Verteidigung in Jugendstrafsachen - Toralf Nöding - E-Book

Verteidigung in Jugendstrafsachen E-Book

Toralf Nöding

0,0
63,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jugendstrafsachen stellen an den Verteidiger aufgrund der vielen Sonderregelungen im materiellen und prozessualen Bereich sowie der besonderen Umstände der jugendlichen und heranwachsenden Mandanten hohe Anforderungen. Das Standardwerk vermittelt die für die Verteidigung in Jugendstrafsachen erforderlichen Kenntnisse. Es ermöglicht die gezielte Einarbeitung in dieses Rechtsgebiet, dient zugleich aber auch dem erfahrenen Verteidiger als Hilfsmittel zur vertieften Problembearbeitung. Durch die gezielten Hinweise für die Verteidigungspraxis und zahlreiche Muster von Verteidigeranträgen und Verteidigerschreiben, eignet es sich hervorragend für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die sich auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts engagieren. Die 8. Auflage bringt das Praxishandbuch auf den Stand des Juni 2023. Sie enthält vor allem die umfangreichen Änderungen des JGG durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren. Die Darstellungen zur notwendigen Verteidigung in Jugendstrafsachen sowie zu Rolle und Aufgaben der Jugendgerichtshilfe wurden grundlegend neu bearbeitet. Es wurde eine Vielzahl von für den Praktiker nützlichen Tipps für das Verhalten in einzelnen Verfahrensstadien und konkreten Problemkonstellationen neu in das Werk aufgenommen; auch der Abschnitt mit Mustern von Anträgen wurde erheblich erweitert. Darüber hinaus neu in der 8. Auflage: - aktueller Stand der Rechtsprechung zur Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld, detaillierte Darstellung der sich weiter entwickelnden Tendenz zum Schuldstrafrecht - Entscheidung des Großen Senats zur Einziehung von Wertersatz im Jugendstrafrecht und ihre Auswirkungen auf die Verteidigungspraxis, insbesondere auf Vollstreckungsebene - Darstellung der umfangreich neu eingeführten Informationspflichten und deren Auswirkungen, insb. auf den Erstkontakt des jungen Beschuldigten mit der Polizei und auf das sog. Elternkonsultationsrecht - Implikationen der frühzeitigeren Berichterstattung durch die Jugendgerichtshilfe; Nutzbarmachung für die Verteidigungspraxis - umfassende Darstellung der Neuregelung der Pflichtverteidigung im Jugendstrafrecht mit zahlreichen Mustern und Tipps, Auswirkung von Verstößen gegen die Verpflichtung zur frühzeitigen Beiordnung eines Pflichtverteidigers, Rechtsprechung zur rückwirkenden Beiordnung. Lesen Sie hier ein Interview mit Dr. Toralf Nöding aus unserer Reihe "Kluge Köpfe im Strafrecht".

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verteidigung in Jugendstrafsachen

von

Dr. Toralf NödingRechtsanwalt in Berlin

begründet von

Christian Kahlert

bis zur 6. Auflage bearbeitet von

Dr. Matthias Zieger

8., neu bearbeitete Auflage

www.cfmueller.de

Herausgeberin und Herausgeber

Praxis der Strafverteidigung Band 2

Begründet von

Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein (†), Hannover (bis 1984) Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Beulke, Passau (bis 2022) Prof. Dr. Hans-Ludwig Schreiber (†), Göttingen (bis 2008)

Herausgegeben von

Prof. Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy, Bielefeld Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin

Schriftleitung

Rechtsanwalt (RAK Berlin und RAK Wien) Dr. Felix Ruhmannseder, Berlin/Wien

Autor

Dr. Toralf Nöding ist Strafverteidiger in Berlin. Er ist seit vielen Jahren als Referent in der Aus- und Fortbildung von Strafverteidigern tätig. Er ist Lehrbeauftragter der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin. Kontakt: [email protected]

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://portal.dnb.de> abrufbar.

 

ISBN 978-3-8114-5658-7

 

E-Mail: [email protected]

Telefon: +49 6221 1859 599Telefax: +49 6221 1859 598

 

www.cfmueller.de

 

© 2023 C.F. Müller GmbH, Heidelberg

Hinweis des Verlages zum Urheberrecht und Digitalen Rechtemanagement (DRM)

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Der Verlag räumt Ihnen mit dem Kauf des e-Books das Recht ein, die Inhalte im Rahmen des geltenden Urheberrechts zu nutzen.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag schützt seine e-Books vor Missbrauch des Urheberrechts durch ein digitales Rechtemanagement. Angaben zu diesem DRM finden Sie auf den Seiten der jeweiligen Anbieter.

Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers

Die Verteidigung in Jugendstrafsachen hat sich längst von einem Nebengebiet der Strafverteidigung zu einer sowohl in materiellrechtlicher als auch in prozessualer Hinsicht hoch anspruchsvollen Materie entwickelt. Ohne spezifische Fachkenntnisse können Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger auf diesem Gebiet nicht der besonderen Verantwortung gerecht werden, die mit ihrer Tätigkeit verbunden ist. Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich bereits in seinen kriminalpolitischen Grundlagen und davon ausgehend in seinen rechtlichen Kategorien und Sanktionen vielfältig vom Erwachsenenstrafrecht. Dementsprechend stellt es auch besondere Anforderungen an die Verteidigungstätigkeit, die insbesondere den Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts beachten muss.

Verlag, Schriftleitung und Herausgeber freuen sich daher besonders, mit dem vorliegenden Band die 8. Auflage eines Werkes präsentieren zu können, das seit Anbeginn diesen Besonderheiten Rechnung trägt. Mit Toralf Nöding hat das von Christian Kahlert begründete und von Matthias Zieger über viele Jahre hinweg fortgeführte Werk einen seinen Vorgängern kongenialen Autor gefunden, der in seiner Person gleichermaßen Sachkenntnis, Erfahrung und Engagement in der Verteidigung in Jugendstrafsachen verbindet und den Benutzern des Buchs hervorragend vermittelt.

Wie der Autor in seinem Vorwort näher ausführt, enthält die Neuauflage insbesondere die umfangreichen Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren, das am 17. Dezember 2019 in Kraft getreten ist. Sie gibt den aktuellen Stand der Rechtsprechung zur Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld wieder und zeichnet detailliert und kritisch die sich weiter entwickelnden Tendenzen zum Schuldstrafrecht nach; ferner geht sie ausführlich auf die Entscheidung des Großen Senats zur Einziehung von Wertersatz im Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2020 und ihre Auswirkungen auf die Verteidigungspraxis ein. Außerdem wurden die Tipps zur Verteidigungstaktik und die Anzahl der Musterschriftsätze erweitert.

Man darf mit Fug und Recht sagen, dass das Buch für Verteidigerinnen und Verteidiger in Jugendstrafsachen ein unverzichtbares Hilfsmittel und auch sonst für alle, die im Bereich des Jugendstrafrechts tätig sind oder sich dafür interessieren, eine wertvolle Erkenntnisquelle ist.

Im September 2023

Berlin

Alexander Ignor

Bielefeld

Charlotte Schmitt-Leonardy

Vorwort

Die hier vorliegende 8. Auflage bringt das von Christian Kahlert begründete und durch Matthias Zieger ab der 3. Auflage fortgeführte Werk, dessen Bearbeitung ich mit der 7. Auflage übernommen hatte, auf den Stand des Juni 2023.

Die 8. Auflage erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem das Jugendstrafrecht für Verteidiger erheblich an Attraktivität gewonnen hat. Die Ausweitung der Pflichtverteidigung auf alle Fälle drohender Jugendstrafe und vor allem die zeitliche Vorverlagerung des Beiordnungszeitpunktes eröffnen für die Verteidiger neue Einflussnahmemöglichkeiten und Verteidigungschancen, die zugleich aber auch zu größerer Verantwortung führen und auch entsprechend wahrgenommen werden müssen. Effektive Verteidigung in Jugendstrafsachen erfordert insofern mehr denn je fundierte Kenntnisse des materiellen und prozessualen Jugendstrafrechts. Jugendstrafrecht ist eben kein „Strafrecht light“, sondern eine anspruchsvolle strafrechtliche Spezialmaterie, die sich durch relativ häufige Gesetzänderungen und sich schnell fortentwickelnde Rechtsprechung auszeichnet. Das Buch versucht, an meine Erfahrungen aus der Fachanwaltsausbildung und der universitären Lehrtätigkeit anknüpfend, das erforderliche (Fach-)Wissen in einer an den Bedürfnissen der Verteidigerpraxis ausgerichteten Art und Weise zu vermitteln.

Ich habe insoweit versucht, die Ausrichtung des Buches auf praktische Aspekte der Verteidigung im Jugendstrafrecht – in der Tradition der Vorauflagen – weiter zu schärfen. Das Buch soll allen am Jugendstrafrecht interessierten Kolleginnen und Kollegen, aber auch Referendarinnen, Referendaren und Studierenden eine übersichtliche, aus der Sicht des im Jugendstrafrecht tätigen Verteidigers geschriebene Darstellung des Jugendstrafrechts und des Jugendstrafverfahrens an die Hand zu geben. Es soll dabei nicht nur die gezielte Einarbeitung in dieses Rechtsgebiet ermöglichen, sondern auch dem erfahrenen Verteidiger als Hilfsmittel zur vertieften Problembearbeitung dienen. Ich habe daher die – bereits in den Vorauflagen vorhandenen – Tipps zur Verteidigungstaktik ebenso nochmals deutlich erweitert, wie auch die Anzahl der Muster von Verteidigerschriftsätzen. Auch der Randnummernapparat erfuhr eine erhebliche Erweiterung, um so eine vertiefte Bearbeitung spezieller und praxisrelevanter Problemkonstellationen zu ermöglichen und diese in den nachfolgenden Auflagen fortführen zu können.

Die 8. Auflage enthält nun vor allem die umfangreichen Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren. Die Darstellungen zur notwendigen Verteidigung in Jugendstrafsachen sowie zu Rolle und Aufgaben der Jugendgerichtshilfe wurden grundlegend neu bearbeitet. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Verhältnis zwischen Jugendgerichtshilfe und Verteidigung und die infolge der Gesetzesreform erforderliche Neujustierung von Abläufen und Verteidigungsaktivitäten, vor allem im Zusammenhang mit dem frühen ersten Gespräch des Beschuldigten mit der Jugendgerichtshilfe, gelegt. Auch die weitestgehend noch ungeklärte Verwertbarkeitsproblematik bei Verstößen gegen neuen Beiordnungsvorschriften wird behandelt. Das Buch gibt zudem den aktuellen Stand der Rechtsprechung zur Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld wieder und zeichnet detailliert die sich weiter entwickelnde Tendenz zum Schuldstrafrecht nach, gibt jedoch auch Hinweise, wie dieser argumentativ entgegenwirkt werden kann (und sollte). Es wird ausführlich auf die Entscheidung des Großen Senats zur Einziehung von Wertersatz im Jugendstrafrecht und ihre Auswirkungen auf die Verteidigungspraxis eingegangen und es werden entsprechende Verteidigungsansätze aufgezeigt, die zur Abmilderung der Folgen dieser klar zu kritisierenden Gesetzes- und Rechtsprechungslage nutzbar gemacht werden können.

