Problem, Augen auf bei der Berufswahl! Seppo hatte die Reste seines Menüs mit wenigen Happen gegessen, dann beendete er seine Mahlzeit und beschloss, eine Tasse Kaffee aufzubrühen, bevor er seine Reise fortsetzte. Er plante, zu einer Talsperre zu fahren, denn davon gab es hier im Sauerland einige. Der Finne verspürte den Drang, endlich wieder im offenen Wasser zu schwimmen, wie er es in seiner Heimat häufig tat. Es gab zwar viele Seen auf seiner Route, doch hier in Deutschland war das Baden fast überall verboten. Dieses Volk und seine penetranten Regeln! Zufällig hatte er im Internet einen Stausee gefunden, an dem das Schwimmen geduldet wurde. Das war sein letztes Ziel, dann würde er umkehren, erst Richtung Lübeck, und dort würde er, in Travemünde, auf die Fähre nach Finnland gehen. Er setzte sich zurück auf seinen Platz, die Tourenkarte und den Kaffee in der Hand. Mit einem erstaunten Blick aus dem Fenster bemerkte er, dass sich der Himmel verfärbte. Draußen braute sich ein Unwetter zusammen und erste große Tropfen fielen auf die Windschutzscheibe. Aus dem leichten Regen entwickelte sich innerhalb von Sekunden ein heftiger Schauer. Seppos Blick wanderte zu dem Felsblock und zu seiner Verwunderung sass die junge Frau nach wie vor an derselben Stelle. Ihre Jacke hatte sie über die Reisetasche gelegt, vermutlich um sie vor dem Wasser zu schützen. Seppo zuckte mit den Achseln und breitete die Karte vor sich aus. Er konnte sich nicht um jeden kümmern! Niemand nötigte das Mädchen, dort auszuharren. Trotzdem, wie durch einen Zwang, beobachtete er sie erneut. Inzwischen zitterte der ausgemergelte Körper in den dünnen, durchnässten Klamotten. Der Finne war sich nicht sicher, aber von hier sah es aus, als würde sie weinen. „Perkele!“ Er fluchte in seiner Muttersprache, faltete die Karte wieder zusammen und stellte die Tasse in den Getränkehalter. Dann ließ er den Motor an und fuhr die paar Meter bis zu der Frau. Er beugte sich hinüber und ließ die elektrische Scheibe an der Beifahrerseite herunter. „Steig ein!“ Sie zuckte zusammen und schaute hoch, ihre dunklen, braunen Augen waren gerötet und er sah schwarze Spuren von Wimperntusche auf ihren Wangen. Eindeutig eine Prostituierte! Einige Sekunden lang zögerte sie, dann erhob sie sich. Statt jedoch in sein Fahrzeug zu klettern, in das es inzwischen ordentlich rein regnete, trat sie vor das Fahrzeug und zog ihr Handy aus der Tasche. Die junge Frau fotografierte sein Nummernschild und öffnete erst dann die Tür. Sie stopfte ihre Sachen in den Fußraum und kletterte hinein. Angeekelt beobachtete Seppo, wie gefühlte acht Liter Wasser aus ihren Filzlocken auf den Sitz flossen. „Kann man da nichts gegen machen? Du ruinierst mir die Polster!“ Ihr Blick wanderte erst zu ihm, dann auf die Spitzen ihre nassen Haare, und im Anschluss wieder ungläubig zu ihm. „Was schlägst du vor? Soll ich sie mir abschneiden?“ Im gleichen Moment bereute der Finne seine Entscheidung, sie in sein Auto geholt zu haben. „Ich bin Seppo.“ Einige Sekunden lang betrachtete sie ihn eingehend, bevor sie antwortete: „Ich heiße Lizzy, und wenn du denkst, dass hier irgendwas geht, muss ich dich enttäuschen. Du bist nicht mein Typ!“ Was für ein Miststück! „Mir war nicht klar, dass du es dir erlauben kannst, so wählerisch zu sein!