Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall - Ruth Liepman - E-Book

Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall E-Book

Ruth Liepman

4,8

Beschreibung

Sie war Jüdin, Kommunistin und Widerstandskämpferin. Unerschrocken kämpfte sie für politisch Verfolgte, überstand zwei Weltkriege, gefährliche Jahre im Untergrund. Und sie liebte die Literatur: Nach Kriegsende setzte sich Ruth Liepman als literarische Agentin für »ihre" Autoren aus aller Welt ein. Erst mit 83 Jahren ließ sich die Grande Dame des Literaturbetriebs dazu bewegen, ihre Lebensgeschichte aufzuzeichnen. Ihre Erinnerungen, ohne Eitelkeit und mit viel Aufrichtigkeit geschildert, umspannen fast ein ganzes Jahrhundert.

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Band 9 der

Ruth Liepman

Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall

Erzählte Erinnerungen

Mit einem Nachwort von Eva Koralnik und Ruth Weibel

Neuausgabe August 2011

© 2011 editionfünf Verlag Silke Weniger, Gräfelfing herausgegeben von Karen Nölle und Christine Gräbe

Alle Rechte vorbehalten Das Buch erschien erstmals 1993 im Verlag Kiepenheuer & Witsch und 1995 in einer Taschenbuchausgabe bei Droemer Knaur. © 1993, 2001 by Ruth Liepman Erben Alle Fotos privat

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Hamburg

ISBN 978-3-942374-13-2eISBN: 978-3-942374-81-1

www.editionfuenf.de

INHALT

Wenn ich zurückdenke …

1. Die Kindheit

2. Der Erste Weltkrieg

3. Hamburg und die Lichtwarkschule

4. Mitglied in der KPD

5. Das Jurastudium in Hamburg und Berlin

6. Werner Bockelmann

7. Im Exil in Holland

8. Nach dem Einmarsch der Deutschen

9. Leben in der Illegalität

10. Hamburg nach dem Krieg – Heinz Liepman

11. Die literarische Agentur

12. Zürich

13. Autoren – Bücher – Freunde

Nachbemerkung

Rede bei der Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1977

Zur Neuauflage – achtzehn Jahre später Ein Nachwort von Eva Koralnik und Ruth Weibel

Ich habe mich viele Jahre gesträubt, meine Erinnerungen in einem Buch zu veröffentlichen. Dass ich mich jetzt, mit 83 Jahren, doch dazu entschlossen habe, hat damit zu tun, dass es nicht mehr viele Zeugen der Generation der um 1910 Geborenen gibt, die zwei Weltkriege erlebt und ganze Weltreiche untergehen gesehen hat. Dieses Buch über mein Leben entstand in zahlreichen Gesprächen mit Helge Malchow.

Ruth Liepman, im Frühjahr 1992

WENN ICH ZURÜCKDENKE …

Wenn ich zurückdenke, fällt mir immer wieder eine Szene im Frühjahr 1933 ein. Seit einigen Wochen ist Adolf Hitler Reichskanzler, und die Jagd auf die Opposition, auf die Linke, hat begonnen. Um mich herum sind bereits viele Bekannte und Freunde verhaftet. Ich bin gerade 24 Jahre alt, stehe am Ende meiner Referendarzeit als Juristin. Ob ich je mein zweites juristisches Examen machen oder überhaupt weiter Juristin sein kann, ist zweifelhaft. Ich sitze an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag an einem runden Tisch unter einem blühenden Obstbaum auf einem Bauernhof in Prasdorf bei Kiel. Es gibt Kaffee und Kuchen. Unser Besuch hat einen ernsten Anlass: Nach den Massenverhaftungen der letzten Wochen musste Hans Kippenberger, ein Freund und führender Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands und Reichstagsabgeordneter, mit seiner Frau Thea untertauchen. Für seine vierjährige Tochter musste eine Unterkunft gefunden werden, schon um zu verhindern, dass die Kippenbergers über ihr Kind erpresst werden konnten. Werner Bockelmann, mit dem ich damals zusammen war, hatte geholfen, dieses Versteck auf dem Lande zu finden. Die Bäuerin, groß, blond und schön, war die Schwiegermutter seines Bruders Rudi, Lili Arp. Sie war bereit, das Kind aufzunehmen. Wir alle, Werner Bockelmann, Lili Arp, ihr Sohn und einige ihrer Freunde saßen um den großen Tisch herum und beobachteten das Kind, das auf der Wiese spielte.

