Versöhnt sterben - Angelika Daiker - E-Book

Versöhnt sterben E-Book

Angelika Daiker

5,0

Beschreibung

Die Kunst des Abschiednehmens. - Was brauchen Sterbende, um zufrieden und versöhnt Abschied nehmen zu können? Nach vielen Jahren in der Hospizarbeit sind Angelika Daiker und Judith Bader-Reissing überzeugt: Was wesentlich ist für ein erfülltes Leben, das hilft auch für ein gutes Sterben. Ein "Programm", das zum guten Sterben hilft, finden die Autorinnen in den letzten sieben Worten Jesu. Diese biblisch bezeugten Worte enthalten eine tiefe innere Wahrheit, die ihnen auf einer übergeordneten Ebene Gültigkeit verleiht. Das Buch entfaltet die spirituelle und existenzielle Bedeutung der letzten sieben Worte und verbindet sie mit den Erfahrungen im Hospizalltag. So entwickeln die Autorinnen einen neuen Ansatz der Palliative Care, der allen, die Sterbende begleiten, wertvolle Impulse für die eigene Praxis geben wird.

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Seitenzahl: 172

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Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Angelika Daiker/Judith Bader-Reissing

Versöhnt sterben

Palliative Care im Licht der letzten sieben Worte Jesu

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erkennen und Vergeben

1. Wort Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,34)

Zuwendung und Verheißung

2. Wort Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

(Lk 23,43)

Sorge und Vermächtnis

3. Wort Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn. Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter. (Joh 19,26)

Gottverlassenheit und Vertrauen

4. Wort Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34/Mt 27,46)

Bedürftigkeit und Fürsorge

5. Wort Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet. (Joh 19,28)

Fragment und Vollendung

6. Wort Es ist vollbracht. (Joh 19,30)

Hingabe und Öffnung

7. Wort Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. (Lk 23,46)

Bleibt hier und wacht (Mk 14,34)

Gebete und Texte

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die sieben letzten Worte Jesu beschäftigen mich seit vielen Jahren. Intensiv bearbeitet habe ich sie mit meiner Tanzlehrerin Friedel Kloke-Eibl, mit der ich die Faszination über die Aussagekraft der Zahl Sieben teile, die man in vielen Religionen und Kulturen findet. In einem mehrtägigen Tanzseminar haben wir die sieben Worte Jesu mit Gebärden, Tänzen und Texten erschlossen und sie mit den Tänzerinnen und Tänzern im Gespräch für das eigene Leben fruchtbar gemacht. Für die Hospizarbeit übersetzt habe ich sie für einen Vortrag im Hospiz Wiesloch, denn die Themen der letzten sieben Worte begegnen mir in meiner täglichen Arbeit, explizit oder verborgen, in vielen Erlebnissen im Hospiz.

Die Initialzündung zu diesem Buch gab mir Judith Bader-Reissing mit ihrer Facharbeit »Palliative Care im Lichte des Sterbens Jesu« zum Abschluss des Palliative Care Kurses für Pflegefachkräfte.

In der Zeit des Schreibens habe ich einigen Gästen im Hospiz St. Martin von unseren Überlegungen erzählt – wir nennen die Menschen, die ihre letzte Lebenszeit im Hospiz verbringen Gäste, weil Hospize sich als Pilgerstätten am irdischen Lebensweg verstehen. Hospize beherbergen für eine begrenzte Zeit Menschen, deren persönliche Situation es nicht zulässt, zu Hause gepflegt und begleitet zu werden.

Bei allen Gästen, denen ich von diesem Buchprojekt erzählt habe, bin ich auf ein erstaunliches Interesse gestoßen. Vor allem auch bei Menschen, die sich ausdrücklich nicht als Christen verstanden, sich jedoch von der Aussage der Worte sofort angesprochen fühlten und mehr darüber erfahren wollten. Viele hatten über die Vertonungen der letzten sieben Worte bereits einen Zugang und eine innere Verbindung.

Ich danke Judith Bader-Reissing für die Mitwirkung an diesem Buch, für die Inspiration, für Gespräche und Textbeiträge, für ihre fachlichen Hinweise als Palliative Care Pflegefachkraft und für die Gebete, die ihr ganz besonderer Beitrag zu diesem Buch sind.

Ich danke allen, die mich im Werdeprozess des Buches inspiriert haben, insbesondere Inger Hermann, Prof. Dr. Annette Riedel, Anton Seeberger, Sr. Ludwina Bühler, Dr. Elisabeth Bürger, Barbara Hummler-Antoni, Petra Lehrer und Heike Schiller für wichtige Anregungen.

Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Lektorin Andrea Langenbacher, die mich durch unterschiedliche Etappen des Buches wunderbar begleitet hat.

Allen Gästen, die mir mit ihrem großen Erfahrungsschatz an der Grenze zwischen Leben und Tod zu Lehrerinnen und Lehrern geworden sind, widme ich dieses Buch. Stellvertretend für die Menschen, die mich in vielen Begegnungen im stationären Hospiz beschenkt haben, möchte ich Herrn Killer danken, dessen Frau in den Tagen, als dieses Buch fertiggestellt wurde, starb. Mit beiden bin ich im Hospiz einen intensiven Weg gegangen und habe von ihnen unsagbar viel gelernt.

Angelika Daiker

Einleitung

Ich will ich sein

Menschen lieben

Weltspuren folgen

und wenn der Sprachgeist erlaubt

mit einigen Worten

meinen Tod überleben.

Rose Ausländer1

Letzte Worte

Mein Vater war ein Mensch, der wenig Worte machte. Er war am liebsten in seiner Schreinerwerkstatt, da kannte er sich aus. Zur Zeit seines 76. Geburtstages lebte ich gerade in Wien, kam aber nach Hause, um mit ihm zu feiern, obwohl kein großes Fest angesagt war. Als ich mich wieder von ihm verabschiedete, bedankte er sich überschwänglich dafür, dass ich seinetwegen die weite Reise auf mich genommen habe. Das nahm er nicht als selbstverständlich! Seine Freude und Anerkennung in Worte zu bringen, war für ihn außergewöhnlich. Es war eine kleine, sehr persönliche Rede, wie ich es noch nie von ihm erlebt hatte. So fuhr ich mit einem guten Gefühl wieder zurück.

Wenige Tage später starb er plötzlich an den Folgen eines schweren Schlaganfalls. Seine für mich sowieso außergewöhnlichen Abschiedsworte bekamen als »letzte Worte« ein großes Gewicht. Sie waren die Bestätigung, dass ich für ihn getan hatte, was ich konnte, und dass wir beide alles miteinander geklärt hatten. Und es kam mir so vor, als ob sich in diesen Worten sein Leben verdichtete: seine Stille, seine Bescheidenheit und seine Wertschätzung. Und dass er für einen Moment über sich hinausgewachsen war.

Dass ich mich seit fast 25 Jahren in der Hospizbewegung engagiere, habe ich ihm zu verdanken. Denn unser persönlicher Abschied war zwar wohltuend, aber wie er gestorben ist, das war sehr schmerzlich. Ich hätte ihm und meiner Familie ein anderes Sterben gewünscht, als es damals im Krankenhaus möglich war. So war sein Tod am 1. November 1989 der entscheidende Impuls für mein Hospizengagement.

Aus der Begleitung vieler Trauernder weiß ich, wie wesentlich letzte Worte sind, wie sehr sie sich an einem letzten Wort, das im Licht des Todes sein ganzes Gewicht bekommt, festhalten können. Letzte Worte sind so etwas wie ein bleibendes Vermächtnis. In ihnen verdichten sich wesentliche Erinnerungen.

Diese Verdichtung eines Lebens sehen wir oft auch im Gesicht eines Verstorbenen, das im Tod alle Verkrampfung des Sterbeprozesses ablegt und zu einer erstaunlichen, erhabenen Schönheit gelangt.

Es ist schmerzlich, wenn die letzten miteinander gewechselten Worte im Streit gesagt wurden. Solche letzten Worte belasten schwer. Es ist schmerzlich, wenn es kein solches Wort gibt, weil der Tod unerwartet hereinge­brochen ist oder das Sterben sprachlos gemacht hat. Manches Wort lässt ratlos zurück. So das Wort einer Frau, die über Monate die Anzeichen einer schweren Krankheit ignoriert hatte und bei der Diagnose im Blick auf alle zerschlagenen Lebenspläne sagte: »So hatten wir es uns nicht vorgestellt.« Danach wollte sie weder über die Krankheit noch über den bevorstehenden Tod sprechen.

Letzte Worte können wie die Bestätigung des Lebens sein, das man geführt hat. Oder sie irritieren, wenn sie scheinbar gar nicht zum Leben des Verstorbenen passen oder eine bisher verborgene Seite an ihm zeigen.

