Vogel ohne Flügel - Seraina Hintermann-Famos - E-Book

Vogel ohne Flügel E-Book

Seraina Hintermann-Famos

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  • Herausgeber: Fontis AG
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Seraina Hintermann-Famos ist seit über zwanzig Jahren von Multipler Sklerose in der schwerstmöglichen Form betroffen. In «Vogel ohne Flügel» erzählt die Psychologin und Pfarrfrau ihre Geschichte und macht ihre vielschichtigen Erfahrungen für Ihre Leserinnen und Leser nachvollziehbar: Dass sie trotz zahlreicher Einschränkungen, Beschwerden und vielen Ängsten weiterhin Ja zum Leben sagen kann, ist sowohl berührend als auch inspirierend. Mit Hilfe der befreundeten Lyrikerin Vera Schindler-Wunderlich hat Seraina Hintermann-Famos ihre Glaubens- und Liebesgeschichte aufgeschrieben. Herausgekommen ist ein Buch, das eine einladende Kombination ist aus Erzählung, Glaubenserfahrung, Informationen und Weisheit. Mit im Buch: Einblick in die Lebenswelt des pflegenden Ehemanns, psychotherapeutische Fachartikel der Autorin, ein Bildteil und zwei Gedichte der Co-Autorin («Schweizer Literaturpreis»-Trägerin).

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Seitenzahl: 143

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Seraina Hintermann-Famos mit Vera Schindler-Wunderlich

Vogel ohne Flügel

Vom Ringen mit Gott. Und vom Freisein trotz Multipler Sklerose

Mit einem Vorwort von Rita Famos

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024 vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.

© 2023 by Fontis-Verlag Basel

Die Bibelstellen wurden, soweit nicht anders angegeben, größtenteils folgender Übersetzung entnommen: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns

Illustrationen Umschlag: Ground Picture/Shutterstock.com

Coverfotos: © by Familie Hintermann-Famos

© Fotos im Buch by Familie Hintermann-Famos

E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel

E-Book-Herstellung: Zeilenwert Gmbh, Rudolstadt

ISBN 978-3-03848-707-4

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

▪Vorwort von Rita Famos

▪Einleitung: Warum ich meine Geschichte teilen möchte

1Einstieg: Meine Tage, meine Nächte

▪Wenn ich nicht schlafen kann

▪Wie sieht ein normaler Tag bei mir aus?

2Rückblick: Meine Lebenszeit vor der Erkrankung

▪Als noch vieles möglich schien

Kindheit und Schulzeit

Mein Weg mit Gott – oder: Gottes Weg mit mir

Verliebt in Elvis Presley

Wie Elvis für mich verblasste

Gottes Geschenk an mich in Amerika: Freude

Zurück in der Schweiz: Neue geistliche Heimat

Studienzeit: Eine WG ändert mein Leben

Traumhochzeit und Wunschkinder

Seraina Hintermann, lic. phil. I, Einzel-, Familien-u. Paartherapeutin; Logotherapeutin

3Die Diagnose Multiple Sklerose und die Folgen

▪Der Schock und meine ersten Erfahrungen mit Ärzten und dem Gesundheitswesen

▪Multiple Sklerose – die Krankheit der 1000 Gesichter

▪Der Umgang mit der Krankheit MS

Krämpfe, Übelkeit und Untergewicht

Schamgefühl

Schlafprobleme

Ängste im Zusammenhang mit der MS

Glocken gegen die Angst

4Eine neue Sichtweise

▪Die Logotherapie: drei wichtige Werte

1. Schöpferische Werte

2. Erlebniswerte

3. Einstellungswerte

▪Die unzerstörbare Sinnhaftigkeit des Lebens

▪Was verändert werden kann, wenn nichts mehr verändert werden kann

▪Exkurs: Gedanken zu Hiob

▪Hundert Gründe, dankbar zu sein

▪Exkurs: «Ich packe meinen Rucksack und nehme mit…» (mit Daniel Hintermann)

5Hoffnung und Enttäuschung

▪Hoffnung – Konstrukt oder Abenteuer?

