Verschwiegen und verdrängt – vergessen? Entnazifizierung in Hundisburg 1945 - Dr. Otto Harms - kostenlos E-Book

Verschwiegen und verdrängt – vergessen? Entnazifizierung in Hundisburg 1945 E-Book

Dr. Otto Harms

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Beschreibung

In der sowjetisch besetzten Zone ist die Entnazifizierung im Vergleich der vier Besatzungsmächte am konsequentesten umgesetzt worden. Bei der Entnazifizierung Hundisburger NSDAP-Mitglieder sind die von den Sowjets eingesetzten Verantwortlichen jedoch sehr differenziert vorgegangen. Sogenannte „Mitläufer“, Mitglieder ohne Funktion und Aktivitäten, wurden dem NKWD als „große Nazis“ zugeführt, verhört und in Internierungslager gesteckt. Dagegen blieben selbst ehemalige Ortsgruppenleiter völlig unbehelligt. Ein Schema für die unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. Auch für die sowjetische Besatzung wichtige Personen wurden nach dem Verhör durch das NKWD wieder in ihre Funktionen zurückversetzt.

 

In Verbindung mit der Entnazifizierung stehen die letzten Kriegsmonate. „Volkssturm“ und „Werwolf“ werden ausgehend von der Reichspropaganda auf das örtliche Geschehen in Haldensleben und Hundisburg fokussiert, und das Kriegsgeschehen im April 1945 wird durch die Erlebnisse eines damals 17-jährigen Hundisburger Panzergrenadiers an der Ostfront dargestellt. Am 10. April 1945 wurden auf einem der SS-Todesmärsche, der durch Hundisburg führte, drei vor Erschöpfung liegen gebliebene Gefangene von dem Begleitpersonal erschossen. Zeitzeugen berichten von einem grausamen Anblick, der noch nach 75 Jahren im Detail gegenwärtig ist. Zwei der Erschossenen wurden auf dem kommunalen Friedhof notdürftig begraben und zu deren Andenken ein „Antifaschisten-Denkmal“ errichtet.

 

Noch 10 Jahre nach dem Kriegsende, waren ehemalige Mitglieder der NSDAP der Staatssicherheit der DDR hinderlich bei der Umsetzung der sozialistischen Ziele. Unterlagen der Stasi aus dem Jahr 1955 belegen den unterstellten Vorwurf der „Feintätigkeit“ führender Mitarbeiter auf dem VEG in Hundisburg, um sie – als „nachträgliche Entnazifizierung“  ihren Funktionen zu entheben.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dr. Otto Harms

Verschwiegen und verdrängt – vergessen? Entnazifizierung in Hundisburg 1945

Für Hundisburg und für die HundisburgerBookRix GmbH & Co. KG81371 München

Impressum

Otto Harms

 

Verschwiegen und verdrängt – vergessen?

Entnazifizierung in Hundisburg 1945

 

 

 

 

 

 

Erinnerungskultur

 

Globale Erinnerungskultur – versinkt in der nebulösen Ferne Örtliche Erinnerungskultur – stärkt die heimatliche Bindung Personifizierte Erinnerungskultur – schafft mitgefühlte Nähe Ideologisch differenzierte Erinnerungskultur – schürt Gewalt

Otto Harms

 

 

 

 

 

Für Hundisburg

und für die Hundisburger

 

Verschwiegen und verdrängt - vergessen?

Entnazifizierung in Hundisburg 1945

 

 

 

 

von Otto Harms

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Verfasser und Herausgeber:

Dr. Otto Harms

Steinbruchstraße 11

39343 Hundisburg

03904 41696

[email protected]

 

PDF: https://harms.info/entnazifizierung-hundisburg/2020-10-25-Buch.pdf

 

ISBN (Buch): 978-3-00-066765-7

ISBN (eBook): 978-3-7554-2922-7

 

Druck: Thomas Lein

Neue Straße 8

39343 Hundisburg

03904 295816

www.fotograf-thomas.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einführung

