Vertrauen - Schuld - Angst - Ralf Veith - E-Book

Vertrauen - Schuld - Angst E-Book

Ralf Veith

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Beschreibung

Was haben ein Polizist, ein kleiner Junge und ein Kioskbesitzer gemeinsam? Sie alle kreuzen in unterschiedlicher Weise den Lebensweg von Menschen, die psychische Grenzerfahrungen gemacht haben. Jede dieser Begegnungen bleibt nicht ohne Folgen und hinterläßt auf ihre ganz eigene Art Spuren bei den Beteiligten. Ein Plädoyer für vorurteilsfreie Begegnung von Menschen, den eigenen Standpunkt zu verändern, für ein aufeinander Zugehen und dem voneinander Lernen. Drei Erzählungen, die den Leser einladen, an den Gedanken, Erlebnissen und Veränderungen der Handelnden teilzunehmen, in die Geschichten einzutauchen und diese mit eigenem Erleben zu füllen, um hierdurch bereichert aufzusteigen.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Vertrauen - Schuld - Angst

Vertrauen - Schuld - AngstGedanken zum Anfang und zum SchlussDas GeräuschDie MauerDas Ganze

Vertrauen-Schuld-Angst

Menschen, Grenzerfahrungen, 

Begegnungen und was dem Leben

eine neue Richtung verleiht

Impressum

Texte & Umschlag: © Ralf Veith

Verlag:RaVe - Selbstverlag

Lektorat:SV-DIN-Lektorat

Gedanken zum Anfang und zum Schluss

Dieses Buch entstand aus dem Wunsch heraus, andere Menschen an den Gefühlen und Sichtweisen von Menschen teilhaben zu lassen, die psychische Grenzerfahrungen bewältigen mussten.

Je mehr man diesen Gefühlen und Sichtweisen Eintritt zu der eigenen Gedankenwelt erlaubt, umso deutlicher kann demjenigen die eigene Verletzbarkeit werden.

Gleichsam wird einem zudem gewahr, wie klein der Schritt seien kann, der einem diese Verletzbarkeit an sich selbst entdecken lässt.

Immer wieder berühren wir als Menschen in unserem Leben die Grenzlinie der Verletzbarkeit, die nie deutlich hervortritt, sondern mit unserem Leben in einem dynamischen Auf- und Ab verbunden ist.

Für das Werden und Wachsen eines jeden Menschen kann es hilfreich sein, sich dem hierdurch ermöglichten eigenen Neuentdecken nicht zu verschließen. Genauso wie es immer verschiedene Weg geben kann, auf denen wir unseren Lebensweg fortsetzen, genau so sind die Erzählungen, die in diesem Buch vereint sind, nie fertig oder festgeschrieben.

Ich habe das Glück, dass ich in den vielen Jahren meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit immer wieder mit Menschen zu tun hatte, die an einer psychischen Beeinträchtigung litten - oder noch leiden - und mir erlaubten, an ihren Erfahrungen und Sichtweisen teilhaben zu lassen.

Ja, ich bezeichne es als Glück – nicht als Belastung, wie es vielleicht von vielen anderen gesehen wird – diesen Menschen begegnet zu sein und freue mich darauf, ihnen auch möglichst weiterhin begegnen zu können. Nicht nur in den Zusammenkünften in Psychoseseminaren, an denen ich seit vielen Jahren teilnehme.

Wenn es um Auswirkungen von psychischen Erkrankungen geht, prägen in den Medien – leider – die Menschen das Bild, die durch ihre psychischen Einschränkungen zu Gewalttaten gedrängt werden, obwohl diese nur einen winzigen Bruchteil aller Menschen mit psychischen Erkrankungen ausmachen. Der mit riesigem Abstand weitaus größere Anteil aller Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, sind oder waren oftmals selbst von Gewalt bedroht bzw. richten meist Gewalt höchstens gegen sich selbst, als dass sie jemals eine Bedrohung für andere darstellen würden.

Vielmehr haben viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen gemein, dass sie über ein hohes Maß an Empfindsamkeit und meist auch Einfühlungsvermögen verfügen, den man oft als Schatz empfinden könnte, wenn dieser nicht auch gleichermaßen oft für den Einzelnen eine Belastung darstellen würde.

Der offene und selbstkritische Austausch über Empfindungen und die verschiedenen Sichtweisen durch und auf die Erfahrungen mit psychischem Erleben können eine Bereicherung für Jeden darstellen, der offen und selbstkritisch durch die Welt schreitet und würde unsere Welt mit Sicherheit positiv, nachhaltig verändern.

Gleichgültig über welche seelische Verletzung ein Austausch im Gespräch stattfindet, meist kommen wiederkehrend intensive Empfindungen zum Vorschein, die mit dem Erleben von Vertrauen, Schuld und Angst in Verbindung stehen.

Die Erzählungen in diesem Buch handeln von Menschen, die in ihrem Leben extremen psychischen Belastungen ausgesetzt waren, ihrem weiteren Lebensweg, ihren Begegnungen und Erfahrungen und gleichzeitig dem Wachsen und Erleben von Personen, die ihnen zufällig begegnen. Dabei zeigen sie immer nur Teile einer Lebensgeschichte, die jeder Leser für sich mit seinen eigenen Eindrücken, ausgehend von den vielen eigenen bisherigen Erlebnissen, füllen kann und wird. Die Erzählungen bieten keine Lösungen und keine festgeschriebene Erkenntnis an. Sie können auch nie ein Gespräch mit freundlich zugewandten Freunden oder Gesprächspartnern ersetzen, können aber bestimmt Anregungen hierfür geben. Das Leben ist und bleibt vielfältig.

