Vier Schwestern - Ernst Strouhal - E-Book

Vier Schwestern E-Book

Ernst Strouhal

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Beschreibung

Mit Verbindungen zu Karl Kraus und Elias Canetti: Ernst Strouhal erzählt eine große Wiener Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Gerda, Friedl, Ilse und Susanne waren die Töchter von „Benedikt-Sohn“ und Enkelinnen von Moriz Benedikt, dem berühmten Herausgeber der mächtigen „Neuen Freien Presse“, gegen die Karl Kraus heftig polemisierte. In unmittelbarer Nachbarschaft der Benedikts lebte Elias Canetti, dessen Blicken die Töchter nicht entgingen und von denen er sich in den Salon einladen ließ. Der „Anschluss“ machte dem privilegierten Dasein ein Ende, den Vier Schwestern aber gelang die Flucht. Verstreut in alle Himmelsrichtungen, blieben sie einander über Emigration, Krieg, Nachkrieg hinweg verbunden.
Ernst Strouhal erzählt von einem Stück unwiederbringlicher Kultur und gibt damit seiner eigenen Mutter und seinen drei Tanten eine Stimme.

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Über das Buch

Mit Verbindungen zu Karl Kraus und Elias Canetti: Ernst Strouhal erzählt eine große Wiener Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts.Gerda, Friedl, Ilse und Susanne waren die Töchter von »Benedikt-Sohn« und Enkelinnen von Moriz Benedikt, dem berühmten Herausgeber der mächtigen »Neuen Freien Presse«, gegen die Karl Kraus heftig polemisierte. In unmittelbarer Nachbarschaft der Benedikts lebte Elias Canetti, dessen Blicken die Töchter nicht entgingen und von denen er sich in den Salon einladen ließ. Der »Anschluss« machte dem privilegierten Dasein ein Ende, den vier Schwestern aber gelang die Flucht. Verstreut in alle Himmelsrichtungen, blieben sie einander über Emigration, Krieg, Nachkrieg hinweg verbunden. Ernst Strouhal erzählt von einem Stück unwiederbringlicher Kultur und gibt damit seiner eigenen Mutter und seinen drei Tanten eine Stimme.

Ernst Strouhal

Vier Schwestern

Fernes Wien, fremde Welt

Paul Zsolnay Verlag

Vorwort

Als Susanne, wenige Monate vor ihrem Tod, im Sommer 2014 Bordeaux besuchte, stieg sie im Hôtel des Quatre Sœurs (Hotel zu den Vier Schwestern) ab, ein Zufall gewiss, aber vielleicht auch nicht.

Susanne, geboren am 13. September 1923, ist die jüngste von vier Schwestern aus der Familie Benedikt. Gerda, die älteste, wird am 20. Juni 1915 geboren, Friedl folgt ein Jahr danach am 9. November 1916, Ilse am 14. August 1918.

Alle vier Schwestern sind in Wien aufgewachsen, als die Töchter von Irma und Ernst Benedikt. Der Vater war ab 1920 Chefredakteur und Herausgeber der Neuen Freien Presse, Nachfolger seines Vaters Moriz Benedikt, des wohl einflussreichsten und umstrittensten Journalisten der Donaumonarchie.

Ihre Heimat war das Haus der Familie in der Himmelstraße in Grinzing, der »Himmel 55«, wie Susanne in ihren Erinnerungen den Ort ihrer Kindheit am Fuße des Wienerwalds nennt. Das Haus wurde 1938 arisiert. Dass die vier Grinzinger Kinder jüdischer Herkunft waren, machten ihnen erst die Nazis klar. Alle vier mussten fliehen, um sich zu retten.

Ihre Flucht zwischen 1938 und 1939 erfolgte in unterschiedliche Richtungen: Susanne entkam gemeinsam mit den Eltern nach Stockholm, sie lebte danach in Paris, Ilse floh nach Zürich, um zu studieren, Gerda emigrierte nach New York, Friedl nach London.

Alle vier wählten unterschiedliche Berufe — Schriftstellerin, Sozialarbeiterin, Journalistin, Ärztin —, alle vier hatten unterschiedliche politische Einstellungen und wählten höchst unterschiedliche Partner. Nur eine der Schwestern Benedikt kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurück, sie stritt über viele Jahre um die Restitution des Hauses der Familie.

Dieses Buch zeichnet die Lebensgeschichten der vier Schwestern Benedikt auf. Grundlage dafür waren vor allem Texte und Dokumente aus ihren Nachlässen, die ich in den letzten Jahren in Wien, Paris, Zürich und New York zusammengetragen habe. Es handelt sich um Ausweise, Publikationen, Zeichnungen, Fotografien, Zeugnisse und Tagebücher, vor allem aber um mehrere Tausend Briefe, die sie einander und an andere im Laufe von fast fünf Jahrzehnten geschrieben haben.

Die Briefe der Schwestern bilden ein Netzwerk aus Nachrichten, das zwischen den Städten aufgespannt wird. Die Nachrichten überschneiden sich mitunter zeitlich, mitunter widersprechen sie einander, doch momenthaft entstehen in den Briefen Bilder von den Lebensumständen der Schwestern in der Fremde: ihr Ringen um eine Existenz in fremden Ländern und Sprachen, ihre Lust und Neugier auf das Neue, ihre Furcht davor und zugleich ihre Sehnsucht nach einem Ende der »Schwesternlosigkeit« und nach dem »Himmel 55« in Wien.

In ihren Briefen und Erinnerungen wird ihre Kindheit in Wien beleuchtet, ihre turbulente Jugend in großbürgerlichen, aber ungewöhnlichen Verhältnissen, die Vertreibung aus Wien, das Überleben im Krieg, sie erzählen schließlich über ihre Versuche, sich in den veränderten Lebenssituationen zurechtzufinden und eine Existenz in der Nachkriegszeit aufzubauen.

Die Briefe sind launig, versehen mit galligem Humor und unsentimentalem Witz, bisweilen verzweifelt und von brutaler Offenheit. Alle vier Schwestern verfügen über einen je eigenen Stil und sind selbstbewusste Briefstellerinnen, wenngleich nicht immer zuverlässige Erzählerinnen. Diese Lust am Schreiben verdanken sie zwei weiblichen Vorbildern aus ihrer Kindheit, einer hochgebildeten Großmutter und einer Tante, die als Übersetzerin arbeitete, allein lebte und reiste. Keine der vier Benedikt-Schwestern entspricht dabei dem Klischee der Frau im Exil: still an der Seite eines Mannes, sich aufopfernd für die Familie usw. usf. Ihre Briefe zeichnen ein gänzlich anderes Bild.

Nach 1938 trafen sie nie mehr zu viert zusammen, der familiäre Zusammenhalt verlagerte sich während und nach dem Krieg in die Briefe, und es gelingt ihnen, über das Medium Brief so etwas wie Familiarität in der Diaspora herzustellen. Briefe sind bekanntlich in vielerlei Hinsicht ambivalent: Sie sind mehr Monologe als Dialoge (man muss nicht fürchten, unterbrochen zu werden), sie schaffen durch die Schriftlichkeit des Mediums gleichermaßen Nähe wie Distanz. Vielleicht gelang es in diesem Fall, Nähe durch Distanz herzustellen.

Ergänzt wurden die Briefe durch viele Gespräche und Nachforschungen über die zeitgeschichtlichen Bezüge und über die Orte, an denen sie in Schweden, Frankreich, England, in der Schweiz und den USA gelebt haben. Eine wichtige Quelle bildeten die Tagebücher von Elias Canetti und die Erinnerungen von Paul Steiner.

Ich habe mich bei der Darstellung auf Kommentare beschränkt, die das Verständnis der Briefe der vier Schwestern ermöglichen. Ziel war es, ihre Stimmen hörbar werden zu lassen, als Klang einer Kultur, die zwar vor Ort unwiederbringlich zerstört wurde, dessen Echo sich aber in verschiedene Richtungen fortsetzte und — wenn man es will — bis heute gehört werden kann. Es sind Spuren eines selbstbestimmten und aktiven Lebens.

Dass drei der vier Schwestern meine Tanten waren (und die vierte meine Mutter), erleichterte das Verständnis in vielerlei Hinsicht. Und erschwerte anderes.

Ernst Strouhal

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Ernst Strouhal

Impressum

Inhalt

Vorwort

1

 Himmel fünfundfünfzig

2

 Der lange Schatten des Großvaters

3

 Turbulenzen

4

 Vertreibung und Flucht

5

 Novemberpogrom

6

 Krieg

7

 »Es ist alles unbestimmt«

8

 »Schreibt’s, schreibt’s, schreibt’s!«

9

 »Auch ich habe ein gutes Gedächtnis«

Nachtrag

Dank

Anmerkungen

Register

1

Himmel fünfundfünfzig

Das letzte Foto, das die vier Schwestern gemeinsam zeigt, stammt aus den späten 1920er Jahren. Sie sind noch Kinder. Die Familie Benedikt ist im Wiener Atelier von Hermann Clemens Kosel um einen Tisch versammelt. Das Bild ist geschickt arrangiert, alle Personen sind miteinander verbunden. Die jüngste Tochter Susanne sitzt auf dem Schoß der Mutter Irma, die rechte Hand von Friedl liegt auf der Schulter der Mutter, neben ihr stehend Gerda, sie berührt sanft den Arm ihres Vaters Ernst. Der lächelt zufrieden, seine Hand greift wie zufällig nach der Hasenfigur auf dem Tisch, daneben steht ein kleiner Hahn; Tochter Ilse sitzt entspannt ganz rechts auf der Stuhllehne, den Arm auf der Schulter des Vaters. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, um das die ganze Familie gruppiert ist.

