Verschleppt, missbraucht, getötet - Claudia Keikus-Wilms - E-Book

Verschleppt, missbraucht, getötet E-Book

Claudia Keikus-Wilms

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Beschreibung

Eine Polizeireporterin erzählt die Geschichten hinter der öffentlichen Berichterstattung - fundiert, emotional und aufwühlend. Verbrechen sind schlimm. Besonders schlimm sind Gewaltverbrechen. Und darunter wiederum sind die verabscheuungswürdigsten die, bei deren Opfern es sich um unschuldige und wehrlose Kinder handelt. Doch nicht nur bei den unmittelbar Betroffenen und ihren Angehörigen, sondern auch bei denjenigen, die sich professionell mit solchen Taten befassen, können diese Fälle tiefe Spuren hinterlassen. Zum Beispiel bei Polizeireportern. Sie erscheinen oft noch vor der Polizei am Tatort und begeben sich in das engste Umfeld von Opfern und Tätern. Die Öffentlichkeit - von der die Medien ja leben - hat schließlich ein Anrecht auf Informationen. Dabei stellen sich grundsätzliche Fragen zum Umgang der Presse mit Opfern und Angehörigen - im Spannungsfeld zwischen zynischer Sensationsmache und echter Anteilnahme, denn letztlich ist auch ein Polizeireporter nur ein Mensch, den Verbrechen nicht kaltlassen. Claudia Keikus-Wilms ist seit fast 25 Jahren beim BERLINER KURIER und damit Deutschlands dienstälteste Polizeireporterin. Doch was als ihr Traumberuf begann, nahm bisweilen albtraumhafte Züge an. Schuld daran sind die Bilder, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt, besonders die von missbrauchten und ermordeten Kindern und vom Leid der Angehörigen. In Verschleppt, missbraucht, getötet gewährt sie einen subjektiv-emotionalen Einblick, was dieser aufreibende Beruf mit ihr machte. Anhand zahlreicher Fälle von Kindern, die Opfer von Sexualdelikten wurden und gewaltsam zu Tode kamen, lässt sie nachdenklich ihre 'Karriere' Revue passieren, die mit einem Einsatz im Serienmörder-Fall der 'Bestie von Beelitz' begann, der 1989 bis 1991 für großes Aufsehen sorgte. Ein aufwühlendes Buch, mit dem die Autorin eindringlich daran erinnern möchte: Es kann jeden treffen.

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Claudia Keikus-Wilms

VERSCHLEPPT, MISSBRAUCHT, GETÖTET

Eine Polizeireporterin berichtet

Inhalt

Vorwort

Er frisst dich auf, schleicht sich in dein Leben, bis er allbestimmend ist. Vielleicht bringt er dich am Ende sogar um, wenn du nicht rechtzeitig damit aufhörst. Kein Mensch. Ein Job. Mein Job.

Ich bin ihm hörig, komme nicht von ihm los. Ich bin Polizeireporterin in Berlin, bei einer Boulevardzeitung, dem Berliner Kurier. Und seit fast 25 Jahren in dem Geschäft. Länger als irgendeine andere Polizeireporterin in Deutschland – und ich kenne nur zwei Männer, die es mir gleichtun. Ich denke jedoch, dass diese beiden etwas haben, was ich einfach nicht habe: ein Leben neben dem Job, und nicht nur eines mit ihm.

Ich dagegen bin morgens, mittags, abends und in der Nacht Polizeireporterin – sogar an freien Tagen und im Urlaub. Jede ach so wichtige E-Mail wird gelesen und beantwortet. Über Jahrzehnte stand ich meinen Kollegen bei Fragen zur Seite, egal, in welchem Winkel der Erde ich eigentlich gerade Ferien machen wollte. Sogar in Südostasien checkte ich täglich meine E-Mails. Ich habe es über meinen Ehrgeiz verlernt abzuschalten.

Dabei ist vieles in meinem Job blanke Routine, Redaktionsalltag. Autounfälle ragen kaum heraus. Ein Dachstuhlbrand gleicht dem anderen, immer vorausgesetzt, dass dabei kein Mensch ums Leben kommt. Jeden Tag wird geraubt, verprügelt, eingebrochen. Polizeireporter berichten davon. Also auch ich.

Aber dann sind da noch die anderen Fälle. Da gibt es diejenigen, über die ich die ganzen Jahre schrieb, die seither immer bei mir sind und mich nie mehr verlassen werden. Die Gesichter der vielen getöteten, missbrauchten und geschundenen Kinder in meinem Kopf. Um sie geht es in diesem Buch – noch viel mehr als um mich selbst.

Claudia Keikus-Wilms

1

Polizeireporterin – ein Traum

Die Achtziger. Oh Gott, fand ich mein Leben unbedeutend. Mich fand ich unbedeutend. Mit meinem Freund war ich schon seit mehr als sieben Jahren zusammen. Ihm zuliebe hatte ich auch einen Job erlernt, den ich eigentlich nie ausüben wollte: Steuer- und Wirtschaftsfachgehilfin in meiner Geburtsstadt Bochum. Aber wie ich aus meiner gefühlten Unbedeutsamkeit herauskommen sollte, wusste ich nicht. Nur, dass das nicht mein Weg sein konnte.

Stillstand. Ich war rastlos, wollte aus diesem Leben raus, vor einer vorherbestimmten Zukunft flüchten.