Es ist möglich, dass verschiedene Menschen sich unterschiedliche »letzte Worte« eines Verstorbenen merken, weil es ein letztes Wort speziell für sie war oder ihre persönliche Beziehung darin zum Ausdruck kommt. Wenn Freunde, Angehörige nach dem Tod eines Menschen solche Worte austauschen, die ihnen geblieben sind, entdecken sie, dass jeder von ihnen eine Facette dieses Menschen bisher noch nicht gesehen hat. Dabei ist es nicht wichtig, ob das Wort genau so gesagt wurde, und auch nicht, dass es tatsächlich das letzte auf dem Sterbebett gesprochene Wort ist. Entscheidend ist nur, dass es als wesentliches letztes Wort geblieben ist. Authentisch sind letzte Worte, weil sie im Rückblick das im Tod erfüllte Leben auf den Punkt bringen. Und weil es für die Weiterlebenden bedeutsam ist, dass ihnen jemand ein bleibendes Wort hinterlassen hat.

Letzte Worte, die Trauernde als Schatz in sich bewahren können, sind wie »Trittsteine« der Trauer.2 Es ist ein großer Trost, wenn es noch möglich ist, einen Dank auszusprechen. Oder zu sagen: Das Leben mit dir war ein gutes Leben! Solche Worte geben Halt gegen den Sog, der Trauernde manchmal in einen Abgrund ziehen will. Gute Erinnerungen an den Abschied können zu solchen Trittsteinen werden: noch einmal den Toten berühren, ihn und das gemeinsame Leben im Abschied würdigen, ein tröstliches Ritual finden.

Letzte Worte in der Kulturgeschichte

Kulturgeschichtlich spielen letzte Worte, ultima verba, in Anekdoten, Biografien und in der Geschichtsschreibung eine große Rolle. Sie dienen dazu, »eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen einzigen Ausspruch zu bannen«3. Berühmt sind die letzten Worte, mit denen Kaiser Augustus als Hauptdarsteller von der Bühne des nach ihm benannten Zeitalters abtritt: »Klatschet Beifall, Freunde, die Komödie ist zu Ende!« Ein Gegenstück dazu sind die letzten Worte des Philosophen Sokrates, die ein Zeugnis sind für einen Menschen, der sich treu geblieben ist. Platon hat ihm ein literarisches Denkmal im »Phaidon« gesetzt. Wie jeder Kranke nach seiner Genesung dem Gott Asklepios einen Hahn weiht, so soll es Kriton nach dem Tod des Sokrates auch tun. Mit diesem Auftrag verabschiedet sich Sokrates: »O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm den, und versäumt es ja nicht.« Damit war klar, dass für ihn der Tod eine Heilung bzw. eine Befreiung darstellte. Zuvor hatte er die Anwesenden ermahnt und ermutigt, als sie zu weinen begannen: »… ich habe immer gehört, man müsse stille sein, wenn einer stirbt. Also haltet euch ruhig und wacker.« Die Nachwirkung dieser platonischen Szene in der Antike war sehr groß, sie wurde geradezu ein »Arche­typus«4.

Es gibt so etwas wie die »Mystique des letzten Moments«5. Deshalb haben letzte Worte eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance. Vielleicht auch deshalb, weil von keinem Sterbenden anzunehmen ist, dass er lügt – so eine alte Maxime. Letzte Worte haben eine magische Kraft. Dass ihnen keine weiteren mehr folgen können, gibt ihnen ihr Gewicht.

In den mittelalterlichen »Artes moriendi«6 waren letzte Worte der Ausdruck dafür, ob jemand ein gottgefälliges Leben geführt hat. Dass der Mensch sich Gott zuwenden soll und dies auch noch im letzten Augenblick seines Lebens tun kann, war die Botschaft dieser Kunst des Sterbens. Wie seit dem 16. Jahrhundert der unmittelbare Augenblick des Todes seine Bedeutung eingebüßt hat und das Bewusstsein für eine Wachheit während des ganzen Lebens wächst, beschreibt das Stan­dardwerk von Philippe Ariès.7 Seine Kulturgeschichte des Todes erscheint parallel mit dem Erstarken der modernen Hospizbewegung8 und gibt einen umfassenden Einblick in die abendländische Einstellung zum Tod seit dem neunten Jahrhundert.