Das Bild der adrett gekleideten Familie und der großbürgerlichen Idylle täuscht. Die Neue Freie Presse, die der Vater als Herausgeber und Chefredakteur leitete, steckte in der tiefsten Krise ihres Bestehens, und betrachtet man den skeptischen Blick der beiden älteren Töchter Friedl und Gerda und das etwas bemühte Lächeln der Mutter, lässt sich erahnen, dass das Zusammenleben in der Familie nicht so harmonisch war, wie es uns das Bild weismachen will. Susanne, die Jüngste, erinnerte sich an täglichen Streit, an den Vater, der wütend vom gemeinsamen Essen aufsprang und für Stunden in seiner Bibliothek verschwand, an Szenen der Eifersucht, an Zank zwischen den Schwestern, an Schläge und wilde Raufereien.

Und dennoch: Blättert man in den Briefen, die sich die Schwestern über fünf Jahrzehnte aus der Fremde in die Fremde geschrieben haben, ist vom ersten bis zum letzten von Sehnsucht die Rede. Sehnsucht nach den »gemeinsamen Mittag- und Abendessen«, nach den Zeichnungen, die der Vater für die Kinder anfertigte, nach dem Kuchen der Frau Langbein, nach den Klaviersonaten, die am Flügel im großen Salon gespielt wurden. In London träume sie, schreibt Friedl 1941 an Ilse nach Zürich, von daheim, und zwar »unheimlich viel« vom Haus und vom Garten.

Gegen Ende der 1990er Jahre verfasst Susanne eine Reihe langer Briefe mit Erinnerungen über ihre Kindheit für ihre Tochter in Paris und ihren Neffen in New York; an die Tochter schreibt sie auf Deutsch, an ihren Neffen auf Englisch. Sie erzählt vom Garten, von den Korridoren, in denen gespielt wurde, vom Zimmer der Mutter, vom geliebten Kindermädchen (»Bambi«), von ihrer Angst und vom Glück ihrer Kindheit, das sie ein Leben lang begleitet hat. Die Erinnerung an das »Viermäderlhaus« verbindet die Schwestern miteinander. Nachdem sich die Schwestern 1938 auf der Flucht vor den Nazis trennen mussten, werden die Briefe das Medium seiner Beschwörung und seiner Rettung in der Erinnerung.

Susi, Irma, Friedl, Gerda, Ernst und Ilse Benedikt, um 1927

Ohne Hitler wäre das »Viermäderlhaus« (zum Unterschied von Schuberts »Dreimäderlhaus«) bestimmt und wahrscheinlich tragisch explodiert: Unsere unterschiedlichen Rivalitäten, Eifersüchteleien und Aggressivitäten waren tiefgehend und gross. Jede wollte die anderen wegzaubern können, um die Einzige, die Geliebteste, die Schönste, die Gescheiteste zu sein.

Aber dank unserer Familien-Diaspora — die Gerdl in New York, die Friedl in London, die Ilse in Zürich und die Eltern und ich in Stockholm — wurden wir wieder eine Familie. In den armseligen Resten eines nie sehr regen Briefwechsels mit den Schwestern lesen sich früher nie geäusserte Sorgen um mich und meine Zukunft. Grobe Grinzinger Schimpfwörter, wie »verfluchte Drecksau« oder »blöde Gans« verwandelten sich in Schmeicheleien und nostalgisch-vertraute Liebesbeteuerungen.

Nach dem Krieg, also nach sechs, sieben Jahren von sehr verschiedenen Erfahrungen, die jede von uns schwesternlos durchstehen musste, war das Wiedersehen ein langersehntes Wunder, eine Freude, ein unendliches Glück. Aus den oft wuterfüllten Rivalinnen wurden wir vier beste Freundinnen. Vielleicht empfand ich die Freude des Wiederfindens noch stärker als »die Grossen«; ich war schliesslich ein Kind, als ich die Familie verlassen musste. In der Zwischenzeit wurde ich selber eine Erwachsene, eine »Grosse«.

Susanne ist mit ihrer Sehnsucht nicht allein. »Ach Gott«, schreibt die in ihren Briefen für gewöhnlich betont sachliche Ilse 1941 aus Zürich an die Mutter in Stockholm, »Ach Gott, du hast keine Ahnung, was ich für Sehnsucht habe, unterzukriechen, zu wissen, da bist du daheim.« Und Gerda gesteht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Brief aus New York, wie sehr sie sich nach dem Ende der »Schwesternlosigkeit«, in die sie verbannt wurde, sehnt. »Mein Geliebtes, Blödes«, schreibt sie 1955 an Susanne in Paris, »du fehlst mir derartig, dass es zum Kotzen ist …« Die »Schwesternsehnsucht« (Gerda), die alle vier in ihren Briefen teilen, und die Erinnerung an die Kindheit verbinden sich allerdings noch Jahrzehnte später bei Ilse mit einer »unbestimmten Angst, die mich an die Zeit erinnert, als wir noch in einem Zimmer geschlafen haben …« Woher die Angst, welche Angst?

*

Die Erinnerungen der Schwestern an Wien sind mit den Klängen und Gerüchen der Stadt, mit den Eltern und Freundinnen verbunden. Im Mittelpunkt steht jedoch die Erinnerung an einen realen Ort, das Haus der Familie in der Himmelstraße 55 im Wiener Vorort Grinzing. Einen der langen, späten Briefe für ihre Tochter titelt Susanne denn auch mit »Himmel fünfundfünfzig«:

Himmel fünfundfünfzig: Das Haus stand hoch auf der Himmelstrasse, so genannt, weil sie sehr steil war — noch immer ist. Es war damals fast das letzte Haus auf der linken Seite, umgeben von Weingärten. Ein anderes Haus war viel weiter oben, so weit, dass man es von uns aus gar nicht sehen konnte. Ein Gymnasiumlehrer wohnte dort mit seiner Familie. Wir hatten keinen Verkehr mit ihnen.

Zum Hauseingang gingen von der Himmelstrasse ein paar Stufen zu einem erhöhten Trottoir — Sand und Erde — und hinter unserem offenen Eisengitter gab es weitere Stufen in den sogenannten Vorgarten mit rechts und links eingezäunten Rosenbeeten — vielleicht wegen dem »von Rosen«*1 der Mutti. Auf alle Fälle waren die vielen und wirklich schönen Rosen die einzigen Blumen, um die sich die Mutti selber gekümmert hat, wenn sie mir nicht ein paar Schillinge gab, dafür dass ich ihr beim Unkrautjäten half.

Irma und Ernst Benedikt hatten die Villa in der Himmelstraße 55 im September 1917 von Andreas und Maria Bibza erworben und waren von der Wohnung in der Wohllebengasse 6 im heutigen vierten Bezirk hinaus nach Grinzing gezogen. Grinzing ist heute ein Nobelbezirk im Nordwesten Wiens, damals war es noch Vorstadt. Erst 1890/92 war das Dorf am Fuß des Kahlenbergs Teil von Wien geworden. Das Ortsbild von Grinzing war von Weinhauerhäusern mit schattigen Höfen und alten Buschenschenken geprägt, seit dem Biedermeier war der Ort ein beliebtes Ausflugsziel, manche Mietgäste blieben »der guten Luft«, aber vor allem des Weines wegen über den ganzen Sommer. Die Fahrt mit dem Stellwagen von der Innenstadt hinaus nach Grinzing dauerte fast eine Stunde. Die Straßenbahnlinie 38, die vom Grinzinger Platz zum Schottentor führt, war erst zehn Jahre vor dem Einzug der Benedikts in Betrieb gegangen.

Ab der Jahrhundertwende siedelten sich in Grinzing viele Künstler, Ärzte und Industrielle an. Die alten Presshäuser wurden abgerissen oder umgestaltet und durch moderne Gründerzeithäuser ersetzt. Schräg gegenüber im Haus Himmelstraße 30 eröffnete Alois Delug, Professor an der Akademie der bildenden Künste, 1911 seine Malerakademie. Veza und Elias Canetti werden Mitte der 1930er Jahren hier eine Wohnung beziehen. Bergaufwärts führte die Himmelstraße entlang der Weingärten zum Schloss Bellevue »am Himmel«, das als Erholungsheim für Lungenkranke diente — es wurde in den 1950er Jahren abgerissen. Nur ein paar Häuser die Himmelstraße hinunter, auf Nummer 45, wohnten die Großeltern Moriz und Adele Benedikt in einer von Heinrich von Ferstel errichteten Villa. Auf ihrem Schulweg in die kaum fünf Minuten entfernte öffentliche Volksschule in der Mannagettagasse kamen die Schwestern an der großelterlichen Villa vorbei.

Zur Himmelstraße 55 gehörte eine fast zweihundert Meter lange, tief in die Weingärten hineinragende Parzelle mit Blick auf die Kaasgrabenkirche und Wien. Die Benedikts setzten das Haus instand und errichteten einen Zubau, später wurde der Garten durch den Ankauf des Nachbargrundstücks erweitert. Die Eltern teilten eine Leidenschaft: Sie nahmen täglich um die Mittagszeit »Luftbäder«. Sie turnen nackt hinter einem Verschlag im Garten, allerdings immer nacheinander, nie gemeinsam.

Der Garten war das Revier von Fedia, dem sibirischen Steppenhund der Familie, der die Amseln und Stare scheuchte und vor der gartenseitigen Tür wartete, bis die Kinder von der Schule kamen oder der Vater erwachte. Er durfte nur selten ins Haus.

Direkt hinter dem rechten Rosenbeet war ein enormer Fliederstrauch, unter dem der Fedia, mein Lieblingshund, sich ein Bett in die Erde gegraben hatte. Wenn ich wirklich einen Zufluchtsort brauchte, war ich bei ihm.