Ich würde mich freuen, wenn dieses Buch weiter dazu beiträgt, bei vielen Kollegen die Begeisterung für das oft unterschätzte, materiell und prozessual aber anspruchsvolle Gebiet des Jugendstrafrechts zu wecken oder wieder zu entfachen. Das Jugendstrafrecht bietet dabei nicht nur rechtliche Herausforderungen; es fordert den Verteidiger oft auch in menschlich-moralischer Hinsicht, weil er – bei richtigem Verständnis seiner Aufgabe – nicht nur für die Interessen seines jugendlichen Mandanten eintritt, sondern diesem durch seine Tätigkeit auch den Wert eines unabhängigen, ihm gegenüber unvoreingenommenen und prozessualer Fairness verpflichteten Strafrechtssystems vermittelt. Nicht zuletzt ergibt sich durch die anwaltliche Tätigkeit auf diesem Gebiet damit auch die Möglichkeit, jugendliche Mandanten so zu unterstützen und – im positiven Sinne – erzieherisch zu beeinflussen, dass sie eine schwierige Lebensphase überwinden und in ein Leben abseits des strafrechtlichen Sanktionssystems zurückfinden.

Ich danke an dieser Stelle Frau Rechtsreferendarin Larissa Jezierska und Frau Diplomjuristin Joyce Lan für ihre wertvolle Unterstützung bei der Bearbeitung der Neuauflage.

Ich würde mich freuen, wenn mich unter meiner Mailadresse [email protected] Anregungen, Hinweise und Kritik für die Erstellung der 9. Auflage erreichen.

Berlin, im August 2023

Toralf Nöding

Inhaltsverzeichnis

 Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers

 Vorwort

 Inhaltsverzeichnis

 Abkürzungsverzeichnis

 Teil 1Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht

  I.Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz1 – 9

  II.Ursachen der Jugendkriminalität10 – 12

  III.Problemgruppen, Problemkonstellationen13 – 43

   1.Gruppendelikte13 – 16

   2.Alkohol, Drogen, Sucht17 – 22

   3.Einfluss der Medien23

   4.Junge Ausländer, Aussiedler und Flüchtlinge24 – 29

   5.Mehrfach Auffällige, Intensivtäter30 – 35

   6.„Clankriminalität“36 – 38

   7.Gewaltdelikte, Sexualstraftaten39 – 41

   8.Kapitalverbrechen junger Täter42, 43

  IV.Die Effektivität des Jugendstrafrechts44 – 46

 Teil 2Materielles Jugendstrafrecht

  I.Grundzüge des JGG47 – 56

   1.Bedeutung des Erziehungsgedankens47 – 49

   2.Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts, Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht50 – 56

  II.Verantwortungsreife57 – 64

   1.Strafmündigkeit und Verantwortungsreife57 – 59

   2.Abgrenzung zum Verbotsirrtum und zur Schuldfähigkeit60, 61

   3.Prüfung der Verantwortungsreife62 – 64

  III.Rechtsfolgen einer Jugendstraftat65 – 218

   1.Grundsätze, Rangfolge65 – 68

   2.Erziehungsmaßregeln69 – 86

    a)Weisungen69 – 82

    b)Hilfe zur Erziehung83 – 86

   3.Zuchtmittel87 – 100

    a)Verwarnung88

    b)Auflagen89 – 91

    c)Jugendarrest92 – 100

     aa)Arrest nach § 16 JGG92 – 96

     bb)Koppelungsarrest nach § 16a JGG97 – 100

   4.Jugendstrafe101 – 177

    a)Voraussetzungen der Jugendstrafe101 – 121

     aa)Schädliche Neigungen102 – 108

     bb)Schwere der Schuld109 – 121

    b)Bemessung der Jugendstrafe122 – 139

    c)Nichtanrechnung der Untersuchungshaft140

    d)Strafaussetzung zur Bewährung141 – 160

    e)Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Bewährungsaussetzung nach §§ 61 ff. JGG 161 – 168

    f)Korrektur eines die Bewährung ablehnenden Urteils169 – 172

    g)Bewährung ohne Strafe, „27er-Entscheidung“173 – 177

   5.Einheitsstrafe178 – 190

   6.Maßregeln191 – 204

    a)Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt192 – 195

    b)Führungsaufsicht196

    c)Entziehung der Fahrerlaubnis197 – 199

    d)Sicherungsverwahrung200 – 204

     aa)Primäre Sicherungsverwahrung200

     bb)Vorbehaltene Sicherungsverwahrung201 – 203

     cc)Nachträgliche Sicherungsverwahrung204

   7.Nebenstrafen/Nebenfolgen205 – 212

    a)Fahrverbot205, 206

    b)Einziehung207 – 212

   8.Kosten und Auslagen213 – 218

  IV.Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende219 – 241

   1.Jugendverfehlung221 – 223

   2.Reiferückstand224 – 234

   3.Das auf Heranwachsende anwendbare Jugendstrafrecht235 – 237

   4.Milderungsmöglichkeit bei Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende238 – 241

    a)Herabsetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe238

    b)Sicherungsverwahrung239, 240

    c)Nichteintritt von Nebenfolgen241

  V.Straftaten in unterschiedlichen Alters- und Reifestufen242 – 246

 Teil 3Die Beteiligten des Jugendstrafverfahrens, ihre Rechtsstellung, Zuständigkeiten und Aufgaben

  I.Der junge Beschuldigte247 – 254

  II.Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertreter255 – 262

  III.Polizei263 – 265

  IV.Jugendstaatsanwalt266 – 268

  V.Jugendgerichtshilfe269 – 280

  VI.Jugendrichter, Zuständigkeiten der Jugendgerichte281 – 294

   1.Leitbild und Praxis281 – 294

    2.Sachliche Zuständigkeit der Jugendgerichte285 – 290

    3.Instanzielle Zuständigkeit291, 292

    4.Örtliche Zuständigkeit293

    5.Besetzung der Jugendgerichte294

  VII.Jugendschöffen295 – 297

  VIII.Sachverständige298 – 303

  IX.Bewährungshelfer304

  X.Verteidiger305 – 309

 Teil 4Diversion und Verfahrenseinstellung, §§ 45, 47 JGG

  I.Begriff, Rechtsgrundlagen, Abgrenzung zur Verfahrenseinstellung nach StPO310 – 312

  II.Erscheinungsformen der Diversion313 – 323

   1.Absehen von Verfolgung durch den Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren nach § 45 Abs. 1 JGG313, 314

   2.Absehen von Verfolgung durch den Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren mit Rücksicht auf andere erzieherische Maßnahmen, § 45 Abs. 2 JGG315 – 318

   3.Absehen von Verfolgung mit Rücksicht auf eine vom Staatsanwalt angeregte ambulante jugendrichterliche Maßnahme: formloses jugendrichterliches Erziehungsverfahren, § 45 Abs. 3 JGG319, 320

   4.Einstellung durch den Jugendrichter, § 47 JGG321 – 323

  III.Rechtspraxis324 – 326

  IV.Gefahren der Diversion327

 Teil 5Praxis der Verteidigung im Jugendstrafverfahren

  I.Mandatsannahme328 – 330

  II.Pflichtverteidigung331 – 359

   1.Fälle notwendiger Verteidigung, § 68 JGG, § 140 StPO332 – 341

   2.Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung342 – 349

   3.Bestellungsverfahren350 – 355

   4.Folgen zu Unrecht unterbliebener Beiordnungen356 – 359

  III.Verteidigung im Vorverfahren360 – 371

   1.Verteidigungsgespräche mit dem jungen Mandanten und seinen Eltern360 – 364

   2.Kontakt zur Jugendgerichtshilfe, Bezugspersonen oder Einrichtungen365 – 367

   3.Erarbeitung der Verteidigungsstrategie368 – 370

   4.Bemühen um Einstellung/Diversion371

  IV.Vorläufige Anordnungen über die Erziehung und einstweilige Unterbringung372 – 390

   1.Vorläufige Anordnungen über die Erziehung372, 373

   2.Einstweilige Unterbringung374 – 377

   V.Untersuchungshaft

   1.Dringender Tatverdacht und Haftgründe378 – 382

   2.Subsidiaritätsprinzip, Verhältnismäßigkeit383, 384

   3.Bemühen um Haftvermeidung385 – 389

   4.Untersuchungshaftvollzug390

  VI.Verteidigung im Zwischenverfahren391 – 394

  VII.Verteidigung in der Hauptverhandlung395 – 417

   1.Besondere Vorbereitungspflicht des Verteidigers396 – 402

   2.Sonderbestimmungen für die Hauptverhandlung in Jugendstrafsachen403 – 416

    a)Diversionsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung403

    b)Öffentlichkeit404 – 407

    c)Presse- und Bildberichterstattung408

    d)Junge Zeugen409

    e)Vereidigung von Zeugen410

    f)Abwesenheitsverhandlung, Nichterscheinen des Angeklagten zum Termin, zeitweiliger Ausschluss des Angeklagten411, 412

    g)Besondere Anforderungen an die schriftlichen Urteilsgründe413

    h)Besondere Anforderungen an Belehrungen414

    i)Anwesenheits- und Verfahrensrechte von Eltern, Jugendgerichtshilfe und Bewährungshelfer415

    j)Anwendungsbesonderheiten416

   3.Schlussvortrag des Verteidigers417

  VIII.Verständigung und Absprache418 – 422

  IX.Rechtsmittel423 – 437

  X.Besondere Verfahrensarten438 – 455

   1.Vereinfachtes Jugendverfahren, §§ 76–78 JGG438 – 443

   2.Privat- und Nebenklage, Adhäsionsverfahren, psychosozialer Prozessbegleiter444 – 448

   3.Jugendliche und heranwachsende Angeklagte vor Erwachsenengerichten, §§ 104, 112 JGG 449 – 452

   4.Strafbefehlsverfahren453

   5.Beschleunigtes Verfahren454

   6.Verfahren bei Ordnungswidrigkeiten455

 Teil 6Strafvollstreckung, Strafvollzug, Register

  I.Strafvollstreckung456 – 468

   1.Verteidigung im Vollstreckungsverfahren457, 458

   2.Der Jugendrichter als Vollstreckungsleiter459 – 461

   3.Aussetzung der Restjugendstrafe zur Bewährung, Führungsaufsicht bei Vollverbüßung462 – 467

   4.Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft468

  II.Jugendstrafvollzug469 – 499

   1.Rechtsgrundlagen469 – 485

   2.Praxis des Jugendstrafvollzuges486 – 490

   3.Rechtsschutz im Jugendstrafvollzug491 – 493

   4.Herausnahme aus dem Jugendstrafvollzug, Hereinnahme in den Jugendstrafvollzug494 – 499

  III.Straf- und Erziehungsregister, Beseitigung des Strafmakels500 – 507

 Teil 7Muster von Verteidigungsanträgen

 Literaturverzeichnis

 Stichwortverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

a.A.

andere Ansicht

abl.

ablehnend

a.F.

alte Fassung

AG

Amtsgericht

AmtBlBln

Amtsblatt für Berlin

Anm.