“ Das Mädchen ignorierte seinen Einwand und redete weiter. „Ich habe ein Bild von deinem Nummernschild gemacht und an einige Freundinnen geschickt, die werden die Bullen informieren, wenn ich verschwinde!“ Seppo parkte das Wohnmobil ein paar Meter weiter. Völlig klar, dass sie log, die Zeit war zu kurz gewesen, um Nachrichten zu versenden, dennoch sagte er nichts. Sobald der Regen nachgelassen hatte, würde er die undankbare Zicke aus dem Auto werfen und endlich seine Tour fortsetzen. Die Frau zitterte vor Kälte und er schaltete die Standheizung ein. „Kaffee?“ Sie zögerte, dann nickte sie vorsichtig. Kurze Zeit später reichte er ihr einen Becher. Seppo beachtete sie nicht weiter, sondern beschäftigte sich wieder mit seiner Karte. „Wohin fährst du?“ Wenn sie ihren schnippischen Ton ablegen würde, hätte sie eine erstaunlich sanfte Stimme, fast freundlich dachte Seppo. „Ich möchte hierher, Sorpesee, die Stadt heißt Sundern.“ Lizzy stellte ihre Tasse in den anderen Getränkehalter, setzte sich seitlich, das Gesicht ihm zugewandt, und kuschelte sich in die Polster. „Das kenne ich, ist schön da!“ Er seufzte, denn das Gesetz der Höflichkeit verlangte, dass er eine Unterhaltung mit ihr führte. „Ist es nicht gefährlich, hier zu arbeiten?“ Sie schaute erstaunt drein, dann, mit der Erkenntnis, verfinsterte sich ihr Ausdruck, und Seppo merkte, wie eine leichte Angst in ihm aufstieg. „Du Mistkerl denkst, ich bin eine Nutte? Du hast mich in dein Auto geholt, damit ich dir einen blase oder Schlimmeres?“ Der Finne hob entschuldigend die Hände, er musste unbedingt für Deeskalation sorgen. „Hey, es tut mir leid, aber es hat wirklich den Eindruck gemacht. Außerdem wollte ich dir nur einen trockenen Unterschlupf anbieten. Eine Frau wie dich würde ich bestimmt nicht in die Nähe meines Geschlechtsteils lassen!“ Das waren nicht die Worte, die dabei halfen, die Situation zu entschärfen. Lizzy schrie auf und beschimpfte ihn mit Ausdrücken, die er in seinem Deutschkurs nicht gelernt hatte. Ihrer Mimik nach zu urteilen, konnte er froh darüber sein, denn diese Übersetzung wollte er nicht verstehen. In diesem Moment riss sie ihre kleinen Fäuste hoch und schlug ihm gegen die Brust. Erschrocken fasste er ihre Handgelenke und drückte sie von sich. Wie konnte eine Frau von höchstens 1,60 m so viel Kraft haben? Er, immerhin über 1,90 m, hatte Probleme, sie in Schach zu halten. Endlich verharrte sie und die Spannung wich aus ihren dünnen Armen. „Ganz ruhig, ich lasse dich jetzt los!“ Der Finne sprach mit leiser Stimme, als hätte er eine Idiotin oder einen tollwütigen Hund vor sich. Das Mädchen schloss die Augen und atmete kurz durch. Dann öffnete sie die Tür und sprang aus dem Camper. Seppo starrte ihr hinterher. Sie war schnell, wie sie durch den platschenden Regen stampfte. Plötzlich hielt sie inne, drehte sich um und kam zurück. Als das Mädchen mit einem Ruck die Tür öffnete, hob er instinktiv die Hände, um sich vor einem möglichen Angriff zu schützen. Er befürchtete, dass sie ein Messer oder Ähnliches zücken würde. Doch Lizzy nahm nur ihre Sachen aus dem Fußraum, dann stürmte sie erneut davon, Richtung Autobahn. Anstatt froh zu sein, diese Katastrophe von einer Frau so schnell wieder losgeworden zu sein, überkamen ihn Schuldgefühle. Seppo trug die Verantwortung, wenn ihr in ihrer Wut etwas passierte, denn er hatte