Sehr oft, besonders an Sonntagen, wenn viele Leute die Himmelstrasse hinauf zum Cobenzl spazierten, lag der fabelhaft schöne Fedia oben auf der Treppe, zwischen den Rosen, und liess sich bewundern. Er war gross, mit graublauem und dunkelgrauem langem Fell und einem sehr distinguierten, eher viereckigen Schädel und dichtem Schweif. Fedia war ein Sohn von Nickie, die eine Schwester war von Boris, der den Coudenhoves (Pan-Europa) gehörte. So viel ich weiss, ist Fedia nie gewaschen worden, und nur ich hab ihn ab und zu gekämmt. Er lebte im Garten, und die seltenen Male, wo er ins Haus kam, war das allererste, was er tat, sich vor den grossen Entréspiegel zu stellen und sich selber, so zu sagen, anzupischen.

*

Die Familie des Vaters war wohlhabend. Großvater Moriz Benedikt war als Eigentümer der Neuen Freien Presse, als Börsenspekulant und als Wirtschaftsberater des Kaiserhauses geschäftlich sehr erfolgreich gewesen, 1910 betrug sein Jahreseinkommen mehr als 1,7 Millionen Kronen, es war damit eines der höchsten in der Monarchie. Auch wenn ein beträchtlicher Teil des Vermögens im Ersten Weltkrieg verloren ging — Benedikt hatte eine große Zahl von Kriegsanleihen gezeichnet — und die Auflage der Presse in den 1920er Jahren stark rückläufig war, verfügte der Haushalt in der Himmelstraße 55 über Kindermädchen, mehrere Hausangestellte und einen Chauffeur, ab 1934 wurde ein Privatsekretär, der junge Journalist Paul Steiner, angestellt, »für Papa«.

Das Haus war nicht elegant und, wie Steiner schreibt, »plan- und stillos« möbliert, doch es war weitläufig, mit vielen Nischen ausgestattet, die Anordnung der Zimmer war unübersichtlich und bot eine Vielzahl von Verstecken. Wie der Garten war es ein Dorado für Kinder. Vom gartenseitigen Vorzimmer führte eine Tür zur linken Hand in die Bibliothek, das Arbeitszimmer des Vaters, in dem er nicht gestört werden durfte, was dennoch häufig geschah.

Irma und Ernst Benedikt mit Lieblingshund Fedia vor dem Haus Himmelstraße 55, Ende 1920er Jahre

Die Bibliothek, vom Vorzimmer links durch eine gepolsterte Doppeltür, die der Papa also nicht zuknallen konnte, war […] ein dunkler Raum mit übervollen Bücherkästen bis zum Plafond. Es gab zwei dunkelbraune, sehr bequeme Lederfauteuils und ein riesiges dazugehöriges Sofa, was alles vor dem Fenster auf den Garten hin stand. Davor war ein runder niedriger Tisch mit einer türkischen Kupferplatte, auf der den Herren Kafé serviert wurde nach dem Essen. Alle möglichen anderen Fauteuils mit hohen Rückenlehnen standen herum um einen grossen, breiten Tisch, beladen mit Büchern und Zeitungen. Natürlich hatte Papa auch einen enormen Schreibtisch, voller Laden, die immer versperrt waren. Ich weiss das, weil ich regelmässig auf Kleingeldjagd bei ihm ging und die Groschen, die offen herumlagen, gestohlen hab, aber nie in eine Lade greifen konnte …

Am Boden, neben dem Schreibtisch und auf dem Teppich, lag ein dunkles Bärenfell mit ausgestopftem Schädel — Gott weiss woher und warum. Das Sehenswürdigste in der Bibliothek war ein ägyptischer Mumienkopf, den die Eltern vom [Schwager der Mutter] Alan Gardiner bekommen hatten. Es war ein Frauenkopf mit riesigen, dunkel umrahmten, traurigen Augen, nicht uralt, aus der Römerzeit. Er war unter einer Glaskuppel, die etliche Male zerschlagen und wieder ersetzt wurde. Schliesslich kam er mit nach Schweden und wurde vom Nationalmuseum in Stockholm gekauft. Um nicht sehr viel …

Darüber hinaus gab es eine Kastenuhr, die alle zwei Wochen an der Vorderseite geöffnet und aufgezogen wurde, Figuren aus der Römerzeit, im Schreibtisch eine versperrte, jedoch vom Vater gerne geöffnete und vorgezeigte Kassette mit Autographen, darunter Briefe von Prinz Eugen, Bismarck, Hoover und Bernhard Shaw, Dokumente mit Siegeln und Wappen. Von der mehrere Tausend Bände umfassenden Bibliothek schafften es nur Rabelais’Gargantua und Pantagruel und eine 15-bändige Goetheausgabe von der Himmelstraße nach Stockholm und zurück nach Wien.

Im Vorzimmer rechts lag die Gästegarderobe mit der Telefonanlage, geradeaus ging es zum kleinen und großen Salon.

Hinter den Rosenbeeten, geradeaus vom Tor, war unser Gästeentré, offen nur bei feierlichen Gelegenheiten. Er führte direkt in eine Garderobe, von der man, links, in den »grossen« Salon kam. Eine andere Tür führte in den Gang von der Speisekammer und dahinter in die Küche.

Auf der linken Seite vom Haus war die Gartentüre, vor der irgendeine kleine Steinstatue stand mitten in einem Blumenbeet. Durch diese Türe kam man direkt in das grosse Vorzimmer (dort wo der Fedia-Spiegel war) und rechts in den »kleinen« Salon, durch den »grossen« vom Speisezimmer getrennt. Dieser »kleine« Salon war mit weissen, Gustav-III. schwedischen Möbeln ausgestattet, ein Sofa, ein paar Fauteuils und Sessel und ein Tisch mit einer Marmorplatte. Es gab auch eine für mich faszinierende, natürlich verbotene, Glasvitrine, in der sechs oder sieben Tanagra-Tänzerinnen aufgehoben waren, mit zwei dänischen Porzellan-Figuren (von denen gibt es noch eine in Chaville) und eine Metall-Eule (auch in Chaville — die Tanagra wurden verkauft, wie’s schlecht gegangen ist).

Ein Zwischengang hinter der Treppe führte zur Küche und zu den dunklen Wirtschaftsräumen, der Waschküche, dem Zimmer des Dienstmädchens und — ein bedeutsamer Ort in der Erinnerung — der Speisekammer. Im großen Salon wurden die Gäste bei Gesellschaften empfangen, die Kinder wurden dann zum »Grüß-Gott-Knicksen« hereingerufen. Im großen Salon stand auch der Konzertflügel, auf dem der Vater gerne nächtens zur Entspannung spielte. Mitunter wurde Ilse davon wach, stand auf und durfte unter Anleitung des Vaters mit ihm üben. Gegessen wurde im kleinen Salon, dem Speisezimmer, neben der großen, hellen Küche, von wo aus serviert wurde. Ein kurzes Läuten mit einer kleinen Tischglocke, die von der Mutter bedient wurde, signalisierte das Ende eines Ganges. »Keine von uns«, schreibt Susanne in einem der Briefe an die Tochter, »wurde jemals angehalten, auch nur eine Gabel wegzuräumen oder ein Glas zu holen.« Die Glocke fand den Weg über Stockholm zurück nach Wien, geläutet wurde sie nur noch ein Mal im Jahr, zu Weihnachten bei offenem Fenster nach Abflug des Christkindes. Das Speisezimmer war Susannes Lieblingsraum, »für mich der schönste im Haus«:

Es war mit dunklem Holz getäfelt, und in einem Eck stand ein grosser grüner Kachelofen — nicht ganz so schön wie der weisse bei den Peschkes, aber immerhin nicht schlecht. Rechts und links waren Ofenbänke, auch aus grünem Porzellan, und die Ilse ist fast mehr dort gehockt als bei Tisch. Der Tisch war gross, oval und konnte bis zu 24 Leute sitzen. Er war immer sehr schön geputzt, so dass der Luster darüber sich gespiegelt hat. Rundherum waren Kommoden und mir damals enorm erscheinende Kästen für Geschirr, Gläser und Tischwäsche. Zwischen den zwei Fenstern zur Gartenseite war eine märchenhafte, geheimnisvolle Standuhr, auch dunkel, wie der Rest des Raumes; ihre grossen Zeiger wiesen die Stunden zwischen auf- und untergehender Sonne, Mond und Sternen. Ausserdem wogte auf dem Uhrblatt noch ein Schiff mit neun aufgebauschten Segeln auf einem immer schäumenden Meer — faszinierend.

Leider sass ich aber — sobald ich überhaupt zum Speisezimmertisch zugelassen wurde, wie ich vielleicht 10 Jahre alt war — mit dem Rücken zu dieser Uhr. Die Sitzordnung war unabänderlich: der Papa auf der Tischseite, die zum »kleinen« Salon ging, die Mutti gegenüber, vor dem Kachelofen und der Tür zum »grossen« Salon. Links vom Papa die Gerda und dann die Ilse, rechts von der Mutti. Rechts vom Papa die Friedl und dann ich, links von der Mutti, gegenüber von der Ilse. Die Mutti war eigentlich wenig sekkant wegen Tischmanieren, obwohl sie es war, die uns für eventuelle Mahlzeiten im Buckingham Palace dressieren wollte. Nur an einem Punkt war sie streng: »Wo hast Du Deine Hand?«, wollte sie des öfteren wissen — als könnte die Hand unter der Tischoberfläche ganz grausliche, unnennbare Sachen tun. Das Komische daran war, dass, englischen table-manners nach, eine freie Hand gar nicht am Tisch, sondern im Schoss liegen soll.