Anmerkung

ARB

Beschluss des Assoziationsrates EG/Türkei

AufhG/EWG

Aufenthaltsgesetz EWG

AuslG

Ausländergesetz

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BewHi

Bewährungshilfe, Fachzeitschrift für Bewährungs-, Gerichts- und Straffälligenhilfe (zitiert nach Jahr und Seite)

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BHO

Bundeshaushaltsordnung

BlnAnwBl

Berliner Anwaltsblatt

BMJ

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz

BORA

Berufsordnung für Rechtsanwälte

BRAGO

Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte

BRAO

Bundesrechtsanwaltsordnung

BT-Drucks.

Bundestags-Drucksache

BtMG

Betäubungsmittelgesetz

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

BZgA

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

BZRG

Bundeszentralregistergesetz

DAR

Deutsches Autorecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

DSM-IV- TR

Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, Textrevision

DVJJ

Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen

DVJJ-Journal

Journal der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe

EGGVG

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Einf

Einführung

EMRK

Europäische Kommission für Menschenrechte

FEVG

Gesetz über das Verfahren bei Freiheitsentziehungen

FGG

Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

GBA

Generalbundesanwalt

GG

Grundgesetz

Grdl.

Grundlagen

GS

Großer Senat

GVBl

Gesetz- und Verordnungsblatt

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

h.M.

herrschende Meinung

Hrsg.

Herausgeber

ICD-10

Internationale Klassifikation psychischer Störungen

InfAuslR

Informationsbrief Ausländerrecht (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

i.d.R.

in der Regel

i.S.d.

im Sinne des

i.V.m.

in Verbindung mit

JAVollzO

Jugendarrest-Vollzugsordnung

JGG

Jugendgerichtsgesetz

JGH

Jugendgerichtshilfe

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

JStVollzG

Jugendstrafvollzugsgesetz (zitiert wird das JStVollzG Berlin)

Justiz

Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (zitiert nach Jahr und Seite)

JWG

Jugendwohlfahrtsgesetz

KG

Kammergericht

KJ

Kritische Justiz (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

KJHG

Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts

KK

Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung

krit.

kritisch(er)

KUrhG

Kunsturhebergesetz

LG

Landgericht

LR

Löwe-Rosenberg, StPO, Großkommentar

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

MSchRKrim

Monatsschrift für Kriminologie (zitiert nach Jahr und Seite)

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

NZV

Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

OLG

Oberlandesgericht

OWiG

Ordnungswidrigkeitengesetz

PDV

Polizeidienstvorschrift

PflVG

Pflichtversicherungsgesetz

PsychKG

Gesetz über psychisch Kranke

RdJB

Recht der Jugend und des Bildungswesens (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

RiLi

Richtlinien

RL

Richtlinien zum Jugendgerichtsgesetz

RMed

Rechtsmedizin (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

RPflG

Rechtspflegergesetz

RVG

Rechtsanwaltsvergütungsgesetz

s.

siehe

SGB VIII

Achtes Buch des Sozialgesetzbuches (Kinder- und Jugendhilferecht)

SK

Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung,

st.

ständige

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

str.

streitig

s.u.

siehe unten

StV

Strafverteidiger (Zeitschrift, zitiert nach Jahr und Seite)

StVollstrO

Strafvollstreckungsordnung

StVollzG

Strafvollzugsgesetz

teilw.

teilweise

UVollzO

Untersuchungshaftvollzugsordnung

v.

vom

vgl.

vergleiche

VGH

Verwaltungsgerichtshof

VV

Vergütungsverzeichnis zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz

VVJug

bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Jugendstrafvollzug

w.N.

weitere Nachweise

WiStG

Wirtschaftstrafgesetz

ZJJ

Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (zitiert nach Jahr und Seite)

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite)

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Jahr und Seite)

Teil 1Jugenddelinquenz und Jugendstrafrecht

I.Die „Normalität“ von Jugenddelinquenz

1

Dem Jugendstrafrecht liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Straftaten junger Täter weitgehend Ausdruck der schwierigen Umorientierungsphase in Pubertät und Adoleszenz sind. Für junge Menschen ist dies eine Zeit besonderer innerer und äußerer Spannungen; sie müssen sich in ihre soziale Rolle hineinfinden und werden ersten großen Belastungsproben ausgesetzt.[1] Dass in dieser Umorientierungsphase Straftaten begangen werden, ist „normal“. Die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen ist – auf die Gesamtbevölkerung betrachtet – die mit Straftaten meistbelastete Altersgruppe.[2] Straftaten junger Täter lassen sich dabei in allen gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von Schichtzugehörigkeit oder Nationalität feststellen, sind also allgegenwärtig („ubiquitär“).

2

Diese Verhaltensweisen enden meist auch dann, wenn sie nicht entdeckt und ihnen nicht mit den Mitteln des Jugendstrafrechts entgegengetreten wird, von selbst, wenn der Reifungsprozess abgeschlossen, Sozialverhalten erlernt und die persönliche Situation durch Arbeitsaufnahme und/oder Familiengründung stabilisiert ist. Jugenddelinquenz ist also ganz überwiegend eine vorübergehende Erscheinung, ist „passager“ bzw. „episodenhaft“. Die statistischen Zahlen erweisen einen rasanten Anstieg der Kriminalitätsbelastung vom 14. bis zum 21./22. Lebensjahr und danach ein deutliches, kontinuierliches Absinken mit zunehmendem Lebensalter (sog. „Age-Crime-Curve“).[3] Bei jungen Männern steigt die Kurve der Kriminalitätsbelastung zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null (Strafunmündigkeit) auf knapp 8 % an, und senkt sich dann auf 3 % bis zum 50. Lebensjahr. Junge Frauen haben zwar insgesamt eine deutlich geringere Kriminalitätsbelastung aufzuweisen; das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen jugendlichen Tatverdächtigen liegt bei ca. 1:3.[4] Auch bei den weiblichen Tatverdächtigen steigt die Kurve zwischen dem 14. und dem 21. Lebensjahr von Null auf etwa 2 %, um dann bis zum 50. Lebensjahr auf 1 % zurückzugehen.

3

Der ganz überwiegende Teil der im Jugendalter episodenhaft auftretenden Delinquenz ist dabei eher der sog. Bagatellkriminalität zuzuordnen; Straftaten mittlerer Schwere oder darüber werden eher selten begangen.[5]

Die Erscheinungsformen der „normalen“ Jugendkriminalität lassen sich aus den einschlägigen Statistiken herauslesen. Typische Jugenddelikte sind einfacher Diebstahl, insb. Ladendiebstahl, schwerer Diebstahl (Automaten- und Kfz-Diebstahl), einfache und schwere, insb. gemeinschaftliche Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Schwarzfahren, Verkehrsdelikte (Fahren ohne Fahrerlaubnis, Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz)[6] und Sachbeschädigung (Graffiti, Vandalismus).[7] Hinzu kommen die sog. „Abziehdelikte“, bei denen Statussymbole bzw. Prestigeobjekte, insb. Handys oder Mützen, Jacken oder Turnschuhe angesehener Hersteller von Gleichaltrigen durch Anwendung oder Androhung von Gewalt weggenommen oder heraus verlangt werden.[8] Zugenommen haben zuletzt Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche wegen im Internet und den sozialen Netzwerken begangenen Beleidigungs-, Nachstellungs- oder Verbreitungsdelikten (sog. Cyberbullying, Cybergrooming, Cyberstalking und Sexting[9]). Beim Verbreiten kinder- und jugendpornografischer Schriften (§§ 184b und 184c StGB) stellen Jugendliche und Heranwachsende statistisch inzwischen die größte Tätergruppe, wobei oft selbst gefertigte Fotos oder Videos in Unkenntnis der strafrechtlichen Problematik weitergegeben oder -verbreitet werden.[10] Auch sind in den vergangenen Jahren vor allem islamische Jugendliche und Heranwachsende – fasziniert von der Gewaltpropaganda des sog. „Islamischen Staats“ – häufiger als Mitglieder oder Unterstützer terroristischer Vereinigungen (insb. nach §§ 129a, 129b StGB) in Erscheinung getreten.[11]

Deliktsunabhängig zeichnen sich von Jugendlichen und Heranwachsenden begangene Straftaten dadurch aus, dass sie oft in einer Gruppe oder aus einem Gruppenzusammenhang heraus, in öffentlichen Räumen und spontan bzw. ungeplant oder unorganisiert begangen werden.[12]

4

Diese allgemein anerkannten, auch in den einschlägigen Kommentaren berücksichtigten und von der Rechtsprechung durchaus erkannten und vor allem in der Diversionspraxis verarbeiteten kriminologischen Erkenntnisse sind heute, trotz aller Bewertungen im Einzelnen, unbestritten;[13] sie werden durch die Polizei- und Rechtspflegestatistiken zu den Tatverdächtigen- bzw. Verurteiltenzahlen[14] belegt. Jeder Einzelne wird, wenn er sich ohne Verdrängung an seine eigene Jugend oder an Erlebnisse mit Jugendlichen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis erinnert, dies aus eigener Erfahrung bestätigen können.

