Versprochen ist versprochen - Dieter Kleinhanß - E-Book

Versprochen ist versprochen E-Book

Dieter Kleinhanß

0,0

Beschreibung

Die Geschichte einer großen Liebe. Die Geschichte eines Scheiterns. Liebe, die zerfressen wird. Ewige Liebe, die nicht halten kann. Treue bis zum Tod hatte er ihr geschworen. Aber das Leben geht eigene Wege. Am Ende scheitert Oskar. Er gibt auf. Sich selbst, seine Frau, sein Leben. Ein Leben voller Irrungen und Wirrungen, ein Leben mit einer unerschütterlichen, großen Liebe, aber auch ein erschüttertes Leben, erschüttert durch ein Versprechen zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Oskar und Otti, ein Paar, das sich an der Liebe zueinander aufrichtet - und an eben dieser Liebe scheitert ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 124

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Entscheidung in der Nacht

Notruf

Gewissheit

Anna und das Versprechen

Ottis Leid

Ottis Glück

Oskar und Otti im Glück

Die Entscheidung

Ottis Welt

Die Trennung

Oskar gibt nicht auf

Erneute Trennung

Herbst

Entscheidung in der Nacht

Dunkel. Herbst. Nebel. Blätter schweben zu Boden. Wind weht welkes Laub über das Land. Ein Leichentuch, kein weißes, ein Farbenmeer, rot, gelb, braun und grün, deckt Feld und Flur. Die Natur rüstet sich zum Winterschlaf. Die Menschen im Zug sehnen sich nach Ruhe und Feierabend. Sie dösen, träumen, denken an die wohlig warme Wohnung. Fauchend und stampfend fährt die Lokomotive mit ihren Waggons durch den anbrechenden Abend. Geballte Kraft, unbändige Energie. In einer langgezogenen Kurve taucht unversehens ein Schatten auf. Ein Schatten neben den Gleisen, flüchtig, schemenhaft in den Nebelschwaden, die federleicht, gleich weißen Feen, über dem Schienenstrang schweben. Der Lokomotivführer zuckt zusammen. Instinktiv ahnt er, was kommen könnte. Ein dumpfer Aufschlag, kurz, dennoch vernehmlich wahrnehmbar. Irgendetwas ist gegen die Lokomotive geprallt. Ein Ast? Ein Tier? Ein Stein? Ein Mensch? Notbremsung. Ohne Vorwarnung werden die müde vor sich Hindämmernden aufgeschreckt. Gepäckstücke, Plastiktüten, Aktentaschen wirbeln durcheinander. Herumgeworfene Heimreisende finden sich auf dem Schoß des Gegenübers wieder. Manche müssen sich vom staubigen Boden aufrappeln. Die schon Schlummernden sind mit einem Schlag hellwach. Fenster werden aufgerissen. Rufe und Fragen zerschneiden den Abend. Was ist passiert? Ein Halt auf freier Strecke? Das ist selten, mancher hat es noch nie erlebt. Nebel hüllt die gespenstische Situation gnädig ein. Taschenlampen blitzen im Dunkel auf, Lichtfunken tanzen durch das wabernde Weiß. Das Zugpersonal sucht das Schotterbett ab. Der Zugführer informiert den nächsten Bahnhof. Der Gegenzug möge im Bahnhof gestoppt werden. In zwanzig Minuten rase er vorbei. Bis dahin wüssten sie sicher noch nicht, was wirklich geschehen sei, was zu diesem Not-Halt führte. „Warum habt ihr gestoppt?“ Eine Antwort kann nicht gegeben werden. Noch nicht. Es stehe zu befürchten, dass sich jemand vor den Zug geworfen hätte. Noch tappe man im Dunkeln, stochere im Nebel herum.