sie mit seiner unbedachten Bemerkung in Rage gebracht. Der Finne hatte gesehen, dass erneut Tränen in ihren Augen schwammen, und ihm war klar geworden, dass er sie beleidigt hatte. Vermutlich gestand sie sich nicht ein, dass sie ihren Körper verkaufte. Das Phänomen des Sich-selbst-Belügens. Seppo wartete einen Moment, um ihnen beiden Zeit zu geben, sich ein wenig zu beruhigen. Dann fuhr er langsam zur Autobahnauffahrt, und wie befürchtet, stand sie dort. Sie war pitschnass, und der Regen prasselte weiterhin auf ihren knapp bekleideten Körper ein. Sie hielt einen Daumen in die Höhe. Der Finne seufzte, dann stoppte er den Wagen neben ihr. Er öffnete erneut das Seitenfenster und kam sich vor wie in einer Zeitschleife. „Komm, steig ein! Ich nehme dich mit!“ Sie ignorierte ihn, starrte stattdessen weiter stur auf den fließenden Verkehr. Als er schließlich hartnäckig und mit blinkendem Warnlicht neben ihr stehen blieb, fand Lizzy doch zurück zu ihren Worten. „Verpiss dich!“ Nicht unbedingt das, was er sich erhofft hatte, aber zumindest ein Anfang. Allmählich wurde es dunkel, und es war unverantwortlich, sie hier alleine zu lassen. „Nun mach schon! Es ist gefährlich hier direkt an der Autobahn, die Dämmerung setzt ein und bei dem Regen sieht man dich nicht.“ Wieder keine Reaktion, und in Seppo kroch Wut hoch. Es kostete ihn enorme Willenskraft, nicht auszuflippen. „Bitte entschuldige, okay? Es sah wirklich so aus, als würdest du dort anschaffen, auch wenn du natürlich nicht wie eine Prostituierte wirkst!“ Eine Lüge — für ihn war sie der Prototyp einer Drogenabhängigen, die für ihren nächsten Schuss ihren Körper verkaufte. Das Mädchen war zu ausgemergelt, zu blass, und die Frisur tat ihr Übriges zum Erscheinungsbild bei. Doch er würde einen Teufel tun und sie an seinen Gedanken teilhaben lassen. Lizzy zögerte einen Moment und schaute ihn dann aus großen, braunen Augen an. „Wirklich? Ich sehe doch nicht aus wie eine Nutte, oder?“ Sie schniefte wie ein kleines Kind, und Seppo schämte sich. „Nein, es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken!“ Erst dann nahm sie ihre Sachen und kam endlich zu seinem Wagen. Als die junge Frau einstieg, schluchzte sie erneut und zog die Nase geräuschvoll hoch. Seppo schluckte angeekelt, aber er schwieg. Er beschwerte sich auch nicht, dass ihre verfluchten Haare, die das Wasser anscheinend wie ein Schwamm aufsaugten, seine Sitze erneut überfluteten. Lizzy kauerte sich zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute demonstrativ aus dem Beifahrerfenster. Der Finne überlegte krampfhaft, wie er mit einer derart emotional tickenden Zeitbombe ein belangloses Gespräch führen konnte, doch diese Frage erübrigte sich. Als er kurze Zeit später einen Blick neben sich warf, war Lizzy eingeschlafen. Ihre steife Haltung hatte sich gelöst, ihr Gesicht war ihm zugewandt. Seppo betrachtete sie eingehend, da sich der Verkehr staute und ihm die nötige Zeit blieb. Sie hatte feine Züge, die sie kindlich wirken ließen. Er fragte sich, wie alt sie sein mochte. Bei genauer Betrachtung war sie hübsch, was sie mithilfe ihrer abtörnenden Frisur erfolgreich tarnte. Im Fußraum befand sich das Gepäck, auf dem ihre Beine lagen. Die Stellung sah unbequem aus, aber er würde die Furie sicherlich nicht aufwecken. Langsam näherten sie sich Seppos