Diese Sehnsucht nach mehr brodelte in mir, solange ich denken kann. Ich träumte endlose Kleinmädchenträume, ein berühmter Star zu werden. Hätte es damals Deutschland sucht den Superstar schon gegeben, ich hätte mich dort trotz fehlenden Gesangstalents jederzeit beworben – und zum Affen gemacht. Das blieb mir zum Glück erspart. Meine sportlichen Ambitionen blieben auch nur Mittelmaß. Im Schulsport reichte es für eine dauerhafte Eins, aber die Olympischen Spiele waren für mich wirklich nicht zu erreichen. Eines aber konnte ich – schreiben. Ich liebte es. Egal, ob Tagebuch – davon habe ich noch einen ganzen Stapel –, Schulreferate oder Aufsätze. Ich verschlang Bücher, schrieb 1977 Fanpost an die englische Punk-Band Sex Pistols und bekam von einem Tourmanager sogar Antworten, Autogramme und eine Zeichnung von Sid Vicious geschickt. Und natürlich sah ich auch damals schon alle Kriminalserien im Fernsehen.

Wenn Sie heute im Berliner Kurier meine Geschichten lesen, dann haben Sie das Lou Grant zu verdanken. Für die Älteren unter uns, die sich vielleicht noch dunkel erinnern: Genau, das war diese Reporter-Serie aus den USA, die im ZDF lief. Und für die Jüngeren: Was für ein Horror, aber es gab damals tatsächlich nur drei Programme.

Also: Lou Grant war mein absolutes Highlight. Jeden Samstag flimmerte die Serie über den Bildschirm – mit einer Rothaarigen in der Hauptrolle. Die Frau war der Hit: rote Haare eben, blitzgescheit und immer die tollsten Geschichten im Block. Block, richtig, Schreibpapier, gebunden, und kein iPad. Geschrieben wurde damals noch mit einem Bleistift. Keinem Kuli. Der Grund: Ein Bleistift funktioniert auch im Regen. Das habe ich aus einem Film mit Henry Fonda in der Rolle eines Gerichtsreporters mitgenommen.

Überhaupt, die amerikanischen Gerichtsfilme und -serien sah ich gern. Matlock zum Beispiel. Das Buch Ich fordere Recht von Staranwalt Rolf Bossi habe ich schon mit 14 Jahren gelesen. Auch eine Art Erweckung, darin geht es unter anderem um den verstorbenen Kindermörder Jürgen Bartsch – auch der »Kirmesmörder« genannt –, für den ich damals eine seltsame Faszination hegte. Als ich seine Geschichte las, löste das irgendetwas in mir aus. Ich kann das nicht genau erklären, aber ich fürchte, es war so etwas wie eine Mischung aus jungmädchenhafter Verliebtheit und Abscheu. Mich irritierte dieser Gegensatz zwischen seinem Unschuldsgesicht und seinem sadistisch geprägten Verhalten. Er war ein Serienmörder, der vier Jungen tötete. Bartsch starb bei einer von ihm selbst gewünschten Kastration auf dem OP-Tisch. Der Arzt hatte ihm ein zehnfach überdosiertes Narkosemittel verabreicht.

Über den »Ruhrkannibalen« Joachim Kroll schrieb der Stern Mitte der Siebzigerjahre eine ganze Serie, die ich jahrelang verwahrte. Kroll hatte von 1955 bis zu seiner Festnahme im Jahr 1976 schätzungsweise acht bis 14 Menschen getötet. Das weiß niemand so genau. Unter den Opfern war ein gerade erst vier Jahre altes Mädchen aus Krolls direkter Nachbarschaft. Weil er versuchte, die Eingeweide des toten Mädchens im Klo herunterzuspülen, verstopfte es. Polizisten, die in allen umliegenden Häusern das verschwundene Mädchen suchten, kamen auch in Krolls Wohnung. Sie fanden dort eine Gefriertruhe mit den Überresten seines Opfers. In einem Kochtopf, gefüllt mit Salzwasser, schwammen zwei Hände, zwei Füße, ein Unterarm und ein Oberarm.

Manchmal bin ich mir selbst unheimlich. Beim Einschlafen habe ich mir als Mädchen vorgestellt, wie es wäre, von einem Serienmörder entführt zu werden.

Bin ich deshalb krank? Das glaube ich nicht. Aber ich ticke vielleicht etwas anders als die Durchschnittsfrau. Das Böse im Menschen hat mich immer schon fasziniert, obwohl es mir auf der anderen Seite eine unglaubliche Angst einjagt.

Zurück zu dem dagegen völlig harmlosen »Lou Grant«. Die Serie habe ich sprichwörtlich aufgesogen. Folge um Folge. Wenn ich nachts in meinem Bett lag, stellte ich mir vor, ich wäre die Rothaarige. Gut, die roten Haare hatte ich dank Henna schnell. Das war 1978 und brachte mir einen ganzen Sommer lang den Spitznamen »Feuermelder« ein. Aber alles andere lag noch in weiter Ferne.

*

Dortmund, Markgrafenstraße. Meine Wohnung lag 500 Meter von meinem Arbeitsplatz an der Westfalenhalle entfernt. Ich arbeitete inzwischen im Konzertgeschäft. Auch den Freund hatte ich ausgetauscht. Der Mann, den ich ein Jahr später heiraten würde, saß auf der schwarzen Ledercouch im Wohnzimmer. Es war der 10. November 1989. Wie jeden Abend lief um 20 Uhr die Tagesschau im Ersten. Ich stand in der Küche am Herd und kochte Spaghetti Bolognese – mein Lieblingsessen.

Er schrie: »Komm her!«

Ich sah den Bildschirm. Menschen standen auf der Berliner Mauer. Ich konnte das erst gar nicht richtig einordnen. Leute auf der Mauer: Was sollte das? Tatsächlich hatten mein Mann und ich es geschafft, den Fall der Mauer um einen gesamten Tag zu verpassen.

