Vic - Animal Soldiers - Sophie R. Nikolay - E-Book

Vic - Animal Soldiers E-Book

Sophie R. Nikolay

0,0

Beschreibung

Die Animalis bevölkern die Welt, eine Mischrasse, die aus genetischen Experimenten am Menschen entstanden ist. Die Aufgabe der Animal Soldiers ist, die Grenzen der Kolonie vor sogenannten "Wilden" zu schützen. Für Vic, eine der Animal Soldiers, beginnt mit der Gefangennahme des "Wilden" Leo ein Verwirrspiel, mit dessen Auflösung sie niemals gerechnet hätte. Denn Leo bringt nicht nur ihr Blut in Wallung, sondern durch ihn erkennt sie, dass die Kolonie nicht das ist, was jeder von ihnen geglaubt hat. Fantasy, Crime & Spice

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 426

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophie R. Nikolay

Vic

Animal Soldiers

Impressum 

© tensual publishing, Mettingen 2024

Tensual publishing ist ein Imprint von dead soft verlag

http://www.deadsoft.de

© the Author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Volodymyr – stock.adobe.com

© kenan – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-946408-23-9

ISBN 978-3-946408-24-6 (epub)

Inhalt:

Die Animalis bevölkern die Welt, eine Mischrasse, die aus genetischen Experimenten am Menschen entstanden ist. Die Aufgabe der Animal Soldiers ist, die Grenzen der Kolonie vor sogenannten „Wilden“ zu schützen.

Für Vic, eine der Animal Soldiers, beginnt mit der Gefangennahme des „Wilden“ Leo ein Verwirrspiel, mit dessen Auflösung sie niemals gerechnet hätte. Denn Leo bringt nicht nur ihr Blut in Wallung, sondern durch ihn erkennt sie, dass die Kolonie nicht das ist, was jeder von ihnen geglaubt hat.

Widmung

Für dich.

Es ist noch immer, so schwer zu glauben,

wie du die meisten meiner Fehler übersiehst.

Du erdest jeden meiner Gedanken,

verleihst Flügel, wenn Zweifel überwiegt.

Ein neuer Gefangener

„Jetzt mach schon!“, drängte Silver.

„Ich bin direkt startklar“, erwiderte Vic und steckte sich die Dolche an den Gürtel. Kurz darauf verließen sie das Zimmer, das ihnen während der Einsatzphasen als Unterkunft diente. Auf dem Weg nach draußen band Vic ihre langen Haare zu einem Zopf zusammen. In solchen Momenten beneidete sie Silver um ihre Kurzhaarfrisur, die im Einsatz ungemein praktisch war.

Kaum hatten sie die Zwischentür passiert, schlossen sich Amber und Cat an.

„Wisst ihr schon etwas Genaues?“

Vic sah zu Amber und zuckte mit der Schulter. „Nicht wirklich. Es hieß, es treiben sich mal wieder mehr Wilde als sonst am Rand des Territoriums rum.“

Cat schnaubte. „Immer dasselbe mit denen. Schleichen sich an und glauben, hier ins gemachte Nest krabbeln zu können.“

„Klingt aufregend.“ Silver verdrehte die Augen. Ihr schien die beinahe wiederkehrende Arbeit der Animal Soldiers zu eintönig zu sein.

„Beschwer dich nicht, sonst versetzen sie dich noch zum medizinischen Zentrum, da geht es heftiger zu, als bei uns hier draußen“, erwiderte Cat und Vic wusste genau, was damit gemeint war. Gefangene Wilde wurden dort befragt und ‚untersucht‘.

Silver kam nicht mehr dazu, noch etwas zu entgegnen, denn sie erreichten die Tür, die auf den Hof führte. Colonel Bob Trapper – von allen nur Wolf genannt – erwartete sie bereits.

„Soldiers.“ Er nickte ihnen kurz zu. Die vier Frauen erwiderten die grüßende Geste. „Zwei der Überwachungssensoren haben angeschlagen. Es ist das vierte Mal in dieser Woche, dass die Wilden versuchen, in unser Gebiet einzudringen. Kümmert euch darum … und wenn es geht, bringt eine dieser Kreaturen mit.“ Er spie das Wort förmlich aus und Vic wusste so gut wie jeder andere, was der Colonel von den Wilden hielt.

Nichts.

Für ihn waren sie nur eine abartige Form der genetischen Mutation, die vor vielen Jahren dafür gesorgt hatte, dass die menschliche Rasse ausgelöscht wurde. Es gab nur noch die ‚Animalis‘ – Mischwesen, deren Sicherheit in den Händen der Animal Soldiers lag, sofern sie sich innerhalb des Territoriums befanden und offiziell zum Volk gehörten. Ihre Besonderheiten sah man auf den ersten Blick nicht, man könnte sie alle für Menschen halten, wären da nicht die tierischen Merkmale und Instinkte, die sie zu außergewöhnlichen Wesen machten.

„Wieder ein nutzloses Verhör?“, wagte Cat zu fragen, was ihr einen strengen Blick vom Wolf einbrachte. Sie neigte den Kopf und weil ihre rote Lockenpracht hochgesteckt war, entblößte sie somit unterwürfig ihr Genick. Der Colonel knurrte kurz, was bezeugte, dass er die Entschuldigung annahm. Vic wusste, dass hauptsächlich Animalis mit Katzengenen das Genick präsentierten. Und Cat trug die Gene einer Wildkatze in sich.

„Ich erwarte Meldung, sobald ihr etwas habt.“

Die vier gaben ihre Bestätigung dazu, worauf der Colonel sie entließ. Bis zur Grenze, an der die Sensoren angebracht waren, brauchten sie nur wenige Minuten. Die Landschaft war gespickt von Sträuchern, Bäumen und Hecken. Das verhinderte zwar eine gute Übersicht über den Grenzbereich, doch für die meisten Animalis war das Grün lebenswichtig. Dort wuchs ein Teil der Früchte, die sie benötigten und die wiederholt von den Wilden gestohlen wurden, sodass die verbleibende Menge für die Animalis im Territorium immer knapper wurde.

Vic verließ sich auf ihre Sinne. Sie erschnupperte die Umgebung, erfühlte sie mit den Härchen auf ihrer Haut und betrachtete sie mit den Augen einer Raubkatze. Nichts anderes steckte in ihr. Die Gene eines Pumas.

Schnell konnte sie die Witterung aufnehmen. Ein kurzer Blick zu den anderen sagte ihr, dass diese auch Spuren nachgingen. Vic hielt sich links, steuerte auf eine kleine Baumgruppe zu, in deren Schatten Beerensträucher standen. Trotz dass die süßen Früchte einen intensiven Duft verströmten, vermochte Vic den Geruch des Wilden deutlich darunter ausmachen. Würzig und schwer kroch er in ihre Nase. Gar nicht unangenehm.

Beinahe lautlos schlich sie über das Gras, näherte sich der Stelle, von der sie den Duft am intensivsten wahrnahm. Sie zog ihren Dolch mit der rechten Hand, während sie die linke ausstreckte, sprang schwungvoll und landete mit einem Satz im Gebüsch. Einige Äste brachen, die Sohlen ihrer Stiefel gruben sich in den weichen Erdboden. Nur einen Moment später hockte sie auf einem Wilden, ihr Messer an seine Kehle gepresst. Sie fauchte und zeigte ihm die Zähne.

Sie spürte seinen Körper unter sich vibrieren, ein Grollen steckte in seiner Brust, doch er ließ es nicht heraus. Vic konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er hatte schützend die Hände davor geschlagen.

„Dass ihr es auch immer wieder versucht“, zischte sie und drückte das Messer noch fester an seinen Hals, ein kleines Rinnsal Blut lief an der Klinge entlang.

Der Wilde nahm die Arme herunter und Vic blickte in ein markantes Gesicht und bernsteinfarbene Augen, die sie bittend ansahen.

„Die Betteltour zieht bei mir nicht.“

Er schluckte und Vic lockerte gerade noch rechtzeitig den Druck der Klinge auf seiner Haut. Durch die Schluckbewegung hätte er sich selbst den Hals aufschlitzen können.