Die drei, in sich abgeschlossenen Geschichten in diesem Buch sind frei erfunden, wären aber ohne den Austausch mit betroffenen Experten nicht so entstanden und bereichert worden, wie sie es sind.

In jeder der Geschichten verändert die Begegnung der Akteure untereinander oft das Denken und Empfinden des jeweils anderen. Diese Binsenweisheit an sich erhält in der Begegnung mit Menschen, die eigene psychische Belastungserfahrungen gemacht haben, eine tiefere Bedeutung und birgt die Möglichkeit, in besonderem Maße in sich zu reifen und ein tieferes Verständnis für das zu gewinnen, was uns Menschen bewegt.

In diesem Sinne möchte ich mit diesem Buch keine fertigen Lösungen für ein gegenseitiges aufeinander Zugehen oder Erklärungen warum etwas so oder so passiert bereitstellen, sondern jeden Leser einladen an den Gedanken, Erlebnissen und Veränderungen der Handelnden teilzunehmen, um hierdurch bereichert um einige Gedanken und immer mit einer größeren Achtsamkeit für sich und andere Menschen wieder aufzutauchen.

Einige Inhalte in diesem Buch können für Menschen, die auf ihrem Lebensweg besondere Belastungserfahrungen gemacht haben, verstörend, beängstigend und vielleicht auch symptomverstärkend oder -auslösend wirken. Sollten sie dies an sich verspüren, suchen sie bitte einen Ort und/oder Personen auf, wo sie sich aufgehoben und entlastet fühlen. Vielleicht kann ein dann gemeinsamer Wiedereinstieg in das Buch gelingen, wenn Sie es wünschen.

Danke an...

… meine Frau, meine Kinder, meine Familie und die Freunde und vielen Menschen, die ihre oft ganz persönlichen Erfahrungen mit mir teilen

Das Geräusch

Kapitel:

1. Die Siedlung

2. Draußen

3. Rätsel

4. Gewohntes

5. Phantasie

6. Beständig

7. Begegnung

8. Kontakt

9. Fragen

10. Ein Freund

11. Helfende Hände

12. Selbstverständlich

13. Beobachtungen

14. Helfen

15. Mehr

16. Entscheidung

17. Erlebnisse

18. Besuche

19. Lange Zeit

20. Überrascht

21. Dann

22. Das Bild

23. Gemeinschaft

24. Weggefährten

25. Nachbarn

26. Gedanken

27. Abenteuer

28. Erinnerungen

1. Die Siedlung

"Tick, tick .... tack, tick, tack". Es war schon von weitem zu hören und schallte wie ein Trommelfeuer von den Häuserwänden wieder. Laufen, das konnte ich gut und ich lief wie immer schnell. Das Geräusch hatte sich schon so in mein Gedächtnis gebrannt, dass eigentlich schon das erste "Tick" reichte, dass ich mich in Bewegung setzte, obwohl – jetzt im Nachhinein betrachtet - ich gar nicht so richtig wusste warum. Aber, so war das eben, und so richtig dachte ich wohl damals auch nicht darüber nach.

Auch die Häuserwände schienen jedes Mal zu vibrieren und mit jedem "Tack" wurde es lauter. Obwohl ich die Gänsehaut an meinem Körper spüren konnte, ging doch auch etwas Geheimnisvolles, Unausgesprochenes von diesem Geräusch aus, was mich immer wieder dazu veranlasste, doch nur so weit zu laufen, dass ich es noch leise hören konnte und die Möglichkeit hatte, den Grund für dieses seltsame, in mir furchtauslösende Geräusch zu betrachten. Gleichsam hatte dieses Geräusch ja auch eine magische Anziehungskraft, wie die oft grausamen Märchen, die ich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke verschlingen konnte, obwohl ich wusste, dass die anschließenden Träume mich nicht unbedingt ruhig schlafen ließen. Wie oft hatte ich mich gefragt, warum diese beiden Kinder denn überhaupt erst in den Hexenwald hineingegangen sind oder warum sie nicht sofort wieder herausgelaufen sind. Dann wäre ihnen viel Schreck erspart geblieben. Erst viel später fiel mir meine eigene Antwort darauf ein.

Kauernd hinter ein paar alten Zaunbrettern wartete ich gespannt, bis das Geräusch vorüber war und traute mich erst heraus, wenn wirklich nichts mehr zu hören war. Aber irgendwie war ich auch jedes Mal enttäuscht. Denn obwohl ich mich beim nächsten Mal bestimmt wieder genauso schnell verstecken würde, konnte ich es doch nicht erwarten, dieses mich erregende und gleichzeitig ängstigende Geräusch wieder zu hören.

Karl rannte manchmal mit mir um die Wette, wer als Erster einen Verschlag oder irgendein Versteck erreichen würde. Er wohnte ein Haus weiter in unserer Siedlung, direkt neben uns. Seine langen Beine waren der Grund, warum er doch meistens als Erster das rettende Ziel erreichte. Wenn ich jetzt so zurückdenke, sind seine langen Beine und seine großen, hervorstechende Augen das, was mir am meisten von ihm in Erinnerung geblieben ist. Wir kauerten dann immer eng aneinander geschlungen in einem Versteck und es schien, als ob unser Herzschlag jedes Mal mit dem lauter werdenden, sich nähernden Geräusch an Lautstärke mithalten wollte. Dabei hörte ich seinen Herzschlag meist noch viel lauter als meinen eigenen. Obwohl uns bestimmt keiner hören konnte, so wagten wir doch trotzdem nicht auch nur leise zu tuscheln, bis das Geräusch nicht mehr zu hören war. Dann kamen wir hervor und fuhren mit unserem Spiel oder was wir gerade taten, bevor das Geräusch erklang, fort.