Ich lebte in Dortmund, aber ich kannte die DDR. 1973 war ich das erste Mal in Ludwigslust und bis 1977 fast jeden Sommer dort. 1978 sind meine Tante und ihr Sohn Thomas offiziell ausgereist. Und jetzt Leute auf der Mauer. Tränen, ja Tränen rollten mir über die Wangen – denn die Nachrichten zeigten tatsächlich den Mauerfall. Die ARD sendete mehrfach, ja wie in einer Endlosschleife, die wegweisenden Worte des damaligen DDR-Regierungssprechers Günter Schabowski. Er hatte am Vortag am Ende einer Pressekonferenz auf die Frage zur Reisefreiheit der Ostdeutschen geantwortet: »Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.«

Jahre später habe ich erfahren, dass es mein späterer Arbeitskollege Peter Brinkmann war, der ihm den Versprecher, der zum Mauerfall führte, in der Pressekonferenz entlockte. Geistesgegenwärtig hatte Brinkmann dazwischengerufen: »Wann tritt das in Kraft?«

Der Mauerfall 1989 brachte auch für mich als sogenannten Wessi die Wende. Dadurch, dass kein Journalist, der im Westen einen festen Job hatte, bereit war, sich in das Neuland Osten zu wagen, bekam ich meine Chance – ohne Abitur und Studium, ohne Volontariat. Ich hatte drei Monate, um mich als Journalistin zu bewähren. In Dresden und Chemnitz.

*

Eine unglaublich krasse Zeit war das. Ich lebte in einer kleinen, hässlichen Verlagswohnung in Dresden. So eine mit Plaste-Dusche mitten in der Küche und Achtzigerjahremuster-Tapeten an den Wänden. Die Heizung blieb meistens eiskalt und in der Spüle stapelte sich das Schmutzgeschirr. Vor lauter Arbeit kam ich einfach nicht mehr zum Aufräumen. Frühmorgens hetzte ich mit meinem weißen Golf los. Ich heizte über das, was man zu der Zeit im Osten Autobahn nannte. Es waren aneinandergereihte Löcher im Asphalt. Ich musste jeden Tag bis nach Chemnitz in die Redaktion. Dabei verfuhr ich täglich eine Tankfüllung und hatte einen extremen Zeitaufwand. Das Benzin war knapp, die Tankstellen waren rar gesät und die Zahl der Autos hatte sich auf den Straßen des Ostens innerhalb kürzester Zeit mehr als verdoppelt. Die Tankschlangen waren meistens gut einen Kilometer lang.

Da es eine Datenautobahn für Texte und Bilder zu der Zeit noch nicht gab, gehörte es, sobald der Kurierfahrer tanken musste, zu meiner Aufgabe, die entwickelten Bilder der Fotografen am Abend nach Dresden ins Verlagshaus zu bringen. Manch ein Stau trug Schuld an einem verspäteten Andruck der Zeitungen. Nicht immer konnten sie termingerecht in jede Ecke des Landes ausgeliefert werden. Damit wir nicht schnell wieder das Handtuch warfen, spendierte unser damaliger Verlag wöchentliche Heimflüge. Mein Friseur im Salon »Kopfsalat« in Bochum bemerkte immer spöttisch: »Du bist meine einzige Kundin, die mit dem Flugzeug kommt.«

Dann, als ich mit meinem Sohn schwanger wurde, ging ich nach Berlin.

Der 1. April – kein Scherz – war mein erster Arbeitstag im Verlagshaus am Alexanderplatz. Das ehemalige DDR-Blatt BZA war einige Monate zuvor zum Berliner Kurier geworden. Sieben Tage die Woche habe ich gearbeitet, zwei Schichten. Morgens für den Kurier am Abend und danach für die aktuelle Ausgabe des kommenden Tages.

Der Fall des Wolfgang Sch. machte mich schon nach kurzer Zeit zur richtigen Polizeireporterin. Zu einer Polizeireporterin wie meine rothaarige Heldin bei Lou Grant. Ich weiß nicht, warum das so war, denn eigentlich wurden immer die alten Haudegen der Redaktionen zum Polizeireporter erkoren. In meinem Fall aber hatte mein damaliger Chefredakteur mich ausgewählt und gemeint: »Du kannst mit den Menschen weinen.«

2

Die »Bestie von Beelitz« (1)

Wolfgang Sch. ist die »Bestie von Beelitz«. Er schrieb Kriminalgeschichte. Von 1989 bis 1991 sorgte der ehemalige Polizeiangestellte und Erntehelfer durch eine Mordserie an insgesamt fünf Frauen und einem Säugling sowie drei Mordversuchen in Brandenburg für Aufsehen. Die Zeit war schlimm. Wolfgang Sch. löste damals eine regelrechte Panik bei den Menschen in Berlin und Brandenburg aus. Und das ist noch eher gelinde ausgedrückt. Der Berliner Kurier, die BZ und die BILD im Westen der Hauptstadt, überhaupt alle Boulevard- und auch die sogenannten seriösen Medien, sogar Fernsehsender weltweit: Sch. beherrschte fast anderthalb Jahre die Nachrichten. Seine Opfer, alles Frauen, waren zwischen 34 und 66 Jahre alt und wurden von ihm teilweise nach ihrem Tod sexuell missbraucht.

Wolfgang Sch. wurde wegen seiner angeblichen Vorliebe für rosafarbene Frauenkleidung und Damenunterwäsche sowie seiner Größe »Rosa Riese« getauft. Ich glaube, die BILD hatte den Namen ins Rennen geworfen. Ich bin mir aber nicht ganz sicher.