Ziel. Der Campingplatz der Talsperre war ausgeschildert. Als er vor der Anmeldung stoppte, schaute er erneut auf die schlafende Frau. Dann nahm er seinen Geldbeutel, das Handy und den Autoschlüssel. Er wollte nicht, dass ihm eine Dahergelaufene seine Wertgegenstände klaute. Doch die Sorge war unbegründet, denn bei seiner Rückkehr, mit der Parkmarke bewaffnet, schlief sie immer noch tief und fest. Seppo suchte sich einen Standplatz nah am See. Jetzt, im Spätsommer, außerhalb der Ferien, war es hier fast leer. Er positionierte das Wohnmobil an einer einsamen Ecke, direkt unter zwei großen Eichen, nah am Wasser. Seppo Fahrgast machte ihn allmählich nervös, er hatte nicht die blasseste Ahnung, wie er die junge Frau loswerden sollte. Er streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig an der Schulter. Lizzy fuhr erschrocken hoch und schlug sofort zu. Ihre Faust erreichte eine erschreckende Geschwindigkeit und sie hatte eine enorme Kraft. Der harte Hieb in den Bauch ließ ihn vor Schmerzen aufschreien. Gleichzeitig dankte er Gott, dass ihre Mörderpranke nicht eine Station tiefer gelandet war. „Bist du eigentlich komplett bescheuert?“ Er stöhnte und ließ sich in seinen Sitz fallen. „Dann wanz dich nicht so an mich ran und lass deine Fummelfinger bei dir.“ Seppo starrte sie einen Augenblick lang an, fassungslos, was diese Göre sich einbildete. „Keine Angst, bei dir kann ich mich wirklich mehr als gut beherrschen! Ich wollte dich wecken, um etwas über die Pläne zu erfahren, deine nahe Zukunft betreffend.“ Sie glotzte ihn an. „Hä?“ Er stöhnte. „Ich möchte wissen, was du jetzt vorhast. Ich bin am Ziel und würde sagen, dass unsere gemeinsame Reise hier endet.“ Lizzy sah zu ihm auf, dann drehte sie ihren Kopf und schaute in die inzwischen schwarze Nacht. Kein Licht war über dem See zu erkennen, und es regnete nach wie vor wie aus Kübeln. „Oh, natürlich. Alles klar!“ Sie zögerte einen Moment. „Wo genau bin ich hier?“ Seine Augen wanderten ebenfalls hinaus in die Dunkelheit. „Sorpesee, das hatte ich doch schon angedeutet. Sagtest du nicht, du würdest dich hier auskennen?“ Sie rollte mit den Augen, als hätte er gerade etwas völlig Idiotisches gesagt. „Ich war schon mal hier, okay? Ist nur etwas länger her!“ Lizzy ließ keine Ambitionen erkennen, dass sie aus dem Fahrzeug klettern wollte, und Seppo kam sich bescheuert vor. Es war unmöglich, das Mädchen allein in dieser Einsamkeit und bei diesem Wetter auszusetzen. Nach einer längeren, schweigsamen Pause fällte er eine Entscheidung. „Ok, ich denke, dass wir heute Nacht eine Möglichkeit finden, dass du hierbleibst.“ Ihre Augen verengten sich. „Oh, mach dir bloß keinen Stress, ich finde schon einen Platz zum Schlafen.“. Seppo lehnte sich resigniert zurück. „Ich kann es dir nur anbieten. Bleib hier oder zisch ab, deine Entscheidung!“ Wieder entstand eine längere Stille, in der nur das Plätschern des Regens und ihre leisen Atemgeräusche zu hören waren. „Okay!“ Er drehte den Kopf zu ihr. „Okay, was?“ Lizzy grinste und schlug ihm leicht mit der Faust auf die Schulter, woraufhin er sofort panisch zurückzuckte. „Wir haben heute eine WG, ich ziehe bei dir ein!“ Wieso empfand er ihre Worte als Bedrohung? Er stand auf und trat in den mittleren Teil des Wagens, um etwas Abstand zwischen sich und diese Verrückte zu bringen.