Karl holte mich öfter zum Spielen ab und manchmal spielten wir auch gemeinsam mit anderen Kindern aus unserer Siedlung. Ich konnte es oft kaum erwarten, bis er an unserer Haustür schellte. "Karl ist da, mach' ihm auf", rief meine Mutter dann meist aus der Küche und ich eilte so schnell ich konnte zur Tür, weil ich jedes Mal dachte, er könne, wenn ich nicht schnell genug aufmachen würde, schon wieder gegangen sein.

Karl ging mit mir in eine Klasse und wir verbrachten auch in der Schule viel Zeit gemeinsam. Rückblickend kann ich wohl sagen, dass Karl damals mein bester Freund war. Die Pausen verbrachten wir gerne zusammen oder spielten mit Klassenkameraden. Ich kann mich auch noch gut an die oftmals länger als erlaubt ausgedehnten Pausen und unsere ausgiebigen Wettrennen erinnern, die uns so manchen Tadel der aufsichtführenden Lehrer einbrachten. Gab es mal Streitigkeiten mit anderen Schülern, konnte ich mich fast immer darauf verlassen, dass mein Freund Karl mir beistand. Das Gleiche galt natürlich auch umgekehrt, wie es sich für richtige Freunde gehört.

Auf dem Weg zur Schule und zurück war Karl meist mein Begleiter und wir kannten unseren gemeinsamen Weg so gut, dass wir sogar die Anzahl der großen Randsteine auf dem Weg von unserer Tür bis zu Schule wussten, 374. Ich selbst kannte auch alle Hunde, die morgens schon auf die Kinder warteten, die auf dem Weg zu Schule waren, und die meisten kannten mich. Besonders Jackson, der Hund von Familie Siebert. Jeden Morgen bellte er alle Kinder, die an dem Haus der Sieberts vorbeikamen, laut an, lief am Gartenzaun aufgeregt auf und ab. Nur bei mir machte er eine Ausnahme. Er blieb stehen, guckte mich mit seinen großen, braunen Augen an und ging auf der anderen Seite des Gartenzaun gemeinsam mit mir Schritt für Schritt auf meinem Weg zur Schule, musste aber am Ende des Zauns immer zurückbleiben. Auf dem Rückweg von der Schule wiederholte sich dann die Zeremonie in umgekehrter Richtung. Dabei schien es so, als ob Jackson meinen Stundenplan kannte, denn auch, wenn ich mal früher als sonst von der Schule nach Hause ging, wartete er scheinbar geduldig am Zaun, bis ich vorbeikam und wir gingen wieder unseren kurzen gemeinsamen Weg. Ich mochte ihn und ich glaube er mochte mich. Wir hatten etwas Gemeinsames, das uns verband.

In meiner Erinnerung wohnten wir schon immer in unserer kleinen Siedlung, obwohl – wie ich erst viel später erfuhr – meine Eltern mit mir und meinem Bruder hier hingezogen waren, als ich 2 Jahre alt war. Mein Vater musste den Arbeitsplatz wechseln und obwohl es knapp war, reichte das Geld, das er an seiner neuen Arbeitsstelle verdiente, dass wir uns eine Hälfte eines Doppelhauses in der Siedlung leisten konnten. Die Siedlung bestand aus vielen Doppelhäusern, die, als sie gebaut wurden, alle gleich aussahen. Aber zwei Generationen von Bewohnern hatten die Häuser und ihre Vorgärten und Hinterhöfe verändert, so dass nun jedes Haus etwas anders als seine Nachbarhäuser war.

Die einen Häuser hatten ein Blumenbeet vor dem Haus, andere Sträucher und kleine Büsche, wieder andere waren mit Steinwegen oder Parkbuchten versehen. Nur die Fenster und Türen waren meist noch an derselben Stelle, wo sie vor 50 Jahren gewesen waren. Und so gingen auch viele anderen Veränderungen in unserer Siedlung meist nur langsam voran. Zumindest schien es mir so. Im Nachhinein glaube ich, dass dies so war, weil ich es so sehen wollte und vielleicht auch brauchte. Na ja, aber vielleicht auch nicht. Wer weiß?

Mein Bruder Samuel war 5 Jahre älter als ich. In meiner Erinnerung verging kein Tag, an dem er nicht mit irgendeiner Schramme oder blutenden Wunde nach Hause kam. Er hatte nur eine Leidenschaft: Fußball spielen. Er und seine Freunde waren in unserer Siedlung berüchtigt für eine Vielzahl zertrampelter Beete, umgeknickter Blumen, Flecken an frisch gestrichenen Häuserwänden und der einen oder anderen zu Bruch gegangenen Scheibe. Besonders meine Mutter war eine eifrige Besucherin im Gartencenter, um sowohl die eigenen als auch die Blumen in der Nachbarschaft zu ersetzen und es war nicht nur einmal, dass ein Ball - natürlich unter lautem Protest meines Bruder - für mehrere Tage im Kleiderschrank verschwand und von meinem Vater erst wieder hervorgeholt wurde, als jeder Schaden ersetzt worden war. Ich selbst hatte mit Fußball nicht so viel im Sinn und meine kurze nicht wesentliche Karriere endete spätestens damit, als einmal ein Ball mit voller Wucht mit meinem Kopf Bekanntschaft machte, wobei ich zum Glück aber mit nur einem blauen Auge davon kam.

Meinen Vater sah ich – wie übrigens die meisten der Kinder ihre Väter in unserer Siedlung – meistens nur am Abend und an den Wochenenden.