Erst nach dem fünften Mord gab es ein gutes Phantombild von dem Frauenkiller und auch etliche Hinweise, die in seine Richtung deuteten. Doch die Polizei, das ist eigentlich kaum zu erklären, reagierte darauf überhaupt nicht. Vielleicht war es für die Ost-Beamten der Wende-Schock, die Unsicherheit und die Angst, was die Zukunft bringen wird. Sie schauten einfach nicht über den Tellerrand – zusätzlich fehlten Erfahrungen. Denn im Osten hatte es so einen Täter bisher nicht gegeben – offiziell nicht. Ein entsetzlicher Fehler war es auf jeden Fall.

Am Dienstag, den 24. Oktober 1989, also 16 Tage vor dem Mauerfall, begann Wolfgang Sch. mit dem Morden. In der Zeit ging ich noch in Dortmund dem lockeren Leben einer erfolgreichen PR-Frau mit Sekt und VIP-Partys nach. Mal bekam ich einen Kuss von einem italienischen, noch heute prominenten Schmusebarden, mal wollte mich ein hartnäckiger Schlagerfuzzi in sein Hotelzimmer abschleppen. Oft schnupfte ich zwischendurch eine Line Speed, um die Nächte der Konzertveranstaltungen und Backstage-Partys durchzustehen. Einige Hundert Kilometer von alldem entfernt brachte an diesem noch angenehm warmen Tag Edeltraud N. die Beete vor ihrer Laube in der 900-Seelen-Gemeinde Deetz bei Brandenburg auf Vordermann. Bevor der Frost einsetzte, wollte die 51-Jährige noch Tulpen stecken. Ganz in ihrer Nähe trieb sich Wolfgang Sch. herum – in Damenunterwäsche, Trainingshose und einem Frauenpulli.

Er wollte sich eigentlich auf einer Müllkippe eine der »damals bei uns verbotenen Gummipuppen« – so Sch. später im Prozess – besorgen. Doch die Kippe, an die er dachte, gab es nicht mehr. Er war enttäuscht, ging zurück in den Wald und onanierte. Dann brach er in ein Nachbarhaus von Edeltraud N. ein. Wolfgang Sch. durchstöberte die Zimmer, suchte nach Unterwäsche. Von dort aus sah er die Frau.

Es war Mittag, als sie von ihrem Mörder bei der Gartenarbeit überrascht wurde. Edeltraud N. versuchte verzweifelt, sich mit einer Harke zu wehren. Sch. entwand sie ihr, schlug seinem ersten Opfer damit den Schädel ein. Dann würgte der »Rosa Riese« Edeltraud N., bis sie sich nicht mehr regte. Die Ermittlungen nach Auffinden der Leiche ergaben: Er hatte die Frau über das Grundstück gezerrt, massiv misshandelt und nach ihrem Tod noch geschändet. Die Polizei verdächtigte erst den Ehemann des Opfers. Im März des folgenden Jahres vergiftete sich dieser mit einem Pflanzenschutzmittel. Er konnte offenbar unter dem schweren Verdacht nicht weiterleben.

Der Abdruck eines Armeestiefels, den die Polizei am Tatort sicherte, brachte die Ermittlungen nicht weiter. Zwar handelte es sich bei dem Schuh um einen Stiefel in Übergröße, doch der Täter war nicht, wie eigentlich bei der NVA in solchen Ausnahmen üblich, auf der Liste der Träger.

Sieben Monate später geschah ein neues Verbrechen. Es trug die Handschrift des Mannes, der zuvor Edeltraud N. in Deetz getötet hatte. Auf einem Müllplatz in Ferch wurde am 25. Mai 1990 die Leiche der Gastwirtstochter Christa N. (34) gefunden. Die Frau, die seit ihrer Scheidung dem Alkohol zusprach und armselig auf dem Platz in einem Wohnwagen lebte, war am Tag zuvor mit einem Kabel erdrosselt und anschließend vergewaltigt worden. Die Fahnder fanden am Tatort Damenunterwäsche, die offenbar nicht der Toten gehört hatte. Auch nach diesem Verbrechen tappte die Kripo weiter im Dunkeln. Die Zusammenhänge wurden nicht sofort erkannt.

Nur wenige Wochen später stach ein Mann auf einer Müllkippe in Wust mit einem Messer auf Edith W. (58) ein, die jedoch überlebte. Auch dieser Angriff wurde als Einzeltat behandelt, ohne einen Blick auf die bereits begangenen Morde zu tun. Etwa ein Jahr darauf, als die Mordserie erkannt worden war, berichtete Edith W. davon dem Berliner Kurier: »Ein Montag war es … Ich war mit meinem Fahrrad auf dem Weg zur Kippe nach Wust.« Die Frau wollte dort ihren Müll entsorgen. Als sie vor einer Kuhle stand, spürte sie einen stechenden Schmerz am Hals, sie sah noch das Blut auf ihrer Bluse und wurde ohnmächtig.

Erst später in der Klinik erfuhr Edith W., dass sie nur überlebte, weil Lastwagenfahrer den Täter gestört hatten und die schwer verletzte Frau fanden.

Wieder wurde es ruhig um die »Bestie«. Acht Monate lang ließ Wolfgang Sch. nichts mehr von sich hören. Bis zum Frühjahr des folgenden Jahres. Am 13. März 1991 spazierte die Köchin Inge F. durch den Wald zwischen Borkheide und Neuendorf bei Beelitz. Sie war auf dem Heimweg von einer Freundin. Zuvor hatte sie sich mit ihrem Mann gestritten. Gegen 18 Uhr muss Inge F. an diesem Tag der »Bestie« begegnet sein. Wanderer fanden die Leiche der 34-Jährigen erst nach mehreren Tagen: Auch sie trug fremde Unterwäsche.