Kalt ist es geworden, dennoch läuft der Schweiß den Männern über Rücken und Gesicht. Aufregung, Angst steckt in ihnen. Nicht schon wieder, denken sie. Nicht schon wieder wir. Nicht schon wieder einer, der sich und sein Leben vor den Zug geworfen hat. Blutspuren an der Lokomotive lassen das Schlimmste befürchten. Nach einigen Minuten, nach etwa einhundert Metern Absuchen des Gleisbettes haben sie Gewissheit: Kein Wildschwein, kein Stein. Ein alter Mann. Blutüberströmt und zerfetzt liegt er neben den Gleisen. Das Gleisbett: sein letztes Bett, hart und steinig. Warum nur hat er nicht warten können? Der Tod hätte ihn bald heimgeholt. Ein alter Mann, der sich vor einen Zug wirft. Ein verwirrter Greis? Ein zum Tode Erkrankter, ein Mann ohne jegliche Hoffnung? Sehr verzweifelt muss er gewesen sein. Das ist gewiss. Vielleicht ist seine Frau gestorben und er hat die Einsamkeit nicht mehr ausgehalten. Vielleicht ist er an Schwäche auf den Gleisen zusammengebrochen. Wie aber kam er dorthin? Fragen stehen in den Gesichtern. Man kann sie ablesen an den Mienen der Männer. Alle sind sich sicher, dass dieser Alte keinen Ausweg mehr sah.

Ein Greis wartet in aller Regel, bis der Schnitter Tod die Sense wetzt und die Ernte einfährt. Die Reisenden müssen informiert werden. Der Tote wird den Zug für längere Zeit festhalten. Eine Weiterfahrt ist nicht möglich. Erst muss die Polizei prüfen und untersuchen. Das kann dauern. Auch der Bahnhofsvorstand muss wissen, was geschehen ist. Der herbeigesehnte gemütliche Abend ist verflogen. Zuhause wird man warten, ungeduldig warten. Dort kann man das Ausbleiben des Mannes, der Kinder oder der Mutter nicht erklären. Unruhe in den Familien, bange Blicke zur Uhr. Warum kommt er nicht, der Vater, der Sohn? Was ist mit der Mutter, der Schwester, der Tochter? Warten in Ungewissheit heißt Warten in dauernder Unruhe und Aufregung. Im Zug und in den Häusern. Das gemütliche Daheim ist am heutigen Abend in weite Ferne gerückt. Der alte Herr hat manche Terminpläne durcheinander geschüttelt. Der redlich verdiente Feierabend zu Hause mit den Hausschuhen auf dem Sofa und der Flasche Bier in der Hand verkommt zu einem endlosen Warten im Zug. Statt Strickjacke noch immer Anzug und Krawatte oder Blaumann und Blazer.

Notruf

Das Telefon klingelt. Mitten in der Nacht. Gina schreckt aus dem Schlaf hoch. Spät ist sie zu Bett gegangen. Der Tag war anstrengend. Eine lange Operation hat ihre ganze Energie gebraucht. Auch morgen wird sie bei einer Operation assistieren müssen. Der Beruf im Krankenhaus ist hart. Sie ist zwar noch jung, wird aber schon sehr gefordert. Manchmal gleicht ihr Gehirn einem summenden und brummenden Bienenkorb. Ein Ziel hat sie vor Augen, auf dieses ist sie fixiert. Sie will eine gute Ärztin sein. Irgendwann will sie Chefärztin werden. Spät hatte sie mit dem Studium begonnen. Zuerst die Lehre zur Kauffrau, dann Abendabitur, schließlich das Medizinstudium. Hellwach muss sie sein und eifrig. Gina ist ehrgeizig. Schon immer sagte der Großvater zu ihr: „Du hast einen starken Willen!“ In dieser Woche fand Gina keine Zeit, mit ihrem Großvater zu telefonieren. Immer, wenn sie an ihn dachte, war es spät am Abend, zu spät für einen Anruf. Da darf sie ihn nicht mehr stören. Opa geht früh ins Bett. Am Abend ist er müde. Besucht hat sie ihren Großvater in dieser Woche auch nicht.