Er arbeitete im Büro der großen Papierfabrik in unserer Stadt. Wofür er genau zuständig war, verstand ich nicht so genau, aber er musste manchmal auch am Wochenende zur Firma, weil irgendetwas bestellt oder kontrolliert werden musste. So musste immer wieder mal der ein oder andere geplante Ausflug ausfallen. Und ich war nicht der Einzige in unserer Familie, der darüber die eine oder andere Träne vergoss. Meine Eltern lebten eine liebevolle Ehe und es kam nicht selten vor, dass ich in ein Zimmer in unserem Haus hineinplatzte und sie eng umschlungen sah. Ich stürmte dann jedes Mal mit hellrotem Kopf unter Protest meiner Eltern – weil ich wieder mal vor dem Eintreten nicht angeklopft hatte – in mein Zimmer. Alles in allem glaube ich, waren wir eine ganz normale Familie in einer ganz normalen Kleinstadtsiedlung. Wenn dort damals nicht dieses Geräusch gewesen wäre.

Meine Mutter Helen war die gute Seele der Nachbarschaft und immer bereit mit Bepflanzungs-, Backtipps oder auch medizinischem Rat zur Stelle zu sein. Und sie hatte ein hervorragendes Gedächtnis. Ich glaube, wenn es sie nicht gegeben hätte, hätte mein Vater auch nach 20 Jahren in der Siedlung noch keinen einzigen Namen der Nachbarn gekannt. Sie liebte Tiere und es machte den Eindruck, als ob sie auf manchmal wundersame Weise mit ihnen sprechen konnte. Oder zumindest schien es so. Sie konnte an keiner Katze – und davon gab es in unserer Siedlung einige – vorbei gehen, ohne sie liebevoll zu kraulen und es gab Katzen, die sich auch nur von meiner Mutter kraulen ließen. Ich glaube beide Seiten hatten einen Gewinn von diesen Begegnungen. Ich erinnere mich noch gut daran, als zwei aus dem Nest gefallene Dohlen von meiner Mutter mit liebevoll zurechtgemachtem Futter großgezogen wurden und Wochen lang unsere Hausgäste waren, bis sie irgendwann ohne ein Abschiedskrähen davonflogen und nicht mehr zurückkamen. Die Tränen in den Augen meiner Mutter zu sehen war für mich damals schlimmer als die Tatsache, dass wir die Krähen, die auch ich lieb gewonnen hatte, nicht mehr wiedersehen würden. So war unsere Siedlung immer für Neuigkeiten und Abenteuer gut.

Nicht weit entfernt gab es einen Wald und einen Bach, an dem es jeden Tag neues zu entdecken gab, und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es eine schöne und aufregende Zeit gewesen, auch wenn das meiste doch in meiner Erinnerung verblasst ist. Aber nichts blieb mir so in Erinnerung, wie das erste Mal, als ich dieses "Tick, tick .... tack, tick,tack" hörte, dessen unregelmäßige Lautstärke in der Nähe unseres Hauses langsam anschwoll, um dann genauso langsam wieder leiser zu werden.

Wann war es das erste Mal, dass ich dieses ungewöhnliche, mir nicht erklärbare Geräusch hörte? Ich kann mich beim besten Wissen nicht ganz genau daran erinnern. Aber ich weiß noch gut, dass es ein lauer Frühlingstag war. Einer dieser Tage, an denen schon ein Hauch des herannahenden Sommers zu verspüren war und Mutter wieder unseren Garten zu dem machte, was nur sie konnte. Obwohl es eigentlich noch zu kalt war, verführten mich die ersten Sonnenstrahlen doch dazu, mir meine kurze Sommerlieblingshose anzuziehen. Blau, aus Jeans, mit einem Aufnäher an der rechten Seite, der einen roten Sportwagen zeigte. Ich liebte diese Hose, vielleicht, weil sie so viele Erlebnisse mit mir teilte und auch oder gerade weil man ihr ansah, dass sie den einen oder anderen Sturz gemeinsam mit mir gut überstanden hatte.

Karl war damals mit seinen Eltern übers Wochenende zu seinen Großeltern gefahren und somit ein Besuch von ihm nicht zu erwarten. Vor unserem Haus, neben einem der schönen Blumenbeete, die Mutter mit farblich abwechselnden Blumen bepflanzt hatte, hatte ich mir mit Bausteinen eine große Burganlage gebaut und überlegte gerade, wie wohl die Burginsassen sich am besten vor den herannahenden Feinden schützen könnten.

Da hörte ich das "Tick, tick..." zum ersten Mal. Dann eine kurze Pause, dann ein anderes Geräusch, wie ein "Tack...", gefolgt von einem leicht schleifenden undefinierbarem Geräusch. Dann wieder ein "Tick, tick..." ohne das "Tack..", eine Pause und dann wieder von vorne. Mir war so unerklärlich, was dieses Geräusch ausgelöst hatte, dass ich merkte, wie gleichsam Furcht und Neugier in mir aufkam und sich die Burginsassen nun mit ihrem Problem alleine beschäftigen mussten.

2. Draußen

Tim hatte heute gut geschlafen und war nur wenig von Alpträumen geschüttelt worden. Im Übergang vom Traum in das Wachwerden konnte er gut die Vögel hören, die auf dem Baum vor seinem Fenster scheinbar die morgendliche Sonne mit ihren Lauten begrüßten. Trotzdem hielt ihn etwas davon ab, sofort aufzustehen. Es fühlte sich an, als ob ein schweres Gewicht ihn nicht aufstehen ließ. Er wusste, was es für Konsequenzen haben konnte, wenn er später als die anderen Kinder am Tisch im großen Speisesaal sitzen würde, aber irgendetwas, schwer wie Blei ließ ihn einfach nicht aufstehen. So ließ er für eine kurze Zeit weiter seine Augen geschlossen und dreht sich nochmal auf die Seite, die dem Fenster zugewandt war.