Die Polizei- und Rechtspflegestatistiken erfassen natürlich nur das „Hellfeld“, also die ermittelten Straftaten. Davon sind aber bereits 15-20 % aller jungen Menschen erfasst. Dabei hat die Dunkelfeldforschung ergeben, dass nur ein geringer Teil der von jungen Tätern begangenen Straftaten entdeckt wird.[15] Aber auch die Dunkelfeldforschung bestätigt die oben dargestellten Erkenntnisse zur Überrepräsentation von Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen bei der Straftatbegehung im Vergleich zu den übrigen Altersgruppen, die Abnahme der Straftaten mit zunehmendem Alter und zur überwiegenden Begehung von Bagatellkriminalität oder jedenfalls solcher unterhalb von Straftaten mittlerer Schwere.[16]

5

Würde man diese Erkenntnisse ernst nehmen, bestünde unabhängig von der Streitfrage, ob Erziehen durch Strafen überhaupt möglich oder sinnvoll ist, eigentlich überhaupt kein Grund, auf Jugenddelinquenz mit den Mitteln des Jugendstrafrechts zu reagieren. Nicht überführte und nicht bestrafte junge Menschen führen regelmäßig später ein ebenso geordnetes Leben wie diejenigen, die aus Anlass von Straftaten im Jugendstrafverfahren ermittelt und sanktioniert worden sind. Zumindest die üblichen Jugendstraftaten belegen nicht einmal eine gesteigerte Erziehungsbedürftigkeit. Wenn dennoch reagiert wird, und sei es auch nur durch die oft bereits sehr beeindruckende Einleitung des Verfahrens (polizeiliche Vernehmung, Reaktion der Eltern und des Umfelds), dann ist dies pädagogisch nur erklärbar durch die Sorge, dass die jungen Menschen es als Gleichgültigkeit oder Inkonsequenz missverstehen würden, wenn die Verletzung von Strafrechtsnormen völlig folgenlos bliebe. Sinn der Sanktion ist dann also lediglich die Normverdeutlichung.[17] Die Jugendkriminalität muss gegenüber besorgten oder entsetzten Eltern ebenso entdramatisiert werden wie gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld. Es gilt der Leitsatz „weniger ist mehr“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Reaktionen muss strikt beachtet werden.[18] Diese Schlussfolgerung zieht auch der Gesetzgeber, vor allem in § 5 JGG (Subsidiaritätsgrundsatz), §§ 45, 47 JGG (Vorrang der informellen Erledigung durch Diversion) und §§ 71, 72 JGG (Vorrang der Haftvermeidung vor Untersuchungshaft). Diese Grundsätze hat der Verteidiger deshalb immer wieder in Erinnerung zu rufen.[19]

6

Diese Erkenntnisse passen allerdings nicht für die etwa 5 % ausmachende Gruppe junger Menschen, die wiederholt und oft auch sehr intensiv Straftaten begehen und auf deren Konto sich 30–50 % der entdeckten Straftaten und dabei zumeist die schwereren Straftaten, insb. auch Gewaltdelikte, zurückführen lassen.[20] So wünschenswert es wäre, über Kriterien zu verfügen, um schon nach den ersten Straftaten zu erkennen, wer zu dieser Gruppe gehört, um dann mit geeigneten erzieherischen Mitteln den sich anbahnenden kriminellen Karrieren vorzubeugen, ist es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen, hierfür taugliche Maßstäbe herauszufinden. Thesen, dass Schwierigkeiten im Sozialisationsprozess (fehlende familiäre Aufmerksamkeit, Schulprobleme, Wegfall von Bezugspersonen)[21] oder die Kontraproduktivität erlittener freiheitsentziehender Reaktionen dazu führen, dass der Jugendliche später zur Gruppe der mehrfach Auffälligen, sog. „Intensivtäter“ gehört, haben sich nicht bestätigt. Übrig geblieben ist eine aus praktischer Erfahrung gewonnene Faustregel: Wer mehr als fünfmal auffällig wurde, kann zu dieser Gruppe gerechnet werden. Das bedeutet aber umgekehrt: Bei bis zu vier Registrierungen darf man von den Grundsätzen der Normalität und Episodenhaftigkeit des Straffälligwerdens ausgehen.[22] Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass auch in dieser Gruppe der unvermittelte – also nicht sanktions- oder eingriffsbedingte – Rückgang der Kriminalität zu beobachten ist; auch dort ist die Delinquenz also überwiegend „passager“ bzw. episodenhaft.[23]

7

Angesichts dieser Befunde hat sich die jugendkriminologische Forschung immer nachdrücklich gegen regelmäßig wiederkehrende Forderungen gewandt, wegen der angeblich zunehmenden und immer gefährlicher werdenden Jugendkriminalität das Jugendstrafrecht zu verschärfen, Heranwachsende generell nach Erwachsenenstrafrecht zu beurteilen[24] oder die Strafmündigkeitsgrenze unter 14 Jahre zu senken.[25] Es sind zumeist Straftaten, begangen von der Minderheit junger Mehrfachtäter, die immer wieder Anlass für Forderungen aus dem politisch-konservativen Bereich geben, das Jugendstrafrecht ganz oder teilweise abzuschaffen und härtere, insb. freiheitsentziehende Sanktionen vorzusehen. Dieser Forderung muss schon deshalb entgegengetreten werden, weil sie wegen des Verhaltens einer Minderheit jugendlicher Straftäter die sonst unbestrittenen Vorteile des Jugendstrafrechts für die große Mehrheit junger Delinquenten aufgeben will. Es wird auch im Folgenden zu zeigen sein, dass härtere, freiheitsentziehende Sanktionen selbst bei dieser Minderheit keinen Präventionserfolg versprechen.

8

Statistiken weisen im letzten Jahrzehnt einen Rückgang der Kriminalitätsbelastung junger Menschen aus, wobei der Rückgang im Bereich der Gewaltkriminalität besonders stark war.[26] In der polizeilichen Kriminalstatistik 2022 ist nun jedoch wieder eine Zunahme der Jugendkriminalität zu erkennen, wobei diese Zunahme mit einem Anstieg der Gesamtkriminalität einhergeht[27] und zu einem nicht unerheblichen Teil auf den Wegfall der Corona-Beschränkungen und den rasant steigenden Anteil junger Täter an kinder- und jugendpornografischen Verbreitungsdelikten[28] zurückgehen dürfte. In den Jahrzehnten zuvor war – durchbrochen von kurzen Perioden der Stagnation – ein Anstieg der registrierten Jugendkriminalität zu verzeichnen.[29] Im Hinblick auf diesen Anstieg der Jugendkriminalität in den 50er bis 80er Jahren ist aber zu berücksichtigen, dass sich auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert haben: Es wird geschätzt, dass etwa 50 % der heutigen Ermittlungsverfahren gegen junge Menschen Vorwürfe betreffen, die früher meist durch Eltern, Schule, Ausbildungsstelle oder in der Nachbarschaft informell (Erziehungsmaßnahme der Eltern, Schadensausgleich) und somit rein erzieherisch beigelegt wurden. In der heutigen, eher anonymen Gesellschaft dagegen, überwiegt eine verpolizeilichte Sozialkontrolle. Hinzu kommt in der jetzigen weitgehend „versicherten“ Gesellschaft die Notwendigkeit, durch eine Strafanzeige die Voraussetzung für eine rasche Schadensregulierung durch die Versicherung zu schaffen.[30] Neben dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung beeinflussen aber auch Ermittlungskapazität und Aufklärungsquote die polizeiliche Kriminalitätsstatistik.[31] Prognostisch dürften sich zukünftig die rasant verändernden Sozialisierungsbedingungen, wie die Abnahme „klassischer“ Familienstrukturen, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse bei den Eltern, der steigende Einfluss problematischer (social-) Medieninhalte (Instagram, TikTok) und die abnehmende Einbindung in strukturierte Freizeitaktivitäten (Sportvereine, Jugendclubs etc.) eher negativ auf die Entwicklung der Kriminalitätsbelastung junger Menschen auswirken.[32]

Orientiert man sich an den Verurteilungsstatistiken zeigt sich jedoch ein weitaus positiveres Bild der Kriminalitätsbelastung junger Menschen, wobei allerdings einkalkuliert werden muss, dass sich die Verurteilungsziffern durch die Diversionspraxis (§§ 45, 47 JGG) deutlich verringert haben. Im Hinblick auf die statistische Erfassung von Gewalt- und insb. Raubdelikten in beiden Statistiken darf nicht außer Acht bleiben, dass es sich in der Mehrzahl um Taten handelt, in denen körperliche oder bewaffnete Gewalt nur angedroht wird („Abziehen“ Gleichaltriger) oder der junge Täter sich die Überraschung des Opfers zunutze machen will (Handtaschenraub).[33]

9

Demnach ergibt sich auch aus den Kriminalstatistiken nicht, dass das Jugendstrafrecht keine zeitgemäße Reaktionsmöglichkeit mehr auf die Jugendkriminalität darstellt. Im Gegenteil werden Praktiker und Kriminologen nicht müde, sich statt für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts für pädagogische und soziale, die Ursachen bekämpfende Gegenkonzepte auszusprechen: Schaffung der Voraussetzungen für eine gesicherte ökonomische Existenz in Ausbildung und Beruf, Herstellung von Bedingungen, unter denen sich ein stabiles Selbstwertgefühl und die Fähigkeit entwickeln können, verlässliche persönliche Beziehungen aufzubauen.[34] Sie plädieren für eine Erweiterung der Schutzvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes z.B. auf junge Erwachsene bis zu 24/25 Jahren.[35]

II.Ursachen der Jugendkriminalität

10

Die allgemeine Jugenddelinquenz ist nicht monokausal zu erklären. Die unterschiedlichen kriminologischen Erklärungsansätze bergen jeweils für sich Teilwahrheiten. Sicher spielt die körperlich-biologische Entwicklung der jungen Menschen in der Pubertät und vor allem das schnellere körperliche Heranreifen und die daraus folgende Disharmonie zur sonstigen sozialen Entwicklung eine Rolle. Hinzu treten im Prozess des Erwachsenwerdens psycho-soziale Bedingungen und Belastungen, die je nach der sozialen Stellung des jungen Menschen und seiner Eltern und nach der gesamten örtlichen und zeitgeschichtlichen Situation sehr unterschiedliche Gestalt annehmen können. Den jungen Menschen wird zugemutet, die Egozentrik der Kindheit zu überwinden und ihr Sozialverhalten den allgemein anerkannten Normen anzupassen. Es entstehen Verhaltensprobleme, Enttäuschungen und Missverständnisse. Spannungen und Übergangsprobleme rühren oft daher, dass zwar an die Jugendlichen und Heranwachsenden soziale Anforderungen gestellt werden, ihnen aber die soziale Anerkennung und der soziale Aufstieg, die sie bei Erwachsenen sehen, praktisch weitgehend verschlossen bleiben. Die jungen Menschen müssen in Jugend und Adoleszenz nicht nur ihr Wissen und ihr Verhaltensrepertoire erweitern, sie wollen auch eigene Erfahrungen sammeln, das ihnen Vorgegebene in Frage stellen, Protest und Opposition wagen, „Männlichkeit“ und Selbstbewusstsein demonstrieren. Nimmt man die Unerfahrenheit und manchmal sogar Hilflosigkeit junger Menschen hinzu, wird deutlich, dass es hier zu Grenzüberschreitungen bis hin zu Straftaten kommen kann. Welchen Verlauf die Probleme und Konflikte nehmen, in denen sich die Gruppe der 14–21-jährigen befindet, hängt weitgehend von Sozialisation, Familienverhältnissen (gab es genug Zärtlichkeit, Zuwendung und Zeit für die Kinder?), Wohn-, Arbeits- und sonstigen Lebensbedingungen,[36] Erfolg oder Misserfolg bei der Ausbildung und der Frage ab, ob es gelingt, die Freizeit aktiv, selbstbestimmt und konstruktiv zu gestalten. Jugend als Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt wird zentral auch bestimmt von der Suche nach Geborgenheit und Anerkennung in Gleichaltrigengruppen, die positiven oder schädlichen Einfluss ausüben können. Junge Menschen können die mit dem Anstieg sozialer Gegensätze zunehmende Diskrepanz, zwischen den subjektiven Ansprüchen (von teurer Markenkleidung bis hin zu gehobener Ausbildung) und den fehlenden Möglichkeiten diese durchzusetzen (fehlende Geldmittel, keine abgeschlossene Schulbildung), schwer ertragen.[37]