2 Die letzten Kriegsmonate

2.1 „Volkssturm“ und „Werwolf“

2.2 Hitlers Kinderarmee

2.3 Der Todesmarsch durch Hundisburg

2.4 Die Besatzungsphasen in Hundisburg

3 Entnazifizierung durch die Alliierten

3.1 Gemeinsame Beschlüsse

3.2 Amerikanische Zone

3.3 Britische Zone

3.4 Französische Zone

3.5 Sowjetische Zone

3.6 Speziallager in der SBZ

Speziallager Mühlberg/Elbe

Speziallager Buchenwald

Speziallager Jamlitz

Speziallager Sachsenhausen

3.7 Tabu in der DDR

4 Entnazifizierung in Hundisburg

4.1 „Antifa“ in Hundisburg

4.2 Götzschel, Paul sen.

4.3 Schlabitz, Ernst

4.4 NKWD in Althaldensleben

4.5 Entnazifizierung in Rottmersleben

5 „Nicht abgeführt“

5.1 Senff, Otto

5.2 Schröder, Berthold

5.3 Hannuschka, Fritz

5.4 Büttner, Paul

5.5 Götzschel, Paul jun.

5.6 Götzschel, Willi

6 „Gleich wiedergekommen“

6.1 Schröder, Paul

6.2 Beer, Paul

6.3 Gewalt, Hermann

6.4 Klumpe, Erich

6.5 Fricke, Walter

6.6 Chrzanowski, Karl

7 „Weggewesen und wiedergekommen“

7.1 Buhtz, Wilhelm

7.2 Ebeling, Wilhelm

7.3 Blaeß, Adolf

7.4 Dosche, Eberhard

7.5 Eitze, Wilhelm

7.6 Riecke, Otto

7.7 Schulze, Paul

7.8 Lehmann, August

7.9 Wiehe, Carl

8 „Nicht wiedergekommen“

8.1 Lietz, Franz

8.2 Buse, Friedrich

8.3 Weller, Edwin

8.4 Lauenroth, Karl

8.5 Dolschewski, Franz

9 Abschluss der Entnazifizierung

9.1 Bilanz und Erfolg in der DDR

9.2 Bilanz und Erfolg in Hundisburg

9.3 Vorgang „Vorwerk“ 101/15 GVS

Literaturverzeichnis

Interviewpartner

Bildnachweis

 

Gendererklärung:

In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

Vorwort

Vor ihrem Auszug aus der Lehrerwohnung in dem heutigen Schulmuseum in Hundisburg übergab mir die Lehrerin Ilse Senff einen mit elf Namen handgeschriebenen Zettel, den sie mir fast verschwörerisch überreichte. Die elf Personen, so berichtete sie, seien die 1945 in Hundisburg von dem damaligen Bürgermeister und dem Gemeindediener abgeführten Mitglieder der NSDAP. Fünf seien in russischen Lagern umgekommen. Die nach über zwei Jahren wieder Zurückgekehrten haben nie etwas davon erzählt.

In der DDR durfte das kein Thema sein. Selbst 20 Jahre nach der Wende hatten Familien der in Lagern Inhaftierten Angst, darüber zu berichten oder verweigerten zunächst das Gespräch zu diesem Thema. Selbst unbeteiligte Bürger bedrängten mich, die damaligen Ereignisse ruhen zu lassen oder bezweifelten deren Wahrheitsgehalt.

Erste Gespräche mit Zeitzeugen der Jahrgänge 1933 und früher machten bald die besondere Problematik und historische Dimension deutlich. Dabei zeigte sich vor allem die unterschiedliche Durchführung der Entnazifizierung in Hundisburg. Nicht nur betroffene Familien hadern noch heute mit den im Herbst 1945 verantwortlichen Personen. Die ganze Situation, die sich schnell offenbarte, bestärkte mich, die nunmehr 75 Jahre zurückliegenden Hundisburger Begebenheiten aufzuarbeiten und in den historischen Zeitrahmen einzuordnen.

Die Berichte der Zeitzeugen und insbesondere von Familienangehörigen sind durch persönliche Erlebnisse, Beobachtungen und Wertungen geprägt. Trotz einzelner Abweichungen der Erinnerungen ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild. Informationen aus Tageszeitungen, aus Stasi-Unterlagen und von den Gedenkstätten ergänzen und bestätigen die Zeitzeugenberichte.

Bei den ersten Gesprächen zeigte sich, dass die Biografien der elf von Ilse Senff überlieferten Personen allein nicht die gesamte Situation der Entnazifizierung in Hundisburg darzustellen vermochten. So wurden, soweit noch Informationen zu erhalten waren, über die Liste hinaus die Zeitzeugenberichte über weitere NSDAP-Mitglieder aufgenommen und für einen weiter gesteckten Zeitraum ergänzt, um ein umfassenderes Bild der Personen und der Situation dieser Zeit im Dorf zu erhalten. Sicherlich sind nicht alle NSDAP-Mitglieder erfasst. Auf eine umfangreichere Recherche beim Bundesarchiv wurde jedoch verzichtet. Lediglich in zwei Fällen wurde auf Auskunftsersuchen hin die im Ort nicht sicher bekannte Mitgliedschaft bestätigt.

Im ersten Abschnitt werden die Ursachen, die Schrecken des Krieges und die Grausamkeiten des Naziregimes, die zu der Entnazifizierung durch die Besatzungsmächte führten, als Erlebnisberichte von Hundisburger Bürgern aufgenommen. Einem damaligen Schülersoldaten und Kriegsteilnehmer an der Ostfront oder Zeugen des Todesmarsches von KZ-Gefangenen durch Hundisburg waren die Ereignisse im April 1945 noch sehr gegenwärtig.

In einigen Abschnitten kommt es zu inhaltlichen Überschneidungen der Berichte. Um insbesondere die biografischen Aufzeichnungen für die einzelnen Personen als eine Einheit darzustellen, wurden Wiederholungen beibehalten.

Die Gespräche wurden protokolliert, zum Teil auch auf Tonträger aufgenommen, zusammenfassend, möglichst im Wortlaut, wiedergegeben, von allen Gesprächspartnern autorisiert und durch Kursivschrift kenntlich gemacht. Schriftliche Beiträge von Zeitzeugen sind ungekürzt wiedergegeben und zur besseren Kennzeichnung zusätzlich in Anführungszeichen gesetzt.

Ich danke den vielen Hundisburger Bürgern, insbesondere den betroffenen Familien, die mir bereitwillig über ihre Erinnerungen berichteten, ihre Sichtweisen darlegten sowie Bilder und Dokumente überließen.