Tim war damals froh, als ihm dieser Platz im Schlafraum zugewiesen wurde. Es war ein Bett direkt an einem der wenigen Fenster. Er fühlte sich dort geborgen, auch wenn in kalten Nächten der Wind ungemütlich durch die Ritzen des Fensters zog und ihn seine Bettdecke noch höher als sonst ziehen ließ. Dennoch waren der Wind und das Licht, das ihn oft morgens weckte, wie Verbündete, denn sie kamen von "da draußen".

"Da draußen" war für ihn alles, was außerhalb der großen Festung war und irgendwie schien vieles, was lebte sich "da draußen" abzuspielen. Mit jedem Mal, bei denen sich beide Welten berührten, wurde es für ihn immer schwerer, sich an das "Drinnen" zu gewöhnen, und so vermied er mehr und mehr die Begegnung, auch wenn eine kleine Sehnsucht wach blieb. Und so war es auch wieder an diesem Morgen, als er die Vogelstimmen vernahm.

Das "Drinnen" war ihm so vertraut geworden, dass es ihm gefiel, sich einfach noch etwas länger unter seiner Decke zu verkriechen, gleichsam wissend, was es für ihn für Konsequenzen haben könnte, wenn er wieder mal zu spät zum Morgentisch erscheinen würde. Er wusste auch, heute war Pater Michael zur Aufsicht eingeteilt, um die etwa vierzigköpfige Schar von Jungen zur Ruhe und Ordnung zu bringen. Pater Michael war ein sehr junger, kleiner, dürr wirkender Mann, mit hellen und meist fröhlich wirkenden Augen. Tim mochte ihn damals. Nur selten waren die Strafen, die sich Pater Michael für zu bestrafende Vergehen ausdachte – im Gegensatz zu den meisten anderen Patern - schlimm. Manchmal gefielen Tim diese "Strafen" sogar. So machte es ihm wenig aus, den Innenhof zu fegen oder auch mal die Papierkörbe zu leeren. Im Gegenteil, denn Pater Michael gab ihm nur selten eine Zeit vor, in der die Arbeit zu verrichten war. Und so konnte Tim, meist ruhig vor sich hin träumend, Zeit für sich verbringen und musste nicht andere, unberechenbare Launen und Dinge der anderen Pater ertragen. Manchmal hatte er sogar den Eindruck, dass Pater Michael dies wusste und ihm ganz bewusst diese "Strafen" reservierte, um Tim hiermit etwas Gutes zu tun.

Tim fühlte, dass ihn irgendetwas mit diesem gutmütig drein blickenden Pater verband, was beide nicht aussprachen. Pater Michael war unter den anderen Patern ein Sonderling, der neben den üblichen Ordensvorgaben und -regularien, die den Tagesablauf vorgaben, nur wenig Kontakt zu den anderen suchte. Erst sehr viel später konnte Tim verstehen, warum.

Tim hörte, dass so nach und nach alle anderen Kinder in ihren Betten erwachten, aufstanden und sich nach dem Weg in den Waschraum auf zum Speisesaal machten. Der Geräuschpegel im Schlafraum schwoll wie gewohnt zunächst stark an, um dann nach und nach weniger zu werden. Das übliche Geraufe um den besten Waschplatz vermischte sich mit dem Geklapper der Putzbecher zu einer gewohnten Geräuschkulisse. Über die letzten Fetzen des Traums, der ihn durch die Nacht begleitet hatte, legte sich mehr und mehr ein Schleier und die Vogelstimmen wurden lauter. Tim stand auf und reckte sich kurz, lief sofort in den Waschraum, wo noch ein weiterer Junge stand und gerade fertig war. Also würde er auch diesmal als Letzter im Speiseraum sein und er war schon gespannt, was sich Pater Michael diesmal für ihn ausdachte.

3. Rätsel

Nach dem letzten "Tick" kam eine lange Pause bis nur noch ein leises "Tack" zu vernehmen war. Ich versuchte durch angestrengtes Lauschen herauszubekommen, aus welcher Richtung das letzte "Tack" kam. Da war es wieder: ein leichtes Schleifen und dann ein "Tick". Es konnte nicht weit entfernt sein. Ein paar Häuser weiter hörte ich einen Hund bellen. Es hörte sich an wie Hannibal, der große Mischling, der bei den Walters dafür sorgte, dass sich jeder Postbote nur kurz bis zum Briefkasten traute. Aber dann war auch das Bellen wieder verstummt und so angestrengt, wie ich auch versuchte mich zu konzentrieren, ich konnte das "Geräusch" nicht mehr hören. Genau so schnell wie es aufgetaucht war, schien es wieder verschwunden zu sein und ließ mich rätselnd zurück. Das war das erste Mal, dass ich das "Geräusch" gehört hatte und der Gedanke daran ließ mich auch jetzt nach Jahren immer noch erschauern, auch wenn ich jetzt eigentlich gar nicht mehr begreifen kann warum.

Obwohl ich noch immer über dieses Geräusch nachdachte, wandte ich mich doch dem Problem meiner Burginsassen zu. Ich verband das Geräusch mit den herannahenden Feinden der Burg, die mit schwerem Geschütz und einer Geräuschkulisse von quietschenden Rädern und Pferdegetrampel die Burg einnehmen wollten.

Mein Bruder kam von einem Spiel zurück, was man an seinen geschundenen Knien gut erkennen konnte. Er wirkte fröhlich gelaunt.

"Und, gewonnen?", fragte ich ihn und er reckte nur kurz mit einer lächelnden Geste seinen Daumen in die Höhe.

"Klar!", sagte er und war auch schon im Flur unseres Hauses verschwunden. Ich sah, wie meine Mutter ihm schon mit dem Verbandskasten entgegenlief. Sie würde dafür sorgen, dass der Preis des Sieges schnell wieder verheilen würde.

"Komm rein, denk daran, dass du noch Hausaufgaben vor dem Abendessen machen musst.", sagte sie zu mir.