Am 22. März 1991, also nur neun Tage darauf, gab es zwei neue Opfer. Tamara P., Frau eines Chefarztes im russischen Militärhospital Beelitz-Heilstätten, war an diesem Tag mit ihrem drei Monate alten Söhnchen Stanislaw im Kinderwagen im Wald nahe dem Hospital unterwegs. Sie begegnete Wolfgang Sch. Der Hüne griff nach dem Kind im Wagen, packte es an den Beinen und zerschmetterte den Kopf des Babys an einem Baum. Ein unglaublich brutaler Ausbruch. Bei der Obduktion wurden sogar seine Schuhabdrücke auf Kleidung und Körper des Säuglings gefunden. Die schreiende 44-jährige Mutter knebelte er mit einem Büstenhalter. Dann erwürgte er die Russin und vergewaltigte anschließend ihre Leiche. Den toten Körper der Frau schleppte er bis zu 500 Meter an das Haus der Arztfamilie und ließ ihn dort liegen.

*

Erst nach dieser Tat kam endlich Bewegung in den Fall. Eine Sonderkommission aus 48 Ermittlern wurde gebildet und fahndete fieberhaft nach dem offensichtlich abnorm veranlagten Täter, der sich immer schneller neue Opfer suchte.

Ich arbeitete damals im Brandenburg-Ressort des Berliner Kuriers. Zwei Kolleginnen und ich schrieben über seine schrecklichen Verbrechen. Wir waren schockiert und angestachelt zugleich – und wir rätselten. Ja, es ist tatsächlich so, wie es sich jeder vorstellt. Für Journalisten bringt der Tod gute Geschichten, je blutiger, desto großartiger – Schlagzeilen-Potenzial, Auflage. Da fallen in Redaktionskonferenzen gerne solche Sätze wie »Das ist ja geil«, »Super-Geschichte«.

»Berliner Taxifahrer aufgefressen« – das war tatsächlich jahrelang der Running Gag eines meiner Chefredakteure, wenn er ins Büro der Polizeiredaktion kam. Bis mein Kollege und ich ihm darauf antworteten: »Berliner Ingenieur aufgefressen!« Es war der grausame Mord des »Kannibalen von Rothenburg«. Und alle strahlten. Ich habe mich damals sogar – und das ist jetzt kein Scherz – zur Recherche in einem Kannibalismus-Forum im Internet angemeldet. Als Opfer, für einen Meister, der extrem langsam schlachtet. Den fand ich dort nach nicht einmal einem Tag. Lord Vader nannte er sich und beschrieb mir blutigst, was er alles mit mir machen würde. Ich schlug ein Rezept vor – einen Rheinischen Sauerbraten. Als ich das machte, klingelte mein Telefon. Der Kollege von der Zeitung mit den vier großen Buchstaben war dran.

»Claudia, du glaubst gar nicht, was mir gerade passiert ist.«

Bei mir machte es sofort Klick: »Guten Tag, Lord Vader«.

Wir leben von Tod und Tragödien, wie der Bestatter, der die Toten zu Grabe bringt, wie der Rechtsmediziner, der Polizist … Alle haben ihre persönliche und teils völlig abwegige Art, mit dem Tod umzugehen. Wenn wir das nicht tun, gehen wir schnell daran kaputt. Es ist der vielleicht etwas unbeholfene Versuch, die Realität des Todes wenigstens eine gewisse Zeit lang auf Abstand zu halten. Nun ja.

*

Die »Bestie« Wolfgang Sch. hatte die Abstände zwischen seinen Taten verkürzt – immer schneller, immer mehr. Nur 14 Tage nach dem Mord an Tamara P. und ihrem Baby ging er auf zwei zwölfjährige Schülerinnen in einem Waldstück nahe der Gemeinde Sputendorf bei Ludwigsfelde mit einem Messer los. Eine zufällige Begegnung. Wolfgang Sch. soll einen lila Jogginganzug und eine geblümte Kittelschürze getragen haben. Er griff die Mädchen an und ließ erst von ihnen ab, als sie ihm das Gesicht zerkratzten. Durch die Messerstiche lebensgefährlich verletzt, wurden sie in ein Krankenhaus gebracht.

Sch. zog derweil frustriert weiter. Am selben Abend beging er seinen letzten Mord. Er brach in ein Haus ein und tötete die Rentnerin Talita B. (66) im Schlaf.

Zwei Tage später fuhr ich das erste Mal im Fall der »Bestie von Beelitz« mit einem Fotografen los. Ich war tierisch aufgeregt. Das war einfach spannend. Wie ein Krimi, in dem ich plötzlich selbst eine Rolle spielen sollte. Heute kommt mir das völlig unwirklich vor. Dieses Jagdfieber, das hartnäckige Verdrängen der Leiden der Opfer und Angehörigen – schon aus Selbstschutz heraus und in der Hoffnung, die große Karriere zu machen. Mittlerweile bekomme ich in solchen Situationen Herzrasen, aber damals konnte ich gar nicht tief genug im Blut baden. Für das, was war, schäme ich mich nicht. Ich kann es nicht ändern.

Unbefestigte Wege und graue Häuser, so sah es zu der Zeit fast überall in Brandenburg aus. Mit einem Fotografen stand ich nach gefühlsmäßig stundenlanger Fahrt mitten in diesem Sputendorf, dem Wohnort der jüngsten Opfer. Der Ort war wie erstarrt in einer unaussprechlichen Angst vor diesem perversen Killer. Komisch ist: Meine Erinnerung daran ist schwarz-weiß. Wie in einer alten Polizeiruf-Folge.