Mein Dank gilt auch dem Stadt- und Kreisarchiv Haldensleben, der Stadt Haldensleben, der Samtgemeinde Flechtingen, der Evangelischen Kirchengemeinde Nordgermersleben, dem Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, den Gedenkstätten, dem Bundesarchiv und dem Deutschen Roten Kreuz/Suchdienst.

 

Hundisburg, im Oktober 2020 Otto Harms

 

 

1Einführung

In der sowjetisch besetzten Zone ist die Entnazifizierung im Vergleich der vier Besatzungsmächte am konsequentesten umgesetzt worden. Bei der Entnazifizierung Hundisburger NSDAP-Mitglieder sind die von den Sowjets eingesetzten Verantwortlichen jedoch sehr differenziert vorgegangen. Sogenannte „Mitläufer“, Mitglieder ohne Funktion und Aktivitäten, wurden dem NKWD als „große Nazis“ zugeführt, verhört und in Internierungslager gesteckt. Dagegen blieben selbst ehemalige Ortsgruppenleiter völlig unbehelligt. Ein Schema für die unterschiedliche Behandlung ist nicht zu erkennen. Auch für die sowjetische Besatzung wichtige Personen wurden nach dem Verhör durch das NKWD wieder in ihre Funktionen zurückversetzt.

Besonders deutlich unterschieden sich die Haftbedingungen der Alliierten in den Internierungslagern. Die Sowjets haben die Lagerstandorte von den Nationalsozialisten übernommen und weitergeführt. Zeitzeugenberichte von Überlebenden werden hier exemplarisch für die einzelnen Lager wiedergegeben, in denen auch Hundisburger NSDAP-Mitglieder interniert waren und in fünf Fällen dort an Hunger und Krankheiten umkamen. Der Hundisburger NSDAP-Ortsgruppenleiter, noch vor der sowjetischen Besetzung von den US-Militärs verhaftetet, berichtete dagegen von einem Lagerleben mit Arbeitsmöglichkeiten, Außenkontakten und ausreichender Lebensmittelversorgung.

Motiv der Sowjets für die unmenschliche Behandlung der „Nazis“ ist mit Sicherheit der grausame Krieg auf russischem Boden mit vernichteten Dörfern und Städten und schätzungsweise 26 Millionen sowjetischen Kriegstoten. Der unfassbare, systematische Mord an Juden in den KZs und auch die Haftbedingungen in den Gefangenen-Arbeitslagern werden die Sowjets in ihrem Vorgehen bestärkt haben. Betroffene Familien, die auf ihren Mann, Vater, Bruder oder Schwager jahrelang in Ungewissheit vergeblich gewartet haben, trösteten diese Hintergründe wenig.

In Verbindung mit der Entnazifizierung stehen die letzten Kriegsmonate. „Volkssturm“ und „Werwolf“ werden ausgehend von der Reichspropaganda auf das örtliche Geschehen in Haldensleben und Hundisburg fokussiert, und das Kriegsgeschehen im April 1945 wird durch die Erlebnisse eines damals 17-jährigen Hundisburger Panzergrenadiers an der Ostfront dargestellt.

Am 10. April 1945 wurden auf einem der SS-Todesmärsche, der durch Hundisburg führte, drei vor Erschöpfung liegen gebliebene Gefangene von dem Begleitpersonal erschossen. Zeitzeugen berichten von einem grausamen Anblick, der noch nach 75 Jahren im Detail gegenwärtig ist. Zwei der Erschossenen wurden auf dem kommunalen Friedhof notdürftig begraben und zu deren Andenken ein „Antifaschisten-Denkmal“ errichtet. Angehörige von den in sowjetischen Internierungslagern Umgekommenen weigerten sich jedoch, an Gedenkveranstaltungen oder an Grabpflegeaktivitäten teilzunehmen. Denn die politisch geprägten Inszenierungen am Tag des Antifaschismus wurden mit der Internierung oder dem Tod des Angehörigen durch die Sowjets in Verbindung gebracht.

Die Pflege der Gräber übernahmen zunächst einzelne Bürger. Sie war auch Teil des Pionierprogramms der Hundisburger Schule. Nach 1989 fanden keine Gedenkveranstaltungen mehr statt. Wiederholte Versuche, das Denkmal zu beseitigen, konnten verhindert werden.

Eine zentrale Bedeutung in dem Geschehen nehmen der von den Sowjets eingesetzte Bürgermeister Paul Götzschel und seine beiden Söhne Paul und Willi ein. Paul Götzschel sen. war bis 1933 Mitglied der KPD und hat seine politische Einstellung beibehalten und trotz des Verbots der KPD durch die Nazis nicht verheimlicht. Im Ortsgeschehen tauchte er bis Kriegsende völlig unter und bekam dann 1945 von den Sowjets plötzlich Macht übertragen, deren Tragweite ihm sicher nicht bewusst war.

Seine Söhne waren dem nationalsozialistischen System sehr verbunden. 1945 haben beide sofort die Seiten gewechselt, sind 1945 der KPD beigetreten und haben in der DDR bei der Staatssicherheit verantwortungsvolle, systemsichernde Aufgaben mit gleicher Intensität wie in der nationalsozialistischen Zeit wahrgenommen. Nach den Prinzipien der Sowjets wären beide bei der Entnazifizierung zumindest verhört worden, wenn nicht der Vater darüber hätte entscheiden können.