 

Kapitel 4 Lizzy

Lizzy war sich seines Blickes bewusst, als sie sich von dem patschnassen Sitz erhob. Die faszinierend blauen Augen wanderten zu dem feuchten Stoffbezug, und sein Unmut war ihm deutlich anzusehen. Sie stellte sich vor ihm hin, er war mindestens 1,90 m groß, sie reichte ihm gefühlt bis zur Hüfte. Lizzy hob den Zeigefinger. „Wir wollen gleich ein paar Regeln aufstellen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen!“ Seppo verschränkte die Arme und schaute auf sie herab. „Du stellst jetzt in meinem Wohnmobil, in dem du zu Gast bist, Regeln auf?“ Okay, so, wie er das sagte, klang es tatsächlich außergewöhnlich, aber Lizzy nickte tapfer. „Alles klar, dann lass mal hören!“ Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, was sie ärgerte. Dieser Mann schien sie nicht ernst zu nehmen. „Du fasst meine Sachen nicht an, mein Gepäck ist tabu!“ Inzwischen hatte Seppo sich gegen die Küchenschränke gelehnt. „Mich fasst du ebenfalls nicht an!“ Jetzt lachte er laut auf. „Du bist also auch tabu?“ Lizzy nickte hektisch. „Absolut tabu!“ Der Finne schien sich um einen ernsten Gesichtsausdruck zu bemühen und signalisierte mit einer Handbewegung seine Zustimmung. Mehr hatte sie nicht zu sagen und schaute ihn verlegen an. Seppo durchbrach die kurze Stille. „Das klingt alles sehr vernünftig. Jetzt müssen wir nur noch eins klären: Wo schläfst du?“ Lizzy sah sich um, denn das war eine mehr als berechtigte Frage. „Wir werden uns wohl das Bett teilen müssen, und ich denke, ich möchte links liegen!“ Wieder lachte er. „Und wenn wir uns dort versehentlich berühren, ist das dann ein Bruch von Regel zwei?“ Lizzy gab ein abfälliges Geräusch von sich und schob ihre Reisetasche unter den Esstisch. Den abgegriffenen Rucksack und die Jacke legte sie auf den Sitz. „Hast du Hunger?“ Sie nickte und deutete auf die Tür des kleinen Badezimmers. „Kann man sich dort waschen?“ Seppo brummte zustimmend und öffnete den Raum, dann zeigte er ihr, wie man die Dusche benutzte. Kurze Zeit später stand sie unter dem heißen Wasserstrahl und entspannte sich zum ersten Mal seit Tagen. Die Freude hielt nicht lange an, da hörte sie seine keifende Stimme. „Lizzy, was denkst du, wie lange das noch dauern soll? Du bist hier nicht im Ritz, das Wasser ist begrenzt!“ Genervt schaltete sie die Dusche aus, trocknete sich ab und schlüpfte in einen Slip und ihr Snoopy-Nachthemd. Als sie aus dem winzigen Raum trat, stand Seppo am Herd. Sie musste sich nah an ihm vorbeidrücken, um zu der Sitzbank zu kommen, und in diesem Moment wurde ihr klar, warum ihn die zweite Regel derart erheiterte: Das Wohnmobil war zu eng, um sich nicht ständig zu berühren. „Hast du nicht gerade deine eigenen Vorschriften gebrochen? Oder darfst du mich anfassen, ich dich aber nicht?“ Kommentarlos ließ sie sich auf die Bank fallen und zog ein Bein an. Dann betrachtete sie ihn von hinten. Er war kräftig, wirkte selbst durch sein Hemd muskulös. Überhaupt war er für einen Mann seines Alters attraktiv. Seppo bückte sich und holte Teller aus einem Schrank, die er zusammen mit Besteck und Trinkgläsern auf den Tisch stellte. Dadurch konnte sie seine durchtrainierte Kehrseite intensiv begutachten. „Hast du mir gerade auf den Hintern geglotzt?“ Er wirkte nicht verwundert, für diesen Mann schien es normal, dass Frauen ihn sexy fanden. Was für ein eitler Sack! „Nimm dich nicht so wichtig, außerdem habe ich nichts gesehen, was einen zweiten Blick wert wäre.“ Wieder ein Lachen. „Bis jetzt waren noch alle zufrieden und es gab keine Beschwerden!“ Lizzy machte ein Würgegeräusch und drehte sich weg. „Sicherlich sprechen wir von unzähligen frustrierten Hausfrauen, die in ihrer Not nehmen müssen, was kommt!“ Sie hatte extra laut geflüstert, damit er sie hörte. In diesem Augenblick kam Seppo mit der Pfanne an den Tisch, und sie erstarrte. „Was genau ist das?