Prasdorf war übrigens in Deutschland eine Enklave mit einem Rest von Mutterrecht, es erbte nicht wie sonst in der Gegend der älteste Sohn, sondern die Witwe beziehungsweise das älteste Kind, auch wenn es ein Mädchen war. Dass Lili Arp den Hof führte, war eine Folge dieses Ausnahmerechts. Ob das heute noch gilt, weiß ich nicht. Lili Arps Selbstständigkeit – sie führte ihren Hof vorbildlich alleine – hat aber bestimmt mitgeholfen, dass sie bereit war, die Verantwortung für das Kind auf sich zu nehmen. Sie war sich darüber im Klaren, dass das nicht ungefährlich war.

Die Erklärung dafür, dass mir gerade diese Szene von vor fast sechzig Jahren ins Gedächtnis kommt, hängt vielleicht damit zusammen, dass sie viele der Motive enthält, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen: Die Atmosphäre der ständigen Bedrohung und zugleich die Freude, die immer da war, wenn uns im Widerstand gemeinsam etwas gegen die Nazis glückte. Die Illegalität, in der ich mich ganz selbstverständlich engagiert habe, ohne groß über die Motive nachzudenken, meine damalige naive Gläubigkeit an die KP und nicht zuletzt das friedliche, grüne Prasdorf und die Nähe zu Werner Bockelmann, den ich liebte – nicht ahnend, dass diese Liebe an der Nazizeit zerbrechen könnte.

I. DIE KINDHEIT

Meine erste Erinnerung ist heiter. Ich muss gerade laufen gelernt haben, ich ging noch breitbeinig wie ganz kleine Kinder. Plötzlich kommt ein schwarzes Tier auf mich zu. Angst habe ich keine. Es muss ein Hund oder ein Lamm oder eine Ziege gewesen sein, schwarz und riesengroß. Ich ließ mich auf den Hintern fallen, die Beine vor mir ausgestreckt, und dachte: So kann es mich nicht umwerfen. Vielleicht war es auch mit einem bisschen Angst verbunden, auf jeden Fall aber mit Neugier und mit dem Gefühl, eine Schwierigkeit überwunden zu haben.

Diese Szene spielte sich in Polch bei Koblenz in der Eifel ab, wo ich 1909 geboren wurde. Mein Vater Theo Lilienstein hatte hier als junger Arzt seine erste eigene Praxis. Ansonsten ist mir über dieses Dorf in der Eifel überhaupt nichts im Gedächtnis geblieben. Mein Vater hat mir später oft erzählt, wie er dort Kinder mit Diphtherie behandelt hat. Er wurde auf Gehöfte gerufen, wo ein Kind kurz vor dem Ersticken war. Mein Vater brannte ein Küchenmesser aus und schnitt dem Kind die Luftröhre auf.

Meine Mutter Hilde Johanna Stern in Bad Ems

Selbstverständlich erwartete man aber auch seinen Rat, wenn die Kuh oder ein Pferd krank war. Er war ein begeisterter Arzt, dem alle trauten, der überall gern gesehen wurde, ganz selbstverständlich dazugehörte und Ansehen genoss – auch als Jude.

Er entstammte einer jüdischen Familie aus Usingen im Taunus, nicht weit von Frankfurt. Dort lebten die Großeltern, meine Vettern und Kusinen mit dem Hund Polly. Überall im Hof ihres Hauses lagen Getreidesäcke. Die Großeltern hatten, wie Juden häufig in Kleinstädten, einen Getreide- und Futtermittelhandel. Mein Vater war der älteste Sohn und konnte studieren. Die Familie hatte ein großes Haus in der Untergasse, in dem es ein eigenes Zimmer nur für Backwerk gab. Meine Großmutter buk jeden Tag, und ich habe heute noch den Duft von frischem Zwetschgenkuchen in der Nase. Meine Kusine Hilde und ich durften überall hin, auch in die Vorratskammer, wo für den Winter Kartoffeln und Äpfel aufbewahrt wurden. Es duftete durch das ganze Haus. Meine Großmutter war eine zierliche Frau mit roten Apfelbäckchen, die für die ganze Familie sorgte, besonders für uns Enkel. Nichts schmeckte mir besser als ein Stück vom frischen runden Laib Brot mit selbst geschlagener Butter.