Die NSDAP-Mitglieder wurden immer wieder von den Zeitzeugen nach

„nicht abgeführt“,

„gleich wiedergekommen“

„weggewesen und wiedergekommen“

„nicht wiedergekommen“

zugeordnet. Dieser zunächst sehr allgemeinen Kategorisierung folgt auch die Gliederung der folgenden Aufzeichnungen für die erfassten Personen.

Noch 10 Jahre nach dem Kriegsende, waren ehemalige Mitglieder der NSDAP der Staatssicherheit der DDR hinderlich bei der Umsetzung der sozialistischen Ziele. Unterlagen der Stasi aus dem Jahr 1955 belegen den unterstellten Vorwurf der „Feintätigkeit“ führender Mitarbeiter auf dem VEG in Hundisburg, um sie – als „nachträgliche Entnazifizierung“ - ihren Funktionen zu entheben.

2Die letzten Kriegsmonate

 

2.1„Volkssturm“ und „Werwolf“

Ende 1944 haben alliierte Truppen im Osten sowie im Westen die damaligen Reichsgrenzen Deutschlands erreicht. Für die Heeresleitung galt es jetzt, die Heimat zu verteidigen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste die Einsicht in das nahe bevorstehende Kriegsende bei vielen der hauptverantwortlich Handelnden vorhanden gewesen sein. Historiker haben nach dem Krieg schon die verlorene Schlacht um Stalingrad Anfang 1943 und die Invasion der Westalliierten in der Normandie im Juni 1944 als die Wendepunkte des Zweiten Weltkrieges bezeichnet. Doch die deutsche Heeresleitung und vor allem die NSDAP-Propaganda mobilisierten und opferten mit dem „Volkssturm“ Ende 1944 die letzten Reserven:

„Nach fünfjährigem schwersten Kampf steht […] der Feind an einigen Fronten in der Nähe oder an den deutschen Grenzen. […] Sein letztes Ziel ist die Ausrottung des deutschen Menschen. […] Zur Verstärkung der aktiven Kräfte unserer Wehrmacht und zur Führung eines unerbittlichen Kampfes überall dort, wo der Feind den deutschen Boden betreten will, rufe ich daher alle waffenfähigen deutschen Männer zum Kampfeinsatz auf.“

Schon gut eine Woche danach, am Sonntag dem 29. Oktober 1944, kommt es zu einem Großaufmarsch von Volkssturmmännern auf dem Marktplatz in Haldensleben. Unter der Schlagzeile: „Haldenslebens erstes Volkssturm-Bataillon steht!“ berichtet „Der Mitteldeutsche“ über einen Aufmarsch von Volkssturmmännern in langen Kolonnen auf dem Marktplatz:

„Der Führer hatte gerufen, und alle, alle kamen. […] Männer und Jünglinge, die bester Tradition gemäß ihr Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen gewillt sind. Man brauchte nur einen Blick zu tun in die Gesichter der in den letzten dreißig Jahren hart gewordenen Männer, in die Augen der 14- und 15-jährigen Freiwilligen, um zu erkennen, daß sie alle die Einmaligkeit der Stunde begriffen […] haben.“

Am Sonntag, dem 12. November, fand im voll besetzten Saal der Gaststätte „Berger“ die Vereidigung der Hundisburger Volkssturmmänner statt:

„[…] Nach dem Fahneneinmarsch, der Meldung des angetretenen Volkssturmes und dem gemeinsamen Gesang ‚Volk ans Gewehr‘ kam ein Führerwort zur Verlesung. […] Dann sprach Pg. Weller als Vertreter des Ortsgruppenleiters zu den Versammelten. In zu Herzen gehenden Worten ließ er die Zeit seit dem Weltkrieg vor den Volkssturmmännern erstehen und deutete die Verpflichtung, die aus den Opfern so vieler Söhne unserer Nation für uns Lebende erwächst. Als Führer des Hundisburger Volkssturmes nahm Pg. Lauenroth die feierliche Vereidigung vor. An den offiziellen Ausklang des Vereidigungsappells schloß sich ein Vorbeimarsch der Hundisburger Volkssturmmänner am Ehrenmal an.“

Die Bewaffnung und auch die sonstige Ausrüstung des „Volkssturms“ war völlig unzureichend. Bis zum 18. November 1944 mussten die Gauleiter melden, welche Privatwaffen in ihrem Bereich an den „Volkssturm“ ausgegeben werden können. Die Meldungen mussten sogar Schrotflinten und Kleinkaliber-Büchsen umfassen. Am 28. Oktober vermeldete Gottlob von Nathusius den Besitz einer Schrotflinte, einer Tellbüchse und eines Revolvers. Seinen Repetier-Karabiner, Kaliber 9,3 mm. hatte er schon an „Landwacht Wilhelm Eitze“ abgegeben.