„Wenn ihr euch nicht so abkapseln würdet, müssten wir nicht immer eindringen“, verteidigte er sich.

Seine Stimme besaß eine angenehme Klangfarbe. Nicht zu tief, weich und dennoch männlich. Fast wie ein Schnurren.

Vic verwarf den Gedanken und griff in ihre Gesäßtasche, in der sie die Bänder aufbewahrte. Sie zog eines hervor und ließ es um die Handgelenke des Wilden schnellen. Die elektronische Fessel setzte einen großen Teil seiner Instinkte außer Kraft. Dass er sich nicht gewehrt hatte, wunderte sie.

„Du kommst mit.“ Keine Bitte, ein Befehl.

Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung richtete sie sich auf und zog ihn gleichzeitig mit in die Höhe. Als er stand, überragte er sie fast um eine Kopflänge. Seine Schultern waren breit und sie würde wetten, dass sie hinter ihm nicht zu sehen wäre. Allerdings würde ihm das nichts nützen. Sie war ausgebildet für das, was sie machte. Und trotz ihrer schlanken, beinahe zierlichen Gestalt steckte eine nahezu unbändige Kraft in ihr.

Vic tastete ihn ab, fand aber keinerlei Waffen. Er trug nur einen ledernen Beutel mit sich, der an seinem Gürtel hing. Vic riss ihn ab und schaute hinein.

„Flokibeeren?“ Fragend sah sie ihn an.

Er presste die Lippen aufeinander und schien kein Interesse daran zu haben, ihr zu antworten. Im Grunde war das auch überflüssig, die Beeren wuchsen nur innerhalb ihres Gebietes und besaßen besondere Inhaltsstoffe, die wichtig für die Animalis waren. Nur, warum stahlen die Wilden diese Beeren und die anderen Früchte? Soweit sie wusste, sollten sie gar nicht auf spezielle Nahrung angewiesen sein. Ihre tierischen Merkmale waren stärker ausgebildet und sie ernährten sich von Fleisch. Die Bewohner des abgegrenzten Territoriums nicht.

„Warum stiehlst du unsere Früchte?“

Keine Antwort.

„Was wolltest du damit?“

Immer noch nichts. Er presste die Lippen so fest zusammen, dass sie wie ein Strich aussahen. Schade eigentlich. Er besaß einen schönen Mund.

*

Zehn Minuten später schob Vic den Gefangenen in den Verhörraum und zwang ihn fast auf den Stuhl vor dem Tisch. Er hatte kein Wort mehr gesagt und sich nur mitschleifen lassen. Vic hätte zu gerne gewusst, was in seinem Kopf vorging. Er saß da und starrte auf die abgegriffene Platte.

Sie umrundete ihn, betrachtete ihn von allen Seiten. Sein braunes Haar war kurz gehalten, die Haut leicht gebräunt. Vic zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich rittlings darauf. Er starrte weiter auf das Holz, als wäre dort Weltbewegendes zu sehen. Sie fragte sich, wann der Wolf auftauchen würde – ihre Meldung, dass sie einen Wilden eingefangen hatte, sollte ihn erreicht haben.

„Ich bin Vic“, sagte sie unvermittelt und aus einem Gefühl heraus.

Langsam hob der Fremde den Kopf, drehte ihn ihr zu. Er schnaubte und wandte sich wieder dem Tisch zu.

„Na schön, dann nicht. Wenn du beim Colonel ebenso gesprächig bist, wird das kein angenehmer Tag für dich“, prophezeite sie ihm.

Als hätte ihr Boss nur auf diese Worte gewartet, flog die Tür auf und er betrat mit donnernden Schritten den Raum. Vic stand auf und sah ihm entgegen.

„Wo hast du ihn aufgegriffen?“

„Nahe der Grenze zwischen ein paar Sträuchern.“

„Gut. Danke – du kannst gehen.“

Vic nickte dem Colonel zu, schielte noch einmal zu dem Gefangenen und verließ das Zimmer. Auf dem Gang kam ihr Cat entgegen, die genüsslich in einen violetten Apfel biss.

„Hab gehört, du konntest einen schnappen. Ich hatte weniger Glück.“

„Tut mir leid, dass du keinen Wilden fangen konntest. Wer war es?“

„Eine Halbstarke, ich vermute mit Reptiliengenen. Sie roch streng und war flink wie eine Echse.“

„Silver und Amber?“

„Weiß nicht, hab sie nicht gesehen. Ich nehme an, sie sind noch draußen.“

Sobald sie das Ende des Ganges erreichten, erklangen aus dem Verhörraum Gepolter und Schreie. Vic sah über ihre Schulter, da Gebrüll und Wolfsgeheul folgten. Es klang, als würden sich der Wilde und der Colonel mit ihren Stimmen messen.

„Geh schon mal vor“, wandte sie sich an Cat, „ich glaube, ich bleibe lieber in der Nähe.“

„Okay. Besser du als ich. Du weißt, ich hasse es, wenn der Wolf ausflippt.“

Vic schenkte ihr ein Lächeln und lief zurück. Vor der Tür des Raumes stoppte sie. Hätte sie die äußeren Merkmale ihres Tieres, würde sie sicherlich die Ohren spitzen, so aber blieb es beim Lauschen.

„Lieber lasse ich mich umbringen, als meine Leute zu verraten“,hörte sie den Gefangenen gepresst sagen.

„Du wirst deine Meinung noch ändern, glaub mir!“, drohte der Wolf. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen.

Vic stockte. Der Wilde blutete aus Mund und Nase, der Colonel trug eine versteinerte Miene zur Schau.

„Bring ihn runter und schließe ihn ein!“, befahl er an Vic gerichtet, die pflichtbewusst bejahte. Sie übernahm die gefesselten Hände des Gefangenen, der Colonel rauschte mit stampfenden Schritten davon. Vic konnte seine Wut verstehen. Bislang hatte nicht einer geplaudert. Jeder Wilde, den sie gefasst hatten, schwieg und verriet nichts über den Aufenthaltsort seiner Gruppe, ganz gleich wie sehr er gefoltert wurde.

Vic kam eine Idee. Es könnte funktionieren, doch dem Colonel dürfte sie davon nichts erzählen. Vorerst nicht. Mit Gewalt waren sie nicht weit gekommen – wie aber sähe es aus, wenn sie den Fremden Freundlichkeit entgegenbrächten?

Der Wilde stolperte mehr hinter ihr her, als dass er lief. Vic ahnte, dass der Wolf einige Stellen seines Körpers mit Tritten und Schlägen bearbeitet hatte.

In dem Stockwerk, in dem das Gefängnis lag, gab es fünf Zellen. Vic stieß die erste davon auf und dirigierte den Wilden zu der Liege, die darin stand. Er ließ sich wie ein Sandsack darauf fallen, schloss sofort die Augen und ignorierte sie. Vic betrachtete ihn. Seine untere Lippe war geschwollen und auf dem linken Jochbein zeigte sich schon ein bläulicher Schatten. Er würde Eis brauchen …

„Es ist nicht erforderlich, da stehen zu bleiben. Ich verrate nichts.“ Er klang kalt und abweisend, der schöne Ton in seiner Stimme war verschwunden.

„Ich warte nicht darauf, dass du was ausplauderst. Darf ich mir deine Verletzungen angucken?“

Er drehte den Kopf ein wenig und sah sie an. „Warum solltest du das tun wollen?“

„Ich gehöre zwar zu den Animal Soldiers, aber deshalb muss ich noch lange nicht alles gut finden, was mein Boss anstellt“, sagte sie und versuchte damit, sein Vertrauen zu erwecken.

Er nickte zaghaft. Vic trat näher und nahm die Nase und die verwundete Lippe in Augenschein. Ja, er brauchte definitiv etwas zum Kühlen.

„Ich hole Eis und einen Waschlappen, das muss behandelt werden“, erklärte sie ihm.