Ich erinnere mich sogar noch an meinen Urgroßvater. Er saß mit einem Käppchen in einem Schaukelstuhl, nahm mich auf den Schoß und schaukelte mit mir. Seine schwarze Kappe war bestickt und oben flach.

Auch die Eltern meiner Mutter lebten nicht sehr weit entfernt, in Bad Ems. Meine Mutter war eine außergewöhnlich schöne Frau, der einmal sogar der Kronprinz den Hof gemacht hat. Jahre später fand ich einmal in Hamburg auf unserem Dachboden den Papierkranz eines Blumenbuketts, das er ihr verehrt hatte. Die Aufschrift lautete: »In Hulde. Für die schönste Frau von Bad Ems.« Ich hatte ein seltsames Gefühl, als ich die Manschette anfasste. Was »Hulde« war, wusste ich nicht.

Auch ihre Familie gehörte zum jüdischen Bürgertum. Meine Eltern waren Vetter und Kusine. Meine Emser Großeltern hatten ein Schuhgeschäft und wohnten in der Braubacher Straße in einem großen Haus am Berg. Hinter dem Haus lag ein herrlicher Garten. Dort konnten meine Kusine und ich frische Walderdbeeren pflücken, und in der Erdbeerzeit duftete das ganze Haus danach. Der Berg hinter dem Haus war für uns Kinder wichtiger als das Haus. Auf der Toilette allerdings gab es farbig bemalte Jugendstilkacheln, ich ging dort gar nicht gern weg, weil ich mir immer die Geschichten auf den Kacheln anschaute.

Die Großeltern nahmen während der Saison Kurgäste auf. Das war eine zusätzliche Erwerbsquelle neben den beiden Schuhgeschäften. Das Ein-und Auspacken von Schuhen machte uns Kindern Spaß, wir haben uns damit vergnügt, die viel zu großen Schuhe anzuprobieren.

Die Großeltern beiderseits waren praktizierende Juden. Sie unterstützten arme Juden, luden sie zum Freitagabend ein, der bei ihnen noch gefeiert wurde, bei meinen Eltern dann schon nicht mehr. Wenn wir später in Hamburg die Emser Großmutter zu Besuch erwarteten, achtete meine Mutter aber darauf, dass alles koscher war, wie es die Großmutter erwartete.

Meine Eltern waren keine religiösen Juden. Von Anfang an hat vor allem mein Vater mich an das rationale Denken herangeführt. Er versuchte mir die Welt ohne den lieben Gott zu erklären. Aber obwohl die Religion bei uns keine Rolle spielte, bekannte man sich immer zum Judentum und fühlte sich als Jude. Ich spürte das besonders an den großen jüdischen Feiertagen, deren Sinn mir erklärt wurde. Zu Pessach wurde zu Hause die Haggada vorgelesen, meistens in einem Kreis von Gästen, und ich liebte die traditionelle Geschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten sehr. Als Kind durfte ich die vier Fragen stellen. »Wodurch unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?« Und als Antwort wurde dann die Pessach-Geschichte erzählt.

Nach den ersten Jahren in Polch spezialisierte sich mein Vater zum Dermatologen, es ging von Stadt zu Stadt, Köln, Berlin, Hamburg – und meine Mutter und ich immer mit. Ich erinnere mich an den Kölner Dom und an den Karneval – ich ging als Rotkäppchen und trug ein Röckchen, eine Jacke und ein Käppchen, alles aus rotem Samt.

In Berlin wohnten wir in der Mommsenstraße. Ich hatte einen schwarzen Samtmantel mit hellblauem Futter. Das Futter war viel schöner als der Mantel, und ich drehte ihn immer um, weil ich das hellblaue Futter so gern zeigen wollte.

Einmal besuchte uns die »böse« Großmutter aus Bad Ems. Im Gegensatz zu der Usinger Großmutter empfand ich sie immer als strenge Frau. Beim Spazierengehen kam ich mit ihr an einem Schaufenster vorbei, in dem eine rote Haarschleife ausgestellt war, die ich unbedingt haben wollte. Ich hatte lange schwarze Zöpfe und stand heulend vor dem Laden, weil sie mir die Schleife nicht kaufen wollte. Endlich hat sie aber doch nachgegeben, schimpfend zwar, aber ich hatte die rote Schleife im Haar.