11

Nach den Erfahrungen der Praxis hat es den Eindruck, als ob vor allem Jugendliche und Heranwachsende gefährdet sind, die mit folgenden Belastungen zu kämpfen haben:

zerrüttete Familienverhältnisse, unvollständige Familien („broken home“), Ablehnung durch den neuen Lebensgefährten eines Elternteils,

„Pendelerziehung“ mit inkonsistentem Erziehungsverhalten der wechselnden Bezugspersonen (Mutter – Großmutter – Onkel – verschiedene Heime – Trebegängerzeiten),

deliktisch belastete Eltern und Bezugspersonen[38]

abgebrochene Schule, fehlende Ausbildung, längere Arbeitslosigkeit,

Gewalt in der Familie, eigene Gewalterfahrungen als Opfer,[39] Suchtprobleme in der Familie, eigene Suchtprobleme,

fehlende Anregungen für konstruktives Freizeitverhalten,

Abstempelung bzw. Stigmatisierung aufgrund Zugehörigkeit zu einer negativ bewerteten oder benachteiligten Gruppe oder einem entsprechenden (Wohn-)Umfeld, damit einhergehend Selbstbild- und Selbstwertbeeinträchtigungen[40]

kulturelle Entwurzelung, insb. bei jungen Flüchtlingen und deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund.[41]

Ähnliche Hintergründe sind auch bei der Kinderdelinquenz festzustellen, auf die in erster Linie mit Erziehung und Angeboten der Jugendhilfe (§§ 27 ff. SGB VIII) und nur im Notfall mit Zwangsmitteln des Vormundschaftsgerichts (§§ 1666, 1666a BGB) reagiert werden muss.[42]

12

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang aber auf Lebensumstandsänderungen, bei denen die kriminologische Verlaufsforschung zeigt, dass sie die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen oder jedenfalls allmählichen Endes krimineller Entwicklungen jugendlicher und heranwachsender Täter signifikant erhöhen, sog. positive Turning-Points:

ernsthafte Liebesbeziehung, Familiengründung

Aufnahme einer als positiv erlebten Berufstätigkeit

Aufbau von Bindungen zu nicht-delinquenten Peers

strukturierte Freizeittätigkeit (Vereine, Sport etc.)

Entwicklung ernsthafter Reue und Einsicht hinsichtlich des delinquenten Verhaltens aus der Vergangenheit.[43]

III.Problemgruppen, Problemkonstellationen

1.Gruppendelikte

13

Die zentrale Rolle der Gleichaltrigengruppe wurde bereits erwähnt.[44] Aus ihr heraus entstehen eigene Wertvorstellungen und Zielsetzungen, oft in bewusster Opposition zu denen der Erwachsenenwelt. Der Einzelne unterwirft sich bewusst oder unbewusst dem Gruppen-Über-Ich, beteiligt sich aktiv, oft überschießend, an der Verwirklichung der Gruppenziele, um Anerkennung zu erlangen oder seinen Rang in der Gruppe zu festigen. Typisch ist es, wenn ein junger Mandant im Verteidigergespräch auf die Frage, warum er sich an der Gruppenstraftat beteiligt hat, nichts Anderes vorzubringen weiß als: „Ich konnte doch nicht anders“. Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Vertreten der eigenen Meinung und der eigenen Wertvorstellungen – das sind Eigenschaften, die erlernt werden müssen, was jungen Menschen gerade in einer Gruppe besonders schwerfällt.

14

Gruppen entfalten damit eine Gruppendynamik, welche die jungen Gruppenmitglieder zu Handlungen verleitet, die sie als Einzelne niemals begehen würden, die persönlichkeitsfremd erscheinen, die in ihrer Spontaneität, oft auch in ihrer Brutalität die einzelnen Teilnehmer später selbst erschrecken. Der Gruppeneinfluss führt zu gruppenkonformem Verhalten, zu einer Gleichschaltung der Interessen und Motive, verstärkt vorhandene Tendenzen, verleitet zu Aktionismus, enthemmt die Mitglieder, die – ohne sich dies bewusst zu machen – ihre Verantwortlichkeit an die übergeordnete Instanz der Gruppe abtreten. Wie weit dies gehen kann, beweist die Tatsache, dass brutale Aufnahmerituale einer Jugendbande von dem jungen „Bewerber“ „freiwillig“ hingenommen wurden; hier bestand im strafrechtlichen Verfahren Veranlassung zur Prüfung, ob die Fähigkeit in die erlittenen Misshandlungen einzuwilligen, nicht durch den Gruppeneinfluss aufgehoben war.[45] Die Auswirkungen der Gruppendynamik gehen oft so weit, dass sie bei jüngeren Tätern die Verantwortungsreife (§ 3 JGG) in Frage stellen können. Bei älteren Tätern und sogar bei Erwachsenen drängt sich manchmal die Prüfung auf, ob Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) vorlag. Die Analyse des Gruppenverhaltens hat weiter Bedeutung dafür, ob die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe (§ 17 JGG, schädliche Neigungen oder Schwere der Schuld) eventuell zu verneinen sind.[46] Gruppendelinquenz ist typisch jugendtümlich, legt die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende (§ 105 JGG) nahe[47] und hat für die Bemessung der Sanktion Bedeutung.[48]

15

Es empfiehlt sich, immer dann wenn es Anhaltspunkte für ein Gruppendelikt gibt, zu prüfen, in welcher Weise die Gruppe oder die ihr innewohnende Dynamik in einer Weise Einfluss auf den jungen Mandanten genommen hat, dass dies – zumal nach zwischenzeitlicher Lösung von der Gruppe und Einordnung in andere, positivere Zusammenhänge – zu seinen Gunsten geltend gemacht werden kann. Insbesondere Cabanis[49] hat hier eine praktisch gut verwendbare Übersicht über Anhaltspunkte für und Erscheinungsformen von Gruppendynamik herausgearbeitet.

Kurz gefasst kennzeichnen danach folgende Eigenschaften die durch Gruppendynamik bedingte gemeinsame Tatbegehung:

schnelle, auf einem spontanen Einfall beruhende, planlos und sich erst aus dem Tatgeschehen heraus selbst entwickelnde Tatbegehung, oft ohne jede verbale Verständigung,

Skrupel- und Hemmungslosigkeit der Gruppenmitglieder bis hin zu schweren Verbrechen aus nichtigem Anlass,

Entwertung des alten, schwachen, gebrechlichen, homosexuellen oder zu einer gesellschaftlichen Randgruppe gehörenden Opfers,

äußere Zweck- und Sinnlosigkeit der Tathandlung (Unverhältnismäßigkeit zwischen Straftat und erhofftem oder erlangtem „Gewinn“),

mangelndes Unrechtsbewusstsein und fehlendes Verantwortungsgefühl der Gruppentäter,

großes Solidaritätsgefühl und Gefühl der Gruppenüberlegenheit,

unklare oder undurchsichtige Rollenverteilungen.

S. Muster 9, Rn. 516 – Antrag auf Begutachtung zur Schuldfähigkeit bei Gruppendynamik.

16

Allerdings gibt es Fälle, in denen die Geltendmachung des Gruppenzusammenhangs zur Anwendung eines schwereren Straftatbestandes führen kann, nämlich dann, wenn die bandenmäßige Begehung im Tatbestand strafschärfend bewertet wird. Entgegen der in der Literatur vertretenen Ansicht,[50] wonach Jugendgruppen aufgrund ihrer Besonderheiten nicht als „Bande“ i.S.d. strafschärfenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs angesehen werden können, geht die Rechtsprechung davon aus, dass von Jugendgruppen begangene Straftaten durchaus tatbestandsmäßig „bandenmäßig“ begangen sind mit den entsprechenden Folgerungen für den Schuldspruch.[51]

2.Alkohol, Drogen, Sucht

17

Es ist nicht verwunderlich, dass in einer Gesellschaft, in der die Einnahme von Drogen (Nikotin, Alkohol, Tabletten) in der Erwachsenenwelt zum Alltag gehört, auch junge Menschen in ihrer Übergangssituation Drogenerfahrungen machen und dabei in ihrem Probierverhalten vor legalen und illegalen Drogen (Konsum von Haschisch und Marihuana, Heroin, Kokain oder synthetischer Drogen, „Schnüffeln“ von Lösungsmitteln etc.) nicht Halt machen. Rauchen, Trinken und Drogeneinnahme haben zunächst den Reiz des Verbotenen, den Reiz des Eindringens in die Erwachsenenwelt, sind daneben Bestandteil von Gruppenerlebnissen (Party, Clubs). Der dauerhafte Konsum von Alkohol oder Drogenkontakt stellt sich häufig als Fluchtverhalten sowie als Versuch dar, durch die im Alkohol- oder Drogenrausch erlebten Glücksgefühle oder Überhöhungen des Selbstwertgefühls partiell einen (scheinbaren) Ausweg aus der eigenen Problemsituation zu finden.[52]

18

Zwar geht der regelmäßige Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener seit den 1970er Jahren kontinuierlich zurück,[53] dennoch wird weiter ein erheblicher Teil der von Jugendlichen und Heranwachsenden verübten Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen.[54] Die Probleme bei Alkoholkonsum treten zugespitzt in Form modischer Verhaltensweisen auf; die Jugendlichen nennen das auch „Koma-Saufen“ („binge drinking“).