„Da wäre ich nicht draufgekommen!“ Purer Sarkasmus.

„Hast du sonst irgendwo Schmerzen?“

„Nein“, sagte er knapp und drehte den Kopf weg.

„Ich bin gleich wieder da.“

Er brummte etwas Unverständliches. Vic ließ ihn auf der Liege zurück, verschloss gewissenhaft die Tür und eilte die Treppe hinauf.

*

Sie verstand sich nicht. Warum bekam sie den Kerl nicht aus dem Kopf? Sie hatte schon einige Wilde eingefangen, aber noch keiner hatte auch nur ansatzweise ihr Interesse geweckt. Bei ihm sah das ganz anders aus – allein sein Geruch löste etwas in ihr aus, das sie nicht verstand. Was immer es war, sie hielt an ihrem Entschluss fest, es mit Freundlichkeit zu versuchen. Und wenn sie erst sein Vertrauen besaß, würde er ihr bestimmt verraten, warum die Wilden wiederholt die Grenze zum Territorium überschritten. Hoffte sie.

Sie tappten über die Motive schon zu lange im Dunklen. Der Diebstahl von Nahrung konnte nicht allein der Grund sein. Angriffe gab es aber auch keine – nicht vonseiten der Wilden. Nicht offensichtlich. Die vielen Verhöre, die wiederkehrende Folter der Gefangenen – alles ohne Ergebnisse.

Im Aufenthaltsraum angekommen, nahm Vic zwei mittelgroße Eisbeutel aus dem kleinen Kühlfach und ein frisches Tuch vom Regal. Anschließend griff sie nach einem Paket Feuchttücher, die sie normalerweise zum Säubern von Wunden verwendeten – bei den Animal Soldiers, nicht bei den Gefangenen. Ihr war das jetzt egal. Der Zweck heiligte die Mittel, oder nicht?

Als sie die Zelle erneut betrat, stockte sie kurz. Sie brachte sich jedoch schnell genug wieder unter Kontrolle, sodass der Wilde anscheinend nichts bemerkt hatte. Vic schloss die Tür, erst dann sah er sie an. Er saß auf der Liege, nur in Jeans. Sein Oberkörper war gut trainiert. Perfekt definierte Brustmuskeln, kräftige Schultern und Oberarme. Leopardenfell bedeckte seinen Bauch, angefangen unterhalb des Rippenbogens. Wo es endete, konnte sie nur vermuten – jedenfalls unter der Gürtellinie. Er hielt sich die Seite, also plagten ihn doch mehr Schmerzen, als zugegeben.

Moment. Sie hatte einen wichtigen Punkt übersehen, obwohl sie ihn ausgiebig betrachtet hatte. Die Fessel!

„Wo ist das Band?“, fragte sie.

Er griff neben sich und hob es hoch. Entzweigerissen.

Vic zog die Brauen nach oben. Langsam trat sie näher und überreichte ihm einen der Eisbeutel.

„Danke“, sagte er leise.

„Warum hast du dich hierherschleppen lassen, wenn dieses Band dich gar nicht fesseln kann?“

„Die Antwort willst du nicht hören. Glaub mir.“ Er legte sich das Eis auf die Wange.

„Oh doch, das will ich!“

Er verschob den Beutel, um seine Lippe zu kühlen. Dabei schienen seine Augen zu lachen.

„Spiel keine Spielchen. Ich mag zwar nicht so aussehen, aber wenn ich will, liegst du innerhalb von Sekunden bewusstlos auf dem Boden.“

Er prustete. Dann ließ er die Hand mit dem Eis sinken.

„Man nennt mich Leo“, sagte er und hielt ihr die freie Hand hin.

Vic starrte entgeistert darauf. Sollte sie einschlagen? Das konnte doch nicht sein Ernst sein – diese Geste war nun wirklich fehl am Platz.

„Das Eis“, meinte er daraufhin und klang amüsiert.

„Hier“, erwiderte sie und hielt ihm auch das zweite Päckchen hin. Wie hatte sie ihn nur so missverstehen können? In seiner Nähe war sie nicht sie selbst, gestand sie sich ein.

„Also Leo. Warum bist du hier?“

Er legte sich den Beutel an die offensichtlich schmerzende Seite und verzog dabei das Gesicht.

„Wegen dir.“

Vic lachte laut auf. „Klar! Du kennst mich doch überhaupt nicht und ich dich auch nicht. Was soll der Blödsinn?“

„Nenn es Blödsinn, wenn du willst …“ Der Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen ging ihr durch und durch. Was lief hier ab?

„Als du auf mir gesessen hast und ich dich angesehen habe, da war mir klar, dass du alles mit mir machen kannst und ich mich nicht wehren könnte.“

Vic verschränkte die Arme. „Sicher.“ Sie schüttelte den Kopf. Wollte er sie für dumm verkaufen?

„Du glaubst mir nicht. Ich sagte doch, du willst es nicht hören.“

„Fangen wir von vorne an: Warum hast du unser Gebiet betreten … oder besser, was macht ihr mit den Beeren?“

Keine Antwort. Leo schob sich demonstrativ den Eisbeutel an die Lippe.

Vic war die Lust auf Spielchen vergangen. „Ach, leck‘ mich doch!“, fluchte sie, warf die Packung mit den Feuchttüchern auf die Liege und wandte sich der Tür zu.

„Liebend gern“, erklang Leos Stimme in ihrem Rücken, deren Tonlage ihr einen Schauer über die Haut jagte. Sie verließ beinahe fluchtartig die Zelle.

Ihr Herz klopfte heftig gegen ihre Rippen. Warum nur konnte sie dieser Mann so aus der Fassung bringen? Sonst besaß sie eine Selbstbeherrschung, an der sich jeder die Zähne ausbiss. Leos rauchige Worte aber ließen ihren Puls rasen und sorgten dafür, dass ihre Gedanken in eine Richtung abdrifteten, die ihr nicht behagte.

Fast schon bereute sie ihren Entschluss, es auf die nette Art zu versuchen, doch feige aufgeben war noch nie ihr Ding gewesen, daher würde sie es diesmal auch nicht tun.

Ein Kurzbesuch in der Küche reichte und Vic verließ diese mit einer Banane und einem Salatteller. Beides nahm sie mit nach draußen, wo sie sich auf die Wiese setzte und aß. Sie wollte noch nicht zu Silver aufs Zimmer. Zuerst musste sie ihren Kopf frei bekommen, all das sortieren, was sie verwirrte.

Ein Wilder!

Es war unglaublich. Von allen Kerlen sollte ausgerechnet er derjenige sein, der etwas in ihr auslöste? Bekanntschaften hatte sie genug gehabt, um das beurteilen zu können. Niemand hatte es bisher vermochte, sie nur mit der Stimme derart zu berühren. Das war der Moment, in dem sie sich wünschte, eine Freundin zu haben, um mit ihr darüber zu reden. Doch ihre Freundin war der Job.

Einzig und allein.

*

In der Nacht wälzte sie sich unruhig im Bett herum. Silver schlief wie ein Stein, worum Vic sie beneidete. Immer wenn sie die Lider schloss, hatte sie das Bild von diesem Leo vor sich, wie er auf der Liege saß, sich die Seite hielt. Sein Fell, die schönen Augen, seine Stimme …

Vic fluchte innerlich und stand auf. Nur mit Hotpants und Tanktop bekleidet verließ sie das Zimmer. Zuerst ging sie nach draußen, nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die stets dort lag, und lief unruhig an der Hausfront auf und ab. Ob sie wollte oder nicht, es blieb nur eine Lösung für ihr Problem. Sie musste herausfinden, was an diesem Mann so besonders war. Und, warum er und die anderen Wilden wiederholt einen Versuch gewagt hatten, das Gebiet unbemerkt zu betreten. Es gab keinen Zaun um das Territorium – früher hatte es einen gegeben, als noch viel weniger Animalis hier zusammengelebt hatten. Doch statt das Gelände erneut zu umzäunen, hatte man die Animal Soldiers geschaffen, um die Grenze zu bewachen. Die bestand aus einem Dreiviertel des Gebietes um die Kolonie, der Rest war ein natürlicher Grenzwall in Form einer steilen Felswand, die gut zweihundert Meter in die Tiefe reichte und am Meer endete.