Kein Mensch dort wollte mit mir reden. Die Leute waren abweisend. Ich kam mir wie eine Niete vor. Wenig glanzvoll. Regelrecht geärgert habe ich mich über die Dörfler, die mich ganz klar als Eindringling betrachteten – und nicht nur das. Offener Hass schlägt einem bei solchen Tragödien durchaus entgegen. »Haut ab! Verpisst euch.« Die einzigen Fotos, die in Sputendorf entstanden, zeigten verschlossene Häuser und menschenleere Wege. Ich war enttäuscht. So hatte ich mir das nun wirklich nicht vorgestellt.

Aber was hatte ich eigentlich gedacht? Ganz ehrlich: Ich nahm mich wichtig und dachte, ich wäre das auch. Jeder würde wie in der Flimmerkiste darauf brennen, in meiner Nähe zu sein, und mich mit offenen Armen empfangen. Stattdessen wollten die Menschen nur die beiden Kinder nicht gefährden, weil alle fürchteten, der Täter könne zurückkommen und sich die Schülerinnen holen. Wir fuhren gefrustet in die Redaktion zurück. Was sollte ich angesichts dieser Pleite erzählen? Ich habe mich immer extrem unter Druck gesetzt und bei jeder misslungenen Geschichte regelrecht für mein Versagen geschämt. Obwohl das bei uns gelassener gesehen wurde als in anderen Zeitungshäusern. Da sprang früher schon einmal die eine oder andere Karriere über die Klippe. Trotzdem wurde in den Neunzigerjahren auch gerne noch bei der »Kurier-Familie« geschrien. Ich nahm mir so etwas immer sehr zu Herzen.

Die Mädchen, sie konnten ihren Angreifer gut beschreiben. Erstmals bekam die Polizei eine Ahnung davon, wie der Mann in etwa aussah, der sie seit 18 Monaten in Atem hielt. Er sei mindestens 1,80 Meter groß (tatsächlich war er 1,90 Meter), schlank, hatte strähnige blonde Haare und trug einen noch flaumigen Schnauzbart. Ein neues Phantombild wurde angefertigt und veröffentlicht.

Die Jagd auf den Killer kam einstweilen ins Rollen – auf seine Ergreifung wurde eine Belohnung von einer zu der Zeit ungewöhnlichen Höhe ausgesetzt: 20.000 Mark. Bei der Sonderkommission gingen über 1.000 Hinweise ein. Mehrere bezogen sich ganz konkret auf die Person Wolfgang Sch. Sogar die Eltern seiner damaligen Verlobten meldeten sich und wiesen die Polizei auf die große Ähnlichkeit ihres künftigen Schwiegersohnes mit dem Mann auf dem Phantombild hin.

Es ist unglaublich, aber es tat sich erneut nichts. Und wieder wurde Wolfgang Sch. über Monate hinweg erst einmal vergessen.

*

In meinem Bauch wuchs immer schneller das neue Leben, das ich keinesfalls gefährden wollte, indem ich auf Mörderjagd ging. Ich verbrachte die Tage daher bald als Wald-und-Wiesen-Reporterin. Mein noch ungeborener Sohn und ich haben dabei einige kuriose »Abenteuer« bestanden. Wir waren zum Beispiel kurz vor der Umbettung des Ober-Preußen Friedrich der Große in seiner Gruft auf der Terrasse des Schlosses Sanssouci in Potsdam. Sein Neffe hatte ihn nach seinem Tod am 17. August 1786 in der Garnisonskirche beigesetzt – gegen den ausdrücklichen Wunsch des Königs. Dieser wurde ihm 205 Jahre später am 17. August 1991 erfüllt.

Der Deutschlandbesuch der holländischen Königin Beatrix ragte aus meinem journalistischen Alltag ebenfalls erfreulich hervor. Sie erinnern sich bestimmt: Damals hatte Hape Kerkeling als Beatrix verkleidet die gesamte Welt genarrt. Er wurde am Schloss Bellevue vom Empfangskomitee glatt mit der Monarchin verwechselt, ließ sich statt ihrer von fähnchenwedelnden Schaulustigen feiern.

Beim Potsdam-Ausflug der Königin Beatrix ins dortige Holländerviertel, der von einem Pulk internationaler Journalisten begleitet wurde, behüteten mich – besser gesagt meinen runden Bauch – die Personenschützer.

»Sind Sie denn wahnsinnig?«, fragten mich die Herren, als sie mich entdeckten und mir im Gedränge den Weg bahnten.

Es war gefährlich für mein Kind, die Profis in Sachen Sicherheit hatten recht. Ganz ehrlich, ich fand mich in diesem Moment überragend. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der die Königin begleitete, hatte die Männer auf mich aufmerksam gemacht, als ich mich direkt an ihm vorbeidrängelte. Abends, wir lebten damals im Palasthotel – auf Redaktionskosten natürlich –, kam ich nicht umhin, darüber am Tresen (ich trank Saft) vor den anderen Kollegen zu schwadronieren.

Kurze Zeit darauf, auf der Jagd nach dem berühmtesten Spionagechef der Welt, Markus Wolf, Codename »Mischa«, schickte die Redaktion ausgerechnet mich Greenhorn nach Wandlitz. Am See hatte der geheimste Mann der DDR ein Haus. Eingezäunt, verrammelt und verriegelt. Wolf war aus Angst vor Strafverfolgung seit dem Fall der Mauer verschwunden. Ich sollte nachsehen, ob jemand von der Familie im Seehaus wäre.