Die Hausaufgaben waren häufig eine Qual für mich. Nicht, weil ich es schwer hatte die eine oder andere Rechenaufgabe zu verstehen oder schriftliche Aufsätze zu verfassen: es fiel mir einfach schwer, mich lange darauf zu konzentrieren, ohne dass sich meine Gedanken in anderen Dingen verloren. Waren es früher Probleme von Burgbewohnern, die es zu lösen galt oder das Abwehren von Weltraummonstern auf einem Planeten, so waren später Gedanken darüber, warum die Welt so und nicht anders funktioniert und was wohl der eine oder andere Junge, im Gegensatz zu mir, für Vorzüge gegenüber einem Mädchen hatte. Es fiel mir nie schwer, mich auf etwas anderes als die Hausaufgaben zu konzentrieren. Und so hatte ich das Geräusch, das mich noch vor ein paar Stunden in Bann gezogen hatte, zum Abendessen schon wieder vergessen.

Kurz vor dem Einschlafen drang dieses neue, ungewohnte Geräusch aber dann doch wieder in mein Bewusstsein und ich malte mir die verschiedensten Gründe hierfür aus.

Vielleicht hatte jemand ein kaputtes Fahrrad über die Straße geschoben, oder jemand in weiter Ferne im Garten arbeitend mit einer Harke gegen Metall geschlagen. Nein! All diese Vorstellungen kamen diesem Geräusch nicht ansatzweise nahe und so schlief ich damals irgendwann ratlos und müde ein.

Wenn ich jetzt als älterer Mann daran zurückdenke, kann ich mir gut vorstellen, wie rätselhaft mir damals alles vorgekommen war, zumindest so lange, bis ich dann ein paar Tage später den Grund und die Ursache für dieses Geräusch kennenlernte.

4. Gewohntes

Tim wollte nicht weg, obwohl es Nichts gab, was ihn hier hielt außer der Tatsache, dass er es kannte. Aber das reichte Tim, und es machte ihm fast unmöglich loszulassen. Es war trotzdem unumgänglich. Nachdem sein Vater starb, weil dieser voll berauscht an seiner Arbeitsstelle von einem Gerüst gefallen war und seine Mutter einen Nervenzusammenbruch erlitt, von dem sie sich nie wieder erholte, war keiner mehr da, der für Tim und seine etwas ältere Schwester sorgen konnte. Es war unumgänglich, dass sich jemand um die beiden kümmern musste. Und so war es genauso unumgänglich, dass der fünfjährige Tim noch vor der Einschulung in eines der üblichen von einem Orden geführten Kinderheime nur für Jungen nicht weit entfernt von seinem Heimatort kam. Seine 3 Jahre ältere Schwester kam in eine Pflegefamilie. Keiner konnte auch nur im endferntesten nachvollziehen, wie es ihm dabei ging.

Natürlich waren alle sehr freundlich und liebevoll mit ihm umgegangen, um ihm die Veränderung so leicht wie möglich werden zu lassen. Aber was bedeutete das schon, für einen Fünfjährigen, der im Grunde kurz hintereinander seinen Vater, seine Mutter, seine Schwester und seine gewohnte Umgebung verloren hatte. Auch wenn sein altes Zuhause mindestens einmal am Tag dazu führte, dass er weinend irgendwo in seinem Zimmer oder draußen, kauernd in seinem Lieblingsversteck hockte, so war es doch das, was er kannte. Aber hierhin gab es kein Zurück mehr und das spürte Tim spätestens, als sich die Tür hinter ihm im Bus schloss, der ihn zu seinem neuen Zuhause bringen sollte.

Klammerte sich Tim in den ersten Tagen noch an die Hoffnung, irgendwann würde seine Mutter wieder gesund werden und ihn aus dem Heim abholen, so versiegte diese Hoffnung von Tag zu Tag mehr, bis er sich daran gewöhnt hatte nicht mehr zu hoffen. Und obwohl irgendetwas in ihm dadurch verstummte, fühlte es sich so besser an. Man musste einfach nicht mehr darüber nachdenken und dann verschwand der Schmerz. Doch er war nicht einfach weg, wie Tim erst viel später erfuhr. Das Sich-an-etwas-gewöhnen wurde seine heimliche, scheinbare Stärke. Er gewöhnte sich an die kalten Zimmer und Flure im Heim, an das Essen, das so ganz anders schmeckte, wie Mutter es gemacht hatte und an die Bestrafungen der Pater, oft für jedes kleinste Vergehen. Er gewöhnte sich daran, von einigen der anderen Jungen wegen seiner leicht schiefen Nase und seiner sportlichen Ungeschicklichkeit gehänselt zu werden. Er gewöhnte sich daran, mit sich selbst zu sein und er las viel. Das war einer der Vorteile in dem Kinderheim, das von dem Orden der Pater reichhaltig unterstützt wurde: es gab Bücher im Überfluss. Und wenn man sorgfältig damit umging und sich angemessen verhielt, hatten die Pater auch nichts dagegen, wenn das eine oder andere Buch den Lesesaal zum Lesen auf dem Zimmer verließ. Das war Tims Welt. Zum Glück war die große Bibliothek im Heim nicht nur mit geistlichen Werken, sondern auch mit einer großen Anzahl an aufregenden Romanen bestückt. So konnte er einen Abenteuerroman nach dem anderen verschlingen ohne Sorge zu haben, dass es keinen Nachschub an Geschichten mehr geben würde. Das Erleben dieser Abenteuer, das Mitfiebern mit den Helden in den Büchern waren seine Erlebnisse im "Draußen". Er konnte jederzeit das Buch zuklappen, wenn das "Draußen" ihm zu nahe kam, ihn zu sehr ängstigen konnte. Er hatte es in der Hand. Und so gewöhnte er sich an die Erlebnisse anderer so, als wären es seine eigenen. Ja das Sich-an-etwas-gewöhnen wurde zu seiner Stärke. Nur an "das eine Geräusch" konnte er sich nicht gewöhnen und so würde es wohl auch für immer bleiben.