▪Enttäuschung – Einladung, mit Gott im Gespräch zu bleiben

▪Wenn Gott nicht heilt – Aspekte eines schwierigen Themas (mit Daniel Hintermann)

6Multiple Sklerose und die anderen

▪«Die Frau im Rollstuhl» – vom Zuhören, Sehen und Verstehen

▪Gemeinsam reifer werden: Leben mit MS in Ehe und Familie

▪Institutionen, Ärzte und Medikamente – eine zwiespältige Sicht auf das Schweizer Gesundheitswesen (mit Daniel Hintermann)

7Wege, Wünsche, Widerstand

▪Vom Ringen mit Gott und vom Wunsch, nicht mehr zu erwachen

▪«Dankbarkeit ist der beste Freund des Selbstwertgefühls» (Prof. Dr. Boglarka Hadinger)

▪Resilienz: Geschenk und Entscheidung (mit Daniel Hintermann)

Seraina

Daniel

Nachklang

▪Immer noch keine Expertin – ein Schlusswort

▪Nachwort von Co-Autorin Vera Schindler-Wunderlich

▪Zwei Gedichte über Seraina Hintermann-Famos von Vera Schindler-Wunderlich

«Mittlere Brücke»

«Akt des Ach doch»

▪Danksagung

▪Was mir geholfen hat: wichtige Formulierungen und Zitate

▪Literaturverzeichnis

Ein Traum: Ich war in meiner Heimat Luzern, aber ich kam an ganz unbekannten Plätzen vorbei, ganz großen Plätzen mit sehr vielen Menschen, und zum Teil waren da auch große Kathedralen und Kirchen. (…) Vielleicht steckt in mir auch diese Vielfältigkeit, diese großen, noch zu entdeckenden Plätze! Ich möchte so gerne noch vieles entdecken, lernen. Habe ich die Zeit dazu?

Tagebuch, 28. Februar 2002, kurz nach der Diagnose MS

Erneut habe ich geträumt, dass ich gehen kann! Und wenn ich im Traum gehe, dann barfuß. Ich kann beim Gehen auch Dinge in die Hand nehmen, zum Beispiel einen kleinen Blumentopf vom Fenstersims, und an ihren Platz räumen. Das Erwachen ist dann weniger schön …

Zum Traum in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 2022

Warten ist eine große Tat.

Christoph Friedrich Blumhardt

Dieses Buch widme ich…

…Daniel, meinem geliebten Mann,

meinen drei Söhnen Jonathan, Jeremia und Samuel

und meinen Großkindern Louis, Malea und Timael.

Herzlichen Dank…

…an Peter Reber! Er hat mir großzügig und warmherzig erlaubt, nicht nur sein zauberhaftes Liebeslied «E Vogel ohni Flügel» abzudrucken (und die Übersetzung ins Hochdeutsche selbst genehmigt), sondern er hat auch grünes Licht dafür gegeben, dass ich diesen Liedtitel zum Titel des vorliegenden Buches mache.

Seraina Hintermann-Famos, Mai 2023

Vorwort von Rita Famos

Als uns die Nachricht erreichte, meine Schwägerin sei an Multipler Sklerose (MS) erkrankt, war das für die ganze Familie und das Umfeld ein Schock. Noch beunruhigender war die allmähliche Gewissheit, dass es sich in ihrem Fall um den schlimmstmöglichen Verlauf einer MS handelte: die primär-progrediente Variante. Mit großer Betroffenheit und Ohnmacht mussten wir miterleben, wie meine Schwägerin rasch und zunehmend in ihrer körperlichen Vitalität eingeschränkt wurde – und es immer noch weiter wird. Aber gleichzeitig wurden wir auch Zeugen, wie Seraina, ihr Mann und ihre Familie bewundernswerte Bewältigungsstrategien entwickelten.