Die Propagandamaschinerie erreichte direkt auch Hundisburg, indem der aberwitzige Vergleich des „Volkssturms“ mit der Landwehr von 1813 hergestellt wurde:

„Einst Landsturm, heute Volkssturm! […] zur völligen Befreiung des Vaterlandes wurden damals auch in Haldensleben und Umgebung die Landwehr und der Volkssturm errichtet. […] Als eines Tages die Nachricht eintraf, daß Hundisburg von französischen Soldaten gebrandschatzt würde, rückte man mit Wehr und Waffen, d. h. mit Heugabeln und Sensen […] aus, um das Unheil wenigstens von Althaldensleben abzuwenden. Eine Schar junger Bürger zog aber nach Hundisburg zu bis jenseits des Waldes, verfolgte den abziehenden Feind und brachte Gefangene mit zurück.“

Karl Friedrich Schröder:

In Hundisburg wurden im Frühjahr 1945 vom „Volkssturm“ vier Panzersperren errichtet. Drei der Panzersperren sehe ich noch deutlich vor mir: Am Rottmersleber Tor, am Magdeburger Tor und in der Hauptstraße in der Straßenverengung vor der Garbe, wo heute der Baumannsche Hof ist. Die vierte Panzersperre war in der Dönstedter Straße, wobei ich nicht genau sagen kann, ob sie an der Mittelmühle bei Wißwede oder etwas höher, dort wo Uhlenhaut wohnt, errichtet wurde.

Meinem Vater Berthold Schröder wurde als ehemaligem Frontsoldaten (ab 1940 wurde er „UK“ gestellt) die Leitung für die Sperre vor der Garbe übertragen. Die Sperren bestanden zu beiden Seiten aus starken Eckpfosten, mit großen Feldsteinen stabilisiert. Zwischen die Eckpfosten konnte man Balken legen und die Straße versperren. Die Balken lagen schon für den Ernstfall bereit. Als dann die Amerikaner im April kamen, hat mein Vater die Sperre aber nicht mehr schließen lassen. Er ist einfach nach Hause gegangen.

Wilhelm Buhtz:

Mein Vater hat als Ortsgruppenleiter hier unten in der Thiestraße in der Lehmkuhle, wo heute das Haus von Richter steht, mit ein paar Männern mit der Panzerfaust geübt. Eine richtige Panzerfaust haben die aber nicht gekriegt. Vater hat in der Schmiede in der Zuckerfabrik eine Attrappe zusammengeschweißt, und damit haben die dann geübt. Auch Panzersperren haben sie gebaut. Eine hier beim Tischler Gadau. Aber die wurde gar nicht mehr zugemacht. Als die Amis dann kamen, haben die mit den Panzern die Seitenpfosten einfach an die Seite geschoben. Wenn ich mich recht erinnere, dann war Edwin Weller der einzige, der noch vom „Volkssturm“ an die Front gekommen ist.

Zeitgleich mit dem Erlass zur Gründung des „Volkssturms“ rief der Reichsführer SS Heinrich Himmler zur Bildung von „Werwolf“-Einheiten auf. Himmler war offensichtlich schon im Herbst 1944 klar, dass der Krieg auf deutschem Boden weitergeführt wird. „Werwölfe“ sollten als Partisanen hinter den feindlichen Linien durch Anschläge die vorrückenden Alliierten terrorisieren. In seiner Rund-funkrede am 18. Oktober 1944 machte Himmler deutlich, was der Gegner zu erwarten hatte:

„Jeder Häuserblock einer Stadt, jedes Gehöft, jedes Dorf wird von Männern, Knaben und Greisen, und wenn es sein muss, Frauen und Mädchen, verteidigt. Und wie ‚Werwölfe‘ werden todesmutige Freiwillige dem Feind seine Lebensfäden abschneiden."

Dem Aufruf folgten nur wenige Freiwillige. Selbst für speziell ausgebildete jugendliche „Werwölfe“ kam zum Kriegsende kein Einsatzbefehl mehr, weil sich die Führungskräfte schon abgesetzt hatten. Im April 1945 wurde der „Sender Werwolf“ in Betrieb genommen. Josef Goebbels wollte den Alliierten weismachen, dass die „Werwölfe“ eine ernstzunehmende Gefahr sind:

„Der Werwolf ist eine Organisation aus dem Geist des Nationalsozialismus […]. Jeder Bolschewist, jeder Engländer und Amerikaner, der auf deutschem Boden steht, ist Freiwild unserer Bewegung. […] Hass ist unser Gebot und Rache unser Feldgeschrei.“

Am 10. April 1945, zwei Tage vor der Eroberung Haldenslebens, erschien in „Der Mitteldeutsche“ folgende Mitteilung, um die nicht mehr aufzuhaltenden US-Truppen zu verunsichern:

Insbesondere bei den sowjetischen Truppen hat die propagandistisch aufgebauschte Gefahr Wirkung hinterlassen:

„Vor allem die Sowjets griffen […] brutal gegen mögliche ‚Werwolf‘-Mitglieder durch. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte noch 1946 an einem Potsdamer Gymnasium zwölf Schüler als angebliche ‚Werwölfe‘ zum Tode durch Erschießen. Beweise gab es nicht.“

Auch Zeitzeugenberichte von im Rahmen der Entnazifizierung verhörten und internierten Jugendlichen belegen, dass entsprechende Geständnisse durch brutale physische und psychische Folter erpresst wurden (s. Kap. 3.6 Speziallager in der SBZ).

Friedrich Gröpke:

Als das mit dem „Werwolf aufkam“, war der Jungvolkführer Willi Götzschel schon beim Militär. In Hundisburg gab es überhaupt keinen „Werwolf“. Bei den Jungvolkübungen, an denen ich auch mal teilgenommen habe, war schon mal vom „Werwolf“ die Rede. Aber die taten nur so. Richtig organisiert waren die gar nicht. Die haben doch nichts gemacht, keine richtige Übung. Die sind da nur ein bisschen rummarschiert. Der Ortsgruppenleiter war auch mal mit dabei. Der hat mit Männern, die noch laufen konnten, das waren welche vom „Volkssturm“, an einer Panzerfaustattrappe geübt.