Das Territorium war auf einem Plateau gegründet worden. Das ganze Jahr über herrschte ein angenehmes Klima, was den Pflanzen zugutekam. Hinter ihrer ‚Grenze‘ – mit Sensoren in einem Abstand von einem Kilometer – fiel das Gelände unterschiedlich ab. Diese Zwischenzone konnte man zu Zeiten ihres Vaters gut überschauen, jetzt war sie mehr oder weniger dicht bewachsen.

Oh, ihr Vater … Der Besuch bei ihren Eltern war schon überfällig, doch irgendwie hatte sie momentan keine Energie dazu. Sonst ging sie regelmäßig zu ihnen, nur in letzter Zeit waren die Abstände immer länger geworden. Ausgerechnet jetzt kamen die beiden ihr in den Sinn, wo ihr das Dickicht störend vorkam. Vic würde es roden lassen, doch sie fragte keiner. Die Wilden hatten also ein leichtes Spiel, sich durch das Grün anzuschleichen und auf Raubzug zu gehen. Was ihre Gedanken zurück zu dem Gefangenen führte.

Vic drückte den Stummel der Zigarette in den Standascher und machte sich auf den Weg nach unten. Die Zellentür besaß ein kleines Fenster und sie wollte sehen, was dieser Leo tat. Schlief er oder war er so rastlos wie sie?

Sie schalt sich. Warum sollte er etwas Ähnliches empfinden wie sie? Der Kerl verwirrte einfach ihren Geist!

Bei der Tür angekommen, öffnete sie die kleine Luke so leise wie möglich. Sie wollte ihn nicht wecken, sollte er schlafen. Kaum dass sie hineinsehen konnte, stockte ihr der Atem. Leo lag auf der Liege, nackt. Im Mondlicht, das durch die schmalen Fenster hineinfiel, sah sie deutlich das Leopardenfell, das sich vom Rippenbogen bis auf die Oberschenkel erstreckte. Einzig sein Geschlecht besaß kein Fell. Sie schluckte. Der Penis lag wie gebettet da und sie fragte sich, wie das beachtliche Stück erst aussehen würde, wenn es steif war. Hitze wallte in ihrem Schoß auf, was sie abermals schlucken ließ. Wie lange hatte sie keinen Mann mehr begehrt? Es musste ewig her sein. Der wenige Sex, den sie hatte, beschränkte sich meistens auf schnelle Quickies mit ihrem ‚Kollegen‘ Maik oder mit anderen Bekanntschaften. Nur zum Abreagieren. Nichts Ernstes, nicht mal eine echte Affäre.

Doch jetzt, wo sie Leo so da liegen sah, spürte sie deutlich ein Verlangen in sich aufsteigen, dass sie angesichts seiner Natur nicht haben durfte. Mutierte Gene, zu viele tierische Merkmale – ein Fleischfresser, kein Vegetarier, so wie sie.

Sie kannte ihn nicht einmal! So etwas sollte sie nicht bei ihm empfinden. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Luke, wollte sie schließen, da sah sie, wie seine Nasenflügel bebten. Als würde er eine Witterung aufnehmen …

„Ich weiß, dass du da bist“, raunte er plötzlich.

Vor Schreck entwich ihr ein kurzer Schrei. Sie fühlte sich ertappt, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Rasch fing sie sich und reckte trotzig das Kinn.

„Hast du mich erschreckt! Ich dachte, du schläfst und wollte nur nachgucken, ob mein Gefangener in Ordnung ist.“

Er setzte sich ruckartig auf und sah sie an. „So, so. Jetzt bin ich bereits dein Gefangener. Schön zu hören.“

Vic verdrehte die Augen. So sollte das nicht rüberkommen.

„Bilde dir nur nichts ein“, erwiderte sie.

Er lachte dezent. „Es ist keine Einbildung. Ich weiß, dass dir gefällt, was du siehst.“

„Ach, der Herr denkt, er kann Gedanken lesen?“

„Nein. Ich rieche es.“

Wie dumm stellte sie sich an. Vic hätte sich am liebsten selbst verflucht. Natürlich konnte er wittern, dass ihre kurze Hose nass im Schritt war. Was hatte er auch so eine Wirkung auf sie und außerdem: Warum musste er nackt da liegen? Alles oder nichts, dachte sie sich.

„Es ist schwer zu bestreiten, dass du mit diesem Fell ziemlich heiß aussiehst. Aber das hilft dir nicht, die Zelle zu verlassen, ohne dass wir Antworten bekommen.“

„Es stimmt also.“

„Was stimmt?“

„Keiner hier besitzt Fell oder andere äußere Merkmale.“

Gut kombiniert, das musste sie ihm lassen.

„Nein. Jeder von uns hat einen reinen Genetikstamm.“

Leo schnaubte. „Ach, und das macht euch zu was Besserem? Da irrst du dich, Süße.“

Vic fiel die Kinnlade runter. Wie hatte er sie gerade genannt?

„Sei froh, dass ich hier draußen bin, sonst würde ich dir dafür eine verpassen“, begehrte sie auf. Sie sollte verschwinden, aber schleunigst.

Leo erhob sich und kam auf die Tür zu. Vic konnte ihren Blick nicht von ihm nehmen. Als er dicht davorstand, legte er eine Hand an die Öffnung, neben ihre.

„Wenn du hier drin wärst, würdest du ganz andere Sachen machen, statt mir eine runterzuhauen.“

„Oh, da ist aber jemand sehr von sich überzeugt“, spottete sie.

Bevor sie reagieren konnte, lag seine Hand auf ihrer. Warm, ein bisschen rau … dann fluteten Bilder ihre Gedanken.

Sie keuchte auf, als sie vor ihrem geistigen Auge vorüberzogen. Sie, mit Leo in der Zelle. Sie lag auf der Liege, sein Haupt zwischen ihren Schenkeln. Ein neues. Ihr Kopf über seiner Mitte, ihre Locken fielen auf sein Fell. Noch eines. Sie kniete auf der Pritsche und Leo nahm sie von hinten, seine Hände an ihrer Hüfte. Sie konnte sein Gesicht sehen, die Lust und das Glänzen in seinen Augen.

Ihr entwich ungewollt ein Wimmern. Leo zog seine Hand weg, die Bilder verschwanden.

„Wenn du wiederkommst, werden wir genau das tun, daran habe ich keinen Zweifel.“ Der verheißungsvolle Klang seiner Stimme ließ sie erzittern. Sie hatte weiche Knie und verachtete ihren Körper dafür, dass er so auf ihn reagierte. Ihre Brüste spannten unter dem Top, zwischen ihren Schenkeln schien sich ein See bilden zu wollen.

Er drehte sich weg und schlenderte zurück zur Liege. Trotz des wenigen Lichts konnte sie einen guten Blick auf seinen knackigen Hintern werfen.

Wie benommen, schloss sie die Luke, kaum in der Lage, auch nur ein Wort zu erwidern. Dieser Mann war nicht gut für sie …

Selbstbeherrschung

Nach der nächtlichen Begegnung tat Vic erst recht kein Auge mehr zu. Obwohl es zu regnen begonnen hatte und das Rauschen sie normalerweise gut einschlafen ließ. Entsprechend gerädert stand sie am Morgen auf. Immer wieder geisterte ihr die Szene an der Tür durch den Kopf. Es gab einige Animalis, die mittels Berührung Bilder oder Gedanken übertragen konnten, aber dass der Wilde, Leo, auch diese Fähigkeit besaß, erstaunte sie. Seine letzte Darstellung hatte zwar einen Fehler enthalten – er konnte ja nicht wissen, dass ihr Rücken beinahe komplett tätowiert war – trotzdem ging es ihr nicht aus dem Kopf. Nun haderte Vic mit sich, ob sie dem Colonel davon erzählen sollte. Aber … dadurch würde er erfahren, dass sie in der Nacht nach dem Gefangenen gesehen hatte, grundlos. Sie müsste ihm sagen, was der ihr gedanklich übermitteln konnte und das war unmöglich! Vic hielt sich weder für verklemmt noch für prüde, aber ihrem Vorgesetzten von den Fantasien des Wilden zu erzählen, die ihre eigenen widerspiegelten, nein.