5. Phantasie

An diesem Wochenende drängte sich der Gedanke an das Geräusch immer wieder in mein Bewusstsein, obwohl es auch ohne Karl viel zu erleben gab. Hannibal war um die Mittagszeit aus dem Garten entlaufen. Einer der Postboten hatte sich wohl nicht mehr zugetraut das Gatter zu schließen, als Hannibal kläffend auf ihn zu gestürmt war und so hatte dieser die Gelegenheit zu einem Ausflug in unserer Siedlung genutzt, was zu einer großen Aufregung führte. Alle kamen aus den Häusern gerannt: die einen brachten sich daran anschließend in Sicherheit, andere wollten mithelfen Hannibal wieder einzufangen, worauf dieser natürlich gar keine Lust hatte. Er lief von einem Haus zum nächsten und blieb dann vor einem Haus in unserer Siedlung stehen, das scheinbar unbewohnt war. Zumindest hatte ich hier noch nie einen Menschen ein- oder ausgehen sehen. Hannibal rannte zur Tür des Hauses, kläffte laut und legte sich dann wundersamerweise auf den steinigen Boden, der nicht sehr gepflegt war, vor dem Haus hin. Er wartete dort geduldig und ließ sich dann von Herrn Walters die Leine anlegen. Dieser führte ihn dann unter lautem Beifallklatschen der Anwohner wieder zurück in sein Reich.

Dann war da noch das Baby von den Manters, das dafür sorgte, dass am Sonntag die Mittagsruhe der halben Nachbarschaft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch meine Mutter war natürlich wieder schnell zur Stelle, um den Manters mit wertvollen Tipps zur Hilfe zu eilen.

So sehr ich auch meine Ohren anstrengte, das Geräusch war an diesem Wochenende nicht mehr zu hören. Irgendwie war ich darüber mehr enttäuscht als erleichtert.

Dann war das Wochenende wieder vorbei und Karl nutzte den halben Vormittag, um nicht nur mir von seinen Erlebnissen bei seinen Großeltern zu erzählen. Am Nachmittag stand er dann vor meiner Tür.

"Was war das denn für ein Geräusch, von dem du erzählt hast?", fragte er sofort, nachdem ich die Tür öffnete.

"Mh, keine Ahnung", sagte ich. "Es war kein Tier oder irgendeine Maschine. Ich weiß es nicht!"

"Dann war's wohl 'ne Einbildung.", sagte Karl und ließ mich kurz selbst an meiner Wahrnehmung zweifeln. Dann war ich mir aber wieder sicher.

"Nein, da war wirklich was.", versuchte ich ihn zu überzeugen.

"Komm' wir gehen zum Bach", erwiderte Karl und es war klar, dass er nicht so ganz von der Existenz des Geräusches überzeugt war.

Als wir unsere Siedlung durchquerten kamen wir zu "unserem" Bach. Der Bach war ein teils bis zu 8 Meter breiter kleiner Fluss, der an manchen Stellen künstlich begradigt war. An manchen Stellen war er jedoch so schmal, dass man, indem man viel Anlauf nahm, mit einem Sprung die andere Seite erreichen konnte. Er war an einigen Stellen von Bäumen gesäumt und durchquerte auch eine alte Wassermühle, die aber schon vor langer Zeit ihren Betrieb eingestellt hatte und jetzt nur noch als Museum diente. Direkt am Bach war auch der Wald gelegen, den ich oft zum Sammeln von Hölzern, Blättern und Steinen besuchte oder auch nur deswegen, weil ich hier ungestört meinen Phantasiegedanken nachgehen konnte. Hinter jedem Baum konnte ein schwarzer Ritter auf mich warten, daher musste ich immer für eine ausreichende Bewaffnung sorgen, die meist aus einem aus Stöcken zusammengefügten selbstgebastelten Schwert bestand.

Ich ging manchmal auch allein hierher. Zusammen mit Karl war es aber natürlich noch schöner hierher zu kommen, denn dann war klar, dass ich mir den schwarzen Ritter nicht auszudenken brauchte. Es gab ihn dann "wirklich" und wir verbrachten meist bis zum Einbruch der Dämmerung damit, den Wald mit unserem Spiel in Beschlag zu nehmen.

So war es auch an jenem Tag und wir machten uns schnell auf den Rückweg. Was so ein richtiger Ritter ist, der darf auch nicht auf ein reichhaltiges Abendessen verzichten und so liefen wir eilig nach Hause. Jedes Mal, wenn wir dann wieder unsere Siedlung erreichten, drosselten wir das Tempo, denn wir wussten, dass es nur noch wenige hundert Meter bis zu unserem Zuhause war.

Da war es wieder. Abgekämpft vom schnellen Lauf, hatte ich es erst nicht direkt bemerkt, aber jetzt war es ganz klar und deutlich: das Geräusch.

Mir stockte der Atem und Karl schaute mich erstaunt an, denn er hatte es sicherlich noch nicht gehört.

"Psst. Sei ruhig!", wies ich ihn an. "Da ist es wieder! Hör doch!" Nun konnte auch Karl es hören. "Tick, tick .... tack.." Dann das Schleifen, dann wieder ein "Tick, Tick". Ich konnte in Karls Gesicht erkennen, dass ihm nicht ganz wohl war.

"Was ist das?", fragte er, aber ich konnte ihm ja keine Antwort darauf geben. Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenzog, teils wegen des Hungers, den ich verspürte und zum anderen wegen des Schrecks und der erneuten Gewissheit, dass ich mir dieses sonderbare Geräusch doch nicht eingebildet hatte.