Eine geschwungene Treppe mit schief eingesetzten Teppichschienen, die Falten machten, sodass man beim Hinunterlaufen leicht stürzen konnte, führte ins obere Geschoss. Zur linken Hand die Schlafzimmer der Kinder, gegenüber die Holzveranda, aus deren Fenster man bei Bedarf in den Garten klettern oder springen konnte, daneben ein Klavierzimmer mit einem weiteren Flügel. Hier fanden neben dem Klavierunterricht auch die wöchentlichen Englischstunden statt. Der Unterricht erfolgte häufig im Mantel, das Zimmer wurde selten geheizt. Die Englischstunden waren für alle Kinder obligat, der Haushalt war anglophil. Tante Heddie, die Schwester der Mutter, hatte nach England geheiratet (den Ägyptologen Alan Gardiner, Sir Alan, eine gute Partie, wie man sagte, die Tante war nun selbst Lady), wichtige Geschäftspartner des Vaters und Großvaters kamen aus New York und London.

Ganz am Ende vom Gang, über dem Gäste-Eingang, also auf die Himmelstrasse zu, war das »Damenzimmer« für die Mutti und ihre Freundinnen. Jedes Mal, wenn die Tant Alin zu uns kam, wohnte sie da. Es war ein lieber Raum, mit hübschen Rokokomöbeln.

Daneben war noch das Klavierzimmer, in dem die Ilse und ich mit der Rosine Grasberger zwei Mal in der Woche Klavierstunden hatten. Die Rosine war sehr geduldig und lieb; sie besass einen grau-braunen Pelzmantel, den sie im Winter anbehielt, denn das Klavierzimmer wurde nur ganz selten geheizt.

In dem Klavierzimmer hatte ich auch Stunden mit der Mary Graham, einer Schottin, die mich auf Englisch lachen gelehrt hat. Sie kam mit Zeitungsausschnitten von den ersten Mickey Mouse Serien, die ich heiss liebte.

Später wurde ein Kamin zwischen dem Damen- und dem Klavierzimmer gemacht und die Mary Graham zeigte mir, wie man Zeitungspapier zusammenrollen kann, damit es fast wie Holz brennt.

Das Klavierzimmer wurde zeitweise vom Vater in Beschlag genommen. In den späten dreißiger Jahren wohnte Friedl nach ihrer Scheidung und Rückkehr in die Himmelstraße darin.

Neben dem »Damenzimmer« lag das größte Zimmer, das »riesige Elternschlafzimmer, in dem schliesslich die Mutti allein gehaust hat«.

Das Zimmer war in zwei Teile geteilt: zuerst die Tagesseite, mit Kasten, Schreibtisch, Sesseln und zu Weihnachten einen bis zur Decke reichenden Tannenbaum; anschliessend die Nachtseite, mit einem enormen, weissen Bett, Nachtkasterln auf jeder Seite, und davor ein Fauteuil, auf dem meistens entweder eine Katze oder ein Hund von der Mutti schlief. Auf dem Toilettentisch lag immer Schmuck herum und Kämme und Bürsten und Haarnadeln und Puderdosen. Die Mutti gebrauchte Chanel Nummer Fünf, und der ganze Raum duftete davon.

Ich war die einzige von uns, die in diesem Bette geboren wurde, zum Unterschied von der Gerdl und Ilse, die im Krankenhaus zur Welt kamen, und von der Friedl, die im Taxi am Weg ins Krankenhaus geboren wurde. […] Es war auch in diesem Bett, dass wir alle zum ersten Mal ein Konzert im Radio hörten. Es war bestimmt eine Geigensonate von Beethoven, gespielt von Bronislaw Huberman, der zu den Freunden der Eltern gehörte. Ich erinnere mich besonders an das empörte »Ruhe«-Zischen vom Papa, jedes Mal, wenn eine von uns die Position gewechselt hat, aber auch an die Andacht vor dieser Wunderschachtel, die die wunderbare Musik ins Haus brachte.

In der Mansarde unter dem Dach wohnten wahlweise eine weitere Hausangestellte, das Kindermädchen oder der Vater, wenn Klavierzimmer und Veranda belegt waren.

Direkt über der Bibliothek war die Veranda, gross, im Sommer viel zu heiss wegen den vielen Fenstern, aber irgendwie ein sehr ruhiger Ort. Unter den Fenstern waren Holzbänke, die man aufschlagen konnte so wie Bunkerbetten in einem Schiff. Ich schlief dort ein paar Monate nach einer Rippenfellentzündung, wie ich ungefähr 12 Jahre alt war, und weil die Mutti Zutraun hatte zur Heilkraft von Sonne und Licht; es gab also keine Vorhänge, was bei Vollmond und Gewitter eine fast mystische Einheit mit der Natur hervorrief.

Die Veranda hatte sonst einen grossen Bambustisch und ein paar Bambusfauteuils. Die Mutti versuchte Kaktusse zu züchten, und ich hatte einen eigenen Schrank für knick-knacks, auf dem ein uraltes »Grammophon« stand. Es hatte Metallplatten mit kleinen Löchern, die man mit einem Hebel drehen musste — je schneller der Hebel, desto schneller die Musik. Wenn man langsam drehte, kam ein Katzenjammer heraus.

Von dieser Veranda sprang einmal die Gerda in den Garten, nur weil ein Bursch, ein Jausengast, es ihr vormachte und nicht glauben wollte, dass sie es sich auch trauen würde — ich war dabei und hatte schrecklich Angst.

Die Veranda war eine Art von Salon zu dem Zimmer, in dem die drei »Grossen« schliefen, bevor sie wirklich gross waren. Es war sehr geräumig und die Drei hatten mehr als genug Platz für Polsterschlachten und Raufereien. Zwei Fenster nach Wien zu.

Später, nach 1934, wohnte der [Vater] Ernst in dem Raum; und nachdem damals schon seine Mutter gestorben war, hatte er ihren Flügel, auch Konzertformat, in seinem Zimmer.

Das nächste Zimmer war der offizielle »Kindersalon«, viel schäbiger, als sein Name vermuten liesse. Die Rottin-Möbel waren alt und nicht mehr sehr rein, in einer Ecke war ein riesiger Kasten voller Wäsche und alten Kleidern, und auf dem runden Tisch wurden die Kinder ausgefüttert.

Links gingen drei Stufen zu dem Zimmer, das mir lange gehörte. Wie alle unsere Schlafzimmerfenster ging auch meins in Richtung Wien, und ich erinnere mich noch an die Stadtlichter, die durch unsere Kastanienbäume glitzerten. Ich hatte ein Bett, einen »Toilett-Tisch« mit Spiegel und Laden, noch irgend ein Kasterl und eine Zimmerlinde. Hinter dem Bett war eine Doppeltür in den Gang, und meine ganze Schmutzwäsche war zwischen den Türen versteckt. Wie ich sehr klein war, teilte [das Kindermädchen] Bambi dieses Zimmer mit mir; ich hatte damals ein kleines Bett und wurde gezwungen, einen Nachmittagsschlaf zu machen. Nachdem ich das weder konnte noch wollte, verbrachte ich die Zeit damit, einen Tegel voller Vaselin aufzuessen — daraufhin brauchte ich keine Siesta mehr zu machen, die Bambi bekam ein anderes Zimmer, und von da an schlief ich allein.

Die Veranda, der Kindersalon und der stille, unbeachtete Ort auf den Stufen dahinter waren Susannes Refugium, ein Ort des Spiels, der angenehmen Gerüche und des Kinderglücks. »Wie war das mit dem Glück?«, fragt sie:

Wie war das mit dem Glück? Das erste Glücksgefühl, an das ich mich erinnern kann, war in Grinzing, an einem Nachmittag, an dem das ganze Haus ungewöhnlich still und ruhig war. Die »drei Grossen« waren wahrscheinlich in der Schule — daher kein Geschrei, keine Schimpferei, kein Sekkieren. Die Bambi, mein Kindermädchen, war auch nicht in der Nähe. […]

Ich sass auf den paar Stufen zwischen dem Kinderraum und meinem Zimmer und spielte mit einer Puppe — auch sehr ungewöhnlich; eigentlich habe ich Puppen nie besonders gemocht. Ich liebte meine zwei Teddybären, der eine war rot, der andere grün, und sonst nur unsere lebendigen Hunde und Katzen.

Die einzige Puppe, zu der ich eine Beziehung hatte, war sehr alt, schmutzig und teilweise zerrissen, mit Sägespan, der aus dem Hinterkopf quoll. Ich nannte sie Herr Knott, nach dem Gärtner von der Grossmama, der auch alt, dreckig und zerrissen war und ruhig Sägespäne statt Hirn hatte haben können.

Ich hatte Angst vor dem Herrn Knott: Er war immer schlecht gelaunt und murmelte bestimmt nur Unangenehmes, auch Unheimliches vor sich hin, vielleicht verfluchte er uns alle oder versuchte, uns in Flöhe oder Spinnen oder so irgendwas Scheussliches zu verzaubern. Ich hatte sehr Angst vor dem Herrn Knott und ging ihm so viel als möglich aus dem Weg.

Zu Hause, bei uns hingegen, konnte ich mich wehren und rächen an der Puppe Knott. Ich misshandelte sie immer wieder, riss ihr noch ein paar Haare weg, kramte ihr noch weitere Sägespäne aus dem Kopf und haute mit ihr herum, um mich vor dem lebendigen Knott zu schützen. Wie die alten Japaner, die ihre Feinde als Puppen vernichteten.

Aber irgend jemand, wahrscheinlich die Bambi, stiess einmal auf die Puppe und war entsetzt, wie unappetitlich sie war. Gegen meinen Willen schmiss sie sie einfach weg. Jetzt musste ich allein gegen den Herrn Knott und seine Hexereien auskommen. Ich schaffte es schliesslich.