Karl Friedrich Schröder:

Ich kann mich nicht an eine „Werwolf“-Gruppe in Hundisburg erinnern. Ich bin sicher, das gab es gar nicht. Ende 1944 habe ich auch nicht mehr an den Übungstagen teilgenommen. Zu der Zeit war Willi Götzschel Jungzugführer in Hundisburg. Nach einem Treffen des Fähnleins in Alvensleben, es schummerte schon, haben wir, Willi Buhtz, Paul Chwalitz und ich, auf dem Rückweg durch die Wellenberge wie die Wolfe geheult. Daraufhin hat Willi uns antreten lassen und geohrfeigt. Dann bin ich nicht mehr zu den Übungstagen gegangen. Ich weiß nicht, ob unser Wolfsgeheul etwas mit der „Werwolf“-Aktion zu tun hatte, dass wir so geheult haben, weil wir die „Werwölfe“ im Sinn hatten.

In Hundisburg hatte der Jungzug immerhin eine Stärke von 60 Jungen. Aber wir hatten mit den Geländespielen am Galgenberg und Marschübungen auf dem Thie - links rum, rechts rum - nicht viel im Sinn. Wir galten in Hundisburg eher als rebellisch, und so hatten wir in der Regel auswärtige Jungzugführer.

Mein Schwager Hermann Hellwig war 1945 HJ-Führer in Rottmersleben und wurde von den Amerikanern abgeführt und vernommen, aber ist sofort wiedergekommen. Er hatte mit „Werwolf“ nichts zu tun. Als dann die Russen kamen, sollte er wieder verhaftet werden. Hermann wurde aber rechtzeitig gewarnt und konnte sich im Olbetal verstecken. Dreimal haben sie es versucht. Aber jedes Mal wurde er gewarnt. Dann kamen die Russen nicht mehr.

Wilhelm Buhtz:

An den Jungvolkübungen habe ich damals auch teilgenommen. Willi Götzschel und Kalli Schulze, beide besuchten die Oberschule in Haldensleben, waren unsere Zugführer. Wir gehörten zum Bann 409/Kreis Haldensleben und zum Fähnlein 8. Das war straff organisiert. Aber den „Werwolf“ hat es hier nicht gegeben. Kurz nach dem Zusammenbruch war bei uns ein Junge aus dem Kohlenpott. Da sagte man, dass der was mit dem „Werwolf“ zu tun gehabt haben soll. Meine Mutter hat den bei uns untergebracht. Der war dann aber bald wieder weg.

2.2Hitlers Kinderarmee

Der Erlass zum „Volkssturm“ ordnete die Erfassung aller wehrfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren an. Das Ende des Krieges vor Augen, wurden noch im Frühjahr 1945 die Jahrgänge 1927 bis 1929 eingezogen. Diese Jugendlichen, durchweg Schüler oder Lehrlinge, in der Schule und in den Jugendorganisationen treu im Glauben an Führer und Vaterland erzogen, waren keine „wehrfähigen Männer“. Notdürftig ausgebildet und ausgerüstet wurden sie auf dem Schlachtfeld kurz vor Kriegsende skrupellos geopfert. Schätzungsweise 60 000 Jugendliche im Alter von 16 bis 17 Jahren fielen in den letzten Kriegswochen.

Der letzte noch lebende Hundisburger Frontsoldat ist Helmut Klumpe, Jahrgang 1927. Helmut Klumpe erinnert sich zum Teil noch bis ins Detail an seinen Einsatz an der Oder im April 1945 bis zu seiner Gefangenennahme durch die Engländer. Der folgende Bericht ist ein Ausschnitt aus Tonaufnahmen der Gespräche im November 2019.

Helmut Klumpe:

Mit 14 Jahren bin ich 1942 in die Lehre gekommen. Das war auf dem Großbauernhof Dauel in Alvensleben. Was meine Schulkollegen waren, die waren schon teils eingezogen. Aber wer in der Landwirtschaft arbeitete, wurde zuerst noch zurückgestellt.

Bei den Gefangenen auf dem Hof musste wenigstens einer dabei sein, der Ahnung hatte. Als Lehrling hatte ich dann schon Aufgaben wie ein Inspektor. Alles, was ich lernen sollte, konnte ich ja schon. Pflügen und Drillen und alles hatte ich schon bei Hannuschka in Hundisburg gemacht.

Zuerst, als es an der West- und Ostfront immer voranging, haben wir gedacht, na, der Krieg wird nicht mehr lange dauern, das geht bald nach England rüber. Aber mein Chef, Leutnant im ersten Krieg und dolle bei der Kirche, war gegen Hitler eingestellt, war auch nicht in der Partei. Der sprach sich nicht so deutlich aus. Aber ich merkte schon, dass er gegen Hitler war. Ich hatte ja Familienanschluss und saß mit am Tisch in der Stube. Im Getreide auf dem Speicher steckte mal ein Schild. „Hitlers Tod ist mein Brot!“ stand darauf.