Da bei Alkohol vor allem die Selbstkontrolle eingeschränkt oder ausgeschaltet wird und der Alkohol enthemmende Wirkung entfaltet, bedarf es oft nur eines geringfügigen Anlasses, um die Gefahr aggressiver Entladung zu verwirklichen. Dies gilt vor allem für die Jugendlichen, die Alkohol in schwierigen Lebenssituationen in dem bewussten oder unbewussten Wunsch konsumieren, ihre eigene schwierige Situation, das Empfinden des Scheiterns oder des Versagens, zu überwinden und sich selbst als groß und mächtig zu erleben.[55] Der Verteidiger wird in diesem Zusammenhang klären und thematisieren, dass bei jungen Tätern die von der Rechtsprechung entwickelten Faustregeln der Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Schuldfähigkeit (verminderte Schuldfähigkeit ab 2 ‰, Ausschluss der Schuldfähigkeit ab 3 ‰)[56] nicht einfach unbesehen übernommen werden können. Vielmehr ist insb. eine Prüfung der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) schon bei Blutalkoholwerten unter 2 ‰ angezeigt.[57] In Zweifelfällen darf sich der Tatrichter nicht auf eigene Sachkunde verlassen, sondern muss einen Sachverständigen hinzuziehen.

19

Entgegen weitverbreiteter Meinung ist auch der Drogenkontakt für die weitaus meisten jungen Menschen nur eine Episode, kein „Einstieg“ in eine irreversible Drogenkarriere, ebenso wenig wie die Einnahme von Haschisch notwendig dazu führt, dass über dieses oft „Einstiegsdroge“ genannte Betäubungsmittel stets der Weg zu harten Drogen führt.[58] Junge Menschen wollen dazugehören, das ausprobieren, was andere machen, wollen ihre Erfahrungen erweitern, Grenzen überschreiten und sich auch von Verboten und Geboten der Erwachsenenwelt abgrenzen. Das „Kiffen“ gehört dazu.[59] Aber auch das zeitweilig in Mode gekommene, weil in der Apotheke mit gefälschten Rezepten zu erhaltene, Schmerzmittel Tilidin wird zunächst nur genommen, um sich in Auseinandersetzungen schmerzunempfindlich behaupten zu können und sich dabei unüberwindlich und großartig zu fühlen.[60] Der Drogenkonsum junger Menschen wird aber dann zu einer regelmäßig nur noch durch geeignete Therapien zu überwindenden Gefahr, wenn eine Suchtabhängigkeit entsteht und das gesamte Leben vom Streben beherrscht wird, an die Droge heranzukommen und die dafür erforderlichen Mittel auf welche Art auch immer zu beschaffen. Der Finanzbedarf für die Beschaffung illegaler, insb. „harter“ Drogen (vor allem Kokain, Ecstasy und Amphetamin sind im Vormarsch) wird von den jungen Mandanten mit mindestens 50–150 € pro Tag angegeben. Schlimmer noch als die durch die Beschaffungskriminalität angerichteten Schäden sind der Raubbau an der Gesundheit und die soziale Vereinsamung und Verelendung der drogenabhängigen jungen Täter.[61] Hinzu kommt, dass der Jugendliche sich zum illegalen Erwerb der Drogen im Regelfall ins kriminelle Milieu begeben muss.[62]

20

Wie beim Alkohol- wird man auch beim Drogenkonsum annehmen können, dass eine verminderte Schuldfähigkeit schon dann in Betracht kommt, wenn noch nicht alle von der Rechtsprechung bei Erwachsenen formulierten Anforderungen an die Annahme einer die Schuld erheblich mindernden oder möglicherweise sogar ausschließenden Drogensucht erfüllt sind. Die Rechtsprechung geht bei Erwachsenen davon aus, dass die Drogenabhängigkeit für sich noch nicht den Zustand verminderter Schuldfähigkeit indiziert. Vor allem bei einem chronischen Drogenmissbrauch mit nachteiligen Auswirkungen auf das Persönlichkeitsgefüge oder dann, wenn der Täter unter akuten körperlichen Entzugserscheinungen leidet oder aber die Angst vor zuvor schon als äußerst unangenehm erlebten Entzugserscheinungen die Triebfeder des strafbaren Handelns ist, ist § 21 StGB anwendbar.[63]

21

Eine bestehende Drogenabhängigkeit hat regelmäßig auch unabhängig von den lebensgeschichtlichen Zusammenhängen aus denen heraus sie entstanden ist, negative Auswirkungen auf die Entwicklung der sozialen Reife und ist ein wichtiges Indiz für die Anwendung von Jugendstrafrecht i.S.d. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG.[64] Umgekehrt ist allein die Feststellung, dass ein junger Angeklagter harte Drogen erworben hat, nicht ausreichend, um allein hieraus Rückschlüsse auf das Vorliegen von schädlichen Neigungen zu rechtfertigen, die eine Jugendstrafe erforderlich machen.[65] Zu Recht wird auch davor gewarnt, auch schon bei sehr jungen oder erst seit relativ kurzer Zeit drogengefährdeten oder drogenabhängigen jungen Tätern eine länger angelegte stationäre Entwöhnungsbehandlung anzuordnen, da diese sehr einschneidende Maßnahme sie unverhältnismäßig stigmatisiert und darüber hinaus die Gefahr besteht, dass durch die dauernde Beschäftigung mit der Droge einerseits, den Kontakt zu anderen drogengefährdeten Menschen andererseits die Weisung (§ 10 Abs. 2 JGG) kontraproduktive Wirkung hat und den jungen Delinquenten am Drogenkonsum festhält.[66] Streitig ist, ob eine Therapie die Freiwilligkeit des Patienten voraussetzt oder justizieller Zwang oder zumindest der durch solchen Zwang verursachte Leidensdruck eine (noch) nicht vorhandene Therapiemotivation fördern können.[67] Das JGG und Regelungen des BtMG sprechen sich tendenziell für die Freiwilligkeit aus (§§ 10 Abs. 2, 23 Abs. 2 JGG, § 37 BtMG, § 82 JGG i.V.m. §§ 35, 36, 38 BtMG). Typisch für den „Weg aus der Sucht“ ist, dass vor einem Behandlungserfolg zunächst eine Reihe zunächst vergeblicher Therapieversuche steht; ein früherer Therapieabbruch reicht also nicht aus, um bei einem erneuten Versuch die Therapiebereitschaft zu bezweifeln oder von vornherein eine ungünstige Prognose zu stellen.[68]

22

Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang noch die Spielsucht, in der psychiatrischen Krankheitslehre katalogisiert als „pathologisches Spielen“. Häufig wird der den zur Aburteilung stehenden Taten zugrundeliegende Geldbedarf nicht hinterfragt. Gerade bei Heranwachsenden nimmt aber die Zahl derjenigen, die alles Geld an Spielautomaten oder bei Sportwetten verlieren, zu.[69] Um Auswirkungen für die Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB zu erlangen („schwere seelische Abartigkeit“), reicht aber allein chronisches Spielen nicht aus. Maßgebend ist vielmehr, inwieweit das gesamte Erscheinungsbild des jungen Täters bei Zugrundelegung der in der Literatur aufgeführten Beurteilungskriterien psychische Veränderungen der Persönlichkeit aufweist, die in ihrem Schweregrad der krankhaften seelischen Störung gleichwertig sind. Die maßgeblichen Kriterien des ICD 10 sind: Spielen wird zum zentralen Lebensinhalt, es tritt Kontrollverlust ein, die Einsätze, Gewinne und Verluste werden gesteigert, ohne Spielen treten entzugsähnliche Erscheinungen auf, trotz hoher Verluste kann der Betroffene nicht aufhören und muss die Verluste zurückgewinnen, er ist zur Abstinenz nicht in der Lage, zieht sich aus seinem sozialen Umfeld zurück, gibt alle anderen Interessen auf und begeht Handlungsweisen, die einer bewussten Selbstbeschädigung gleich kommen.[70]

3.Einfluss der Medien

23

Unter dem Eindruck der Amokläufe von Schülern (Erfurt am 26.4.2002, Emsdetten 20.11.2006, Winnenden 11.3.2009)[71] und der Berichte über Vorbereitungen zu entsprechenden Taten in anderen Städten ist die Diskussion über den Einfluss der Medien durch Gewaltdarstellungen in Film, Fernsehen, Videos und Computerspielen wieder entbrannt. Die Täter hatten jedenfalls auch zu gewaltverherrlichenden Computerspielen Kontakt, so dass sich die Frage stellt, ob vor dem Hintergrund der Fehlverarbeitung des eigenen Versagens und erlittener Kränkungen der Konsum solcher Videos zu Einflüssen oder Abhängigkeiten führt, die extreme Gewaltbereitschaft bewirken. Diese Frage ist bisher nicht schlüssig beantwortet worden. Es wird auch die Auffassung vertreten, dass Gewaltdarstellungen in Medien die tatsächliche gesellschaftliche Gewalt nicht prägt, sondern angesichts der alltäglichen Berichterstattung über (Bürger-)Kriege, Terroranschläge und blutige Taten nur spiegelt.[72] Zwar ist ein direkter Kausalzusammenhang zwischen dem Konsum von Gewaltvideos und eigenem gewalttätigen Verhalten bisher nicht nachgewiesen, wohl aber die signifikant zunehmende Akzeptanz „männlicher“ Gewalt durch Jungen, die am Computer Kampfspiele austragen.[73]

Horror- oder Gewaltvideos können aber im Einzelfall, insb. bei einer vernachlässigten oder gestörten Persönlichkeit, das Verhalten und die Schuldfähigkeit beeinflussen. So hat ein erst 14 Jahre alter Täter Horrorszenen eines Videos, in dem der „Held“ seinen Feinden den Kopf zertrümmert, nachgespielt und seine Verwandten damit zu erschrecken versucht. Als er befürchtete, sich sonst lächerlich zu machen, verletzte er u.a. seine Cousine mit dem Beil am Kopf. Ihm wurde eine zur Anwendung der §§ 20, 21 StGB führende Sucht anerkannt, Horror-Videos zu sehen, sich in die dort gezeigten Rollen hineinzuversetzen und den Bezug zur Realität derart zu verlieren, dass er die Anerkennung der angenommenen Rolle aus der Horror-Phantasiewelt mit Gewalt durchsetzte. Dieser Ansatz ist allerdings fraglich. Insbesondere bei sehr jungen Tätern wird man viel eher an fehlende Verantwortungsreife, § 3 S. 1 JGG, denken müssen. Ein junger Beschuldigter, der sich so sehr selbst überlassen ist, dass er regelmäßig Horror-Videos konsumiert und das Gesehene spielend nacherlebt, dürfte kaum eine seinem Entwicklungsstadium angemessene elterliche Beaufsichtigung und Erziehung genießen. Wer seine Umwelt notfalls mit Gewalt dazu bringen will, die Schreckensrolle, die er spielen will, anzuerkennen, dürfte Zweifel an seiner Verantwortungsreife wecken.[74]

Ob man den wiederholten exzessiven Konsum von Gewaltvideos überhaupt als „Sucht“ ansehen kann, ist fraglich.[75] Dies wird aber von Suchtforschungsstellen neuerdings bejaht. Suchtgefahr besteht, wenn der Jugendliche keine Freunde mehr trifft, kein anderes Hobby kennt, über dem Computerspiel Verabredungen und Pflichten im Haushalt vergisst, die Hausaufgaben vernachlässigt, der Videokonsum sich immer mehr steigert, er sich an Absprachen mit seinen Eltern über die Computernutzung nicht mehr hält und verbal oder sogar körperlich aggressiv reagiert, wenn er weniger Computer spielen soll.[76]

4.Junge Ausländer, Aussiedler und Flüchtlinge

24

In der Kriminologie ist es eine Binsenweisheit, dass der sich aus den Polizeistatistiken ergebende Eindruck, ausländische Jugendliche seien generell stärker, nämlich zwei- bis dreifach mehr kriminell belastet als gleichaltrige deutsche Jugendliche, fragwürdig ist. Dies nicht nur deshalb, weil sich bereits in den Verurteiltenzahlen eine deutliche Nivellierung abzeichnet, sondern auch, weil die Vergleichsgruppenbetrachtung angesichts unterschiedlicher Zusammensetzung ungeeignet ist[77] und ein nicht unbeträchtlicher Teil der von der Polizeistatistik erfassten Straftaten solche sind, die nur von Ausländern begangen werden können (Verstöße gegen das Ausländerrecht).