Das Interesse am letzten Augenblick und an den letzten Worten ist auch literarisch ein beliebtes Thema, eindrücklich von Leo Tolstoi beschrieben in seiner Erzählung »Der Tod des Iwan Iljitsch« (im Kapitel »Fragment und Vollendung« werden wir näher darauf eingehen). Von dem Dichter Matthias Claudius wird berichtet, er habe bis zuletzt versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, wie sich die Seele vom Körper löst. »Mein ganzes Leben habe ich auf diesen Augenblick studiert«, sagte er, »aber noch begreife ich so wenig wie in den gesundesten Tagen, wie es damit gehen wird«. Bis zum Schluss habe er das Erlöschen seines Lebens verfolgt, seine letzten Worte habe er zu seiner Frau kurz vor seinem Tod gesagt: »Nun ist’s aus!« Und dann flüsterte er ihr zu: »Gute Nacht, gute Nacht.«9

Durch die Hospizbewegung ist in den letzten Jahrzehnten eine neue »Kunst des Sterbens« gewachsen – oft auch im Rückblick auf die mittelalterliche »Ars moriendi«.

Damit ist auch die Bereitschaft gestiegen, in der Begegnung mit Sterbenden und aus der Reflexion der Erfahrungen am Sterbebett etwas für das Leben zu lernen. »Kostbarster Unterricht / an den Sterbebetten«, heißt es in einem Gedicht Hilde Domins. Und: »Jeder der geht / belehrt uns ein wenig / über uns selber.«10 Christian Schüle, der angesichts eines neuen Umgangs mit dem Sterben im 21. Jahrhundert einen Kulturwandel diagnostiziert, macht diesen Gedanken, das Sterben zu lernen, zum Buchtitel: »Wie wir sterben lernen«. Und er meint, dass es nötig sei, sterben zu lernen, gerade auch in einer Gesellschaft, die tendenziell den Trost im Diesseits will, weil sie kein Jenseits mehr überzeugt! »Kulturgeschichtlich betrachtet ist in Deutschland in den vergangenen fünfzehn Jahren eine kleine Revolution geschehen: Der Mensch von heute lässt sich seinen Tod nicht mehr aus der Hand nehmen. Er denkt Sterben, Tod und Trauer neu.«11

Wenn Bronnie Ware in ihrem Bestseller »5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen«12 beschreibt, dann haben die fünf Sätze, die als Wünsche formuliert werden, den Charakter von »letzten Worten«. Sie beschreiben etwas, das wir in Variationen kennen. Wir kennen das Unbehagen, wenn wir zu viel arbeiten, Freundschaften nicht ordentlich pflegen, unsere innersten Sehnsüchte verraten und uns zu leicht anpassen, Gefühle zurückhalten und uns zu wenig Freude gönnen. Wir kennen die Versäumnisse unseres Lebens, aber aus dem Mund schwerkranker, sterbender Menschen werden sie zu einem Auftrag an die Lebenden, es anders zu machen:

– Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.

– Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.

– Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

– Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.

– Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.

Im Konjunktiv formuliert hinterlassen diese Sätze als »letzte Worte« großes Unbehagen. Sie stehen für ein verpasstes Leben und drängen danach, es korrigieren zu können.

Letzte Worte in der Bibel

Im Alten Testament spielen letzte Worte an verschiedenen Stellen eine zentrale Rolle. Dort finden wir eindrückliche Berichte, wie Menschen sich verabschieden, so z.B. beim Tod Jakobs, der am Sterbebett alle Söhne versammelte. Nachdem er für jeden ein persönliches Wort hatte, zog er sich zurück und starb: »Jakob beendete den Auftrag an seine Söhne und zog seine Füße auf das Bett zurück. Dann verschied er und wurde mit seinen Vorfahren vereint« (Gen 49,33).

Die letzten sieben Worte Jesu gelten als die berühmtesten letzten Worte der Literaturgeschichte, ihre Wirkungsgeschichte ist bemerkenswert. Und auch für die moderne Suche nach dem, was für ein gutes Sterben und damit auch für ein gutes Leben bedeutsam ist, lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen. Man findet sie im Neuen Testament verstreut bei den vier Evangelisten:

1. Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (Lk 23,34)

2. Amen, ich sage dir: heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23,43)

3. Zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn. Zum Jünger: Siehe, deine Mutter! (Joh 19,26)

4. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15, 34/Mt 27,46)

5. Mich dürstet. (Joh 19, 28)

6. Es ist vollbracht. (Joh 19,30)

7. Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. (Lk 23,46)