Frustriert betrat sie das kleine Bad. Silver war vor ihr aufgestanden – Vic hatte sich schlafend gestellt – und sie hatte ein nasses Duschtuch auf dem Boden und die triefende Badematte hinterlassen. Was stellte diese Frau nur immer im Bad an, dass hinterher alles schwamm? Ob das ihre innere Löwin war, die sich nach der Dusche schüttelte, um das ungeliebte Wasser loszuwerden?

Mit dem Fuß schob sie alles beiseite, legte ein frisches Handtuch vor die Dusche und stieg aus ihren Sachen. Über die Schulter warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Der Puma auf ihrem Rücken – in Sprunghaltung, quer von der Hüfte bis nach oben – schien sie anzufunkeln. Das Bild war so gut gestochen, dass sie oft den Eindruck hatte, das braune Tier würde sie tatsächlich ansehen. Denn die bernsteinfarbenen Iriden leuchteten. Die Nase sowie die Schnurrhaare und der weiße Flaum um die Schnauze bewegten sich mit ihrer Schulter und das wirkte, als lebe der Puma auf ihr. Nicht nur in ihr.

Kopfschüttelnd betrat sie die Dusche und hoffte, dass der Tag keine bösen Überraschungen bereithielt. Wenn ihre Schicht doch nur schon vorüber wäre …

Zwanzig Minuten später trat Vic in den Besprechungsraum. Silver und Amber saßen bereits am Tisch. Cat fehlte, ebenso wie der Wolf. Dabei hatte Vic gedacht, sie selbst wäre schon zu knapp dran. Ohne Frühstück und nur mit den Nahrungsergänzungstabletten im Magen. Sie war so in Eile gewesen, dass die Zeit nicht mehr für Obst gereicht hatte.

„Du siehst aus, als wärst du die ganze Nacht wach gewesen“, sagte Amber ohne eine Begrüßung. Das war typisch für sie, denn sie besaß die innere Unruhe ihres Tieres – in ihr steckten die Gene eines Huskys.

„Dir auch einen guten Morgen“, erwiderte Vic, setzte sich und verzichtete darauf, die Worte zu kommentieren. Silver schenkte ihr einen fragenden Seitenblick, worauf sie nur mit einer abwehrenden Geste reagierte. Keine Fragen!

Die Tür öffnete sich und Cat trat herein. Ihre schlanke Gestalt war in eine hautenge Lederhose und ein weißes Herrenunterhemd verpackt. Sie grinste von einem Ohr bis zum anderen. Sie war die letzte des diensthabenden Viererteams dieser Woche. Sie waren die einzige Einsatzgruppe, die nur aus Frauen bestand. Die anderen Trupps waren gemischt oder bestanden nur aus Männern. Was Vic immer wieder erstaunte, war, dass sie super miteinander klarkamen, obwohl Amber mit den Genen eines Hundes, die drei mit den tierischen Eigenschaften der unterschiedlichen Katzen, eigentlich nicht mögen dürfte.

Jede Truppe für sich arbeitete perfekt zusammen. Was man in Vics Team beinahe jeden Morgen an Cat merkte, denn sie strahlte fast immer mit der Sonne um die Wette und steckte die anderen damit an. Sie setzte an, um ihre Kollegin zu begrüßen, doch ehe die sich äußern konnte, betrat der Wolf den Raum. In seinem Schlepptau Dr. Kayne. Vic schwante Böses …

„Soldiers“, grüßte der Colonel und nickte kurz. Die Analystin aus dem Forschungszentrum und Chefin desselben Dr. Kayne setzte sich zu ihnen an den Tisch, erst danach nahm der Wolf seinen Stuhl am Kopfende ein. Er räusperte sich.

„Dr. Kayne hat einige Neuigkeiten, die für unsere Arbeit vielleicht relevant sind“, begann er und forderte die Analystin mit der Hand dazu auf, an seine Worte anzuknüpfen.

„Mit Ihren Kollegen konnte ich bereits sprechen. Wir haben durch die jüngsten Testergebnisse Grund zur Annahme, dass die genetische Mutation der frei lebenden Animalis gar keine solche ist. Es scheint viel mehr eine natürliche Weiterentwicklung zu sein.“

Vic sah, dass der Wolf die Augen verdrehte. Sie selbst allerdings war ganz Ohr. Wenn das nicht eine interessante These war …

„Und das bedeutet?“, hakte Silver nach.

Die Analystin rutschte auf ihrem Stuhl herum, ihr schien sichtlich unbehaglich zumute. Sie schielte kurz zum Colonel.

„Wir sollten sie nicht länger als unsere Feinde betrachten“, sagte sie schnell, als wäre es verboten, diese Ansicht zu äußern.

„Aber sie dringen hier ein, ohne dass wir je aus einem von ihnen herausbekommen haben, warum sie das tun!“ Der Wolf bemühte sich, seine Fassung zu wahren. Vic sah es ihm deutlich an.

„Colonel, Ihre Ansicht in allen Ehren, aber Sie sollten auch die Wahrscheinlichkeit in Betracht ziehen, dass sie uns gar nichts tun wollen.“

Vic fragte neugierig: „Wie meinen Sie das?“

„Ich habe erfahren, dass der Wilde, der gestern gefangen wurde, Flokibeeren bei sich trug. Das untermauert meine Theorie, dass unter den Wilden auch Artgenossen leben, die wie wir sind. Animalis, die kein Fleisch essen, sondern ihre Nährstoffe aus vegetarischen Lebensmitteln beziehen. Und soweit wir wissen, wächst außerhalb unseres Territoriums nicht viel, was nahrhaft genug.“

„Stopp! Ich habe genug von den hanebüchenen Theorien. Dr. Kayne, Sie verstehen, ich schätze Sie und Ihre Arbeit sowie die Ihrer Kollegen, aber das geht zu weit. Wir werden an unserer Arbeitsweise erst etwas ändern, wenn Sie uns beweisbare Daten vorlegen.“

„Wie können Sie nur so stur sein?“, erwiderte Dr. Kayne und reckte stolz das Kinn vor. Wie es aussah, wollte sie wegen des Colonels nicht katzbuckeln. Nicht aus medizinischer Sicht.

„Bringen Sie eindeutige Belege vor, dann lasse ich mit mir reden. Und kommen Sie mir ja nicht noch einmal damit, dass sie bahnbrechende Ergebnisse hätten … es sind Mutanten! Sie vergessen vielleicht, dass die nicht nur stehlen – es gab auch schon dutzende Übergriffe von den Wilden auf die Animalis, die wir schützen müssen!“

*

Vic befand sich auf ihrem Kontrollrundgang. Ihr wollten die Worte der Analystin nicht aus dem Kopf gehen. Wenn es stimmte, dass die Wilden nur eine natürliche Entwicklung durchgemacht hatten und manche von ihnen auf die Früchte angewiesen waren … es wäre vermutlich das Aus für das Territorium. Das Ende des behüteten Lebens aller, die hier beschützt in einer großen Gemeinschaft lebten. Vic wurde in dieses System hineingeboren. Schon von Kindesbeinen an war es ihr Wunsch gewesen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, was sie schließlich auch wahr gemacht hatte. Unterwegs in Viererteams, die in einem ihnen zugeteilten Grenzstück Patrouille liefen, schützten die Animal Soldiers die fast tausend Animalis, die auf dem großen Areal eine neue Stadt aufgebaut hatten, nachdem die Genexperimente aus dem Ruder gelaufen und die Strukturen der Welt nicht länger dieselben waren.