Die Arbeit in der Klinik ließ keine Zeit für Besuche zu, seien sie auch noch so kurz. Wenn alles vorbei ist, wird sie zu ihm gehen. Das hat sie ihm versprochen. Jetzt klingelt das Telefon. Das muss er sein. Sie spürt es. Spät nachts ein Anruf von Großvater? Geht es ihm nicht gut? Hat er Probleme? Ein Hilferuf? Erste Vorwürfe geistern in ihrem Kopf herum. Sie hätte - ja, wenn sie nur gekonnt hätte. Eine fremde Stimme meldet sich. Eine Männerstimme. Nach Mitternacht. Wo ist die Trillerpfeife? Wer belästigt sie jetzt? Ein Anruf direkt in der Station? Gina möchte auflegen. Jetzt kein Gespräch! Jetzt nicht! Nicht mitten in der Nacht. Sie schaut auf dem Flur der Krankenstation nach. Keine Lampe brennt. Alles ist ruhig. Sie zögert. Irgendetwas hemmt sie. Der Mann sagt, es sei etwas geschehen. Im Krankenhaus geschieht immer etwas. Was soll das Gespräch? Man bräuchte ihre Hilfe, sagt derjenige. Ärztliche Hilfe wird immer gebraucht. Nichts Außergewöhnliches. Ob sie in das Stadtklinikum kommen könnte? Die Klinik ist nur ein paar Haltestellen von ihrem Krankenhaus entfernt. Morgen früh. Bitte pünktlich. Um acht Uhr. Ihr Herz rast. Was ist passiert? Sie will ihr unsichtbares Gegenüber fragen, aber der Fremde hat schon aufgelegt. Das Telefon gibt keine Antwort auf ihre Frage. Ist es Opa? Er kann es nicht sein. Man hätte ihn sonst in ihre Klinik gebracht. Sie kann sich nichts Konkretes denken. Also doch Opa? Erneut klingelt es, unterbricht Angst und Zweifel. Ob sie Frau Gina Böger sei, die Enkelin von Oskar Paschke? „Ja!“ Gina zittert. Sie ist nervös. Zugunglück ist das Einzige, das sie in ihrer Aufregung versteht. Regionalexpress, Schotterbett hört sie noch, dann setzen die Gedanken aus. Der Telefonhörer fällt aus ihrer Hand. Für Minuten nimmt Gina nichts mehr wahr. Irgendwie ist ihr Alltag, diese Nacht, die ganze Realität ver - rückt. Was ist wirklich? Was ist wahr? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur: Morgen um acht Uhr muss sie in der städtischen Klinik sein. Sie fürchtet, mit ihrem Opa müsse etwas passiert sein. Irgendetwas Schreckliches. Mehr weiß sie nicht. Ein erneuter Anruf bei der Polizei bringt nichts Neues. Auf der Wache wisse man von nichts. Ob man etwas von einem Regionalexpress wisse? Die Antwort ist nichts- und doch vielsagend. Ein Zug sei auf freier Strecke stehen geblieben. Mehr erfährt sie nicht. Gina beginnt erneut am ganzen Körper zu zittern. Doch Opa Oskar?

Sie verwirft die dunklen Gedanken wieder. Dennoch nagen die Vorwürfe, fressen sich im Herzen fest. Wenn sie nur Opa angerufen oder besucht hätte. Hat er auf sie gewartet? Hätte er Hilfe gebraucht? Hätte er sie gebraucht? Die alltäglichen Fragen einer Klinik treten in den Hintergrund. Jetzt beschäftigen sie wirre, krude Gedanken um ihren Großvater. Im Kopf reiht sich ein Fragezeichen an das andere. Das Herz hämmert, der Puls pocht. Aufruhr im Herzen und Denken. An Ruhe ist nicht mehr zu denken. Sie legt sich dennoch auf die Couch im Ärztezimmer. Morgen muss sie frisch sein. Acht Uhr fremde Klinik. Zehn Uhr eigene Klinik. Erneute Operation. Und immer wieder Opa. Die Ungewissheit hat sich in ihr Herz gefressen. Eine Bohrmuschel im Sand des Denkens. Ihre Gedanken in dieser Nacht wandern zurück in Kindheit und Jugend. Die junge Ärztin hat ihrem Opa viel zu verdanken. Viel hat sie mit ihm erlebt. Viel Gutes von ihm erfahren, gute Worte und gute Taten. Ohne Oskar kann sie ihr Leben nicht denken. Erinnerungen tauchen aus der Vergangenheit auf, schöne Erinnerungen, lustige Begebenheiten, auch Ernstes und Schwieriges. Doch böse Ahnungen überlagern alles.