Total bekloppt. Als wenn die irgendein Wort mit mir gewechselt hätten. Auf dem Weg dorthin malte ich mir trotzdem aus, was wäre, wenn sie es doch tun würden. Selbstmotivation. Am Tor zum eingezäunten Grundstück hatte sich das auch gleich erledigt. Ich kam nicht einmal bis zum Haus, da unten gab es überhaupt keine Klingel.

Einfach wieder zurück nach Berlin zu fahren, das war mir zu blöd. Unter dem Protest des Fotografen kletterte ich trotz Bauch über den gut zwei Meter hohen Maschendrahtzaun. Über die Rechtmäßigkeit meines Handelns habe ich erst gar nicht nachgedacht. Ich stampfte die Auffahrt rauf (durch die Schwangerschaft hatte ich Wasser in den Beinen), der Fotograf schimpfte – dann sah er Männer am Fenster. Polizei? Ich wusste gar nicht, wie schnell man als Schwangere rennen und zurückklettern kann – in einer sexy Mini-Latzhose und schwarzen Turnschuhen.

Diese gerade noch einmal gut gegangene Eskapade war mir für mein künftiges Arbeitsleben allerdings keine Lehre. Ich erzähle das immer noch gerne. Sagen wir einfach, ich gebe damit an, wie ein Soldat mit seinen Kriegsgeschichten. Das sind doch die Dinge, von denen wir glauben, dass sie uns aus der Masse herausheben. Außerdem, das denke ich heute, wollte ich dem Ossi-Fotografen wahrscheinlich zeigen, was ein Wessi so draufhat.

Ja, das hätte ich damals nie zugegeben, aber wir alle waren Angeber, fanden uns über alle Maßen interessant und gaben uns hauptsächlich mit unsereinem ab. Wir hockten, wie gesagt, abends in den Foyers unserer Hotels und hauten uns gegenseitig die Taschen voll. Keine Frage, das war cool. Vor allem auch, weil das Palasthotel neben dem Berliner Dom zu DDR-Zeiten eine ganz besondere Rolle spielte. Die Geschichten darüber ließen wir uns in den späten Abendstunden in der schummrigen Bar im Untergeschoss des Edelschuppens vom in die Jahre gekommenen Barkeeper erzählen. Die von den langbeinigen, wunderschönen Nutten, die sich lasziv auf den Hockern am Tresen rekelten. Keine Billigware wie auf dem West-Berliner Straßenstrich. Diese handverlesenen Damen waren eigens von der Stasi engagiert, um westliche Gäste oder auch Politiker auszuhorchen. Und wenn nicht an der Bar, spätestens oben in den Zimmern plauderten viele beim Liebesakt, der natürlich von »Horch und Guck« in Bild und Ton festgehalten wurde. Nützliches Material entstand, mit dem später erpresst und manche Karriere zerstört wurde. Aus Angst um Job und Ehe sprudelte die so angezapfte Quelle stetig. Dafür gab es dort an die 30 mit moderner Abhörtechnik ausgestattete Zimmer.

DDR-Bürger konnten im Palasthotel wie in drei weiteren Hotels des Landes keine Zimmer buchen, nicht einmal in die Bar oder ins großartige Restaurant durften sie. Kein Wunder: Es diente schließlich auch dem Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski als Treffpunkt für seine Kontakte. Zeitweise lebte auch der Drahtzieher der Geiselnahme von München 1972, Abu Daoud, dort.

Ich war mit meinem damaligen Mann gleich für einige Monate im Palasthotel untergebracht, da wir bei der vielen Arbeit nicht dazu kamen, uns ad hoc eine Wohnung zu suchen.

*

Am 1. August 1991, es war ein ungewöhnlich heißer Sommer, drängte »Die Bestie von Beelitz« in die Schlagzeilen zurück. Mit einer positiven Meldung: »Kommissar Zufall« hatte Wolfgang Sch. geschnappt – in der Person zweier Jogger. Sie wurden an diesem Donnerstag an einer Schonung bei Piepersberg in Brandenburg auf einen Mann aufmerksam. Er trug Frauensachen und holte sich dabei einen runter. Die Sportler erfassten den Ernst der Lage, sie überwältigen den Mann und übergaben ihn der Polizei. Waren wir Journalisten erfreut? Natürlich waren wir das. Aber bei aller Euphorie war uns auch bewusst, dass uns damit auf Dauer ein Schlagzeilen-Garant nach und nach durch die Lappen ging. Es galt, nun die Zeit zu nutzen und herauszupressen, was es nur herauszupressen gab.

An den Tag erinnere ich mich noch im Detail. Ich stand kurz vor der Geburt meines Sohnes und durfte daher nicht mehr zur Recherche aufs Land rausfahren. Also sprang ich in der Redaktion wie ein aufgeregtes Huhn herum und ging allen auf den Wecker. Keiner ließ mich mehr so richtig mitarbeiten. Für meine Elternzeit nach der Geburt war auch schon ein neuer Kollege gefunden, eigentlich hätte ich auch daheim bleiben können. Ging aber nicht, ich wäre irre geworden, wenn ich nicht wenigstens zuschauen und -hören konnte.

Was für ein Tag. Meine Kollegin Anka, eine gestandene Redakteurin mit typischer Ost-Biografie, kehrte euphorisch die Boulevard-Sau heraus: »Ich bin eine Schulfreundin von Wolfgang«, schwindelte sie ganz untypisch für sie, während sie telefonisch bei den Menschen in den Dörfern um Beelitz im Süden Berlins recherchierte. Später war ihr das, glaube ich, ganz schön peinlich.