Während sie nun die unsichtbare Grenze abschritt und die Lasersensoren auf ihre Funktion prüfte, dachte sie an Leo. Wollte er die Beeren vielleicht für ein Mitglied seiner Gruppe haben? Oder gar für sich selbst? Was war mit all den anderen, die versuchten, unerkannt einzudringen? Die meisten flohen, sobald sie die Soldier zu Gesicht bekamen. Viele waren schon gefangen genommen worden. Wenn die Theorie der Ärzte stimmte … Aber, weshalb griffen die Wilden wiederholt die Animalis an? Einige Zivilisten waren verletzt worden, Erntehelfer, die nur ihre Arbeit erledigten. Keine Animal Soldiers. Kein Wilder hatte sich bisher getraut, einen anzugreifen.

Das Grübeln brachte sie kaum voran. Sie nahm sich vor, nach Dienstende Leo auf den Zahn zu fühlen – und dabei all ihre Beherrschung einzupacken. Seine Bilder würden nicht wahr werden! Das schwor sie sich und ihrem inneren Puma.

*

Kurz nach Einbruch der Dämmerung legte Vic ihre Waffen in den dafür vorgesehen Schrank. Sie wollte nicht angriffslustig wirken, wenn sie hinunterging, um Leo auszufragen. Hoffentlich gab er ihr die Antworten, die sie suchte.

Ihre Arbeitskleidung, bestehend aus Cargohose und T-Shirt, ließ sie an – auch oder insbesondere weil sie dreckig und verschwitzt waren. Die Sachen kaschierten ihre Figur und das stimmte sie zuversichtlich, dass Leo gar nicht in Versuchung käme, sie anzumachen.

Trotzdem rumorte es in ihrem Bauch, als sie die Treppe hinunterstieg. Ihre Instinkte waren hellwach. Kaum dass sie den Flur im Zellentrakt betrat, stieg die Anspannung in ihr. Als würden ihre Nervenenden elektrisch stimuliert werden, prickelte es auf ihrer Haut und in ihrem Inneren. Sie hatte Leo noch nicht mal erreicht und schon stand ihr Körper unter Hochspannung. Sie verfluchte sich für ihre Idee, ihn nochmals zu befragen.

Zähne zusammenbeißen.

Lächeln.

Absolute Selbstbeherrschung aktivieren!

Vic entriegelte die Tür und erlangte wieder Kontrolle über sich. Zumindest äußerlich. Sie betrat den Raum und blickte Leo entgegen, als wäre nichts vorgefallen. Er hockte im Schneidersitz auf dem Boden, eine Wasserflasche stand neben ihm. Seine Augen funkelten, als er sie ansah.

„Wusste ich doch, dass du wiederkommst …“

„Du musst mir ein paar Fragen beantworten, darum bin ich hier.“

Er verzog das Gesicht, als habe sie ihn geschlagen.

„Es ist wichtig und ich hege den Verdacht, dass sich vieles ändern könnte“, begann Vic freundlich. „Also – kommt ihr her, weil es Animalis in euren Gruppen gibt, die kein Fleisch vertragen?“

Er verengte die Augen, musterte sie kritisch.

„Warum sollte ich dir etwas über unsere Beweggründe verraten?“

Vic verkniff sich ein Schnaufen und hockte sich hin, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war.

„Weil unsere … Forscher eine Theorie aufgestellt haben, die besagt, dass ihr keine mutierte Variante von uns seid, sondern eine natürliche Weiterentwicklung.“ Die Erklärung sprach sie ohne schlechtes Gewissen aus. Sie musste pokern. Alles oder nichts. Und wenn sie ihm etwas verriet, bekam er vielleicht auch den Mund auf.

Leo legte den Kopf schräg und schürzte die Lippen, als würde er überlegen. Das Glitzern in seinen Augen zeigte, dass er spielen wollte. Vic war schon immer gut darin gewesen, den Gesichtsausdruck bei anderen zu deuten.

„So, denken sie das? Klingt interessant, eure These.“

„Stimmt sie oder nicht?“

„Warum bleibst du nicht hier und versuchst es herauszufinden?“ Er grinste neckisch.

„Und dann erfahre ich etwas, das ich nicht weiß?“, entgegnete sie beherrscht. Innerlich war sie alles andere als das. Ihr Herz klopfte wie verrückt und sie musste sich davon abhalten, diesen verlockenden Mund vor ihren Augen zu küssen. Sein männlicher Duft machte sie zusätzlich wahnsinnig. Vic verfluchte ihre tierischen Eigenschaften selten, in diesem Moment tat sie es.

„Oh doch. Was glaubst du, bringen sie mir hier zu essen?“

„Obst, Gemüse, Salat?“

Er nickte bedächtig. „Es ist abscheulich!“, entgegnete er und grinste breit, sodass sie seine Zähne sah. Er besaß spitze Eckzähne wie ein Raubtier!

Vic versuchte nicht zu leugnen, dass sie das anmachte. Sie spielte hier mit einem Feuer, das sie kaum mehr unter Kontrolle bringen könnte, wäre es einmal entfacht. Das war ihr bewusst.

„Tut mir leid, allerdings kann ich dir kein Fleisch besorgen.“

Oh! Sein Gesicht verriet, dass sie die falsche Wortwahl getroffen hatte.

„Ich kann es aber dir besorgen“, entgegnete er mit rauer Stimme. Dieses Timbre ging ihr erneut durch und durch. Seine Nasenflügel blähten sich auf und er verzog den Mund zu einem siegessicheren Lächeln.

„Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht“, forderte sie streng.

Er lachte nur.

„Wenn du mir nichts weiter zu sagen hast, kann ich ja auch gehen.“ Vic erhob sich und lobte sich gedanklich, weil ihre Knie kein bisschen zitterten. Kaum dass sie stand, sprang Leo mit einem Satz in die Höhe. Er funkelte sie an. Sein Blick glich dem eines Raubtieres auf Beutejagd und sie erschauderte.

Ihr blieb überhaupt keine Zeit, um zu realisieren, was folgte. Innerhalb eines Blinzelns war er nahe vor ihr, umfasste ihr Gesicht und drückte ihr seine Lippen auf den Mund. Vic glaubte, flüssiges Feuer flöße durch ihren Körper und versetze ihren Schoß in Brand. Und das nur, weil er sie küsste?!

Sie fühlte die Wärme seines Körpers und sog gierig seinen Duft ein. Als er seine Zunge in ihren Mund drängte und auf ihre traf, stob ein elektrischer Impuls bis in ihre Mitte. Sie spürte, dass sich Nässe in ihrem Schritt sammelte und sie konnte ein Keuchen nicht unterdrücken. Leos Küsse schmeckten so gut und all ihre Sinne reagierten darauf.

Seine Hände gingen auf Wanderschaft, von ihrem Gesicht über die Schultern bis zu ihrem Rücken. Fordernd drückte er sie an sich, während ihr Zungenspiel immer intensiver wurde. Vic ertastete sogar die spitzen Eckzähne, was ihre Lust zusätzlich anfachte.

Zu spät. Sie erlag ihm und verlor ihre Kontrolle. Sollte es ihr etwas ausmachen? Nein, entschied sie mit dem Rest ihres Verstandes, der noch arbeitete. Was sich so gut anfühlte, konnte nicht falsch sein.

Als hätte er gespürt, dass sie sich ergab, löste er sich abrupt von ihr. Schwer atmend schaute sie ihn an. Vic sah sein Verlangen so deutlich, wie sie ihr eigenes spürte. Warum hörte er auf? Wollte er nur beweisen, dass er sie bekommen könnte, so wie er es mit den Bildern vorhergesagt hatte? Vic schluckte. Plötzlich kam sie sich unglaublich töricht vor.

Da er nur dastand und sie betrachtete, ohne jegliche Regung, wallte Wut in ihr auf.

„Hast du nun, was du wolltest? Musstest du dir selbst beweisen, dass du immer bekommst, was du willst?“, fuhr sie ihn an.

Ein leichtes Lächeln bildete sich um seine Lippen. „Ich habe noch gar nicht, was ich will. Ich muss mich nur abkühlen, um einen klaren Gedanken fassen zu können.“

Vic schnaubte.