Hat sich am Himmel ihres Lebens ein Unheil zusammengebraut? Ihr Denken kreist um den einen, stets den gleichen Punkt: Oskar, immer wieder Oskar. Eine Antwort wird es erst morgen geben. Sie muss warten. Morgen wird sich der bleierne Nebel lichten. Morgen wird sie klarer sehen. Irgendwann in dieser verhängnisvollen Nacht übermannt sie der Schlaf. Sie schläft unruhig. Hin und her wälzt sie sich im Bett. Schotterbett? Sehr früh wird Gina geweckt. Noch vor Ende der Nacht ein Notfall. Gerädert sind Körper und Geist. Doch Ginas Gedanken kreisen jetzt nicht um Diagnose oder Therapie. Oskar, nur Oskar kann sie denken. Weshalb ist er in einen Zug gestiegen? Wohin wollte er fahren? Ist alles nur die Verkettung unglücklicher Umstände? Eine Verwechslung? Woher kannte die Polizei ihren Namen? Die ersten Sonnenstrahlen lassen die roten und gelben Blätter des Ahornbaumes vor ihrer Klinik leuchten. Sie nimmt die Farben nicht wahr. Alles ist grau in grau. Nebelschleier in den Augen und im Kopf, obwohl die Sonne vom Herbsthimmel scheint. Herbstwind weht Blätter durch die Straßen. Irgendwohin.

Vom Notfall zurückgekommen, schaltet Gina das Radio ein. Musik vertreibe Unruhe. Musik swingt, sagt man. Aber die fröhlich beschwingte Morgenmusik kann Ginas düstere Gedanken nicht aufhellen. Die Morgennachrichten schrecken sie auf. Gestern Abend habe ein Regionalexpress einen Mann überfahren. Es sei zu erheblichen Verspätungen im Zugverkehr gekommen. Die Polizeidirektion schließe eine Selbsttötung nicht aus. Wie ein Messerstich ins Herz ist diese morgendliche Meldung für die junge Ärztin. Hat sich Oskar das Leben genommen? Ist er der in den Nachrichten erwähnte Mann? Er ist oder war so stark, so lebensbejahend, stets froh, stets fröhlich. Seine Frau Otti braucht ihn. Opa, ein Selbstmörder? Gina kann sich das nicht vorstellen. In wenigen Stunden wird alles geklärt sein. Sie wird erfahren, was in dieser Nacht geschehen ist. Alles drängt sie. Sie muss pünktlich in der städtischen Klinik sein. Sie will sich Zeit nehmen, zu sich finden. Darum steigt sie eine Haltestelle früher aus, geht noch ein Stück zu Fuß weiter. Auf diese Weise kann sie ihre Gedanken besser sammeln, besser ordnen. Ruhig sein ist wichtig, wenn sich im Innern alles aufbäumt.

Sich nur nicht durcheinander bringen lassen! Die Klinik wartet. Gina ist aufgewühlt, in Aufruhr. Wie gerne würde sie durch den Park schlendern, aber ihre Gefühle, ihre Unsicherheit und ihre Ungewissheit treiben sie an. Im Strom der Menschen, die zur Arbeit eilen, wird sie mitgerissen. Oskar. Er ist es, der sie antreibt. Sein mögliches Schicksal lässt sie ruhelos Fuß vor Fuß setzen, je schneller, desto näher sie zur Klinik kommt. Sie geht nicht, sie läuft. Sie wird getrieben.