"Was kann das sein. Sollen wir nachsehen?", fragte Karl, obwohl ich in seinem Gesicht las, dass ihm genau wie mir nicht ganz wohl dabei war. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten und unsere Eltern würden bestimmt schon auf uns warten. Aber unsere Neugierde musste gestillt werden und wir hörten, wie das Geräusch lauter werdend immer näher auf uns zukam.

6. Beständig

Tim war nicht der beste Schüler seines Jahrgangs, aber auch nicht der Schlechteste. Er gehörte weder zu denen, die etwas nur einmal Lesen mussten, um es zu verstehen, noch zu denen, die manche Dinge nie verstehen würden. So bestand sein wöchentlicher Alltag im Kinderheim der Gemeinde Galldorf aus dem täglichen Schulbesuch in der Schule, die direkt neben dem Heim gelegen war, dem Essen im großen Speisesaal, dem Lernen und Hausaufgaben machen und dem Verschlingen von Abenteuerromanen. Da ihm alles sportliche nicht leicht fiel, hatte er sich schon früh hiervon losgesagt und so blieben ihm auch viele der daran anschließenden gemeinsamen Aktivitäten seiner Mitschüler fremd. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Das Kinderheim war mit seinem Gebäude eingebettet in das Klostergrundstück mit der Abtei, einer Krypta, einem Kreuzgang, einem großen Garten, der kleinen Kapelle und den weiteren Klostergebäuden. Vor dem Abendessen gehörte es täglich zur Pflicht für alle Schüler, die Messe gemeinsam mit den Patern zu besuchen. Die kleine Kapelle war so wie alle Kapellen, die Tim bisher kennengelernt hatte. Ein leicht feucht modriger Geruch gemischt mit Weihrauch- und Kerzenduft empfing jeden, der durch das alte Holzportal schritt, das mit großen eisernen Türbeschlägen versehen war. Innen war es kühl, was im Sommer sehr angenehm war, im Winter aber die Kühle, die draußen herrschte verstärkte. Die alten Holzbänke hatten schon viele Pater und Schüler getragen, was man an den abgewetzten und mit Mulden versehenden Sitzen erkennen konnte. Es schien, als ob dies ein Ort war, an dem sich Veränderungen nur langsam vollzogen und das gefiel Tim. Er mochte, wenn die Dinge beständig waren. Er mochte, wenn etwas verlässlich an dem gleichen Ort wiederzufinden war, wie am Tag zuvor. Er mochte es, wenn er die Möglichkeit hatte, sich an die Dinge zu gewöhnen. Ja, diese Beständigkeit der Dinge war etwas, das ihn vergessen ließ, wie flüchtig das Leben mit seinen Menschen um ihn herum seien konnte. Und so umgab er sich lieber mit Beständigem als mit dem Flüchtigen. Es nahm ihm eine Angst, von der er gar nicht wusste, dass sie in ihm schlummerte. Die Pater und Lehrer – meistens waren die Pater auch die Lehrer der Schüler -, seine Mitschüler, ja selbst seine Bettnachbarn im Schlafsaal: es fiel ihm schwer, einen Zugang zu diesen zu finden, ohne sich nicht gleichzeitig von ihnen abzuwenden. Er lauschte den Gesprächen seiner Mitschüler, dem Getuschel im Schlafsaal - besonders vor dem Einschlafen - und nahm all dies in sich auf, wurde im Stillen ein Teil davon ohne selbst Teil zu nehmen, mit der Möglichkeit jederzeit die Verbindung zu unterbrechen, wenn es anfing, etwas in ihm zu berühren.

Er fühlte sich nicht einsam. Er schmunzelte über komische Dinge, die er beobachtete und lachte in sich hinein, wenn seine Mitschüler Scherze untereinander trieben, die dann lustig endeten. Er nahm teil ohne ein wirkliches Teil dessen zu sein, was ihn umgab. Seine Mitschüler hatten es irgendwann aufgegeben, ihn zum Mitspielen aufzufordern und hatten sich daran gewöhnt, dass Tim nur sporadisch an Aktivitäten teilnahm.

Gerne nahm er an den wenigen Ausflügen in die nähere Umgebung von Galldorf teil. Beim Durchstreifen der Wälder und Wiesen, dem Klettern auf Berge fühlte er sich den anderen bei diesen Gemeinsamkeiten näher als sonst. Auch wenn Tim später an die Zeit zurückdachte, die er im Kinderheim verbrachte, so blieben ihm diese gemeinsamen Wanderstreifzüge und Ausflüge mit den Mitschülern und Patern als die schönsten Eindrücke in Erinnerung.

Kamen in der ersten Zeit noch regelmäßig kurze Briefe und Postkarten von seiner Schwester, so blieben diese immer mehr und mehr aus, als seine Schwester mit ihrer Pflegefamilie in ein anderes Bundesland zog.

Und Tim gewöhnte sich auch daran. Schloss er die Augen, so stellte er sich vor, wie er gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern in einem kleinen Ort in einer Siedlung lebte, mit seiner Schwester gemeinsam auf dem Fahrrad durch die Straßen fuhr und die Gegend mit Freunden erkundete. Er war dann nicht nur ein Teil der Gegend, der unbelebten Dinge, nein er war ein Teil des Lebenden um ihn herum. Und so konnte es mehrmals am Tag sein, dass ihn Pater Michael mit geschlossenen Augen an einer der Steinwände der Klostermauern gelehnt stehen oder sitzen sah und dieser wusste, dass er Tim nicht ansprechen würde. Pater Michael wusste selbst, dass man manchmal für sich an Orte reisen musste, die eines mit Sicherheit waren: gut.

7. Begegnung