Vor uns liegt ein eindrücklicher Einblick in ein Leben mit MS. In dem Buch «Vogel ohne Flügel» lesen wir von einem ehrlichen, ungeschönten Umgang mit dem täglichen Leiden, den Schmerzen, dem Zweifel und der Wut, die diese Krankheit verursacht. Und gleichzeitig erfahren wir, wie es einer authentischen, aufrichtigen, vom christlichen Glauben getragenen, intelligenten und humorvollen Frau gelingt, ihren Lebensmut immer wieder zurückzugewinnen – trotz des Leids, das ihr diese heimtückische Krankheit, deren Ausgang ungewiss bleibt, zufügt.

«Resilienz» ist zu einem Modewort geworden, weil unsere Gesellschaft gerade in den letzten Krisenjahren erfahren hat, dass ökonomische und finanzielle Absicherungen nicht reichen, um Krisen zu überstehen. Es braucht Menschen, die fähig sind, mit Rückschlägen, Unsicherheiten, Verzicht und Leid umzugehen. Werfen wir einen Blick in das Lebenszeugnis von Seraina Hintermann-Famos, so erkennen wir drei Quellen, aus denen sich ihre ganz persönliche Resilienz nährt.

1. Beziehungen: Den zunehmenden körperlichen Abbau vergleicht die Autorin mit dem Bild eines Vogels, dem die Flügel gestutzt werden. Und zugleich beschreibt sie die Liebesbeziehung zu ihrem Ehemann als das Element in ihrem Leben, das ihr weiterhin Flügel verleiht, und wir Außenstehenden haben den Eindruck, dass die Beziehung der beiden mit zunehmender Krankheit noch mehr an Tiefe gewonnen hat. Ehrliche, von Liebe und Zuneigung geprägte Gespräche, geteiltes geistliches Leben, gemeinsame Lektüre, Ausflüge in Kunstausstellungen eröffnen in ihrem Leben Glücksinseln, Erfüllung, seelische Nahrung. Ihre gemeinsamen drei Söhne mit ihren Ehefrauen und Enkelkindern sind zudem regelmäßige Gäste im Haus und bringen Lebensfreude und namentlich auch viel praktische Unterstützung.

2. Gelebter Glaube: Die Autorin ist im besten Sinn des Wortes ein «frommer» Mensch. Ihr Glaube, der sie seit ihrer Jugend begleitet, wurde und wird durch die Krankheit auf eine harte Probe gestellt. Wie der biblische Hiob ringt sie mit Gott. Da wird nichts beschönigt, Zweifel und Wut werden nicht verleugnet. Und wie Jakob aus dem Alten Testament, der zu Gott sagt: «Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn» (1. Mose 32,27 ), lässt auch sie nicht ab von ihrem Gott, ringt mit ihm, sucht nach seinem Segen – und findet ihn auch immer wieder. In gut reformierter Tradition stärkt sie sich täglich mit der Bibellese und dem Gebet und findet auf eindrückliche Weise Halt und Zuversicht darin.

3. Logotherapie nach Viktor Frankl: Sich der fortschreitenden Einschränkungen durch ihre Krankheit bewusst, entschied meine Schwägerin, eine Therapieausbildung in der Logotherapie nach Viktor E. Frankl zu absolvieren, in welcher unter anderem der Umgang mit Krankheit und anderen schwierigen Lebenssituationen zentral ist. Die Ausbildung zur Logotherapeutin erwies sich dann tatsächlich nicht nur für ihr therapeutisches Arbeiten, sondern auch für die Bewältigung ihrer eigenen Herausforderungen als wichtige Stütze. Der Titel des Bestsellers von Viktor Frankl, «… trotzdem Ja zum Leben sagen», zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Seraina Hintermann-Famos.

Im Buch erfahren wir Genaueres darüber, wie Seraina Hintermann-Famos aus diesen drei Quellen schöpft und sich dadurch tapfer und unverzagt den Herausforderungen ihres Alltags stellt. Wir lesen aber auch, wie sie sich mit dem Schweizer Gesundheitswesen auseinandersetzt. Sie ist als fast gänzlich gelähmte Frau auf höchste Aufmerksamkeit von Ärzten und Pflegenden angewiesen und stellt fest, dass man ihr aufgrund von Personalknappheit und auferlegten ökonomischen Rahmenbedingungen oft nur teilweise gerecht werden kann. Die Frage des assistierten Suizids ist auf den folgenden Seiten ebenso Thema wie das theologische Ringen um die Frage der Theodizee, also die Frage, weshalb der allmächtige, allliebende Gott das Leid zulässt.

In ihrem Tagebuch schreibt Seraina Hintermann-Famos kurz nach ihrer Diagnose MS: «Ich möchte jemand sein, der etwas zu sagen hat.» Auf eindrückliche Weise haben wir Angehörigen und viele weitere Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter in den letzten zwanzig Jahren erfahren, dass die offene, ehrliche, aber auch zuversichtliche Art, wie sie und ihr Mann mit der Krankheit umgehen, uns viel auf unseren Lebensweg mitgegeben hat. Das Buch hält das Wesentliche davon fest. Möge es vielen weiteren Menschen zur Ermutigung dienen.

8. Januar 2023

Rita Famos ist Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz

Einleitung: Warum ich meine Geschichte teilen möchte

Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.

Psalm 73,23 –24, Luther 2017

Ich möchte mit diesem Buch Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen, konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen, die ihnen im Leben begegnen. Ich will ihnen Mut machen, sozusagen den Stier bei den Hörnern zu packen, nicht aufzugeben, sich nicht entmutigen zu lassen und trotz allem an Gott zu bleiben.

Ich weiß, dass sicher nicht alle Leserinnen und Leser an Gott glauben können. Es gibt auch Menschen, die ohne Glauben an Gott eine so schwierige Aufgabe gut meistern können. Ich selbst glaube aber an Gott und daran, dass Er mich nicht loslässt. Und ich bin überzeugt, dass Gott mich nicht im Stich lässt, auch wenn die Lebenssituation mehr als herausfordernd ist. Von diesen meinen eigenen Herausforderungen werde ich Ihnen im Folgenden erzählen.

Anfänglich wollte ich meine Autobiografie «Mein Krampf» nennen. Doch da klang natürlich zu stark das unsägliche Werk von Hitler an.

Stattdessen möchte ich diesem Buch den Titel «Vogel ohne Flügel» geben. «Vogel ohne Flügel» ist ein in der Schweiz sehr bekanntes und beliebtes schönes Liebeslied des Liedermachers Peter Reber. Oft finde ich mich und meine ausgeprägte Hilflosigkeit in diesem Titel wieder. Als Liebeslied widme ich es in Teil 3 dieses Buchs meinem lieben Mann – inmitten einer Aufzählung der Probleme, die mit der Krankheit MS zusammenhängen.

Meine Aufzeichnungen sollen aber nicht nur vom Verlust meiner «Flügel» handeln. Mir sind nämlich im Laufe der Jahre viele unterschiedliche neue Flügel gewachsen, von denen ich Ihnen hier auch erzählen möchte. – Lassen Sie sich überraschen!

Auch wenn die Prellböcke mich zu erdrücken drohen, gibt es immer noch Schmetterlinge über mir und Blumen vor mir.

TEIL 1

Einstieg: Meine Tage, meine Nächte

Wenn ich nicht schlafen kann

Ich liege im Bett und kann nicht schlafen, weil mich Krämpfe im Oberschenkel plagen. Ich kann nicht einfach – wie dies früher einmal möglich war – aufstehen, den Fuß auf den Boden setzen, fest auftreten und so den Krampf lösen. Ich muss den Schmerz einfach aushalten. Ich kann mich im Bett nicht einmal herumdrehen, ich bin hilflos und auf Hilfe angewiesen.

Die Gedanken kreisen, ich versuche sie in eine andere Richtung zu lenken, versuche mich abzulenken. Sicher würde es helfen, das Licht anzumachen und meine Gedanken zu notieren, aber ich bin leider schon eine Weile nicht mehr dazu fähig, selbstständig von Hand zu schreiben.

Wenn die Überlegungen wirklich wichtig sind, denke ich, dann bleiben sie bis am Morgen in Erinnerung. Alles andere ist nicht so wesentlich.

Hier einige Beispiele dafür, wie ich mich ablenke:

Ich bin ein großer Fan des Mediums Radio, ganz besonders des Schweizer Senders SRF 1, und ich höre fast den ganzen Tag Musik und Infosendungen. Nachts kann ich den Sender durch Antippen eines großen Buttons mit der Hand einschalten. Wenn ich dann Musik höre und zum Beispiel auf die Liedtexte achte, bringt mich das auf andere Gedanken.

Etwas Zweites, was mir hilft, sind Zahlenbilder. (Die Anregung dazu stammt vom renommierten Schweizer Gedächtnistrainer Gregor Staub.) Zu jeder Zahl zwischen 1 und 100 habe ich ein «Gedächtnisfoto» aus unserer Wohnung gemacht: Ich gebrauche dadurch einerseits meinen Denkapparat und bin gleichzeitig auch abgelenkt. Mit den Zahlen gehe ich in Gedanken durch die Wohnung und schlafe dann vielleicht irgendwann darüber ein. Vorher bin ich beispielsweise bei der Zahl 9 für «Heizung» gewesen, bei 21 für «Bett» und bei der 40 für «Pascha» (die Katze, die wir früher hatten).

Manchmal komme ich durch eine Sendung auf etwas Drittes: Gebet. –Wenn ich etwa am Radio von einem «Falschfahrer» höre, kann ich gerade für dieses Anliegen beten oder natürlich auch für die Familie oder für Gemeindeanliegen.

Eine ganz andere Art der Schlafhilfe ist übrigens unsere buntgescheckte Katze Mia: Manchmal springt sie nachts auf mein Bett, macht es sich gemütlich und schnurrt vor sich hin. Das ist äußerst beruhigend für mich – ideal zum Einschlafen.

Das komplizierte und kuriose Prozedere, das jeden Abend und jede Nacht all meinen Einschlaf-Strategien vorausgeht, werde ich an späterer Stelle noch beschreiben.

Nun aber schlafe ich erst einmal ein – manchmal schon nach einigen Minuten, manchmal aber auch erst nach Stunden…

Wie sieht ein normaler Tag bei mir aus?

Um von einem normalen Tag zu erzählen, wähle ich den 8. Mai 2023: Heute ist einer der beiden Tage in der Woche, an denen ich geduscht werde. Genau. Nicht ich dusche, sondern ich werde geduscht. Das ist einer der größten Unterschiede zwischen meinem heutigen Leben und meinem Leben von früher: Ich bin heute kaum noch selbstständige Akteurin, sondern meistens Empfängerin von Hilfe.

Um 8.30 Uhr kommt die liebe Spitex-Mitarbeiterin, die mir an diesem Tag zugeordnet wurde. «Spitex» ist hier bei uns in der Schweiz eine Abkürzung für «spitalexterne Hilfe und Pflege».

An den anderen Tagen der Woche, an denen ich nicht dusche, hilft mir mein Mann Daniel mit der Morgentoilette – beziehungsweise, wenn er durch seine Arbeit als Pfarrer verhindert ist, kommt eine unserer derzeit vier IV-Assistentinnen (von IV für «Invalidenversicherung»).

Am heutigen Morgen aber ist die Spitex-Mitarbeiterin da, und zuallererst kümmert sie sich um mein Wasser (beschönigend für Urin). Ich habe einen sogenannten suprabubischen Katheter; das ist ein Röhrchen, das durch die Bauchdecke direkt in meine Blase geht und so den Urin abfließen lässt. An dem Röhrchen hängt außen ein Beutel, der den Urin auffängt. Dieser Katheter ist zwar unangenehm, aber gleichzeitig für mich eine große Entlastung und Befreiung, weil ich damit so viel trinken kann, wie ich will und dringend sollte.

Danach macht die Mitarbeiterin mir eine Blasenspülung. Das soll meine Blase reinigen und vor Infektionen schützen. Wir reden währenddessen über dies und das, tauschen uns aus, was neu ist bei uns; zum Beispiel erzähle ich ihr etwas über das Entstehen des vorliegenden Buches.

Dann hievt sie mich mit Unterstützung von Kinästhetik (einer rückenschonenden Technik) auf den Duschrollstuhl und fährt mich ins Bad zur Dusche. Weniger erfahrenen Pfleger(inne)n bin ich an dieser Stelle auch schon mal «entglitten» und zu Boden gefallen. Das hat mich sehr schockiert, und ich befürchte immer wieder, dass es erneut passiert.

Zusammen mit meinem Mann Daniel justiert mich die Spitex-Mitarbeiterin dann auf dem Duschrollstuhl, damit ich möglichst gerade sitze, und ich werde angegurtet. – All dies entspricht nur noch ansatzweise dem Genuss einer Dusche, wie ich es von früher kenne, aber wir benutzen Produkte, deren Duft ich liebe (z. B. von Opium oder Gautier), und das macht es für mich dann trotzdem noch zu einem angenehmen Erlebnis.

In der Dusche ist es sehr heiß, damit ich nicht zu sehr friere. Ich empfinde Temperaturen aufgrund der MS anders. Deshalb wurde ein Heizungsstrahler angebracht, der die engagierte Mitarbeiterin jeweils gewaltig ins Schwitzen bringt. – Übrigens mussten während der Zeit der Pandemie die Spitex-Mitarbeitenden natürlich, auch wenn sie mich duschten, stets eine Maske tragen. Ich selbst durfte sie beim Waschen ausziehen, aber ansonsten blieb sie aufgesetzt.

Dann werde ich also geduscht, und meine Haare werden gewaschen. Nach dem Abtrocknen werde ich zurück ins Zimmer gefahren und wieder aufs Bett gelegt.

Für mich herrschen nach der warmen Dusche in meinem Zimmer sibirische Temperaturen! Die Mitarbeiterin versorgt und verbindet also routiniert und rasch den Eingang des Katheters neu – das große Pflaster ist ja beim Duschen nass geworden. Ich schließe die Augen, damit ich das Loch in meinem Bauch nicht sehen muss. Der Anblick ekelt mich!

Dann zieht sie mir zunächst die sehr engen Kompressionsstrümpfe an und danach frische Kleider. Mehrere in der Mikrowelle gut gewärmte Kirschkernkissen, und manchmal auch eine Decke über den Schultern, sorgen am Ende dafür, dass ich langsam nicht mehr friere.

Nun ist es etwa 9.30 Uhr. Als Nächstes werde ich in den Elektrorollstuhl gehievt. Mit dem Treppenlift fahre ich ins Erdgeschoss zum Frühstück. (Manchmal bleibt der Treppenlift auch stecken. Einmal musste ich vier Tage lang im ersten Stock bleiben, bis der Lift repariert war!)

In unserem Esszimmer hilft mir Daniel dabei, die erste Mahlzeit des Tages einzunehmen. Heute esse ich ein Stück Brot mit Butter; Konfitüre oder Käse drauf wäre mir schon viel zu viel. Dazu trinke ich ein Glas Orangensaft und danach ein Glas Milch sowie täglich eine kalorienreiche Trinknahrung, da ich so untergewichtig bin.

Ich esse allgemein sehr ungern, da ich wegen einer permanenten leichten Übelkeit eigentlich kein Hungergefühl habe.

Während des Essens muss ich die sieben Medikamente einnehmen, mit denen ich in den Tag starte: Zum Cocktail gehören zum Beispiel ein Mittel zur Stärkung der Blase, ein Antidepressivum und Stärkungsmittel wie Magnesium und Vitamin B12.