Sein Sohn war bei den Funkern auf der Krim. Der ist dann gefallen. 14 Tage haben sich mein Chef und seine Frau überhaupt nicht blicken lassen. Die haben sich oben in ihrer Wohnung total zurückgezogen.

Trotz der negativen Einstellung meines Chefs war ich 1944 immer noch in dem Wahn, dass wir den Krieg gewinnen. Wir sahen wohl, dass es im Osten und Westen immer zurückging. Aber wir waren ja völlig indoktriniert durch das Jungvolk und die Hitlerjugend. Wir werden den Krieg gewinnen, hieß es immer wieder.

Wir hatten einen jungen Franzosen, der kriegte immer Pakete vom Roten Kreuz aus Frankreich mit Biskuit und Schokolade jeden Monat. Der hatte immer gemeint, das wird nicht mehr lange dauern. Bei den Jungvolkversammlungen haben die uns was von der Wunderwaffe erzählt, das war richtig Mode: Zwei Bomben auf Polen und zwei auf England, und dann ist der Krieg vorbei. Das haben wir natürlich geglaubt. Wir wollten doch den Krieg gewinnen.

Dann hatten wir mal Ärger mit unserem HJ-Führer, der war immer so angeberisch. Der Bannführer aus Haldensleben ließ uns am nächsten Tag antreten und wollte uns dafür ohrfeigen. Links und rechts, das ging zack zack, das kannten wir. Das war so seine Art. Aber Wilhelm Berger, der war schon fast eins neunzig groß und hatte gewaltige Kraft. Der hat den Bannführer an dem Schlips gepackt und gedroht: „Ein Schlag und du kriegst einen von mir, dass du daneben liegst!“ Da ist der kreidebleich geworden und hat geschrien: „Ihr seid aus der HJ entlassen!“ Danach haben wir bei seinem Auto, ein DKW, die Luft abgelassen, auch beim Ersatzrad.

Und dann ging es erst richtig los: Ein paar Wochen später musste ich zum Jugendarrest nach Burg. Vierzehn Tage war ich da. In den Zellen war gerade mal Platz für ein Bett und einen Schrank. Jeden dritten Tag wurde das Bett hochgeklappt, und da mussten wir auf dem Stuhl sitzen. Durch das Guckloch hat man das immer kontrolliert. Das alles hatte aber alles keinen Einfluss auf meine Einstellung zu Hitler und zum Krieg. Man hatte uns doch mit der V-Waffe wahnsinnig gemacht. So hatte man uns doch getrimmt.

Im Herbst 1944 bekam der Betrieb Bescheid, dass ich mich zum Arbeitsdienst in Groß Rossau einstellen sollte. Das war ein kleiner Ort westlich von Osterburg. Da waren wir in Baracken untergebracht. Im Magazin waren Spaten und Gewehre. Wir haben aber nicht mehr mit dem Spaten gearbeitet. Wir hatten eine richtige militärische Ausbildung mit dem Karabiner, mit Nahkampfübungen, Schießen und Tarnen. So etwa vier Wochen.

Zu Weihnachten kam der Stellungsbefehl. Mein Chef bestand darauf, dass ich alle meine Sachen mit nach Hause nehmen sollte. Er ahnte wohl schon, was kommt, und befürchtete, dass jetzt auch noch der Zweite im Krieg bleibt, erst sein Sohn und jetzt auch noch ich. Ich habe gedacht, was soll das, ich bin doch bald wieder da. Der Franzose brachte mich mit dem Kutschwagen nach Hause. Meine Eltern hatten auch kein Problem. Mein Vater war in Hillersleben, und da haben sie die Waffen getestet. Der erzählte immer von der Wunderwaffe. Auch Mutter meinte, dass der Krieg dann zu Ende ist und wir den Krieg noch gewinnen.

Am 10. Januar 1945 bin ich nach Watenstedt-Salzgitter gekommen. Dort wurde die 13. Panzergrenadier-Ersatzdivision aufgestellt. Das war eine ganz neue Kaserne, ein ganz großer Block. Nach einer Weile hat der Spieß, Oberfeldwebel Schölzel, mich als Burschen eingestellt. Da hatte ich einen feinen Job. Zimmer sauber halten, Essen holen und alles.

An der Ausbildung musste ich natürlich teilnehmen. Ich war Richtschütze im Sturmpanzer, und Begotte aus Haldensleben war Ladeschütze. Der Panzerfahrer war schon älter. Das war ein Verwundeter. Der ging am Stock. Der Kommandant war auch ein ganz Junger, einer von der Offiziersinspektion.

Aus Hundisburg waren Ewald Gärtner aus dem Gemeindehaus und der Bauer Karl Gericke aus dem Winkel mit mir zusammen. Ewald war sogar mein Bettnachbar. Da Ewald den Sprechfunklehrgang nicht bestanden hatte, kam er gleich an die Westfront. Er wurde hinter der Front eingesetzt. Dort sollte er sich versteckt halten und was in die Luft sprengen. Das war wohl die „Werwolf“-Truppe. Bei einem Beschuss ist er von Splittern getroffen worden. Von einem Kumpel aus Althaldensleben habe ich später in Gefangenschaft erfahren, dass er dabei umgekommen ist.