“ Der Mann folgte ihrem Blick. „Rührei mit Speck, dazu Schwarzbrot. Für ein 3-Gänge-Menü hat es leider nicht gereicht!“ Es war ihr peinlich, sie hatte vergessen, es zu erwähnen. „Ich bin Veganerin, ich esse diese Sachen nicht.“ Er sah sie verblüfft an und war zum ersten Mal fast sprachlos. „Keine Eier, kein Fleisch, keine Milch, nichts?“ Lizzy schüttelte den Kopf. Doch zu ihrer Überraschung reagierte er nicht verärgert, sondern blieb einen Moment lang nachdenklich stehen. Dann drehte er sich zum Kühlschrank und hantierte herum, bevor er erneut Teller hervorholte. Er stellte ein Glas Gurken, eine in Streifen geschnittene Paprika, zwei Tomaten und eine gewürfelte Orange auf den Tisch. Seppo lächelte sie an, und in seinem Blick war keinerlei Überheblichkeit zu erkennen. „Ich denke, zusammen mit dem frischen Brot solltest du satt werden.“ Lizzy bedankte sich. Der Finne setzte sich ihr gegenüber. „Wohin soll deine Reise gehen?“ Sie überlegte, wie viel sie preisgeben sollte. „In den Süden, nach Österreich! Und wohin fährst du?“ Seppo goss ihnen Mineralwasser ein. „Das ist meine letzte Station, dann geht es zurück nach Hause.“ Lizzy nahm einen Schluck. „Was dann wo ist?“ Seine Augen richteten sich auf sie, und ihr Herz schlug schneller. Das Blau seiner Pupillen ähnelte dem von Pepe erschreckend stark. War es möglich, dass er farbige Kontaktlinsen trug? „Ich komme aus Finnland, lebe in Helsinki!“ Aufgrund seines Autokennzeichens und seines Akzents hatte sie bereits kombiniert, dass er aus dem hohen Norden stammte. „Woher kannst du so gut Deutsch?“ Er lehnte sich zurück und legte sein Besteck auf den inzwischen leeren Teller. „Ich habe es in der Schule gelernt. Sprachen liegen mir. Ich beherrsche auch Englisch, Schwedisch und Spanisch. In Norwegisch und Griechisch kann ich mich zumindest verständigen.“ Lizzy sah ihn bewundernd an. Ein Mann, der heiß und schlau zugleich war! Verflucht! „Und was machst du da so, in deinem Helsinki?“ Wenn Seppo lächelte, wirkte sein Gesicht fast jugendlich, was durch den blonden 3-Tage-Bart verstärkt wurde. „Ich arbeite in einer Süßigkeitenfabrik!“ Dieser Mensch hatte wirklich alles! „Womit verdienst du dein Geld?“ Lizzy spürte, dass sie rot wurde. „Mal hier, mal da. Ich habe nichts gelernt, bin nach der Schule sofort in die Welt hinaus.“ Dann schaute sie ihn an, und in ihrem Blick lag etwas Trotziges. „Aber das wirst du dir vermutlich bereits gedacht haben! Was ich dir versichern kann: Ich gehe nicht anschaffen!“ Als eine unangenehme Pause entstand, erhob sich der Finne. Er ließ Wasser in die Spüle. Lizzy sprang von ihrem Sitz auf und räumte das Geschirr zusammen. Wortlos nahm sie ein Tuch, das auf einem der Hochschränke lag. So arbeiteten sie schweigend, Seppo spülte, sie trocknete ab. „Zeit fürs Bett! Ich gehe mich mal eben frisch machen.“ Vorsichtig schob er sich an ihr vorbei, wobei er bemüht schien, es möglichst zu keinem Körperkontakt kommen zulassen. Lizzy ließ sich seufzend auf die weichen Polster der Sitzgruppe fallen und schaute hinaus in die verregnete Nacht. So ein fahrendes Zuhause hatte schon etwas! An der Geborgenheit, die sie empfand, war nicht nur der gemütliche Camper schuld, sondern auch der attraktive Besitzer des Gefährts hatte daran seinen Anteil. Lizzy konnte es sich nicht erklären, doch irgendetwas an dem Finnen vermittelte ihr Sicherheit. Dabei war sie sich natürlich der Tatsache bewusst, dass er sie nicht gerne um sich hatte und die erste Gelegenheit nutzen würde, sie loszuwerden. Wie angenehm würde ihre Reise werden, wenn sie an seiner Seite nach Österreich fuhr! Mitten in ihre trüben Gedanken hinein trat Seppo aus dem Bad, und sie schluckte. Der große Mann trug nichts als Boxershorts, und an seinem nackten Oberkörper gab es kein Gramm Fett. Überall feste, definierte Muskeln, ein Bild, wie man es nur aus Zeitschriften oder von einem primitiven, deutschen Fernsehsender kannte.

---ENDE DER LESEPROBE---