Jesu letzte Worte sind in der Gattung der letzen Worte außergewöhnlich. Das wird unterstrichen durch die Zahl Sieben. Sieben ist im Judentum, im Christentum und im Islam die Zahl der Ganzheit, der Fülle und Vollkommenheit. Sieben ist die Zahl der Planeten. Das Kreisen der sieben Planeten ist Ausdruck kosmischer Ordnung. Es sind sieben Sakramente, sieben Bitten im Vaterunser, sieben Werke der Barmherzigkeit und sieben Gaben des Heiligen Geistes. Mit sieben Broten speist Jesus die große Menschenmenge (Mt 15,36).13

Keiner der Evangelisten stellt das gesamte Geschehen protokollarisch dar, jeder erzählt rückblickend und mit der Erfahrung der Auferstehung seine Deutung. Sie bündeln, was denen, die Jesus zu Lebzeiten nachgefolgt sind, an seiner Botschaft wesentlich war. So haben die letzten Worte Jesu erst in der Nachfolge der ersten Christen, die sich mit ihm identifiziert haben und ihm ähnlich sein wollten, ihr Gewicht bekommen und ihre ganze Wahrheit entfaltet. Sie sind das Glaubenszeugnis von Menschen, die mit Jesus Erfahrungen gemacht haben.

Die Frage, wie authentisch diese Worte sind, ist nicht entscheidend. Sie sind wie alle letzten Worte »sozusagen definitionsgemäß von zweifelhafter Authen­tizität«14, weil sie als mündlich tradierte Worte die Färbung dessen tragen, der sie weitererzählt. Gerade deshalb sind sie von einer bleibenden menschlichen Wahrheit.

Wie wir das in der Begegnung mit trauernden Angehörigen erleben, in denen möglicherweise unterschiedliche letzte Worte des Verstorbenen bedeutsam sind, so war es wohl auch für die Evangelisten. Jeder von ihnen hat etwas Wesentliches von Jesus begriffen, einer allein könnte ihn und seine Geschichte gar nicht erfassen. Sie schreiben mit dem Hintergrund ihrer Erfahrung und ihrer inneren Beziehung zu Jesus. Die Worte entsprechen der jeweiligen theologischen Sicht des Evangelisten. Als Schriftsteller hatte jeder von ihnen einen eigenen Zugang zur Geschichte Jesu. Und ein eigenes Interesse!

Drei der sieben Worte stehen im Lukasevangelium und beschreiben, wie Jesus sich in seinem Sterben den Menschen und seinem Vater im Himmel zuwendet und am Ende souverän das vorlebt, was er in seinem Leben gepredigt hat. Er stirbt in der Zuwendung zu den Verlorenen, dem Schächer, und im absoluten Vertrauen auf seinen Gott, den er Vater nennt. Die beiden Evangelisten Markus und Matthäus dagegen betonen die schreckliche Einsamkeit und Gottverlassenheit dieses Sterbens und zeigen Jesus als einen, der in großer Not ein Betender bleibt. Das Johannesevangelium beschreibt ein hoheitliches Bild des Gottessohnes, dessen Sendung sich im Tod als Hingang zum Vater vollendet15 und der königlich für seine Mutter und den geliebten Jünger sorgt.

Die Anordnung der sieben Worte ist das Glaubenszeugnis von Christen, die in der Dynamik gerade dieser Abfolge eine tiefe Wahrheit entdeckt haben. Sie entsprechen dem, was man in der Antike mit dieser Gattung verband, nämlich eine ganze Lebens- oder Weltansicht in einen knappen Ausspruch oder mehrere Aussprüche zu bringen.

Die Reihenfolge der sieben Worte war lange umstritten. Das gilt insbesondere für das erste Wort, es stand zunächst gegen Ende bzw. wurde überhaupt nicht erwähnt. Die heute vorliegende Reihenfolge finden wir erstmals in einer 547 vorliegenden Handschrift, dem Codex Fuldensis.16 Sowohl für die Theologie als auch für die konkrete Frömmigkeit wurden die sieben Worte ab dem Mittelalter zunehmend wichtig. Seit dem 16. Jahrhundert hat die Musik dazu wesentlich beigetragen.17 Die Vertonungen von Joseph Haydn (Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze), Heinrich Schütz (Die sieben Worte Jesu Christi am Kreuz) und César Franck (Les Sept dernières Paroles du Christ en Croix) haben auch diese vorliegende Reihenfolge zugrunde gelegt.