Da kam der Marschbefehl, die ganze Kaserne, so paar tausend Jugendliche, alle mein Jahrgang, 1927 und auch 1928, zu Fuß bis nach Tantow. Das liegt südlich von Stettin, zwei, drei Kilometer vor der Oder. Mein Chef hat aber dafür gesorgt, dass ich da nicht mitmusste. Wir sollten später mit den Panzern und mit Munition hinterherfahren.

Da war ich ganz alleine in dem großen Block. Bei Fliegerangriff bin ich in den Keller runter. Nach einem Luftminentreffer schwankte der ganze Boden wie Wasser. Vor Angst ist mir der Schweiß runtergelaufen. Kein Gedanke daran, nach Hause zu gehen. Da wäre man auch nicht weit gekommen. Die Polizei hat doch sofort kontrolliert. Die Zivilisten nicht. Nur die Uniformierten oder von denen sie annahmen, dass es Deserteure sind. Für Drückeberger gab es kein Pardon.

Bald wurden auch die Panzer und die Munition verladen. Wir hatten einen Waggon zum Schlafen: Eine Seite lag Stroh, da konnte man seine Sachen lassen und sich hinlegen, auf der anderen Seite hatten sie Granaten gestapelt. Die flogen bei jeder Weiche gefährlich hin und her. Da war ich dann aber nur eine Nacht drin. Das habe ich nicht ausgehalten. Den Rest der Fahrt habe ich unter einem Panzer gelegen.

Als wir die Panzer nach vorn in die dritte Kampflinie gebracht haben, mussten wir durch Panzersperren. Die waren da schon, weil sie damit gerechnet haben, dass die Russen bald da sind und aufgehalten werden sollten. Aber die waren völlig zwecklos. Fünfzig Meter weiter hätte man über den Acker vorbeifahren können. Getarnt haben wir uns in einem Haus, in das wir einfach rückwärts reingefahren sind, und da standen wir in der Wohnstube. Da wohnte keiner mehr drin, die waren ja alle schon weg.

Ich bin dann los nach vorn und wollte mich bei meinem Spieß bei unserer Truppe melden. Die hatten schon mit Baumstämmen abgedeckte Unterstände gebaut. Der hat mich dann gleich als Melder eingesetzt.

Mal, als ich Post holte, kam ein Flieger hinter die Hauptkampflinie (HKL). Das waren Russen mit deutschen Fliegern. Die hatten die Flieger schon gekapert. Und plötzlich sah ich auf der Straße im Sommerweg Einschläge und Sand und Staub aufspritzen. Ich hatte noch gar nichts gehört. Die Kugeln waren schneller als der Schall. Der hat auf mich geschossen. Ich konnte mich noch schnell hinter dicke Kirschbäume stellen. Da drehte der und beschoss mich wieder. Aber er konnte ja kommen, von wo er wollte. Ich stand immer hinter dem Kirschbaum. Unsere Flak hat ihn dann runtergeholt.

Am 20. April, auf Wache, denke noch so an Hitlers Geburtstag, da ging das richtig los: Ein Trommelfeuer von den Russen über die Oder rüber von mindestens acht Stunden. Ein unerträglicher Lärm. Man musste sich anschreien, um sich zu verständigen.

Um 10 Uhr griff der Russe dann an, und ich musste eine Meldung aus der dritten Linie nach vorne bringen: „Planmäßig absetzen!“ Mit einem Mal fingen die Russen wieder mit Trommelfeuer an. Ich konnte vor lauter Qualm kaum mehr was sehen. Ich bin dann in einen Bunker. Auf einer Seite ging eine Granate rein. Die ganze Holzdecke klappte auf der Seite zusammen, wie eine Mausefalle. Da bin ich aber wieder sofort raus.

In dem Moment kommt Gerd Strauß aus Vahldorf mit meinem Unteroffizier, der eine Verwundung am Oberarm hatte. Der hing nur noch so runter und sah aus wie eine dicke Blutwurst. Mit dem Riemen vom Kochgeschirr haben wir das abgebunden. „Schneid den Arm ab“, schrie der Unteroffizier. Aber ich habe dann den Mantel rübergedeckt.

Und in der Situation habe ich was gemacht, was ein Melder nie durfte. Dafür konnten sie einen an die Wand stellen: Strauß musste ja wieder nach vorn in die HKL. Dem habe ich die Meldung mitgegeben und ich bin mit dem Unteroffizier, den gesunden Arm über der Schulter, los zu unserem Gefechtsstand. Unterwegs wurden wir von Fliegern beschossen. In einem Rapsfeld konnten wir Deckung nehmen.

Mit mal kam über den Feldweg eine Beiwagenmaschine. Der wollte nach Pasewalk und hatte sich verfahren. Das war das Gute. Da konnten wir meinen Unteroffizier reinlegen. Der ist mit ihm losgefahren. Was mit meinem Unteroffizier passiert ist, weiß ich nicht. Leider habe ich nicht nach dem Namen des Fahrers gefragt. Das war ein Riesendurcheinander. Einige Soldaten kamen schon von der HKL zurück. Alle mein Alter. Jeder hat nur noch an sich gedacht. Von meinen Kameraden habe ich keinen mehr gesehen.

Da kamen die russischen Flieger. Ich bin von Baum zu Baum gegangen, und so bin ich zu meinem Stab durchgekommen. Mein Stab hatte sich schon fertig gemacht zum Absetzen. Das war ein Durcheinander und alles musste schnell gehen. Mein Rucksack, meine Decke, alles ist liegen geblieben.