Betrachtet man die Lebensumstände vieler junger Ausländer („Gastarbeiterkinder der zweiten oder dritten Generation“), ist festzustellen, dass bei ihnen strukturell eine Häufung solcher Umstände vorliegt, die nach aller Erfahrung eher dazu führen, dass junge Menschen in Straftaten verwickelt werden:[78] unvollständige Familien (ein Elternteil lebt z.B. im Ausland), Pendelerziehung zwischen Angehörigen im Ausland und hier lebenden Elternteilen, manchmal Übersiedlung aus allein aufenthaltsrechtlichen Gründen erst kurz vor dem 16. Lebensjahr, enge Wohnverhältnisse für vielköpfige Familien, weitgehender Ausfall der Eltern als Erziehungspersonen, weil beide angesichts der wirtschaftlichen Notsituation berufstätig sein müssen, Überforderung der älteren Geschwister mit der Sorge für die jüngeren Kinder. Das Erlernen sozialer Muster nach dem Vorbild der erwachsenen Erziehungspersonen wird erschwert, weil junge Ausländer erleben, dass ihre Eltern ihrerseits den sozialen Anforderungen der hiesigen Gesellschaft nicht gerecht werden, sie beruflich oder in der Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Behörden oder Mitbürgern versagen. Junge Ausländer müssen sich mit verschiedenen Kulturen und Identitäten auseinandersetzen, zum einen den herkömmlichen Werten, wie sie meist noch in den Familien intern vertreten werden, zum anderen den Anforderungen der deutschen Gesellschaft, mit denen sie im Umgang mit Freunden, auf der Straße, bei Behörden und vor allem in der Schule konfrontiert werden. Damit ist oft verbunden, dass sie sich weder in ihrer Heimat- noch in der deutschen Sprache wirklich fehlerfrei verständigen können. Die Situation wird verschärft durch vielfach schlechte rechtliche Rahmenbedingungen, insb. wenn wegen der ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Situation Schwierigkeiten bestehen, eine Arbeitserlaubnis zu erlangen.[79] Ähnliche Problemkonstellationen sind bei jungen Aussiedlern festzustellen.[80]

25

Mit der im Jahr 2015 einsetzenden Flüchtlingskrise und der „Grenzöffnung“ aus dem September 2015 trat die Gruppe der jugendlichen und heranwachsenden – oft unbegleiteten – Flüchtlinge verstärkt in den Fokus.[81] Bei dieser Gruppe stellen sich die oben angerissenen Probleme in besonderem Maße: In den meisten Fällen sind diese Jugendlichen familiär und kulturell entwurzelt, haben traumatische Fluchterlebnisse hinter sich[82] und leben hier bis zu ihrer (teils auch nur zeitlich begrenzten) aufenthaltsrechtlichen Anerkennung mit unklarer Perspektive in schwierigsten Wohnverhältnissen ohne erwachsene Bezugspersonen. Obwohl in der medialen Berichterstattung aus dieser Gruppe heraus begangene Straftaten teils überzeichnet, dramatisierend und manchmal auch schlicht falsch[83] dargestellt werden, zeigen aktuelle statistische Erhebungen, dass der Anteil delinquenter jugendlicher und heranwachsender Flüchtlinge – vor allem bei Rohheitsdelikten – überproportional zu sein scheint.[84] Berichte über entsprechende Straftaten und über die überproportional hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler geben immer wieder Anlass zu erregten tagespolitischen Debatten und dem Ruf nach Verschärfungen im Straf- und Ausländerrecht. Bei den entsprechenden Diskussionen darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass die überproportionale statistische Präsenz der Straftaten solcher Flüchtlinge zum Teil auch darauf zurückzuführen ist, dass die Gruppe der männlichen 14- bis unter 30-Jährigen, bei denen (Gewalt-)Straftaten besonders häufig vorkommen, unter den Flüchtlingen deutlich überrepräsentiert ist. Bezeichnend ist darüber hinaus auch, dass Flüchtlinge aus Ländern, die hier keine Aussicht auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben oder deren Asylanträge bereits abgelehnt wurden und denen nun – oft auch unter Herauslösung aus ihrem Familienverbund – die Abschiebung droht, überproportional oft strafrechtlich in Erscheinung treten, während Flüchtlinge aus anerkannten Kriegsgebieten, die mit der Zuerkennung eines entsprechenden Schutzstatus rechnen können, deutlich seltener der Fall ist. Zu beachten ist schließlich, dass jedenfalls die Gewaltstraftaten sich zu einem großen Teil gegen andere (meist männliche) Flüchtlinge richten und ersichtlich auf in den beengten und emotional aufgeladenen Wohnverhältnissen der Flüchtlingsunterkünfte entstandene Konflikte zurückgehen.[85]

Ob die im März 2022 infolge des Ukrainekrieges einsetzende Flüchtlingsbewegung zu ähnlichen Belastungen der fluchtbetroffenen jungen Menschen führen wird, bleibt abzuwarten. Zwar gibt es auch hier traumatische Fluchterfahrungen und Aspekte kultureller Entwurzelung, andererseits reisen weitaus weniger unbegleitete junge Flüchtlinge ein und aufgrund des EU-weit zuerkannten Schutzstatus verfügen diese Personen über eine stabilere Aufenthalts- und Bleibeperspektive und erhalten von Anfang an dieselben Sozialleistungen wie deutsche Staatsangehörige.

26

Alle diese Faktoren müssen im Einzelfall bei der Würdigung des strafbaren Verhaltens eines jungen Ausländers Berücksichtigung finden. Die schwierige Lebenssituation junger Ausländer und ihre Auswirkungen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Möglichkeit adäquaten sozialen Lernens sind insb. bei der Verantwortungsreife, bei der Frage nach schädlichen Neigungen oder Schwere der Schuld, bei der Frage der Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und natürlich bei der Bemessung der jugendstrafrechtlichen Reaktion zu berücksichtigen. Die rechtlichen Besonderheiten ihrer aufenthaltsrechtlichen Position dürfen dabei nicht aus den Augen verloren werden. Ein unzulässiger Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG ist es, wenn Straftaten von Ausländern wegen ihrer Ausländereigenschaft („Missbrauch des Gastrechts“) härter bestraft werden als solche von deutschen Staatsangehörigen – eine Praxis, die leider so häufig vorkommt, dass der Bundesgerichtshof sie immer wieder korrigieren muss.[86] Umgekehrt begründet natürlich auch die Ausländereigenschaft für sich noch keinen Strafmilderungsgrund,[87] allerdings können besondere Umstände (Verständigungsprobleme, wesentlich abweichende Lebensgewohnheiten, erschwerte familiäre Kontakte) zu einer bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Hafterschwernis führen.[88]

27

Die ernsthafte Gefahr einer Ausweisung oder Abschiebung als Folge eines Strafurteils muss schon bei erwachsenen Ausländern als Strafzumessungsgrund zu ihren Gunsten berücksichtigt werden. Erst recht gilt das dann für junge Ausländer. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG muss eine Ausweisung erfolgen, wenn der Aufenthalt eines Ausländers die öffentliche Sicherheit gefährdet und das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.[89] Das Ausweisungsinteresse wiegt dabei gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer oder mehrerer (beliebiger) vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren. Eine Jugendstrafe in Höhe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, reicht insoweit aus. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse zudem besonders schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlich begangener Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung[90] oder das Eigentum.[91] Auch in diesen Fällen reicht eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe von mindestens einem Jahr aus. Gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten nach § 263 StGB zu Lasten eines Leistungsträgers oder Sozialversicherungsträgers nach dem Sozialgesetzbuch oder nach dem Betäubungsmittelgesetz. Auch insoweit reicht eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe aus. Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse zudem schwer bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer oder mehrerer (beliebiger) vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, wenn die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. An diesen hier nur überblickshaft dargestellten Ausweisungsregelungen imponiert vor allem die Inkohärenz des neuen Regelungssystems, nach dem bei zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafen trotz positiver Legalprognose eine Ausweisung in Betracht kommt.

Diese Rechtslage muss im Jugendstrafverfahren eingehend geprüft und gewürdigt und im Verfahren vorgebracht werden. Es dürfte kaum mit dem Gebot, wonach die Jugendstrafe so zu bemessen ist, dass sie erzieherisch wirken kann (§ 18 Abs. 2 JGG), zu vereinbaren sein, junge Ausländer durch eine entsprechende Jugendstrafe sehenden Auges in eine völlig unsichere, für die weitere Entwicklung schädliche Situation in das Heimatland zurückzuzwingen. Sie beherrschen die Heimatsprache oft nur teilweise, haben keinen Bezug zu Kultur und geltenden Regeln des Herkunftslandes, haben dort meist keine näheren Bezugspersonen und werden von ihren Landsleuten im Heimatland oft argwöhnisch bis feindselig betrachtet und als „Leute aus Deutschland“ diskriminiert.