Schließlich ließ sich die Familie in Hamburg nieder, ich muss damals vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Mein Vater eröffnete dort noch vor dem Ersten Weltkrieg seine erste Praxis als Spezialist für Haut-und Geschlechtskrankheiten.

Er hatte in Würzburg an der berühmten medizinischen Fakultät studiert und hing sehr an Würzburg. Er war dort in der schlagenden jüdischen Studentenverbindung VEDA gewesen und hatte sogar einen Schmiss auf der Backe, womit er seine Tapferkeit und – wie viele Juden damals – seine nationale Gesinnung unter Beweis gestellt hatte. Sein Korpsbruder und bester Freund aus dieser Zeit, Dr. Goldschmidt, Golo genannt, lebte in Hamburg und hat ihn sicherlich veranlasst, sich auch in Hamburg niederzulassen.

Zuerst wohnten wir am Schulterblatt, einer sehr lebendigen Straße, in einer Mietwohnung genau an der Grenze zwischen Hamburg und Altona. Gegenüber an der Ecke war ein Kino. Ein Kino hatte zu dieser Zeit noch etwas Anrüchiges, in anständigen Gegenden gab es so etwas nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass meine Eltern jemals ins Kino gegangen wären. Man ging ins Theater, ins Konzert. Praktisch war dabei, dass mein Vater oft als sogenannter Theaterarzt eingesetzt war, das hieß, medizinische Bereitschaft im Theater mit zwei Freiplätzen. Wenn Mutti nicht mitging, durfte ich mitkommen, besonders in die Oper. Später gab es in der Familie hin und wieder Hausmusik.

Mein Vater Isidor Theo Lilienstein nach einer Mensur in Würzburg

Wenn ich an meine Eltern in der damaligen Zeit denke, fällt mir die Szene ein, als mein Vater einmal während des Ersten Weltkriegs für einen kurzen Urlaub nach Hause kam. Ich belauschte einen Dialog zwischen den Eltern. Kinder merken immer alles. Ich war noch klein, schlief im Gitterbett im Schlafzimmer meiner Eltern. Vater hatte seiner Oberschwester im Lazarett einen harmlosen Kuss gegeben und Mutter davon erzählt. Ich hörte sie weinen und musste selbst weinen. Mein Vater beruhigte sie. Ich war verwirrt, ich schwankte, auf wessen Seite ich stehen sollte, und hatte Mitleid mit meiner Mutter. Es war die einzige Schwierigkeit in der Ehe meiner Eltern, die ich je erlebt habe. Mein Vater und meine Mutter waren und blieben ihr ganzes Leben ein glückliches Ehepaar. Meine Mutter war für alles zuständig, was mit den Dingen des täglichen Lebens zu tun hatte, der Vater arbeitete in der Praxis, hielt Vorlesungen und schrieb medizinische Artikel.

Einmal nahm mich mein Vater, der mich von Kind auf zur Ärztin erziehen wollte, mit ins Tropeninstitut. Es wurde gezeigt, wie ein tropisches Insekt in das Gehirn eines Hundes eingesetzt wurde, so dass sich das arme Tier immer drehen musste. Dann bekam es eine Spritze, und ich wurde ohnmächtig …

Die Großstadt – das bedeutete zum Beispiel, dass ich mit dem Kinderfräulein in den zoologischen oder botanischen Garten gehen musste. Ich erinnere mich genau an den Zoo und besonders an die Voliere dort, weil das Kinderfräulein mit dem Wärter vom Vogelkäfig ein Gespusi hatte. Ich bekam plötzlich die schönsten Vogelfedern geschenkt. Einmal betaten sie sich so lange, dass der Zoo geschlossen wurde. Wir mussten dann durch das Haus des Zoodirektors und kamen viel zu spät nach Hause. Meine Mutter war sehr aufgeregt und fragte, wieso wir so spät kämen. Ich petzte, und das Ergebnis war, dass das Kinderfräulein entlassen wurde.

Ich war froh, denn dadurch löste sich mein größtes Problem. Ich wollte nicht essen. Das Kindermädchen klemmte mich nachmittags zwischen seine Beine und fütterte mich dann so, wie Bauern die Enten und Gänse stopfen. Sie steckte mir das Brot in den Mund und sagte: Das schluckst du jetzt. Ich hätte sie anspucken können, ich hasste das Brot.