„Ich möchte dir etwas erklären, Vic. Ich bin kein Untier. Aber ich bin vermutlich ein bisschen zu bedrängend vorgegangen, denn du machst mich wahnsinnig, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.“

Sie zog nur fragend die Braue nach oben und erwiderte nichts. Wenn er schon etwas sagte, unterbrach sie ihn lieber nicht.

„Das war vor ein paar Monaten und ich brauchte einen Plan, um in deine Nähe kommen zu können.“

„Was?“, entfuhr es ihr dann doch.

„Ihr hier drin, im behüteten Nest, habt keine Ahnung von dem Leben da draußen. Und ich wusste, wenn ich die Grenze überschreite, werde ich festgenommen. Daher begann ich, zu beobachten. Ich habe eure immer gleichen Einsatzpläne auswendig gelernt – und wartete darauf, dass du kommst und mich schnappst.“

„Das kann nicht dein Ernst sein. Das klingt an den Haaren herbeigezogen …“

„Deshalb ist es nicht weniger wahr. Meine Fixierung auf dich“, erklärte er und kam näher, „ist jedoch nicht der einzige Grund, warum ich hier bin.“

„Sag’s mir“, forderte sie leise und legte eine Hand auf seine breite Brust.

„Deine Theorie ist nicht völlig falsch. Es gibt welche da draußen, die eure Früchte wollen. Aber nicht, weil sie die brauchen. Sie sind Luxusgüter, mit denen gehandelt wird.“

„Was ist daran schlimm?“

„Das ganze System. Die Diebe werden behandelt wie Sklaven; die Händler zwingen unsere Animalis zum Stehlen und bedrohen ihre Gruppen in den Siedlungen. Wer zu wenig oder gar nichts mitbringt, wird misshandelt. Auf unterschiedlichste Weise …“

Vic fiel das Mädchen ein, das entwischt war. Eine Halbstarke – sie wollte sich gar nicht vorstellen, was man der jungen Frau angetan hatte, weil sie mit leeren Händen zurückkam.

„Und was genau willst du dann hier dagegen ausrichten?“ Vic verstand es nicht.

„Ich bin Leonard der Zweite. Ich stehe als Anführer an der Spitze einer beachtlichen Gruppe, vergleichbar mit einer Großstadt der vergangenen Menschenwelt. Größer als eure Kolonie. Meine Leute leiden unter den Zuständen und ich kann das nicht länger hinnehmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ihr helft mir mit Setzlingen, sodass wir selbst diese Pflanzen anbauen können oder ihr schirmt euch mit richtigen Zäunen und Mauern ab, die rund um die Uhr bewacht werden müssen. Wenn es keine Chance mehr gibt, die Früchte zu stehlen, wird der Handel von selbst einbrechen“

Vic schwirrte der Kopf. Seine Erklärung überstieg ihre Erwartungen. Und sie war keine Lüge gewesen, das hätte sie gerochen. Viel nachdenken konnte sie nicht, denn Leo beugte sich zu ihr herunter und eroberte von Neuem ihren Mund. Die verdrängte Lust flammte wieder auf.

Leos Hände wanderten über ihren Körper, umrundeten ihre Brüste, glitten vom Bauch bis nach hinten auf ihren Po, den er drückte und sie gegen sich dirigierte. Vic kam ihm entgegen, zuckte leicht zusammen, als ihre empfindlichen Brustwarzen vom Stoff gereizt wurden. Die zarte Reibung schickte lustvolle Schauer durch ihren Körper und sie konnte es kaum erwarten, mit den Fingern über sein Fell zu streichen. Wie fühlte es sich wohl an?

Noch ehe sie dazu kam, es herauszufinden, löste sich Leo erneut von ihr. Er sprang regelrecht von ihr weg.

„Da kommt jemand!“, warnte er leise.

Vic schluckte krampfhaft, versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihr nicht wirklich. Wie konnte sie verdrängen, wo sie sich befanden? Sie lauschte, hörte schwere Schritte, die sich über die Treppe näherten.

„Kein Wort zu irgendjemand – noch nicht. Bitte“, sagte er leise und Vic nickte. Sie atmete tief durch und schaltete in den Soldier Modus, denn sie ahnte, wer da auf dem Weg zu ihnen war.

„Es wird Zeit, dass du was sagst, sonst fahren wir hier andere Geschütze auf!“, drohte sie und es klang tatsächlich echt, zumindest in ihren Ohren.

Leo zwinkerte ihr zu und stellte sich mit leicht ausgestellten Beinen hin, die Hände vor dem Schritt verschränkt. Sie hoffte, dass ihrer beider Erregung nicht derart deutlich war, dass man sie sofort roch. Kaum dass sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, stieß der Wolf die Tür auf.

„Noch immer im Dienst, sehr vorbildlich Vic“, lobte er. „Was herausgefunden?“

„Nein, leider. Kein Ton.“ Es wunderte sie, wie leicht es ihr fiel, dem Colonel diese fette Lüge ins Gesicht zu sagen.

„Immer das gleiche mit diesen Mutanten!“, murrte er und stockte verdutzt. „Warum trägt er kein Band?“

„Ich habe es abgenommen. Doch der Bestechungsversuch mit etwas Freundlichkeit hat auch nicht funktioniert“, improvisierte Vic. Ihr langes Training machte sich bezahlt. Sie hielt sich unter Kontrolle – der Einzige, bei dem ihr das nicht gelang, war Leo.

„Ein neues anlegen. Kein Essen mehr. Und morgen früh will ich ihn in Raum vier haben. Acht Uhr. Sorg dafür, dass er da ist“, ordnete der Colonel an.

„Er wird da sein“, sagte sie und zog demonstrativ eines der Bänder aus ihrer Beintasche. Das einzige, das sie bei sich trug. Als hätte sie einen siebten Sinn. Alle anderen Waffen waren abgelegt.

Der Wolf nickte ihr zu und verließ den Raum, sah jedoch noch einmal zurück, ehe er durch die Tür trat. Vic war in weiser Vorahnung zu Leo getreten und schlug bereits das Band um seine Handgelenke.

Sie lauschte den Schritten des Colonels und sobald sie sicher war, dass dieser die Treppe hinter sich gelassen hatte, nahm sie die Fessel wieder ab.

„Um nochmals auf das Wesentliche zurückzukommen. Wie hast du dir das vorgestellt? Ich kann nicht einfach fordern, dass man euch Setzlinge aushändigt und ich bin nicht befugt, den Vorschlag zu machen, die Grenze zu befestigen.“

Vic sah ihn fragend an. Leo wirkte nachdenklich. Es schien, als wäre nicht nur ihre Lust durch den unerwünschten Besuch des Wolfes abgekühlt.

„Ich weiß es nicht. Meine Grundidee basiert auf dem, was wir von außen betrachten können. Eure internen Abläufe kenne ich nicht. Ein Teil meiner Familie betitelte mich als Idioten, weil ich mich freiwillig fangen lassen wollte, doch das konnten sie mir nicht ausreden. Gibt es niemanden mit hohem Rang, dem du die Möglichkeiten als deine Idee unterjubeln kannst? Eventuell nebenher, in einem belanglosen Gespräch?“

Vic schnaubte. Außer dem Colonel gab es kaum jemand Ranghöheren, mit dem sie regelmäßig zu tun hatte. Wem sollte sie beiläufig diese Vorschläge unterbreiten? Es fiel ihr niemand ein, daher schüttelte sie den Kopf.

Leo atmete tief durch und schlenderte zur Pritsche.

„Vielleicht fällt dir noch jemand ein. Ich warte auf dich – ich kann ja hier eh nicht weg“, witzelte er. „Bis Morgen.“

Er ließ sich auf die Liege fallen und legte sich einen Unterarm über die Augen. Vic beschlich das Gefühl, dass er enttäuscht war.

„Ja, bis Morgen“, erwiderte sie leise und verließ die Zelle. Es war ja nicht so, als würde sie ihm nicht helfen wollen, aber dafür müsste ihr erstmal einfallen wie!

Umwege

Am nächsten Morgen stand Vic noch vor Anbruch der Dämmerung auf. Sie schlief wider Erwarten sehr gut und bekam, gefangen in der Welt zwischen Wachen und Schlafen, die zündende Idee. Elli! Die Assistentin im Labor von Dr. Kayne. Die junge Frau – im gleichen Alter wie Vic – war mit ihr auf einer Wellenlänge. Sie kannten sich schon, seit sie beide ihre Ausbildungen begonnen hatten. Im ersten Jahr mussten alle Animalis zum schulischen Unterricht und dort hatten sie sich kennengelernt. Noch immer setzten sie sich manchmal zusammen, um zu quatschen und einen Tee zu trinken.

Ihr könnte Vic unbefangen und – was noch viel wichtiger war – wie zufällig, ihre – nein, Leos – Thesen unterjubeln. Dass die schließlich in den richtigen Ohren landeten, daran besaß Vic keinen Zweifel. Elli war eine unglaublich herzensgute Person, allerdings auch eine Klatschtante, die sofort zu berichten wusste, wer mit wem etwas am Laufen hatte. Das lag vermutlich an ihren tierischen Eigenschaften. Elli trug die Merkmale eines Erdmännchens in sich. Diese waren bekannt dafür, sehr gesellig und überaus aufmerksam zu sein – jedenfalls den Aufzeichnungen nach.

Bei einer Joggingrunde, die rein zufällig an den Quartieren der Angestellten vorbeiführte, hielt Vic die Augen offen. Nach ein paar Beeren zum Frühstück und den üblichen Tabletten, welche die Nährstoffe lieferten, die das Obst und Gemüse den Animalis nicht geben konnten, war sie losgelaufen.

Zu dieser frühen Stunde war es noch ruhig, dennoch beschlich sie die leise Ahnung, dass Elli ihr über den Weg laufen würde. Ob sich das auf reine Hoffnung stütze oder ihre Instinkte ihr das zu flüsterten, konnte sie nicht genau sagen. Jedenfalls begegnete ihr Elli hin und wieder bei den Joggingrunden am Morgen. Teetrinkend an einem Tisch vor der Wohneinheit.

Die kühle Morgenluft flutete Vics Lungen und sie genoss die Freiheit, die sie beim Laufen immer spürte. Sie fühlte jeden Muskel, wie er arbeitete, sich zusammenzog und streckte – und sie liebte es. Das war sie, die Raubkatze in ihr.

Ihre Schritte klangen laut in ihren Ohren; der Luftzug auf ihrer Haut war wie ein Streicheln kühler Finger, die ihr innere Ruhe schenkten.

Unerwartet schlich sich Leo in ihre Gedanken. Sie fragte sich, ob er das Laufen genauso genoss wie sie. Vic schüttelte über diesen Einfall den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben.

Ihre Augen suchten die Fläche vor dem Angestelltenquartier ab, als sie das zweite Mal darauf zulief. Alles leer. An keinem der Tische saß jemand, der in der aufgehenden Sonne sein Frühstück einnahm.

Vic lief eine weitere Runde. Das Shirt lag bereits klamm an ihrer Haut an, doch das hielt sie nicht auf. Mit ihrer Kondition könnte sie zehn oder mehr Runden um das Gelände laufen – nur die Zeit hatte sie dafür heute nicht. Schließlich musste sie noch duschen, eine Kleinigkeit essen und anschließend Leo zum Verhör bringen.

Das gleichmäßige Klopfen ihres Herzens begleitete jeden ihrer Schritte. In den Bäumen, die sie gerade passierte, sangen die Vögel ihre Melodie. Die Sonne bahnte sich ihren Weg über den Horizont, als Vic zum dritten Mal um die Ecke bog und die Wohneinheit in Sichtweite kam.

Sie schien Glück zu haben, denn sie konnte eine Gestalt im weißen Laborkittel auf einem der Stühle sehen. Ein paar Meter weiter erkannte sie den brünetten Kurzhaarschnitt, der sie davon überzeugte, dass es wirklich Elli war, die dort saß.

Vic näherte sich. Als sie nur noch wenige Schritte vom Tisch entfernt war, drehte Elli sich um.

„Guten Morgen Vic! Du bist echt ein Sportfreak“, grüßte sie fröhlich.

„Ich muss doch fit sein“, hielt Vic dagegen. „Dir auch einen guten Morgen. Magst du nicht mal mitlaufen?“, fragte sie und verlangsamte ihren Schritt, bis sie schließlich gänzlich zum Stehen kam.

„Ach nein. Du kennst mich. Ich bin die unsportlichste Animalis, die es gibt.“

„Jetzt übertreib nicht. Es gibt viel schlimmere unserer Spezies“ Vic zwinkerte ihr zu und Elli kicherte. Sie wusste genau, wen Vic gemeint hatte. Den großen Greg, der nicht nur die Gene eines Elefantenbullen hatte, sondern auch körperliche Ähnlichkeit aufwies. Zu massig, zu breit, zu schwer, um auch nur ansatzweise sportlich zu wirken.

„Magst du einen Tee?“, bot Elli an und zupfte ihren Kittel zurecht, so als wolle sie ihre leicht rundliche Figur verstecken.

„Welche Sorte gibt es heute?“, erwiderte Vic und dehnte ihre Muskulatur.

„Ingwer mit Minze. Erfrischende Power für den Stoffwechsel.“

„Danke, gerne.“

Elli nahm die zusätzliche Tasse vom Tablett und goss ein. Sie schien immer davon auszugehen, dass ihr jemand Gesellschaft leisten würde, denn Vic hatte noch nie erlebt, dass Elli nur eine Tasse mit rausbrachte.

Einen Augenblick später stand der dampfende Tee vor ihr.

„Dr. Kayne war gestern kurz bei uns“, meinte Vic und hoffte, ein Gespräch in die richtige Richtung aufbauen zu können.

„Ich weiß. Sie war allerdings nicht so glücklich, als sie zurückkam.“ Elli mimte ein ratloses Gesicht.

„Das kann ich mir vorstellen. Sie soll Beweise für ihre Theorien vorlegen.“

„Ah! Jetzt verstehe ich auch, warum wir dazu verdonnert wurden, gestern länger zu arbeiten und heute eine Stunde früher anzufangen. Ich dachte schon, es hätte einen Fehler in einer Analysereihe gegeben.“

„Kann ich dir was anvertrauen?“, fragte Vic etwas leiser und sah sich gespielt beobachtend nach allen Seiten um.

„Aber natürlich, Vic! Ich schweige wie ein Grab.“

Sicher doch.

Ganz gewiss.

„Okay, ich glaube dir. Was Dr. Kayne gestern gesagt hat, hat mich nachdenklich gestimmt. Was, wenn sie recht behält? Wenn die Wilden auch Früchte brauchen? Wie wir. Wäre es folglich nicht leichter, ihnen kleine Setzlinge der Bäume und Sträucher zu geben, die wir kultivieren? Dann müssten sie keine mehr bei uns stehlen …“

Elli riss die Augen auf. „Aber … aber …“

„Was aber? Die Flut der Eindringlinge wird nie nachlassen – es sei denn, wir bauen eine hohe Mauer oder Zäune.“

„Ja, nur … würden die Animal Soldiers da überhaupt noch gebraucht werden?“, warf Elli zweifelnd ein.

Daran hatte Vic nicht gedacht. Wobei, sie fände es nicht so schlimm, wenn die Kolonie nicht mehr auf die Soldiers angewiesen sein sollte. Wenn sie ihre Ruhe hätten. Es würde sich bestimmt für jeden der Truppe eine andere Arbeit finden. Egal was, Hauptsache den Wilden könnte geholfen werden. Sklaven – innerlich schauderte sie bei dem Gedanken daran, was denen geschah, die mit leeren Händen zurückkamen.

„Es wird fraglos etwas geben, was wir stattdessen tun können. Aber das wird wohl nicht passieren …“