Ich erinnere mich nicht, mit welcher Puppe ich mich damals so glücklich fühlte, auf den Stufen zu meinem Zimmer. Ich hatte nicht viele Puppen, denn man wusste ja, dass ich sie nicht sehr mochte. Vielleicht war es die Krankenschwester-Puppe, von einer der besten Freundinnen von der Mutti, Chefin des Rudolfiner Krankenhauses. Sie war diejenige, die erzählte, dass Krankenhaus-Personal Unbekannten, die von der Rettung eingeliefert wurden, in das Bauchloch schauten: War es rein, wusste man, dass der Patient einer ziemlich guten Gesellschaftsschichte angehörte …

Da sass ich also, auf den drei Stufen, und fühlte einen so tiefen Frieden, dass ich mich 80 Jahre später noch daran freuen kann.

*

Der Tagesablauf in der Himmelstraße war wenig stabil. Der Vater war Chefredakteur der Neuen Freien Presse, er arbeitete gerne in der Nacht und ging erst in den Morgenstunden zu Bett. Fixe Essenszeiten gab es nicht, zumeist traf die Familie erst gegen Abend zusammen. Die vier Schwestern blieben nach der Schule oft sich selber überlassen. In den Briefen über die Kindheit werden wilde Jagden durch das Haus und den Garten beschrieben, riskante Klettertouren über die Fassade und Erkundungstouren durch die Schubladen der Kommoden, auf der Suche nach verstreutem Kleingeld und nach anderen Dingen, die für Kinder von Interesse waren. »Stirdeln«, das Wort blieb allen geläufig, noch Jahrzehnte nachdem sie ins Englische, Französische oder Schwedische gewechselt hatten und nicht mehr wussten, in welcher Sprache sie geträumt hatten. »Stirdeln« blieb, genauso wie »brodeln«, »blödeln«, »urassen« und »fabelhaft«.

Es wurde viel gestritten im Himmel in Grinzing. »Frieden«, schreibt Susanne, »waltete selten in der Himmelstrasse.«

Entweder rauften sich die vier Töchter oder die Eltern miteinander. Jede Gelegenheit war gut genug für einen Krach: Die Gerdl fuhr die Friedl an, weil sie sich von einem ihrer Bewunderer küssen liess, Friedl — und Mutti — keiften mit der Ilse, weil sie sich ein Kleidungsstück von ihnen »ausgeborgt« hatte und es voller Flecken irgendwo liegen liess, die Mutti hatte jeden Tag einen Grund, um sich mit dem Papa laut zu streiten; und wenn nichts Besseres zu finden war, zogen alle gegen mich aus …

Ich war ja auch die Jüngste, fünf Jahre jünger als Ilse, was viel ist für junge Kinder. Die drei »Grossen« verlangten andächtige Bewunderung und unbedingten Gehorsam von mir, samt einer immer wachen Bereitwilligkeit, ihnen alle möglichen Dienste zu leisten, wie drei Mal im Tag ins Dorf hinunter zu laufen für Zigaretten, Zünder oder Extrawurst. […]

Als die Mutter 1923 nach drei Mädchen erneut schwanger geworden war, hatten die Kinder gescherzt, dass sie es, wenn es wieder nur ein Mädchen würde, in den Brunnen schmeißen würden.

»Die Grossen« war ein Sammelname für meine drei Schwestern, acht, sieben und fünf Jahre älter als ich. In meiner Kindheit empfand ich sie meistens als ein kompaktes und fast immer sehr furchteinjagendes Ganzes. Ich ging ihnen auch vorsichtig aus dem Weg, des öfteren versteckte ich mich vor ihnen …

Eigentlich trafen wir uns auch nicht viel; denn es hiess immer wieder: Die Grossen waren in der Schule, die Grossen hatten Tanzstunde, die Grossen waren einkaufen, die Grossen waren eingeladen — und natürlich auch: Dafür bist Du viel zu klein, das dürfen nur die Grossen …

Ich bin sicher, dass sie die meiste Zeit überhaupt darauf vergassen, dass es da noch eine Schwester gab. Wie alle Kleinkinder mit älteren Geschwistern, war ich ja auch leicht zu vergessen, kaum bemerkbar in ihrem Leben als Grosse. Zwischen ihrem Zimmer und dem, welches ich mit der Bambi, meinem geliebten »Kinderfräulein«, teilte, war der — sehr schäbige, aber geräumige — Kindersalon. Also sie hörten mich auch kaum und ich sie auch nicht viel. Während sie von 8 bis 1 Uhr in der Schule waren, war ich grad ein paar Stunden in einem Kindergarten; wenn sie nach Hause kamen für’s Lunch, hielt ich bereits das tägliche Nachmittagsschlaferl. Ich bekam sofort danach meine Jause, in meinem Zimmer, und konnte entweder dort spielen oder im Garten. Sie, die Grossen, hatten zwar Hausaufgaben und mussten Klavier üben, aber nachher kamen die Freundinnen. Ich hörte ihr eiliges, immer irgendwie geheimnisvolles Reden, ich hörte das Kichern und Lachen, aber wenn ich wissen wollte, weswegen, bekam ich »Hutsch Dich, Du Fratz, das ist nichts für Dich und junge Hunde!«

Selten bildeten die Kinder eine Einheit, »Rivalitäten und Eifersüchteleien« waren, berichten alle übereinstimmend, Alltag. Die »Großen Drei« verbündeten sich regelmäßig zu »Sekkierstunden« der jüngsten Schwester. Susanne lernte, wenn die Sekkierstunde drohte, sich vor den Großen im Garten zu verstecken, in einem der Löcher, die Fedia gegraben hatte.

Wir trafen uns für gewöhnlich nur einmal am Tag — zum Nachtmahl. Das wurde an Sonntagen und Mittwochen bei unserer Grossmutter eingenommen, sonst im Kindersalon bei uns. In beiden Häusern hatten die Grossen ihre Rituale und Raufereien, von denen ich natürlich ausgeschlossen war. Denn wie hätte ich den Kampf um ein Hendlhalserl bei der Grossmama mit ihnen aufnehmen können, oder für einen Wurstzipfel oder einen Knödl zu Haus!

Am ärgsten war es für mich, wenn sie sich langweilten und da nichts Besseres zu tun wussten als Zeitvertreib, als »die Susi sekkieren«. Da waren sie wie eine Meute von bösen Jagdhunden hinter mir her, Treppen hinauf, Treppen hinunter, bis zum Dachboden und in den Keller, jedes Verstecken wurde unmöglich, die Ilse, die mir altersmässig die Nächste, war besonders geschickt, mich aufzuspüren unter irgendeinem Tisch oder in alten Koffern. Die Sekkaturen waren vielfältig und alle besonders unangenehm. Ich wurde in Heisswut versetzt, durch falsche Behauptungen, durch Beschimpfungen oder weil sie meine Bücher und Lieblingskleider zerrissen. Heute erinnere ich mich nur an die Details für eine »Sekkierstunde«, die mir für immer eine tiefe Abscheu für Bewegungseinschränkung bewirkt hat: Ich wurde eingefangen und auf einem Klaviersessel angebunden. Es sollte »Frisör« gespielt werden. Jede von den Grossen schnitt und schnitzelte an meinem Haar herum. Ich wehrte mich, wie ich konnte: durch Brüllen, Spucken, Beissen, Fusstritte. Es war ein Wunder, dass die Schere nicht irgendwann in einem Aug gelandet ist bei meinem Toben. Es war aber kein Wunder, wie ich nachher ausgesehen hab.

Wie die Mutti das Resultat sah, war sie so entsetzt und schlug einen derartigen Krach, dass kein weiteres »Sekkieren« passierte. Und ich kam, zum ersten Mal, zu einem richtigen Frisör, der irgendwie versuchte, die Schäden auf meinem Schädel zu richten.

Die »Großen« bildeten, erkannte Susanne mit der Zeit, keine Einheit. Ihre Charaktere und Stimmungen schwankten, allein waren sie mitunter sogar gefährlicher als zusammen, dann wieder, nach massivem Streit und vielen Raufereien, folgten Entspannung und Zärtlichkeit, wenn die »Sekkierstunden« ein Ende hatten.

Die individuellen Persönlichkeiten von den Schwestern gingen mir nur sehr langsam auf. Von den Dreien erschien mir die Ilse die gefährlichste für mich. Meine grauslichsten Stunden waren, wenn die Gerdl und die Friedl sie »nicht brauchen« konnten und etwas ohne sie unternahmen. Die Wut darüber liess Ilse dann frei an mir aus. Sie erfand gerne körperlich schmerzhafte Spiele. Besonders oft zwang sie mich, ihr als Pferd zu dienen, das sie mit Stöcken peitschen konnte, wenn es ihr nicht schnell genug um den Garten galoppierte. Ich bekam auch feste Ohrfeigen, wenn ich nicht ein von ihr ausgedachtes Wort oder Objekt erraten konnte, oder ihr einfach nicht folgen konnte oder wollte.

Andererseits war es Ilse, die sich stundenlang bemühte, mir »This is the house that Jack built« beizubringen, wobei sie es vor allem und auch recht grob auf das »th« abgesehen hatte. Ich kann es noch immer auswendig und sag’s mir oft vor bei meinen Spaziergängen im Wald.

Es war auch die Ilse, die mir die Angst vor Gewittern genommen hat. Wir Kinder und die Bambi waren, wie sehr häufig, für den Sommer in den Bergen, einquartiert in einem Bauernhaus und in Zimmern, die alle auf einen gedeckten Balkon gingen. Eines Nachts weckte Ilse mich auf: »Komm schauen, wie schön das Gewitter ist.« Wir standen lange im Nachthemd auf dem Balkon, während es um uns blitzte und donnerte — sie hatte recht: Es war wirklich wunderschön. Ich bin ihr noch immer dankbar dafür.