Ich aß immer ganz langsam, wohl, um meine Mutter damit zu ärgern. Deswegen hatte ich ein Tellerchen, in das heißes Wasser gefüllt wurde, damit das Essen warm blieb. Es war eine Qual für alle. Ich dachte immer, wenn ich später einmal Kinder habe, dann brauchen die überhaupt nicht zu essen. Dieser Kampf hörte plötzlich auf, als mein zehn Jahre jüngerer Bruder geboren wurde. Er war für mich sofort eine Art Liebesobjekt, das ich vor meiner willensstarken Mutter beschützen wollte. Sie hat es bestimmt immer gut mit mir gemeint und alles für mich getan, aber ich habe mich gegen ihren starken Willen von Anfang an zu behaupten versucht. Meine Mutter glaubte, ich komme um, wenn ich nicht esse. Ich ging damals in das Lyzeum von Dr. Loewenberg und versuchte, in der Reihe von Mädchen, die sich in der Pause einhakten, immer am Ende zu sein, damit ich mein Schulbrot heimlich in den Papierkorb werfen konnte. Das ging nur, wenn man das letzte Kind in der Reihe war. Ich konnte einfach nicht essen.

Einmal wurde ich erwischt. Meine Mutter fragte, was ich denn heute Gutes auf dem Brot gehabt hätte, und ich sagte ins Blaue hinein Käse. Sie: Käse? Du hast es nicht gegessen. So kam raus, dass ich das Brot weggeworfen hatte, das sie sich von ihrer eigenen Ration abgespart hatte. Ich konnte es nicht essen und hatte deswegen immer ein ganz schlechtes Gewissen.

Ich war zwar klein, aber kräftig und zäh, auch mit wenig Essen. Essen hieß immer füttern, und füttern hieß Kampf mit der Mutter. Als ich noch ganz klein war, saß ich im Kinderstuhl und wurde mit Pfannkuchenstückchen gefüttert. Mutti erzählte mir dazu eine Geschichte. Ich hielt das Essen in beiden Backen fest. Die Mutter: Du musst jetzt runterschlucken, sonst erzähle ich nicht weiter. Ich sah sie an und sagte, wenn du nicht weitererzählst, schlucke ich nie wieder etwas runter. Sie hat weitererzählt – ein großer Sieg für mich über meine Mutter. Die Fürsorge der Mutter und mein Drang zur Selbstständigkeit, das ergab eine regelrecht kriegerische Beziehung.

Die Loewenberg-Schule lag weit weg von zu Hause in der Johnsallee, vierzig Minuten hin und vierzig Minuten zurück, und meine Mutter brachte mich jeden Tag dort hin und holte mich ab. Sie wollte nicht, dass ich allein ging, sosehr ich es auch wollte, dabei war sie in gewisser Weise eine reizend verspielte Frau. Ich kam einmal nach Hause, und sie saß unter dem Tisch und spielte allein mit der elektrischen Märklin-Eisenbahn meines Bruders …

In Hamburg, mit Jungenkleidung

Eine Geschichte: Ich hatte eine Entzündung am Fingernagel. Mutti war allein mit mir zu Hause, Vati war im Krieg. Sie hatte großes Vertrauen zu Dr. Goldschmidt, der seine Praxis Ecke Klosterallee und Isestraße hatte. Golo sagte zu mir, ich muss jetzt etwas an deinem Finger machen, es tut nicht weh! Ich glaubte ihm. Und dann tat es doch irrsinnig weh, und ich war außer mir, dass er mich getäuscht hatte. Er wollte mich beruhigen und gab mir Schokolade, etwas besonders Rares im Krieg. Ich habe ihm die Schokolade vor die Füße geworfen. Das war meine erste große menschliche Enttäuschung.