In der Klinik wartet man. Ein Arzt fragt, ob sie Gina Böger sei, die Enkelin von Oskar Paschke. Er fragt, obwohl er sie kennt. Ob sie sich ausweisen könne. Komisch, denkt Gina. Sie wähnt bei der Polizei, nicht aber bei einem ihr bekannten Arzt zu sein. Eine Krankenschwester bringt kurz darauf die junge Ärztin in die pathologische Abteilung. Sie weiß, was ihr bevorsteht. Sie kennt diese Situation. Sie muss einen Toten identifizieren. Vor der Pathologie steht ein Polizist. Sie möge sich noch ein wenig gedulden. Einige Fragen möchte er gerne noch stellen. Merkwürdig. Ein Verhör im Krankenhaus? Es ist doch alles geklärt.

Gina wird zu ihrem Verhältnis zu Oskar Paschke befragt, wann sie ihn das letzte Mal gesehen und gesprochen habe. Wie Oskar zu seiner Frau Otti gestanden habe, überhaupt, was für ein Mensch ihr Großvater gewesen sei. Jetzt sprudelt es aus Gina heraus. Es gibt nichts Negatives zu berichten, nur Positives, nur Gutes und Erfreuliches. Oskar sei ein starker Mann gewesen, mit Prinzipien. Geradlinig sei er seinen Weg gegangen. Auf krumme Linien habe er sich nicht eingelassen. Zuverlässig sei er gewesen. Sie habe großes Vertrauen zu ihm gehabt. Und immer wieder fallen die Worte: liebenswürdig, herzensgut, gutmütig. Oskar, ein Großvater, wie man ihn sich nur wünschen kann. Ihre Aussagen werden notiert. Wofür? Es gibt, so meint sie, keinen erklärbaren Grund. Eine Frage jedoch steht noch immer unbeantwortet im Raum: Warum? Dieser alte Mann. Warum er? Sollte es Großvater gewesen sein, der sich gestern Abend vor den Zug geworfen hat, dann hat nur er selbst die Gründe gekannt. Es sei keine Kurzschlusshandlung gewesen, sondern gut überlegt, fügt Gina noch an. Mehr kann sie nicht sagen. Tote reden bekanntlich nicht mehr. Alles Nachfragen ist Stochern im Nebel.

Gina wird in einen kleinen Raum gebeten. Der Seziertisch ist leer. Von Opa Oskar nichts zu sehen. Eine blutbeschmierte, zerrissene Jacke und eine Mütze werden ihr gezeigt. Opas Lieblingsmütze, ohne die er nie aus dem Haus ging. Kein Zweifel. Die Krankenschwester hat Oskars Kleidungsstücke in der Hand. Die Knie der Ärztin zittern, werden weich. Gina muss sich setzen. Ob die junge Frau noch Kraft habe? Sie hat. Ihr eiserner Wille hält sie aufrecht. In einem Nebenraum liegt auf dem Tisch mit weißem Linnen zugedeckt eine Gestalt. Am großen Zeh hängt ein Schild. Gina kann es nicht lesen. Das Gesicht des Toten wird aufgedeckt. Es ist Oskar, bleich und blutleer. Tote hat Gina schon oft gesehen. Doch hier liegt ein ganz besonderer Mensch: ihr Großvater. Eine Schädelfraktur ist notdürftig mit Schminke übertüncht. Spielt nicht ein Lächeln um Oskars Mund? Erlöst und fast glücklich sieht Opa aus, denkt Gina. Sie nickt der Schwester und dem Polizisten zu. Kein Zweifel: Oskar liegt auf dieser Bahre. Seine Enkelin friert. Eiseskälte dringt in ihren Körper, kriecht das Rückgrat hinauf und wieder hinab. Es ist nicht die Kälte des Kühlraumes. Die innere Leere lässt sie sich schütteln und frieren.