Die Gerdl war die einzige, die sich doch freute über Muttis spätes Baby. Mit acht, fast neun Jahren hatte sie schon eine starke mütterliche Natur und kümmerte sich gerne um mich. Sie hat mir oft erzählt, dass ich ihr Herz auf immer eroberte, weil ich einen ihrer Finger lutschte. Es gibt eine nette Photographie von uns zweien, mit einem Puppenbett voller Katzenjungen. Man kann nicht sehen, dass ich auch sehr viel meine eigenen Finger lutschte und hervorstehende Zähne davon hatte, und auch nicht, dass ich ab und zu schielte.

Die Liebe für das Baby hielt die Gerda aber in keiner Hinsicht davon ab, später eifrig beim »Sekkieren« mitzutun und mich auch sonst in Heisswut zu treiben. Ich erinnere mich nicht an Details, nur dass ich ihr einmal in einem Zornausbruch eine metallene Haarbürste auf den Kopf schmiss. Ihr erstes Erstaunen über diesen Revoltakt des »kleinen Fratzen« ging schnell in einige sehr feste Watschen der Rache über. Aber: Nachher liess sie mich in Ruhe.

Sie rettete mich zwei Mal: zuerst von dem Säuglingsheim, in das ich als fast 10-Jährige einige, viel zu viele, Sommerwochen geschickt wurde. Man wusste nicht, was mit mir anfangen, und so kam ich in das Heim, welches die Kinderschwestern meiner Schwestern in der Nähe von Enns führten. Ich war selten so unglücklich gewesen wie dort. Die Gerdl erschien wie ein rettender Engel. Wir fuhren nach Mondsee und hatten es nett miteinander und mit ihren Flirts dort. Weil ich eben zu viel dabei war, wo ich nicht dabei sein hätte sollen, nahmen diese Ferien damals ein schlechtes Ende für sie.

Und es war die Gerdl, die mich irgendwann später mit sehr viel Mitleid in ihren Armen hielt, während die Frau Doktor Domes die Spitze von meinem rechten Ringfinger mit einer Pinzette wieder an den restlichen Finger brachte. Es tat entsetzlich weh. Ich hatte den Finger in einem Liegestuhl eingeklemmt, im Garten von einer Freundin. […]

In meiner Erinnerung gab es mehr Lachen als Weinen in Grinzing — vor allem aber gab es sehr viel Streit und handfestes Raufen, Schlagen, Reissen, Spucken, Kratzen, Fusstritte, Boxen …

Sonntag war der Lieblingstag für einen Krach von der Mutter und ihr Lieblingssubjekt war der Vater. Sobald er aufgewacht war, also gegen 11 Uhr vormittags, zog sie in sein Zimmer ein, schloss die Türe und bald hörte das ganze Haus, wie sie sich gegenseitig anschrien. Der Grund war fast immer seine Prodigalität. Er war wirklich der »Spring-ins-Geld«, den Karl Kraus in seinem anti-benediktinischen »Die letzten Tage der Menschheit« beschrieb, und verblieb es sein mehr als 90-jähriges Leben lang.

Ich weiss nicht, wie die Mutti ihn kontrollieren konnte; vielleicht bekam er ein wöchentliches Taschengeld von ihr — vielleicht hob er die Rechnungen auf und sie ging durch seine Hosentaschen. Woher wusste sie, wie oft er im Bristol Hummer und sonstige Delikatessen mitten in der Nacht speiste, wie viele Bücher er sich kaufte und welche antiquarischen Partituren?

Auf alle Fälle wusste sie es, und der Sonntagskrach galt also fast immer seiner ungehemmten Verschwendungssucht. Sie reagierte mit ungehemmtem Brüllen und der Prophezei, dass wir alle sofort im Armenhaus landen würden. Er brüllte zurück, dass es sie nichts angehe, was er ausgab, nachdem es sich schliesslich um sein eigenes Geld handle. Damit tropfte er, sicher bewusst, Gift in eine ihrer Wunden, denn ihre unmittelbare Familie war nicht reich gewesen und sie war ohne Mitgift zu ihm gekommen.

Der sofortige Erfolg war noch lauteres Gekreisch und schliesslich heftigstes Türenknallen, bis sie in ihrem eigenen Zimmer war.

Ich weiss nicht, wie sie sich beruhigte, aber für gewöhnlich kamen sie wieder relativ friedlich zusammen zum Sonntagslunch. Nach dem Tod von Grossmama wurde es bei uns zu Hause eingenommen mit uns vieren bei Tisch. Sehr oft lud Mutti auch ihre zwei besten Freundinnen ein, die Papa sehr schätzten und mit denen er flirten konnte, die »Tante« Lilli und die »Tante« Gretl. Sie sassen rechts und links von ihm, auf den Plätzen von Gerda und Friedl.

Lilli Klaudy war dunkelblond, ziemlich füllig, weder sehr hübsch noch elegant, aber witzig und immer bereit zu lachen. Sie war mit einem Hofrat verheiratet und hatte eine Tochter, aber die beiden sahen wir nur sehr selten.

Gretl Terramare war scheinbar immer dabei, sich entweder eine Scheidung zu überlegen oder sich scheiden zu lassen beziehungsweise geschieden zu sein. Ihr Mann, der mir fast so gut gefiel wie sie, hatte mit Theater zu tun und war sehr untreu. Gretl war schlank und zierlich, hatte gewelltes, braunes Haar und war sicherlich genau so untreu. Sie schien mir unendlich elegant, sehr lustig, sehr nett und warm und konnte besonders diplomatisch unserem Vater »das Goderl kratzen« und unterhalten.

Dank ihr »verdiente« ich mein erstes Geld: Einmal, ich weiss nicht mehr warum, gab sie mir einen Klaps und erklärte sofort, dass sie noch nie einen so festen Popo erlebt hatte — und sie bot mir einen Schilling an, ihn zwicken zu dürfen. Was sie durfte und wofür ich einkassierte.

*

Spiele zu können und gut zu spielen war wichtig in der Himmelstraße. Alle vier Schwestern blieben zeitlebens ehrgeizige Kartenspielerinnen, alle beherrschten Schach und wussten unterschiedliche Patiencen zu legen. Am beliebtesten waren Theateraufführungen, Friedl und Gerda belegten alle Rollen. Eine gemeinsame Aufführung der Bremer Stadtmusikanten endete in Schlägen und Tränen. Von allen, auch von den Eltern, gemocht wurde die »Reise nach Jerusalem«. Die Stühle wurden aneinandergereiht, bei Bedarf zusätzliche geholt, Ilse und der Vater wechselten sich am Klavier ab. Beim Spiel nahmen auch die weiblichen Hausangestellten teil, die aus der Küche gerufen wurden. Nie der Chauffeur.

Im Winter wurde Schlitten gefahren. Bei der »langen Fahrt« zog man die Schlitten hinauf auf die Bellevuewiese und konnte den Berg hinunter über die Himmelstraße, die Straßergasse und die Grinzinger Straße bis zum Donaukanal fahren. Es gab wenig Verkehr, die Höhenstraße war noch nicht gebaut.

Im Tagebuch, das Friedl im Frühjahr 1953 in Paris bis wenige Tage vor ihrem Tod im April im American Hospital führte, findet sich die Matrix eines großen und kleinen Schifferl-Versenken-Spiels, die »Seeschlacht«. Friedl spielte es mit Susanne, wenn sie zu erschöpft war, um zu sprechen oder zu schreiben. Susanne besuchte die Schwester sechs Wochen lang täglich im Krankenhaus, als es zu Ende ging.

Ich liebte die Friedl — mit der Ausnahme von [ihrer Tochter] K[arina] — mehr als irgend jemanden anderen. Ich liebte und bewunderte sie und wurde ihre Sklavin. Bis zu ihrem Tod. Sogar darüber hinaus …

Seit dem Tod von Grossmama ein paar Jahre früher war sie das erste und einzige Familienmitglied, welches sich damals um mich kümmerte. Sie übertrug auf mich, was Canetti mit ihr machte. Sie stellte mir richtige Fragen, sie hörte auf die Antworten, sie erinnerte sich an was ich sonst sagte. Sie diskutierte ihre Beziehung zu Canetti mit mir, erzählte mir Geheimnisse, hörte auch meine, und sehr oft gab sie mir Ratschläge über Bücher, wie ich mich benehmen sollte, was mit meinen »Flirts« anfangen, wie mit den Eltern auskommen — kurz, von da an existierte ich für sie.

Ihr Einfluss lebte weiter in mir die acht Jahre hindurch, in denen ich in Finnland und Schweden schwesterlos eine Erwachsene wurde. Als wir uns in Schweden nach dem Krieg wieder sahen, konnten wir die alte Beziehung ganz natürlich wieder aufnehmen. Es war selbstverständlich, dass ich, was ich an Freizeit hatte, hauptsächlich mit ihr, und immer häufiger an ihrem Krankenbett, verbrachte. Es war selbstverständlich, dass ich bei ihr blieb im American Hospital in Paris, bis sie starb.

Neben den Spielen und der Musik sind Tiere wichtig im Himmel fünfundfünfzig, und wie die Spiele blieben sie es für die Schwestern. Häufig wird nach ihnen in den Briefen gefragt, häufig werden sie ausdrücklich gegrüßt.

Susannes lebenslange Liebe galt Fedia, dem Hund, der nur ihr gehörte, auch wenn die anderen es nicht wussten, der die Kuhlen in den Garten grub, in denen sie sich verstecken konnte. Alle Hunde, die sie später hatte — die Promenadenmischungen Burschi und Rokko, die Afghanen Kismet, Django und Boy, die Schäferhündin Bella, die Schnauzer Flicka und Faro, der tibetanische Shih-Tzu Tsampa —, sie alle waren Fedia. Gerda, Friedl und Ilse lebten später immer mit Katzen. Selten wird in den Briefen vergessen, auf ihr Befinden einzugehen. Friedl trägt ihre Katzen in Hampstead gerne um den Nacken geschlungen, wenn sie im Garten sitzt. »Die heiligen Katzen« nennt sie Canetti. »Wie ein lebendes schlechtes Gewissen«, berichtet Gerda aus New York, schleiche ihre Katze Scotch um sie herum, legte sich auf die Schreibmaschinentastatur oder verbrannte sich, allzu neugierig, die Schnurrbarthaare an der Kerzenflamme.

Ilses letzte Katze in den sechziger Jahren hieß Susi. Sie fiel öfter vom Balkon, schaffte es aber jedes Mal, sich in der Luft zu drehen, und blieb stets unverletzt.

*

In der Himmelstraße gab es weder einen Chanukkaleuchter noch religiöse Essensvorschriften, noch wurden jüdische Feiertage gefeiert. Gefeiert wurde Weihnachten mit Weihnachtsbaum, Christkind und Weihnachtsliedern. »Ich war nie ein ›jüdisches Kind‹, wir waren Grinzinger Kinder. Zu Juden hat uns Hitler gemacht«, erinnerte sich Ilse. Alle Mitglieder der Familie wurden zwar in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde als Mitglieder geführt, die Synagoge wurde aber nicht besucht. Jiddeln war selbst bei Witzen verpönt. Die religiösen Regeln und Traditionen waren den Kindern unbekannt. Noch Jahrzehnte später wird sich Susanne über die Heirat ihrer Tochter in der Synagoge in der Rue Copernic lustig machen, und Gerda wird darüber berichten, wie sie dem Ritual bei der jüdischen Hochzeit ihres ältesten Sohnes in New York ratlos gegenüberstand und ihre mütterliche Rolle improvisieren musste. Die einzigen Götter, die in der Himmelstraße verehrt wurden, waren Beethoven und Goethe, Gustav Mahler war als Halbgott akzeptiert. Schönberg, Schiele oder Adolf Loos wurden nicht zur Kenntnis genommen. Die religiöse Tradition hatte sich schon in der Generation der Großeltern langsam verflüchtigt. Aber ganz so klar war die Sache mit der Zurückweisung jüdischer Identität nicht. Als Ilse 1946 aus Zürich nach Wien zurückkehrt, lässt sie — Ärztin, Atheistin und Kommunistin — in ihren Dokumenten »mosaisch« als Religionszugehörigkeit eintragen.

Die Schwestern waren Stadtkinder am Land. Die Bindung der Eltern an die Stadt war eng, täglich fuhr der Vater in die Redaktion, auch die Mutter verbrachte kaum einen Tag daheim. Die Grinzinger Kinder, zu denen Ilse gehören will, gab es allerdings nicht, denn das eine Grinzing gab es nicht. Es gab das bäuerliche Grinzing der alteingesessenen Weinhauerfamilien und Buschenschankbesitzer, es gab ein proletarisches Grinzing in den Arbeiterquartieren und Barackensiedlungen bei den Langen Lüssen am Friedhof, ein kleinbürgerliches Grinzing der Beamten und Gewerbetreibenden und ein großbürgerliches in den Villen der Umgebung. Die Benedikt-Schwestern gehörten nicht zu den Kindern der Weinbauern und Arbeiterinnen, sie sprachen nicht ihren Dialekt, aber sie trafen sie in der Schule und beim Spiel. »Ottakringerisch« nannte der Vater ihre Sprache, in Unkenntnis jeglichen Dialekts. Für die Schwestern war Grinzing nicht Heimat, sondern Synonym für das Haus in der Himmelstraße, für ein Zuhause-Sein.

Die Volksschule in der Mannagettagasse, die alle vier Schwestern in den 1920er Jahren besuchten, war konservativ. Die Bildungsreformer im Roten Wien um Otto Glöckel waren pragmatisch, man setzte Akzente, vor allem was die ambitionierte grafische Gestaltung der Schulbücher betraf, aber die Neufassung der Lehrpläne in der Ersten Republik war alles andere als radikal. Gelesen wurden in den ersten Klassen unter anderem die klassischen Sagen, Märchen und Tierfabeln, für die Fibel-Texte wurden Szenen aus dem kleinbürgerlichen (nicht aus dem proletarischen) Milieu gewählt, sie zeigten zwar Veränderung und den technischen Fortschritt im urbanen Leben, gleichzeitig wurde den Kindern aber das ideale Leben als eine Art selbstgenügsamer häuslicher Idylle vorgeführt, deren Takt nach wie vor von den Jahreszeiten bestimmt ist.

Die politischen Veränderungen wurden dennoch sichtbar und hörbar: Der Umschlag des Buches Wiener Kinder, das die Benedikt-Schwestern wie alle Kinder zu Beginn der ersten Klasse bekamen, zeigt ein Schulkind, das stolz und selbstbewusst, fast trotzig, mit beiden Händen eine Tafel hochhält. Auf dem Schmuckblatt des bekannten Liederbuches für die erste Klasse, Ringa Ringa Reia, ist programmatisch zu lesen: »Gesang macht den Menschen frei.« Ein Liederheft aus der Zeit, an das sich Ilse gerne erinnerte, hieß Wir sind jung und das ist schön!, es war ursprünglich ein Wanderlied und wurde erst später zum offiziellen Lied der sozialdemokratischen Kinderfreunde.

*

Das Verhältnis des Vaters zu den Hausangestellten war milde, da gleichgültig, das der Mutter herrisch und herablassend. Sie sprach zeitlebens vom »Trampolorum« oder von den »Trampeln«, die unbeholfen seien und nichts recht machten. Für diesen Ausdruck der Mutter hat sich Ilse wie für nichts sonst geschämt, ihr ganzes Leben lang.

Man war auch großzügig. Eine aus armen Verhältnissen stammende Schulkollegin Susannes wurde nach der Schule in die Himmelstraße mitgenommen und durfte jeden Tag bei den Benedikts zu Mittag essen. Die Klassenschranken blieben gewahrt: Die Resi aß nicht mit den Schwestern im kleinen Salon, sondern in der Küche.

Von der Friedl hab ich nur eine klare — sehr unangenehme — frühe Erinnerung.

Es war die Geschichte mit der Resi Fiegl, das »Armenhauskind« aus meiner Volksschulklasse, das bei uns jeden Tag Mittagessen bekam. Ich konnte sie nie ausstehen: Sie war hässlich, irgendwie überall grau und staubig grauslich; ich wusste nicht, was mit ihr anfangen am gemeinsamen Weg von der Mannagettagasse hinauf zur Himmelstrasse Nummer 55. Ich gab sie immer erleichtert in der Küche ab und war heilfroh, dass sie nicht mit uns ass.

Eines Tages, ich hab keine Ahnung mehr warum, kam es zu einem Streit am Schulweg und ich muss irgendwas gesagt haben, demnach die Resi den Mund halten sollte, nachdem sie ihn bei uns anfüllen durfte. Sie reagierte scharf, drehte sofort um und erklärte, nie wieder unser Haus zu betreten. Ich war entsetzt, denn ich wusste ganz genau, dass ich etwas sehr Gemeines gesagt und Übles angestellt hatte.

Zu Haus wollte ich auch nichts essen. Im oberen Vorzimmer gab es eine kleine Bank, auf die legte ich mich und erklärte, ich sei krank und habe Fieber. Die Mutti streichelte mir über die Stirn und schlug vor, mich ins Bette zu tun und vielleicht die Dr. Domes zu rufen. Aber die Friedl warf einen Blick auf mich und sagte: »Der fehlt gar nichts — die hat kein Fieber, die hat was auf dem Gewissen.« Woher konnte sie es wissen?

So kam meine Schuld an der Resi heraus und ich musste bei ihren Eltern um Entschuldigung bitten und — Gott sei Dank vergebens — betteln, dass sie wieder zu uns essen kommt. Es ist anzunehmen, dass die Fiegls doch genug hatten, um sie selber zu ernähren. Aber sie wohnten wirklich in einem sehr armseligen »Armenhaus« auf der Grinzinger Allee, dort wo heute Luxuswohnhäuser stehen.

Ich war sehr lange sehr bös auf die Friedl.

*

Die Familie unternahm standesgemäß viele Reisen. Erhalten haben sich Fotos vom Kinderurlaub am Meer, Postkartengrüße und Kinderbriefe von den jährlichen Sommerfrischen am Semmering oder aus Tirol. Sehr früh schon gehörte das tägliche Verfassen von Briefen an die Eltern oder an die Großmutter zum Alltag der Schwestern. Die neunjährige Friedl schrieb an die auf Reisen befindlichen Eltern:

Lieber Papa und liebe Mutti, die Kati hat uns gesagt, dass die Katze Junge bekommen wird. Ilse schreibt auch jetzt gerade einen Brief. Heute habe ich schon gelernt. Unsere Kapuzinerkressen blühen noch immer nicht und die Blätter sind auch nicht grösser. Lillevän badet den Joki heute oder morgen. Gerda strickt jetzt. Ilse schreibt nicht mehr viel, denn Lillevän kann nicht mehr lang neben ihr sitzen. Jetzt ist sie weggegangen und die Gerda hilft ihr. Die Katze liegt jetzt auf einem Polster und schläft. Die Grossmama hat uns Zeichnungen geschenkt und im übrigen war sie heute da, deswegen sind wir um unseren Nachmittagsschlaf gekommen. Viele viele 1000 Bussi. Frieda

Früh etabliert sich in den Briefen der für die Schwestern typische ironische Tonfall, kein Brief von Friedl und Gerda, der nicht auch ein bisschen »frech« wäre. Die Frechheit wird — in Briefen — vom Vater durchaus geschätzt.