28

Bei jungen Flüchtlingen stellen die oft nicht ausreichenden Deutschkenntnisse eine zusätzliche – für sie ungünstige – Problematik da.[92] Diese führt in der Rechtspraxis dazu, dass niedrigschwellige ambulante Maßnahmen, die gute Deutschkenntnisse voraussetzen (Anti-Aggressions-Training, Beratungsgespräche, Betreuungsweisung, soziale Trainingskurse) mangels entsprechender auf Flüchtlinge zugeschnittener Angebote seltener verhängt und stattdessen schnell mit stationären Sanktionen, wie z.B. Arrest, reagiert wird.[93] Viele ambulante Maßnahmen setzen die Zustimmung des Vormundes des jungen Flüchtlings voraus oder sind nur mit dessen Einbindung sinnvoll durchführbar, Vormünder sind jedoch oft (noch) nicht bestellt oder kurzfristig nicht erreichbar.[94]

Problematisch gestaltet sich bei heranwachsenden Flüchtlingen zudem in der Rechtspraxis zunehmend die Reifeentscheidung i.S.d. § 105 Abs. 1 JGG, wo es – neben den häufig auftretenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung des tatsächlichen Alters[95] – zu Fehlschlüssen kommt, bei denen aus der durch die Flucht aus dem Heimatland erzwungenen frühzeitigen Verselbständigung vorschnell auf das Nichtvorliegen von Reifeverzögerungen geschlossen und deshalb das Erwachsenenstrafrecht angewandt wird.[96]

29

Ein Sonderproblem stellen bei jungen Ausländern solche schweren Gewalttaten, oft auch Kapitaldelikte, dar, die zur Verteidigung der Familienehre begangen werden. Manchmal gewinnt man im Strafverfahren den Eindruck, dass die Familie ihre Jugendlichen vorschickt („delegiert“), um den aus der Heimat tradierten, hier oft besonders hartnäckig verteidigten Moralvorstellungen zum Erfolg zu verhelfen, wobei in Deutschland die Schlichtungsinstanzen, die im Heimatland oft die schlimmsten Folgen abwenden können (Rat der Dorfältesten, Schlichtung durch einen angesehenen Mekkapilger oder einen im Recht des Koran versierten weisen Mann), fehlen. Das Vorschicken junger männlicher Familienmitglieder zur Verteidigung der Familienehre hat dabei zum Teil wirtschaftliche Gründe – der eigentlich zum Handeln berufene Vater ist der Alleinverdiener der Familie –, mag im Einzelfall aber durchaus auch zum Hintergrund haben, dass die Existenz eines eigenständigen, milderen Jugendstrafrechts bekannt ist. Der junge Ausländer wird sich dem Anspruch der Familie kaum entziehen können. Er steht in einem direkten Interessen- und Identitätskonflikt und wird zur Tat entweder angestiftet oder doch zumindest moralisch getrieben. Dass nicht er diese Entscheidung getroffen hat, sondern die erwachsenen Familienangehörigen, wird er niemals einem Gericht und selten einem Verteidiger offenbaren.

Dennoch ist zu versuchen, die Hintergründe, die Moral- und Rechtsvorstellungen des Herkunftslandes und die daraus folgende „Pflicht“ männlicher Familienangehöriger, die Ehre zu verteidigen, zu ermitteln und zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung ist schon bei Erwachsenen die Tatsache, dass sie aus einem fremden Kulturkreis stammen und noch nicht lange genug in Deutschland leben, um erkennen zu können, dass die eingewurzelten Vorstellungen im Widerspruch zu dem hier geltenden, für sie verbindlichen Recht stehen, zugunsten eines Angeklagten zu berücksichtigen. Die Tötung in Blutrache wird zwar als „niedriger Beweggrund“ i.S.d. § 211 StGB angesehen,[97] führt aber bei einem ausländischen Täter dann nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes, wenn der Ausländer noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht war, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte.[98] Eine Tat, begangen aus einem Kulturkonflikt heraus, kann zur Annahme eines minder schweren Falles führen oder die „Schwere der Schuld“ ausschließen.[99] In allen Fällen, in denen Kulturkonflikte, „Delegation“ bei der Verteidigung der Familienehre oder sonstige Verstrickungen in Straftaten aufgrund familiärer Abhängigkeitsverhältnisse oder Moralvorstellungen in Rede stehen oder nahe liegen, ist es zunächst angebracht, das Geständnis des jungen Mandanten auf seine Richtigkeit hin zu hinterfragen, denn in manchen Fällen nimmt ein junges Familienmitglied die Tat auf sich, um die älteren Angehörigen, denen höhere Strafen nach Erwachsenenrecht drohen, zu schützen.[100] Sonst aber ist es im Einzelfall durchaus angebracht, dass ein Sachverständiger für Ethnologie die im Heimatland und in der Herkunftsfamilie des jungen Ausländers geltenden Sitten, Gebräuche und Moralvorstellungen dem Gericht erläutert. Die Ergebnisse und ihre Bewertung durch diesen Sachverständigen können auch für den Psychologen oder Psychiater, der Aussagen zur Schuldfähigkeit machen soll, von Bedeutung sein.[101]

S. Muster 8, Rn. 515 – Antrag auf Einholung eines ethnologischen Gutachtens.

Diese bei der Verteidigung junger Ausländer zu berücksichtigenden Besonderheiten sind nicht auf Kapitaldelikte beschränkt. Wenn ein Heranwachsender in Ausnutzung seiner Abhängigkeit von seiner türkisch-kurdischen Familie in den von dieser Familie betriebenen bandenmäßigen Betäubungsmittelhandel verstrickt worden ist, muss dies erheblich schuldmindernd berücksichtigt werden und rechtfertigt jedenfalls keine über fünf Jahre hinausgehende Jugendstrafe.[102]

5.Mehrfach Auffällige, Intensivtäter

30

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass mehrfach auffällige junge Täter, auch genannt Intensivtäter, Mehrfach- oder Schwellentäter, Serientäter etc., die eigentliche Problemgruppe des Jugendstrafrechts darstellen. Bei ihnen summieren sich die vielfältigen Faktoren, welche die „normale“ Jugendkriminalität verstärken und zu einer kriminellen Karriere führen.[103] Dazu gehören Sozialisationsdefizite, Erleben häuslicher Gewalt, beziehungsunfähige Eltern, das broken-home-Syndrom, Loyalitätskonflikte, negative Einflüsse der peer group, aber auch psychische Auffälligkeiten bis hin zu psychiatrischen Diagnosen wie Störung des Sozialverhaltens, Bindungsstörung, ADHS, posttraumatische Belastungsstörungen und natürlich auch Alkohol- und Drogenabusus.[104] Es ist aber bisher nicht gelungen, aussagekräftige Kriterien zu finden, die eine frühzeitige Entscheidung erlauben, wer zu dieser Problemgruppe gehört und wer nicht.[105] Es geht hier nicht nur um spektakuläre Taten wie aufsehenerregende Morde, Sittlichkeitsverbrechen oder schwere Brandstiftung an Asylheimen, sondern auch um alltägliche Fälle vor den Jugendgerichten (Diebstahl, „Abziehen“ etc.), nur mit der Besonderheit, dass die jungen Angeklagten immer wieder vielfältig vor den Jugendgerichten in Erscheinung treten. Für diese Jugendlichen wurde früher der diskriminierende Begriff der „Verwahrlosung“ gebraucht, der nach §§ 64, 65 JWG (außer Kraft getreten 1990) die Anordnung von Fürsorgeerziehung rechtfertigte, während das neue Jugendhilferecht nunmehr „Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen“ vorsieht, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung sonst nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist (§§ 27 Abs. 1, 34 SGB VIII).[106]

31

Die Jugendkriminologie versucht, die Karriere von Mehrfachtätern idealtypisch in acht Phasen zu erfassen:[107] (1) Ein Jugendlicher begeht ein kleines Delikt zur Lösung eines Problems. Er erfährt Hilfe durch Eltern oder Freunde oder kann durch sonstige Erfolgserlebnisse das Problem kompensieren. Ohne eine solche Problemlösung kommt es zu (2) einer erneuten Verfehlung. Wenn er Glück hat, wird er erneut offiziell nicht erfasst oder es hilft ihm jemand, ohne dass seine Umwelt darauf reagiert; andernfalls wird er ertappt und „bestraft“, muss beim Jugendamt erscheinen oder erhält gar vom Jugendgericht eine Weisung. (3) Das ursprüngliche Problem vertieft sich. Wenn er Glück hat, wird der Jugendliche von seinen Altersgenossen einigermaßen aufgefangen, soweit er in eine „intakte Gruppe“ kommt. Ist seine peer-group das nicht, sucht der Jugendliche seine Selbstbestätigung in der jugendlichen Bande, sein Delikt führt zur Anerkennung in derselben, Strafe wird als Ungerechtigkeit abgelehnt. (4) Es wird immer wahrscheinlicher, dass er bei einem neuen Delikt erwischt wird, positive Lösungen werden immer unwahrscheinlicher, die Sanktionen werden, schon wegen der unvermeidlichen Abstempelung, härter. (5) Der Jugendliche gilt nun offiziell als „delinquent“. Obwohl immer mehr Einfühlungsvermögen, Verständnis und gezielte aktive erzieherische Hilfe notwendig wären, um den Prozess aufzuhalten, schränkt sich der Handlungsspielraum immer mehr ein: Der Jugendliche muss die Schule wechseln, verliert die Lehrstelle, darf den Führerschein nicht machen und rechnet sich selbst zu den „Delinquenten“. (6) Jetzt beginnt eine delinquente Rollenkarriere, und eine normale Sozialisation wird nahezu unmöglich gemacht. Es werden ihm „schädliche Neigungen“ bestätigt, und er erfährt eine Rollenfestlegung von außen als Dieb, Schläger, Rocker, Drogenkonsument etc. (7) Er wird in eine Jugendstrafanstalt eingewiesen, die Rolle wird endgültig verfestigt und die Probleme, die ihn ins Gefängnis geführt haben, verstärken sich. Anerkennung und Vorteile erhält er nur noch im Rahmen seiner negativen Rollenfixierung. (8) Nach der Entlassung ist er vorbestraft und isoliert, zu den alten Problemen kommen neue hinzu mit Vermietern, Arbeitgebern, so dass er sich eigentlich nur noch an andere Vorbestrafte anschließen kann.

32

Nach der Faustregel der Praxis gehört zur Gruppe der „mehrfach Auffälligen“ derjenige, der mehr als fünfmal mit Taten, die nicht nur Bagatellcharakter haben, jugendgerichtlich in Erscheinung getreten ist.[108] Die Berliner Intensivtäterrichtlinie nennt als Zielgruppe Personen, die durch besonders intensive kriminelle Energie auffallen in Hinblick auf besondere Gewaltanwendung, Rücksichtslosigkeit, Opferauswahl, zeitliche Abfolge der Straftaten, Mangel an Einsicht und/oder Resozialisierungsbereitschaft, Tatbegehung während Freigangs, offenen Vollzugs, Hafturlaubs, Haftverschonung, Bewährung. Sie definiert als Intensivtäter