Die Abfolge der sieben Worte Jesu bietet eine übergreifende und geniale Dramaturgie des Sterbens Jesu, die über die Jahrhunderte hinweg in Meditationen, Kommentaren und Passionsandachten theologisch recht unterschiedlich entfaltet wurde.18 Offensichtlich waren die letzten Worte Jesu in ihrer langen Überlieferung für die Lebensführung und die Spiritualität der Menschen bedeutsam. Im Gotteslob von 1975 findet sich noch das Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund«19 mit der Aufforderung, die sieben Worte Jesu im eigenen Herzen zu betrachten (1. Strophe).20 In der letzten Strophe wird dem frommen Beter in Aussicht gestellt, dass auch Gott seiner gedenkt. Dem, der diese sieben Worte oft betrachtet, so in der 9. Strophe, wird Gott »durch seines Sohnes Tod das ewig Leben schenken.«

Interessant ist, dass es in der geistlichen Literatur der letzten Jahre ein neu erwachtes Interesse gibt, diese Worte Jesu auf unser Leben hin zu übersetzen.21 Unser neuer Ansatz in diesem Buch schöpft aus diesen Überlegungen, verdankt sich jedoch vor allem den Erfahrungen der Hospiz- und Palliative Care-Bewegung und den täglichen Begegnungen mit sterbenden Menschen im Hospiz.

Hospizbegleitung und Palliative Care im Licht der letzten Worte Jesu

Indem wir den inneren Gehalt der sieben Worte Jesu erschließen und sie in einen Dialog mit unseren Erfahrungen im Hospiz bringen, spannen wir einen neuen Verstehenshorizont auf. Es ist ein Horizont, der uns helfen kann, das Sterben besser zu begleiten. Der innere Prozess Jesu, wie ihn die letzten sieben Worte beschreiben, kann sich uns erschließen, auch ohne an Jesus Christus als den Sohn Gottes und als Auferstandenen zu glauben. Denn wir befragen ihn auf seine existenzielle Dimension und schöpfen dankbar aus dem Wissen anderer Glaubens- und Verstehenshorizonte.

Wir reflektieren den christlich-biblischen Hintergrund, öffnen ihn jedoch auf menschliche, existenzielle Themen hin. Ganz in dem Sinn, den Gian Domenico Borasio der spirituellen Begleitung im palliativen Kontext gibt: »Eine zentrale Rolle spielt die biographische Arbeit, die Unterstützung in dem Versuch, Sinn im vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Leben (sei der bevorstehende Abschnitt noch so kurz) zu finden. Dazu können außerdem gehören: die Aufarbeitung ungelöster Konflikte, die Erinnerung an vieles Gute, was vergessen war, und eventuell – aber keinesfalls zwingend – auch die Erfahrung des ›Getragenwerdens‹ in einem die eigene Person übersteigenden (transzendenten) Sinn­zu­sammenhang.«22

Wer eine Beziehung zu Jesus Christus als dem Auferstandenen hat, wird ihm auf dem inneren Weg durch die sieben Worte näherkommen. Wir glauben jedoch, dass der Respekt vor dem menschlichen Weg Jesu als Voraussetzung genügt, um neue Dimensionen des Lebens und Sterbens zu entdecken, die für das eigene Leben, vor allem jedoch für die Begleitung Sterbender wesentlich sein können.

In der Sterbebegleitung im Hospiz lassen sich alle zentralen Themen und Lebensfragen, die uns begegnen, im Umfeld eines dieser sieben Worte Jesu ansiedeln. Sie benennen, was am Lebensende Gewicht hat. Sie benennen auch Themen, die sich uns ein Leben lang stellen.

Die sieben Worte sind Zeugnis dafür, dass Jesus seinen Weg als Mensch bis zu Ende gegangen ist. In ihrer Abfolge schließt sich ein großer Lebenskreis, ein ganzes Lebensprogramm kommt zur Vollendung. Deshalb sehen wir die Anordnung nicht linear, sondern wählen eine zyklische Anordnung. Wir entdecken darin interessante Verbindungen, die uns noch tiefer in die innere Wahrheit des Sterbeprozesses Jesu führen. Die Querverbindungen unter den Worten erschließen uns kostbare Einsichten für die Begleitung und für unsere Selbsterkenntnis.

In dieser zyklischen Darstellung der sieben Worte sind folgende Querverbindungen interessant: