Versöhnung - Angelika Rohwetter - E-Book

Versöhnung E-Book

Angelika Rohwetter

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Beschreibung

Vergeben, verzeihen, versöhnen ist leichter gesagt als getan, wenn alte Verletzungen durch Eltern, Geschwister, Freunde an uns nagen. Die Autorin zeigt, warum es so schwer ist, den Weg der Versöhnung zu gehen und was wir gewinnen, wenn wir es trotzdem tun. Seelische Verletzungen sind ein Hauptthema in fast jeder Psychotherapie. Wir kommen nicht darüber hinweg, was uns angetan wurde – von den Eltern, vom Partner, von Freunden oder anderen. Oft spüren wir den Schmerz noch nach Jahrzehnten, und doch ist Versöhnung der einzige Weg, um endlich frei zu werden für das eigene Leben.   Gesicherte Erkenntnisse, sei es aus der Bindungstheorie oder Entwicklungspsychologie, helfen dabei, die psychischen Verarbeitungsprozesse, und damit uns selbst, besser zu verstehen und dann einen Richtungswechsel einzuleiten: vom Opfer zum Handelnden. Insbesondere kann die Arbeit mit Persönlichkeitsteilen eine Lösung aus alten Verstrickungen unterstützen.   Das Buch zeigt, wie das gelingt und warum Versöhnung auch immer die Versöhnung mit eigenen dunklen Anteilen einschließt. Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Beratende PsychologInnen - Betroffene und Interessierte

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Seitenzahl: 257

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Angelika Rohwetter

Versöhnung

Warum es keinen inneren Frieden ohne Versöhnung gibt

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Jack Kaminski/usplash

Gesetzt aus der Documenta von Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96149-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10995-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20365-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Vergeben, Verzeihen, Versöhnen – Gedanken über Worte

Kapitel 2Die größtmögliche Verletzung: das Trauma

Kapitel 3Scham, Beschämung und Geschwister

Der Zeuge – oder: Warum Kain Abel wirklich erschlug

Kapitel 4Keine Versöhnung – nirgends

Ich verzeihe keinem – Geschichten der Unversöhnlichkeit

Mars

Brief an den Vater

Ein Kind

Kapitel 5Zwischenzeiten: Fixierungen, Grollen, 0pfer- und Tätersein

Der Mythos vom unschuldigen Kind

Folgen der Verletzungen

Von der Identifikation mit dem Aggressor zum Täterintrojekt

Erlernte Hilflosigkeit

Für immer ein Opfer?

Kapitel 6Vom Aufwachsen und Verletztwerden

Margaret Mahler: Wir – oder ich und du?

Die autistische Phase

Die symbiotische Phase

Die erste Subphase: Differenzierung und die Entwicklung des Körperschemas

Die zweite Subphase: Das Üben

Die dritte Subphase: Wiederannäherung

Die vierte Subphase: Konsolidierung der Individualität und die Anfänge der emotionalen Objektkonstanz

Möglichkeiten von Verletzungen und Kränkungen

Erik H. Erikson: Urvertrauen, autonomer Wille und Initiative

1. Ur-Vertrauen gegen Ur-Misstrauen

2. Autonomie gegen Scham und Zweifel

3. Initiative gegen Schuldgefühl

4. Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl

5. Identität gegen Ich-Identitätsdiffusion

Schwierigkeiten und Störungen bei der Bewältigung von Entwicklungskrisen

John Bowlby: sicher, unsicher oder desorientiert?

Eltern als Basis

Bindungsmuster

Wie Bindungsunsicherheiten entstehen können

Bindung und Lernen

Bindungstheorie und Psychotherapie

Kapitel 7Vom Erwachsenwerden und der Befreiung vom Opfersein

Erwachsenwerden

6. Intimität und Solidarität gegen Isolation Oder: Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit

7. Generativität gegen Stagnierung

8. Integrität gegen Verzweiflung und Ekel

Kapitel 8Elemente der Versöhnung

Die eigene Beteiligung ansehen

Fragen stellen – und zwar sich selbst

Umdeutungen

Verzicht auf Wiedergutmachung, Rache und Vergeltung

Die Ähnlichkeit mit dem anderen sehen

Den Schatten kennenlernen

Vom Ende des Opferseins

Ein paar Worte über das Loslassen

Kapitel 9Wege der Versöhnung

Die Entdeckung der inneren Anteile

Der Leidende

Der Beschützer des Leids

Das verletzte Ich

Der innere Helfer oder das gute Objekt

Das starke Kind

Die Täter-Anteile

Der Beobachter

Die Arbeit mit den inneren Anteilen

Kontakt mit den einzelnen Anteilen aufnehmen

Kontakte der Anteile untereinander

Die Ressourcen der Ego-States: verborgene Schätze

Gewaltfreie Kommunikation und Versöhnung

Versöhnung durch Beobachtung der eigenen Gefühle

Kapitel 10Versöhnung in besonderen Fällen

Zu schrecklich, um sich zu versöhnen

Wenn ich Täter war

Versöhnung mit den Eltern

Versöhnung zwischen Kindern und Eltern

Versöhnung nach Verletzungen durch Beschämung

Kleiner Versöhnungstest in Gruppen

Kapitel 11Versöhnung über den Tod hinaus

Zwei Briefe an eine Schwiegermutter

Kapitel 12Versöhnung geht über das Private hinaus

Meinen Hass bekommt ihr nicht

Brüssel, 20. März 2016

Kapitel 13Schlussgedanken: Versöhnung – und kein Ende

Zusammenfassung

Literatur

Vorwort

Ich wollte ein Buch über die Versöhnung mit den Eltern schreiben. Davon gibt es schon einige, auch sehr gescheite. Ein Gedanke brachte mich weiter: Versöhnung ist ein großes Thema, es bedeutet, sich von den kleinen und großen Konflikten, den sich permanent wiederholenden Klagen über die Eltern zu verabschieden. Versöhnung ist grundsätzlich eine Haltung allen Menschen und dem Leben gegenüber. Das wurde mir deutlich, als ich mir die etymologischen Bedeutungen verschiedener Begriffe angesehen habe, die in diesem Zusammenhang immer wieder gebraucht werden: verzeihen, vergeben, versöhnen und entschuldigen.

Versöhnung, das Versöhntsein, ist in erster Linie ein Gefühl. Aus diesem Grund gibt es viele Geschichten in diesem Buch, die es nicht nur als Fachbuch auszeichnen, sondern auch als Lesebuch. Wie kann man ein Gefühl besser darstellen für Menschen, die es (noch) nicht haben, als wenn man ihnen eine Geschichte erzählt? In der Psychotherapie hat sich das Erzählen von Geschichten als außerordentlich hilfreich erwiesen. Eine schier unerschöpfliche Quelle solcher Geschichten sind die Bücher des argentinischen Psychiaters und Gestalttherapeuten Jorge Bucay.

Natürlich vergesse ich dabei nicht, dass die Hauptsache in der Psychotherapie darin besteht, Geschichten zu hören – und sie umzuschreiben oder weiterzuerzählen. Über einen gewissen Zeitraum sind Patientin und Therapeutin Autoren von und Akteure in der gleichen Geschichte. Ich erzähle also in diesem Buch Geschichten, um deutlich zu machen, wie sich Versöhnung anfühlt. Manche ist wohl dabei, die geradezu eine Sehnsucht nach Versöhnung hervorrufen kann.

In der Psychotherapie ist das Thema der Versöhnung noch zu selten im Mittelpunkt. Das ist verständlich, da es in erster Linie um die Verletzungen geht, die die Patienten erlitten haben und die Therapeuten auf der Seite der Opfer stehen (müssen). Auch ist es schwierig, bei Patienten, die sich als Opfer fühlen, von Versöhnung zu sprechen, da der Therapeut dann als Aggressor erlebt werden kann und sich selbst so empfindet. Es ist leichter, sich mit dem verletzten Kind zu verbinden. Diese Identifikation kann auch aufgrund eigener, nicht genügend aufgearbeiteter Geschichte des Therapeuten geschehen. So ergab eine Umfrage im Rahmen einer Doktorarbeit, dass ungefähr 90 Prozent aller Psychotherapeuten in ihrer Kindheit keine sichere Bindung erfahren haben. Wir haben es also oft mit verletzten Helfern zu tun, die ihre eigene Versöhnung noch nicht abgeschlossen haben (vgl. Schröder, Annette und Reis, Dorota). Dieser persönliche Hintergrund kann besonders junge Therapeuten unbewusst dazu bewegen, als bessere Eltern für ihre Patienten zu agieren und Partei gegen die Eltern zu ergreifen, statt an Verständnis und Versöhnung zu arbeiten.

Anmerkung: Persönlich eine schwierige, leidvolle Kindheit erlebt zu haben, ist eher ein Vorteil für einen Therapeuten. Wichtig ist der Grad der Verarbeitung und der Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Und auch das ist ein Prozess, der nicht mit der Ausbildung zum Psychotherapeuten abgeschlossen ist.

Ein anderes Hindernis für die Arbeit an der Versöhnung ist der Mangel an Theorie. Mit wenigen Ausnahmen ist jede psychologische oder psychoanalytische Theorie eine, die mehr oder weniger schematisch Entwicklungsschritte und deren Störungen beschreibt – und außerdem zu früh endet. Ausnahmen bilden hier die Entwicklungspsychologie Eriksons und Teile der jungianischen Theorie, vielleicht auch die Individualpsychologie Alfred Adlers (1870 – 1937). Adler geht davon aus, das Wesentliche am Menschen sei, dass er Entscheidungen treffen könne. Manche Entscheidungen sind unbewusst, aber bewusstseinsfähig. Sein Schüler Rudolf Dreikurs formulierte diesen Aphorismus: »Wenn du wissen willst, was du willst, musst du schauen, was du tust.« Dreikurs drückt damit aus, dass jedes Handeln (und Fühlen) zielgerichtet ist, so eben auch das Sich-Versöhnen oder Nicht-Versöhnen.

Ich habe als theoretische Grundlage dieses Buches die unterschiedlichen Ansätze miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei habe ich mich weitgehend an die Klassiker wie Mahler, Erikson und Bowlby gehalten. Die Ego-State-Therapie, die der neueste Ansatz in dieser Reihe ist, nimmt nicht für sich in Anspruch, eine Theorie zu sein. Sie entwickelte sich aus der Traumatherapie, zu der es auch keine geschlossene Theorie gibt. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich fühle mich immer noch sehr verbunden mit den Theoretikern der ersten und zweiten Generation. Viele ihrer Theorien stecken ungenannt in den neueren Ansätzen, manchmal modifiziert und unserer Zeit angepasst. (Aber wie heißt es so schön? Man muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden.)

Auch wenn dieses Buch ein Fachbuch ist, habe ich mich bemüht, die Theorien so darzustellen, dass sie auch für Laien verständlich sind. Dabei habe ich manche Zusammenhänge vereinfacht dargestellt. Sollten mir hierbei Fehler unterlaufen sein, bitte ich dafür um Entschuldigung. Auch für einen entsprechenden Hinweis bin ich dankbar. Ebenso wichtig war mir, dass, obwohl kein Ratgeber im eigentlichen Sinn, dieses Buch auch Hilfe anbieten kann für Menschen, die aus eigener Kraft an sich arbeiten – und sich versöhnen – wollen. Außerdem gilt es anzumerken, dass dieses Buch nur in eingeschränkter Form für Menschen mit massiven Traumatisierungen gedacht ist, besonders, wenn diese in der Kindheit geschehen sind. Bei singulären Traumatisierungen (wie Unfälle, einzelne Übergriffe) kann es den Betroffenen sehr helfen, das Geschehene hinter sich zu lassen.

Für die Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches möchte ich mich bei einigen Menschen bedanken: Mein Dank gilt allen Patienten, die mir ihre Geschichte zur Verfügung gestellt haben, meinen Freundinnen M., K. und E. (die nicht namentlich genannt werden möchten) für ihre Geschichten und Hinweise. Er gilt auch meinen Söhnen für Geschichten und technische Arbeit an dem Text und meinem Mann, der mit Geduld meine manchmal komplizierten Sätze korrigiert und einen guten Blick für Fehler jeder Art hat. Außerdem bedanke ich mich besonders bei meiner Lektorin Frau Dr. Treml-Begemann – dies ist nun unser drittes Buch! Von ihr ist außerdem die Idee, den Gedanken Versöhnung mit den Eltern weiter zu fassen.

Kurze Versöhnungsgeschichte 1

Der Gesang der Vögel

Es war vor zehn Jahren, als ich diese Melodie zum ersten Mal hörte. Ich war nach dem vorangegangenen Cellokonzert emotional schon sehr aufgeweicht. Das Cello ist ein Instrument, mit dem meine Seele direkt zu kommunizieren scheint. Aber auch das übrige Publikum war begeistert, so sehr, dass der norwegische Cellist Truls Mørk eine kurze Zugabe gab. Dabei handelte es sich um eine ruhige Melodie, die etwas ungemein Anrührendes und Traurig-Schwebendes hatte. Nach dem Konzert erfuhr ich, dass es sich um El cant dels ocells, ein Weihnachtslied, gehandelt hatte. Ich fand heraus, wie der berühmte katalanische Cellist Pau (Pablo) Casals mit diesem Lied verbunden war. Im Freiheitskampf der katalanischen Bevölkerung Spaniens wurde es zur Hymne.

Damals hatte ich gerade seit wenigen Monaten Gesangsunterricht und wollte dieses Lied gern singen. Ich erzählte verschiedenen Menschen von meiner Neuentdeckung, und anlässlich eines Abendessens schenkte mir eine Bekannte, selbst Musikerin, ein Blatt mit Text und Noten dieses Liedes mit den Worten: »Das ist ein schönes Lied, aber du kannst es nicht singen, es ist zu schwierig für dich.«

Also legte ich das Blatt enttäuscht und ein wenig verletzt beiseite – und vergaß es. Nach einigen Jahren holte ich es wieder hervor. Es war wirklich schwierig. Die Notierung, die mir Sabine geschenkt hatte, war viel zu hoch für meine Altstimme – und die unbekannten Sprachsilben den Noten zuzuordnen, gelang mir auch nicht.

Meine Gesangslehrerin transponierte das Lied für mich, und ich entdeckte im Internet die Interpretation von Lluís Llach, einem katalanischen Schriftsteller und Sänger, zum Dahinschmelzen. Wieder und wieder hörte (und höre) ich mir dieses Lied an. Langsam entschlüsselten sich mir Musik und Text. Endlich gelang es mir, die erste Strophe ganz zu singen. Dann erzählte ich meiner Gesangslehrerin die Vorgeschichte zu diesem Lied – und sie lachte und meinte, ich solle dieses Lied doch mal unter Sabines Fenster singen.

Ich lachte auch, fühlte mich voller Freude – und spürte keinerlei Groll gegen Sabine mehr. Ich habe El cant dels ocells gesungen.

Kapitel 1

Vergeben, Verzeihen, Versöhnen – Gedanken über Worte

Psychische und manchmal auch physische Verletzungen sind das Hauptthema jeder analytischen oder tiefenpsychologischen Therapie. Es geht um Verletzungen, die durch die Eltern zugefügt wurden, auch durch andere Erwachsene, manchmal die Großeltern, Lehrer, gar nicht so selten auch durch die Geschwister. Bei sexuellen Verletzungen spielen oft neue Partner der Mutter eine Rolle. Wenn Patienten davon erzählen, zeigen sie häufig tiefe emotionale Erschütterungen und weinen. Dabei ist es fast völlig unabhängig, wie alt die Menschen heute sind. Es gibt bittere Erinnerungen an Geschehnisse, die schon fünfzig Jahre vergangen sein können. Dies ist keine Übertreibung, ich arbeite oft mit älteren Menschen. Beim Erzählen ist es so, als habe sich alles gerade erst ereignet.

Wenn ich dann behutsam auf den zeitlichen Abstand zum Erzählten hinweise, bekomme ich genau das als Antwort: »Ich denke ja nicht jeden Tag daran, aber wenn ich daran denke, tut es noch weh. Und erst recht, wenn ich es erzähle.« Auf meine Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, sich mit dem Vergangenen und den beteiligten Personen zu versöhnen, bekomme ich den oft heftigen Bescheid: »Das kann ich niemals verzeihen.«

Je nach Stand des therapeutischen Prozesses und der Tragfähigkeit der Beziehung zwischen mir und der Patientin beende ich hier (die Aussage vorläufig akzeptierend) das Gespräch oder frage weiter, was die Person unter verzeihen versteht. Die Angst vieler Menschen, wenn es darum geht, zu verzeihen oder sich zu versöhnen, ist folgende: Sie befürchten, sie müssten die Täter freisprechen, so tun, als sei nichts geschehen, oder einräumen, das Geschehene sei nicht so schlimm gewesen. Viele Menschen, die als Kinder Opfer von Gewalt wurden, kennen Sätze wie »stell dich nicht so an« oder »du bist selbst schuld«.

Genau aus diesen Gründen ist es wichtig, das Thema Versöhnung nicht zu früh in der Therapie in den Fokus zu nehmen. Zuerst gilt es immer, die kindlichen Schmerzen und Leiden bedingungslos zu akzeptieren. Es war wirklich schrecklich, was sie erlebt haben, sie fühlten sich einsam, wertlos, ungeliebt, ungewollt. Zuerst müssen diese Menschen ein verständnisvolles Mitgefühl (nicht Mitleid) für sich selbst entwickeln und lernen, geduldig an ihrem Heilungsprozess zu arbeiten.

Später kommen die Patienten meist von selbst auf das Thema der Versöhnung zurück, wenn sie feststellen, dass der Umgang mit den noch lebenden Eltern leichter geworden ist oder die Gedanken an bereits verstorbene Eltern nicht mehr so bitter und schmerzhaft sind. Was ist geschehen? »Ich muss ihnen das alles nicht mehr vorwerfen«, sagen manche Patientinnen dann, »es ist vorbei – und irgendwie konnten sie wohl nicht anders handeln.«

Nichts anderes meint das Wort verzeihen. Es bedeutet nicht freisprechen oder ent-schuldigen, es bedeutet: darauf zu verzichten, jemandem etwas vorzuwerfen. Verzeihen und verzichten sind auch etymologisch, also von ihrer Herkunft und Bedeutung her, eng verwandte Begriffe. Ohne die Vorsilbe bedeutet das Wort anklagen – das dazugehörende Verb zeihen ist weitgehend aus der deutschen Sprache verschwunden. Es kommt in umgewandelter Form noch im Ausdruck bezichtigen vor. Das Präfix ver verwandelt Verben, entweder einfach in etwas anderes als das ursprünglich Beabsichtigte, wie bei fahren, verfahren, oder bezeichnet etwas, was über die ursprüngliche Absicht hinausgeht, wie bei arbeiten/verarbeiten. Manchmal verkehren diese drei Buchstaben den Wortsinn auch in ihr Gegenteil. Das ist der Fall bei den Wörtern spielen und verspielen. Diese Verkehrung ins Gegenteil ist auch beim Wort verzeihen der Fall. Man könnte es so übersetzen: Ich klage nicht mehr an, ich verzichte darauf, weiterhin Vorwürfe zu machen, jemanden für seine Taten zu hassen.

Bei diesem Gedanken wird schnell klar, dass es beim Verzeihen nicht um den Täter geht, sondern darum, selbst etwas wegzulassen, was seit Langem die Seele belastet, die körperliche und psychische Gesundheit schwächt. Der Mensch, dem wir verzeihen, wird unter Umständen gar nichts davon erfahren, zum Beispiel, weil es schon lange keinen Kontakt mehr gibt.

Ähnlich verhält es sich mit dem Vergeben. Es bedeutet ungefähr: weggeben, zurückgeben, aber auch verteilen, hergeben, schenken (jemand vergab sein ganzes Hab und Gut). Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, jemand sei uns etwas schuldig – und wir erlassen es ihm, uns das Geschuldete zurückzugeben. Genau so formuliert es das christliche Vaterunser: ». . . wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«.

Nun kommen wir zu dem Wort Versöhnen, dessen Bedeutung ein wenig komplexer ist. Ursprung ist in unterschiedlichen Formen der Begriff der Sühne. Ein Sühneopfer zu bringen hieß also, etwas zu tun, um eine Schuld auszugleichen. Das Sühneopfer erbringen kann nur die Person, die dem anderen etwas angetan hat. Die gekränkte Person kann das Sühneopfer erlassen, das entspräche etwa dem Vergeben. Was nun unterscheidet diese beiden Begriffe? Im Kurztext über das jüdische Fest Jom Kippur gehe ich später darauf ein. Das Versöhnungsfest setzt aller Sühne ein Ende – keine Vergeltung, auch keine Wiedergutmachung sind mehr erforderlich.

In unserem Alltagsverständnis und unseren Erfahrungen in der Psychodynamik dieses Verarbeitungsprozesses (der Versöhnung) erwerben wir einen Eindruck für die Unterschiedlichkeit dieser Begriffe, und sei es nur, indem wir uns Zeit nehmen, unserem Gefühl für das jeweilige Wort Aufmerksamkeit zu geben. Wenn wir vergeben oder verziehen haben, haben wir das Geschehene natürlich nicht vergessen. Das meiste werden wir vielleicht nie vergessen. Doch geht Versöhnung einen Schritt weiter: Es ermöglicht einen Kontakt zu Menschen, die uns etwas angetan haben – oder auch Orten, an denen uns ein Unglück geschehen ist. Und dieser Kontakt ist nicht (mehr) vom geschehenen Unglück bestimmt. Zwei Menschen können sich wieder auf gleicher Ebene begegnen, nicht mehr als Täter und Opfer, nicht mehr als Schuldner und Gläubiger. Dabei ist es wichtig zu wissen: Sich zu versöhnen bedeutet nicht, die beklagte Handlung gutzuheißen oder auch nur zu akzeptieren. Es bedeutet, sich von ihr aktiv zu distanzieren. Der beliebte Begriff des Loslassens ist hier wenig hilfreich, es scheint mir zu wenig freier Wille darin zu stecken. Wir lassen auch aus Versehen (oder Ärger) manchmal etwas los.

Versöhnung geschieht in Liebesbeziehungen, Freundschaften, in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern häufig und ebenso häufig ganz von selbst und ohne dass über die Sache noch einmal gesprochen wurde.

Manchmal, häufig bei Paaren, trägt sich Folgendes zu: Es gibt einen Streit um kleine Dinge, der plötzlich eine besondere Dynamik entwickelt. Bald ist nicht mehr klar, worum es eigentlich geht. Plötzlich sagt einer von beiden: »Damals hast du auch . . .«, und es folgt ein Hinweis auf ein vor langer Zeit begangenes Unrecht, das nie wieder eine Rolle gespielt hat – bis jetzt. Da hat offensichtlich noch keine vollständige Versöhnung stattgefunden. Versöhnung verzichtet nämlich auf jeden Hinweis, dass einmal etwas geschehen ist, was eine Wiedergutmachung erfordert hätte, erhebt also keine weiteren Ansprüche mehr. Versöhnung schließt das Recht aus, dem anderen noch Vorwürfe zu machen.

Leichter als in bestehenden Beziehungen gelingt dies oft bei getrennten Paaren oder Freunden. Es ist vorbei, das Leben ist weitergegangen, die alte Verletzung tut nicht mehr weh. Sollte man sich zufällig treffen, kann man sich grüßen, ein wenig plaudern, vielleicht sogar einen Kaffee zusammen trinken. Manche Paare werden Freunde. Es gibt keine Anklage mehr, keinen Vorwurf und keinen Anspruch. Es ist akzeptiert, dass man als Paar nicht zusammen leben konnte. Gleichzeitig kann man sich zu einem Geburtstag bei Freunden oder dem gemeinsamen Kind treffen, vielleicht sogar daran interessiert sein, wie der ehemalige Partner nun sein Leben gestaltet. Im besten Fall empfindet man sogar Mitgefühl, wenn in seinem Leben etwas schiefläuft. Vor der Versöhnung wäre hier noch ein Gefühl der Genugtuung entstanden.

Dass diese Versöhnung nicht so einfach vollständig gelingt, zeigt, dass sie ein Prozess ist, der viele Stadien durchläuft, in dem es scheinbare Wiederholungen und Rückfälle geben kann. Wir können willentlich entscheiden, zu vergeben und zu verzeihen, für das Versöhnen gilt: Die Entscheidung ist der Anfang eines längeren bis langen Weges.

Das bisher Gesagte nimmt die Position des Opfers ein, also dessen, der etwas zu verzeihen hat. Natürlich gibt es auch die Position desjenigen, dem etwas zu verzeihen ist. Was auch immer uns in unserem Leben angetan worden ist, es gibt Zeiten und Situationen, da sind wir nicht Opfer, da bestimmen wir unser Leben selbst oder sind diejenigen, die anderen etwas zufügen. Manchmal ist es sogar so: Je mehr uns angetan worden ist, umso bereiter sind wir, in die Position des Täters oder Aggressors zu gehen. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang, der der Angstabwehr dient, Identifikation mit dem Aggressor. Ich werde in dem Kapitel über den Mythos vom unschuldigen Kind auf diesen Aspekt zurückkommen.

Zur Versöhnung gehört also auch die Versöhnung mit unseren eigenen dunklen Seiten, unseren Fehlern und auch dem, was wir anderen angetan haben, vielleicht sogar schon als Kinder.

Hier gilt es auch, ein paar Bemerkungen über den Begriff der Entschuldigung zu machen. Dieses Wort hat im Laufe seiner Geschichte seine Bedeutung sehr verändert. Ursprünglich bedeutet dieses Wort, jemand um Verzeihung zu bitten. Ich bitte darum, dass der andere mir die Schuld erlässt, mich also ent-schuldigt. Damit liegt die Entscheidung bei demjenigen, der verletzt worden ist. Er kann also sagen »Ich entschuldige dich« oder auch »Das kann ich jetzt (noch) nicht«, im schlimmsten Fall auch einfach »Nein«. Im heutigen Sprachgebrauch sagen wir: »Ich ent-schuldige mich.« Nun könnten wir denken, dass dieser Unterschied unbedeutend sei. Keineswegs, denn wer kennt nicht das Gefühl, neben der Kränkung auch noch vermittelt zu bekommen: Stell dich nicht so an. Nun muss es endlich gut sein. So wird dem Opfer das Recht abgesprochen, seine Verletzung je wieder zu erwähnen. Vermittelt durch den mit harter Stimme ausgesprochenen Satz »Ich habe mich doch entschuldigt«, wird der andere ins Unrecht gesetzt. So macht sich der Täter zum Opfer, ist verletzt und wütend, wenn ein Wort der Entschuldigung nicht ausreicht. Hier wird deutlich, welch weiter Weg zu gehen ist von einer Entschuldigung zur Versöhnung. Man kann also um eine Entschuldigung bitten, wenn man es ernst meint: »Ich bitte um Entschuldigung.« Das entspricht wieder dem ursprünglichen Sinn des Wortes und macht dem anderen die Versöhnung leichter, weil er sich nun nicht bedrängt fühlen muss.

Kapitel 2

Die größtmögliche Verletzung: das Trauma

Der Begriff des Traumas wird heute häufig verwendet, vielleicht zu häufig. Nicht alles ist ein Trauma, was schmerzt, kränkt oder ängstigt. Viele Patientinnen rufen an mit dem Wunsch nach einer Traumatherapie. Ich frage dann, wann diese Traumatisierung geschehen ist, da ich für akute Traumatisierungen wie schwere Unfälle, Überfälle, eine körperliche Gewalttat Therapieplätze zeitnah zur Verfügung stelle. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Folgen einer gerade geschehenen traumatisierenden Begebenheit mit Mitteln der Traumatherapie relativ schnell und leicht zu beheben sind. Dies gilt vor allem, wenn kein Familienmitglied oder eine andere vertraute Person an dem auslösenden Geschehen beteiligt war. Hier spricht man dann auch von einer Reaktion auf eine schwere Belastung beziehungsweise von einer akuten Belastungsreaktion. Diese tritt auf bei Menschen, die psychisch eigentlich stabil und nicht behandlungsbedürftig sind.

Völlig etwas anderes ist es, wenn die traumatisierende Erfahrung Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt. Dann haben sich (vielleicht Traumafolgen, vielleicht aus ganz anderen Gründen) Abwehrstrategien und psychische Leiden entwickelt, die mit einer reinen Traumatherapie nicht zu heilen sind. Es kommt mir dann so vor, als solle ich die umgefallene Kerze, die einen Brand entzündet hat, aus dem brennenden Haus holen. Bei lang zurückliegenden traumatischen Erfahrungen ist meiner Meinung nach eine normale Langzeittherapie, vielleicht mit traumatherapeutischen Elementen, notwendig. Noch deutlicher wird dies bei multiplen und/oder lang andauernden Traumatisierungen, wie sie Kindern geschehen, die in einem gewalttätigen Milieu aufwachsen. Die Folgen einer echten Traumatisierung sind vielfältig und nicht immer gleich als solche zu erkennen. Luise Reddemann schreibt in der Einleitung zu ihrem Buch Imagination als heilsame Kraft: »Heute wissen wir, dass hinter sehr vielen seelischen und psychosomatischen Erkrankungen, insbesondere den Persönlichkeitsstörungen vom Borderlinetyp, aber auch Suchterkrankungen, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und den Somatisierungs- und Angststörungen, traumatische Erfahrungen als Ursache oder Mitursache zu finden sind.« (Reddemann 2002, S. 9)

Immer mehr Traumatisierungen tauchen heute in unserer Welt auf wie die Opfer von Missbrauch durch Priester, Misshandlungen in Kinderheimen und Folteropfer unter den Flüchtlingen.

Der Weg aller traumatisierten Menschen zur Heilung ist lang. Nicht immer gelingt diese vollständig, und entsprechend ist für diese Menschen eine Versöhnung sehr schwer. Am besten gelingen kann die kleine Versöhnung mit Menschen, Zeiten, Situationen und Orten, die am traumatisierenden Geschehen nicht direkt beteiligt sind.

Ist die Bewältigung der Traumafolgen weit fortgeschritten, können in der Therapie wie im Leben neue Aspekte auftauchen. Einer davon ist die Dankbarkeit. Man kann dankbar sein, noch zu leben und das Schlimme hinter sich zu haben. Man ist handlungsfähig und kann sein Leben neu und vor allem selbst gestalten, vielleicht zuerst nur in ganz kleinen Schritten. Es kann eine Einsicht entstehen, dass jedes noch so schmerzliche Leiden, wenn man es überwunden hat, zum persönlichen Wachstum beitragen kann.

Zum Thema Versöhnung schreibt Reddemann: »Menschen zu danken oder sich mit ihnen zu versöhnen, die einem nach üblichen Maßstäben geschadet haben, ist für viele nicht vorstellbar und auch nicht möglich, ja, in manchen Fällen wäre dies eine erneute Verletzung. [. . .] Wenn es sich dennoch ergibt, ist es ein Geschenk, das einen Menschen reich machen kann. Darauf ausdrücklich hinzuarbeiten, wenn die Patientin nicht will, halte ich für Gewaltanwendung.« (Reddemann, S. 167)

Ich stimme Frau Reddemann zu: Man kann niemanden dazu zwingen, sich zu versöhnen. Wir erinnern uns an die nur äußerlich wirksame Aufforderung der Eltern, die da lautete: Vertragt euch wieder. Versöhnung ist ein gänzlich freiwilliger, aktiver und autonomer Akt, der nicht dem Täter zuliebe geschieht, sondern zur Erleichterung und zur Erfahrung von Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit des Opfers beiträgt. Diese Möglichkeit sollte allen Menschen offenstehen. Vielleicht führt der Weg dahin über die oben beschriebenen kleinen Versöhnungen.

Kapitel 3

Scham, Beschämung und Geschwister

Hier spreche ich von zwei Aspekten, die in den Entwicklungstheorien keine oder eine zu kleine Rolle spielen: die Konkurrenz oder gar Feindschaft zwischen Geschwistern – und das Gefühl von Beschämung und Scham. Über die Scham sagt schon Erikson, dass sie in der Psychologie eine zu geringe Rolle spiele (Erikson, S. 79 f.).

Geschwisterprobleme sind ein in der psychologischen Literatur seit den 70er-Jahren angesagtes Thema, wozu dankenswerterweise die systemische Familienforschung und -therapie beigetragen hat. Dabei geht es im Wesentlichen um die Position in der Geschwisterreihe als auch darum, welche Rolle ein Kind im Familiensystem ausfüllt. Ein bekanntes Beispiel ist die Rolle des »Sozialarbeiters«, die ein Kind in einer Familie mit einem Suchtproblem einnimmt. Es sorgt dafür, dass die Umwelt der Familie keinen Einblick in deren Realität erhält, versorgt die Geschwister und kümmert sich darum, dass das System Familie weiter funktioniert. Diagnostisch sprechen wir hier von einer Co-Abhängigkeit. Viele psychische Schäden entstehen bei solchen Kindern, die ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse, Nähe- und Versorgungswünsche abwehren müssen.

Ein wenig bis gar nicht untersuchter Aspekt: Manchmal nehmen Kinder in der unbewussten Phantasie eines Elternteils die Rolle eines Mitgliedes von dessen Herkunftsfamilie ein. So kann es einer Mutter schwerfallen, ihre Tochter zu mögen, weil diese der eigenen, von den Eltern bevorzugten Schwester ähnlich sieht. Die Mutter agiert eine negative Teil-Objekt-Übertragung, weil sie das Kind entsprechend ihrer Gefühle behandelt, die sie ihrer ungeliebten Schwester entgegenbringt. In diesem Fall entsteht in dem Kind nicht nur das schmerzliche Gefühl des Ungeliebtseins, sondern auch eine unbewusste Sicherheit, es sei irgendwie falsch. Das Gefühl entspringt einer deutlichen Wahrnehmung (die Tochter ist ja tatsächlich nicht die Schwester der Mutter), wird aber von dem Kind gedeutet als mit mir stimmt etwas nicht. Auch hier entsteht das nicht für das Kind erklärbare Gefühl der Scham, von dem weiter unten die Rede sein wird.

Mir geht es hier um besonders problematische und pathologisierende Situationen unter Geschwistern, unabhängig von den üblichen Auseinandersetzungen und Konkurrenzen. Letztere können nämlich dann traumatisch werden, wenn sie von den Eltern initiiert oder verstärkt werden. Natürlich sind alle Kinder voneinander verschieden, sie sehen nicht nur verschieden aus, sie sind auch charakterlich unterschiedlich, das gilt sogar bei eineiigen Zwillingen. Zu diesen Differenzen gehören auch unterschiedliche Interessen und Fähigkeiten. Man kann Kinder miteinander vergleichen: Du singst gern, deine Schwester malt gern. Schwierig werden diese Vergleiche, wenn Bewertungen einfließen: Deine Schwester kann besser malen als du. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob das angesprochene Kind gern singt, die Kränkung ist geschehen. Wir wissen außerdem, dass Vergleiche nur in seltenen Fällen den Ehrgeiz des Kindes wecken. Und niemals hat ein Kind seine Leistungen in der Schule verbessert, wenn man ihm von dem älteren Bruder erzählt, er habe immer nur gute Noten mit nach Hause gebracht. (Und das sind nur die harmloseren Formen der bewertenden Vergleiche.)

Was geschieht nun in einem Kind, mit dem in solcher Weise umgegangen wird? Es schämt sich! Nun ist Scham wahrscheinlich das unerträglichste Gefühl überhaupt. Es bedeutet nichts anderes als falsch und deshalb in der Gefahr zu sein, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Der Wunsch nach Dazugehörigkeit ist besonders stark, weil das Dazugehören existentiell ist. Wenn ich ausgeschlossen werde, bin ich verloren, ohne die Gruppe (am Anfang heißt das konkret: ohne meine Eltern) kann ich nicht leben. Ein so beschämtes Kind wird in der Schule eher schlechter als besser (siehe Exkurs: Bindung und Lernen), da es von Angst blockiert ist. Geschieht die Beschämung durch die Eltern ohne die Gegenwart eines Zeugen, bleibt die Hoffnung: dass es keiner weiß. Das Kind ist in der Lage, ein sogenanntes falsches Selbst zu entwickeln. Es lernt die notwendigen kommunikativen und konventionellen Verhaltensweisen und erwirbt sich damit eine Zugehörigkeit, an die es selbst nicht glaubt. Natürlich hat diese Entwicklung auch ihren Preis. Oft zeigt ein solcher Mensch – für ihn selbst unkontrollierbar – Symptome dieser Scham wie Erröten, feuchte Hände und so weiter. Gleichzeitig muss er sein tiefes Gefühl von mangelndem Selbstwert und seine Identitätsunsicherheit verbergen.

Geschieht die Beschämung vor Zeugen (und das sind im frühen und späteren Kindesalter meist die Geschwister), bleibt dieser Ausweg verschlossen. Es ist öffentlich, dass mit ihm etwas falsch ist. Aus diesem Gefühl gibt es keinen Ausweg. Es hat nichts falsch gemacht, es handelt sich ja nicht um eine berechtigte Kritik (so es diese überhaupt gibt – ich habe darüber in meinem Buch Den Inneren Kritiker zähmen geschrieben). Dem Kind wird mitgeteilt, dass es ganz oder ein Teil von ihm falsch ist. Das Gefühl der Scham ist grundsätzlicher als das Gefühl der Schuld, mit dem es oft verglichen wird. Schuld ist ein Gefühl, das ausgelöst wird durch etwas, was ich getan habe; Scham entsteht durch etwas, was ich bin. Ich habe Handlungsmöglichkeiten, wenn ich mich schuldig gemacht habe, der Akt des Schuldig-Werdens selbst ist ein aktiver. Nun kann ich bereuen, Buße tun, etwas wiedergutmachen, eine Strafe auf mich nehmen, mich um Versöhnung bemühen. Kurz gesagt habe ich viele Möglichkeiten, das Gefühl der Schuld aufzulösen. Alle diese Möglichkeiten bleiben mir bei der Scham versagt. Eigentlich kann man sich nur noch verstecken – oder die Scham in eine Schuld verwandeln. Wie archetypisch diese Gefühle sind und wie tief der Wunsch ist, sich von dem Gefühl der Scham durch eine Schuld zu befreien, zeigt uns die Geschichte von Kain und Abel. Hier geht es genau darum, wie ein beschämter Mensch sich von diesem Gefühl zu befreien versucht, mit einer – eigentlich – gesunden Wut, die das Beschämtwerden in ihm ausgelöst hat. Anschließend wird das Gefühl der Scham von dem der Schuld und der Angst vor der Strafe abgelöst. Dabei bleibt es offen, ob es ausgelöscht oder nur verdrängt oder überlagert ist.

Der Zeuge – oder: Warum Kain Abel wirklich erschlug

Kain war der ältere Sohn, ein Landwirt, sein Bruder Abel war Viehzüchter. Beide brachten eines Tages Gott ein Opfer dar. Kain brachte die Früchte des Feldes und Abel ein Lamm. Und der Herr sah Abels Opfer wohlgefällig an. Kains Opfer würdigte er keines Blickes. Kain versteht diese Ablehnung nicht, sie macht ihn sprachlos, er kann sich nicht verteidigen. Natürlich wird Kain trotzig, Luther nennt es ergrimmt, was in seiner (Luthers) Zeit ein Ausdruck von Wut und Schmerz sein kann. Da beschämt ihn der Herr ein zweites Mal, indem er zu ihm sagt, er sei nicht fromm, deshalb müsse er wohl seinen Blick senken. (Die ganze Geschichte steht in der Bibel im 1. Buch Moses, 4.1 bis 4.16.) Kain wird also auch noch das Recht auf sein Gefühl abgesprochen.