Liebster Papsch und süsses Mummili

Danke tausendmal für eure lieben Briefe. Uns geht es allen ausgezeichnet und Irmgard ist schon da. Sie ist sehr lieb. Das Wetter ist leider auch bei uns sehr schlecht und wir konnten den Ausflug, den wir heute zu Mittag mit Burgel machen wollten, nicht machen. Wir fahren den ganzen Tag Rad, im ganzen Dorf herum.

Ihr wisst doch, dass die Traubenmäderln immer zu uns kommen. Gestern waren sie den ganzen Tag da, sie geben keine Ruhe und wir wenden alle erdenklichen Mittel an, sie wegzubringen. Aber es hilft nichts. Wie Kletten hängen sie an uns. Heute sind sie auch schon seit Mittag da. Als Fanni, die älteste und zugleich grösste der Kletten, Gerdl fragte, ob sie kommen könne, antwortete Gerda, wir hätten zwei Stunden Zeichenstunde. Ohne Zögern antwortete sie sofort: Da komm ich auch! Und wirklich war sie da. Zu eurer besonderen Beruhigung will ich euch schreiben, dass das goldige Alichen und seine ebenso goldige (?) Mama sehr gesund sind, nur zu meiner grossen Beunruhigung hatte Alichen eine Diarrhö und Madam Strindberg konnte nicht in ein Konzert gehen, da sie — bitte zu entschuldigen, aber ihr eigener Ausdruck — Ali den Hintern ausputzen musste.

Besonderes ist eigentlich während eurer wirklich sehr traurigen Abwesenheit nicht geschehen, und so möge das hochgeehrte Elternpaar entschuldigen, wenn der Brief nicht besonders lang ausfällt. Also tausend Küsse Eure Friedle.

Und bei der um ein Jahr älteren Schwester Gerda heißt es in einem Brief aus demselben Sommer, dass sie »den geliebten guten Papa umarmt« und ihn, »die Grossmama, Bambi und alles übrige Gesindel herzlichst grüssen und küssen« lässt, »Viecher auf Schnauze«.

Wenn die Kinder in der Sommerfrische in Tirol waren, sandte der Vater, der allein in Wien blieb, fast täglich launige Briefe.

Carissimi Frazzolini!

Euer armer, verlassener Vater wankt einsam durch die traurig-öden Zimmer. Kein Geschrei, kein Grammophon, kein Geklimper, kein Gedudel — kurz, nicht die leiseste Störung! Und das soll man aushalten! Es fehlt mir direkt ein Möbelstück u am meisten — neben dem süssen Geplauder — geht mir die Partnerschaft beim Pingpong ab, wo ich demgemäss den Weltrekord zu erringen gedenke.

Gestern war übrigens ein kolossaler Rummel in meiner Nähe. 560 Motorräder knatterten u stanken, ein fabelhaftes Wettrennen auf einer Schlackenbahn — weiss der Teufel, was das ist — erregt die brüllende Wollust von 7000 Zuschauern. Und bei so aufregenden Begleiterscheinungen soll man sich mit dem Schmarrn der Weltgeschichte befassen u mit so blödem Zeug wie Literatur oder Wirtschaft!

Nun adieu, meine Lieben! Der Regen rauscht, die Maschine arbeitet schon lange. Jetzt geht’s nach Haus. Ich küsse Euch alle innigst viel-viel mal! Euer Papa

Am ersten Geburtstag von Susanne schrieb er an seine Frau, die sich gerade in Tirol aufhielt, von den Feierlichkeiten, mit Staunen und väterlichem Stolz hielt er die ersten Worte der jüngsten Tochter fest, um zugleich ebenso stolz von seinen »Hummerkroquettes« im Imperial zu berichten, die er sich im Grunde nicht leisten konnte:

Mein liebstes Alles od. mein liebstes Leben od. ??

Heute ist Susi geboren. Die Sonne hat sich zu dem wärmsten Schein entschlossen, um sie zu feiern, die Vögel singen, ein kleiner Lufthauch weht mir in den Nacken, während ich in meiner Bibliothek beim Frühstück sitze, das Goldkind in rosiger Balltoilette auf einem schönen Polsterchen vor mir und mich anschauend mit ihren lieben, blauen Guckerln. In der Hand hat sie zwei grosse Stücke Bäckerei, die braunen Füsserln stecken in weissen Socken, sie ist ganz still, lieb und süss …

Oben haben die Mädchen eine grüne Guirlande um ihre Tür gehängt, mit der von Egon verfertigten Inschrift »Hoch Susi« und auch die Wiege ist mit Grün und Hagebutten schön verziert, ebenso wie der Geburtstagstisch mit den von Kathis Meisterhand gefertigten Kuchen.

Ich bin ganz »aufgeweicht« und habe nur eine Trauer, dass Du und die anderen nicht da seid und dass ich Dir heute nicht jenes Pflaster zu applicieren vermag, das so viele Wunden schliesst und so — ich kann kaum schreiben, Susi plauscht ununterbrochen: titula, kwagi nita, anna, hagoh, ato, etc. …

Also will ich Dir nur rasch noch erzählen, dass ich sehr überlastet und übermüdet bin. Wir können morgen schon die Ausschaltung des Elektrizitätswerkes haben und damit das Stoppen der Zeitungen (wahrscheinlich werden die Herren ihr Privilegium haben …) und dass mir die Besserung des Wetters eine schwere Nervenkrise bei mir verhindert.

Gestern war der Mann des Schottenrings bei mir (Sch.) (½ 6). Vorher (4 Uhr) Leichenbegräbnis von Weber. Ich ass im Imperial (nach 3 Uhr), zwei herrliche Hummerkroquettes (vergeh vor Neid!!), ferner eine Omelette mit Salat. Sch. war sehr entzückend und grüsst Dich bestens. Mittags nur meine Turnübungen und anderweitige Kuren. Abends und Nacht war dann wieder tüchtige Arbeit.

[…] Na, aber jetzt Schluss — ich küsse Dich mit jünglingischem Schwunge, Ich eil zu Dir mit zauberhaftem Sprunge; Mein Inneres wogt und leuchtet Dir entgegen, Magst Du in Sonne kommen oder Regen, Magst Du Dich bergen, oder Dich verkünden — In Ewigkeiten werden wir uns finden —

Addio, Du aaaalter, guter, lieber Mops, ein süsses Bussi noch, dann Lebewohl, innig Dir zugehörig

Ernst

Der Vater ist impulsiv. Er ist charmant und übermütig, zeichnet für die Kinder, illustriert kleine Geschichten, die die Kinder ihm diktieren, er singt mit ihnen und lässt sich auf kleine Raufereien mit ihnen ein, schreibt ihnen kleine, kindgerechte Briefe. Andererseits ist er aufbrausend und verletzlich. »Wenn wir nicht ehrfürchtig genug dem Papa zuhörten«, erinnert sich Susanne, »brach er in einen Wutanfall aus, schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass alle Gläser und Teller zitterten, brüllte irgendwas wie ›zum Teufel hinein, bin ich der letzte Hund, dass man mich nicht reden lässt‹ und verließ uns, weiter schimpfend und die Türen knallend. Für gewöhnlich stampfte er in die Bibliothek zum Trotzen, und nur die Friedl war im Stand, ihn immer wieder hinauszulocken.« 1925 wird Friedl vom Vater in einem Brief zum »Oberkind« ernannt, aber noch 1949 wird sich das »Oberkind« in einem Brief an Elias Canetti erinnern, was »in meinem Leben mein erster Schrecken war — der Papa hat sich immer damit angekündigt, daß Türen aufgerissen und zugekracht worden sind — das ist überhaupt die einzige Erinnerung, die ich an ihn als Kind hab, zusammen mit einem fürchterlichen Gebrüll«.

Anlass zum Streiten (mit rascher nachträglicher Versöhnung) war rasch gefunden, schreibt Susanne an ihren Neffen in New York, zum Beispiel die Frage, wem das beste Ende einer Wurst zustand:

Es war Vaters Spezialität, plötzlich und äußerst laut Krach anzufangen, vielleicht um all den Frauen, die ihn umgaben, seine männliche Durchsetzungskraft zu demonstrieren. Zu den denkwürdigsten Streitereien gehörte einer mit Gerda über das letzte Stück von einem Frankfurter Würstel.

Wir waren äußerst verfressene Kinder, und da wir, was Essen betraf, ganz und gar nicht verwöhnt waren, sparten wir uns »den besten Happen« meist bis zum Ende eines Ganges auf. Gerda hatte sich einen Bissen Wurst aufgehoben, den sie genießen wollte, wenn alles andere am Teller aufgegessen war. Aber Vater, der neben ihr saß und mit seinem Paar Frankfurter schon fertig war, stibitzte ihn und verschlang ihn auf der Stelle.

Gerda machte eine heftige Szene, brüllte ihn an und beschimpfte ihn. Also fühlte er sich genötigt zurückzubrüllen, um seine erhoffte Autorität wiederherzustellen. Schließlich stürmte Gerda aus dem Speisezimmer, heulend und schluchzend, dass einem das Herz blutete.

Sie wirkte so verstört, dass es Papa reute. Nachdem das Abendessen in grimmigem Schweigen verstrichen war, ging er zum Schmollen in seine Bibliothek, doch nach einer Weile läutete er nach einem Mädchen. Skobrdal erschien. Er fragte sie ziemlich besorgt, was Fräulein Gerda mache.

»Fräulein Gerda ist in der Küche und fängt Fliegen für ihre Frösche«, sagte ihm die Skobrdal