Eine andere Geschichte: Ich war eigentlich immer eine gute Schülerin. Fräulein Kassel, unsere Klassenlehrerin, nahm mit uns das Einmaleins durch. Wir mussten die Resultate auf unsere Tafeln schreiben. Sie schrieb sie an die Wandtafel, und wer richtig gerechnet hatte, musste sich melden. Ich hatte immer richtig gerechnet, aber ich schrieb zum Beispiel statt »32« »23«, verwechselte also beim Aufschreiben die Ziffern. So meldete ich mich, obwohl ich es auf meiner Tafel ausgewischt hatte. Das hatte sie gesehen, und sie sagte, du lügst. Ich habe gesehen wie du verbessert hast. Ich konnte ihr nicht klarmachen, dass ich richtig gerechnet, aber falsch geschrieben hatte, und es gab einen fürchterlichen Skandal. Zuerst wurde ich zum Direktor geschickt, der sagte, du musst eine halbe Stunde unter der Uhr stehen. Eine Strafe, weil alle Kinder daran vorbeigingen. Ich wehrte mich: Ich habe nicht gelogen, ich habe immer richtig gerechnet, aber falsch aufgeschrieben. Daraufhin wurde meine Mutter bestellt, der ich empört die ganze Geschichte erzählt hatte. Mutti war unter Tränen. Aber sie ging zum Direktor und

verteidigte mich. Sie sagte, Ruth lügt nicht. Sie ist zwar ein freches Ding, aber sie lügt nicht. Und das stimmte: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals als Kind gelogen habe. Mutti hat sich sicherlich gegrämt, aber sie stand auf meiner Seite.

Ich hatte sehr früh ein ganz naives, sehr starkes Gerechtigkeitsgefühl, das sicher durch meine Familie gefördert wurde. Zum Beispiel gab es in der Praxis meines Vaters viel mehr Kassen- und Wohlfahrtspatienten als Privatpatienten, was damals ganz und gar keine Selbstverständlichkeit war. Mein Vater hatte zu Anfang noch die Praxis zu Hause. Es gab ein schönes Wartezimmer für »normale« Patienten, die Privatpatienten hatten einen Extraplatz im Flur, wo sie höchstens schneller an die Reihe kamen.

Mein Vater erklärte mir mehr als ein Mal, wie wichtig es wäre, dass die Kassenpatienten genauso behandelt würden wie die anderen Patienten. Ich fragte ihn, worin der Unterschied läge, seine Antwort war: Der eine zahlt es direkt aus seiner Tasche, der andere über eine Krankenkasse, das ist alles. Ich behandle jeden so gut ich kann. So lernte ich durch meinen Vater eigentlich schon sehr früh, dass der Maßstab für den Wert eines Menschen nicht das Geld ist.

Meine Freunde und Freundinnen fand ich im jüdischen Jugendbund »Blau-Weiß«. Hier wurde einem bewusst, dass man jüdisch war, sich in gewisser Weise unterschied von anderen Kindern auf der Straße und in der Schule. Wir lasen die Werke jüdischer Schriftsteller, man konnte auch Hebräisch lernen. Dafür interessierte ich mich allerdings nicht besonders. Palästina spielte in diesem Bund eine große Rolle. Viele redeten über das Ziel, nach Palästina auszuwandern.

Ich bin damals nie als Jüdin beschimpft worden, aber es gab Antisemitismus, zum Beispiel waren auf dem Schulweg Klebzettel an den Häusern angeschlagen, »Schlag die Juden tot« oder die Liedzeile »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut.« Diese Zettel haben wir immer abgerissen.

2. DER ERSTE WELTKRIEG

Mein Vater meldete sich sofort wie so viele deutsche Juden als Freiwilliger, und er war unglücklieh, dass seine Einberufung lange dauerte. Schließlich wurde er als Arzt der Festungslazarette in Alt- und Neubreisach bei Freiburg eingezogen. Das bekam ich als Fünfjährige schon mit. Ich hatte Angst und dachte, Vater geht in den Krieg, da wird geschossen, was wird dann aus uns? Später, während des Krieges, bekam ich in Breisach vom Burschen meines Vaters, einem Kanonier Bender, ein Kinderbuch mit Bildern geschenkt, es hieß »Vater ist im Kriege«.

Eine Zeitlang konnten die Offiziere ihre Frauen und Kinder zu sich holen. So landete ich mitten im Ersten Weltkrieg in der Klosterschule in Breisach. Als ich mit meiner Mutter 1916 nach Breisach ging, war ich sieben Jahre alt. An die dortige Klosterschule erinnere ich mich ganz genau, an die Nonnen und ihre Tracht, auch an die elsässischen Dörfer in der Umgebung. Etwa ein Jahr später wurden wir dann wieder ausgewiesen, weil die Gegend Kriegsgebiet wurde.