Von diesem Moment an wollte ich an Mutterschutz überhaupt nicht mehr denken und ging stur Tag für Tag ins Büro. Sie war einfach zu verrückt und zu aufregend, diese Zeit. Außerdem, das muss ich hier ganz ehrlich aufschreiben, bebte ich vor Angst, dass sich der neue Kollege meinen Job unter den Nagel reißen könnte. Schließlich waren wir alle freie Mitarbeiter und Einzelkämpfer im Beruf. Um diesem Dasein gerecht zu werden, mussten wir immer an der Geschichte der »Bestie« dranbleiben. Wir haben uns teilweise haarsträubende Dinge ausgedacht. Wir engagierten Psychiater, Gerichtspsychologen, Kriminalisten und, als ein angeblicher Liebesbrief der Bestie auftauchte, auch noch einen Grafologen. Der rührte eher für sich die Werbetrommel, als dass er nützlich war. Trotzdem schrieben wir, was der Spezialist in der Handschrift des Mörders las: Wolfgang Sch. war ein Einzelgänger mit schwerer Kindheit und einer gestörten Sexualität. Aha!

Ich muss sagen, es war schon ziemlich schamlos angesichts der Angehörigen der Opfer und deren Leid, was wir da so trieben. Es war ein Kampf jedes Einzelnen um die bessere Geschichte, das bessere Foto, um mehr Auflage. Kollegen von einem anderen großen Verlag nahmen »die Braut der Bestie« (Sch.s Freundin) unter Vertrag. Exklusiv berichtete sie über den »zärtlichen« Mörder und erzählte, wie »er’s schön fand, wenn ich ihn mal mit der Hand befriedigt hab!«,während der damals 25-jährige Sch. in der Untersuchungshaft die Morde an fünf Frauen und dem Säugling gestand. Ob sie das tatsächlich sagte, sei dahingestellt …

Was waren wir alle neidisch – vom Chefredakteur bis zum Polizeireporter jeder deutschen Zeitung. Jeder hätte gerne mit der Frau gesprochen, mit ihr Auflage gemacht. Wir schreiben ja nicht für uns (oder doch?), sondern für unsere Leser.

*

Endlich hatte ich eine Wohnung in Moabit gefunden. Meinen Sohn bekam ich praktisch im Galopp. Bis zwei Tage vor der Geburt hatte ich am Fall der »Bestie von Beelitz« mitrecherchiert. Ich war ein wenig traurig, weil ich dachte, meine Zeit als coole Polizeireporterin wäre mit dem Muttersein vorbei. Ich bekam zwar fürstliche 350 DM Tagessatz, sieben Tage die Woche, aber dafür saß ich praktisch auf einem Schleudersitz. Das war mir jede Sekunde bewusst.

Sieben Monate blieb ich in Elternzeit. Vorerst fand ich es großartig. Mit der Zeit aber kam ich mir mehr und mehr überflüssig und unwichtig vor. Ich hatte so eine Angst, nie wieder Polizeireporterin zu sein. Ich verlor regelrecht meine Sprache, auf jeden Fall wusste ich nicht mehr, worüber ich reden sollte. Tage und Monate mit Depressionen und somit mieser Laune, in denen ich mich von allen alleine gelassen fühlte. Auch von meinem Mann. Diese Zeit, denke ich, war der Anfang meiner Karriere, aber auch der Anfang vom Ende meiner gerade zweijährigen Ehe.

Mit einem Anruf meines Chefs im Mai 1992 landete ich wieder im Leben – also in meinem Job.

»Du musst kommen, arbeiten!«

»Ich kann nicht, ich habe ein Baby!«

»Bring es mit!«

Ich fuhr in den Verlag am Alexanderplatz. Ich kann nicht sagen, dass ich das widerwillig tat – eher das Gegenteil war der Fall. Ich war stolz wie Oskar und heilfroh, meiner so klein gewordenen Welt zu entkommen. Ich war wieder wer. Meinem Mann, der an jenem Tag Dienst hatte, übergab ich unseren Sohn, damit er mit ihm heimfahren konnte.

Mein Tag war der 14. Mai 1992. Der Tag, an dem die damals vierjährige Monique aus einem Örtchen im südlichen Speckgürtel Berlins verschwand. Blondes Haar, ein engelsgleiches Gesicht. Monique ist das erste Kind in meinem Kopf, auf meiner Seele.

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Monique P. (1)

Monique verschwand mitten in der Nacht, während ihre Mutter Elli (25) und deren Freund im Wohnraum der engen Zweizimmerwohnung fest schliefen. Das sagte Elli später den Beamten, als sie am Morgen gegen 7.30 Uhr bei der Polizei Alarm schlug. Sie sei um vier Uhr nach ihrem Kind suchen gegangen, überall, in der Wohnung und auch draußen, mit ihrem neuen Freund Bert.

Dass an diesem Verschwinden etwas nicht stimmte, sagte mir mein Bauchgefühl. Am späten Mittag kam ich in dem Örtchen an.

Eine schäbige Wohnsiedlung mit drei- oder vierstöckigen Betonbauten. Die Fensterrahmen waren verwittert, die Farbe blätterte ab. Die matten Glasscheiben schienen dünner als im Westen zu sein. Zwischen den Häuserreihen standen Wäschestangen, etwas Rasen gab es und eine schmutzige Sandfläche, die den Kindern als Spielplatz diente. So trostlos. Für die Recherche zu diesem Buch war ich im Frühjahr 2014 noch einmal dort – es ist bunt und freundlich geworden.