Vögelwild - Sophie Andresky - E-Book

Vögelwild E-Book

Sophie Andresky

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Beschreibung

Nach Mareis vögelfreiem Jahr ohne Tabus und Regeln kommt nun ihre Nichte Louise zum Zug: Ein Jahr Auszeit und nichts als Sex. Ihren prüden Ex hat sie abserviert und einen Traumjob in den Südtiroler Bergen ergattert. Als Mädchen für alles soll sie einem freizügigen Galeristenpaar zur Hand gehen. Sie steht Modell, trainiert die Hausherrin und assistiert bei der einen oder anderen Orgie. Und hat nebenbei Sex en masse. Das wird der Sommer ihres Lebens, und er wird heiß und feucht.

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Das Buch

Nach Mareis vögelfreiem Jahr ohne Tabus und Regeln kommt nun ihre Nichte Louise zum Zug: Ein Jahr Auszeit und nichts als Sex. Ihren prüden Ex hat sie abserviert und einen Traumjob in den Südtiroler Bergen ergattert. Als Mädchen für alles soll sie einem freizügigen Galeristenpaar zur Hand gehen. Sie steht Modell, trainiert die Hausherrin und assistiert bei der einen oder anderen Orgie. Und hat nebenbei Sex en masse. Das wird der Sommer ihres Lebens, und er wird heiß und feucht.

Die Autorin

Sophie Andresky, geboren 1973, lebt als freie Autorin in Berlin. Mit dem Bestseller Vögelfrei und den folgenden Romanen wurde sie zur erfolgreichsten Erotik-Autorin Deutschlands. Ihre Artikel erschienen in zahlreichen Magazinen, derzeit schreibt sie für den Playboy.

SOPHIE ANDRESKY

VÖGELWILD

Erotischer Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Originalausgabe 04/2022

Copyright © 2022 Sophie Andresky

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Carolin Müller

Covergestaltung und -motiv:Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung eines Motiv von AdobeStock / sakkmesterke

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-25455-1V002

»Wenn du tust, was du immer getan hast, wirst du kriegen, was du immer gekriegt hast.«

Barkeeper in Falling Water, Staffel 2

»Ein Buch soll kein Spiegel sein – es soll eine Tür sein!«

Fran Lebowitz

»Die Lösung vieler Probleme liegt sehr oft auf dem Grund eines halb aufgetauten Käsekuchens.«

Gemma in Vögelfrei, S. 139

In Liebe für Marcus.

Wie immer. Für immer.

Diesmal noch mehr als sonst.

KAPITEL 1

Ich bin frei!

Einen Moment lang fühle ich mich schwindlig, als mir bewusst wird, wie frei. Mein Studium habe ich unterbrochen. Und Sven verlassen. Endlich, meine Güte, das hat gedauert, bis ich mich dazu durchringen konnte. Aber jetzt fühlt es sich an, als hätte ich ein viel zu enges Korsett gesprengt, und all meine Wünsche und Gedanken, die ich vor Sven und ehrlich gesagt auch vor mir selbst versteckt habe, quellen hervor und prickeln auf meiner Haut und in meinem Kopf, als würde darin eine große Badebombe blubbern.

Dazu diese Heidi-Landschaft, die Alpen!

Ich halte mich am Griff des heruntergeschobenen Zugfensters fest und fühle, wie das Schaukeln der altmodischen Bahn, ihr Rattern und Schlingern durch meinen Körper geht. Wieder eine Kurve. Ich schließe die Augen und strecke den Kopf aus dem Fenster, der Fahrtwind greift nach meinen langen schwarzen Haaren. Er pustet alles weg, die bleierne Schwere, die tausend Kleinigkeiten, die mich jahrelang runtergezogen, meine Gedanken verklebt und verhindert haben, dass ich vom Fleck komme. Sven und seine Vorstellungen davon, wie ich zu sein und was ich zu fühlen habe, wie ich mich verhalten soll. Sven mit seinen Schubladen, in die er mich gestopft hat wie ein Knäuel Klamotten, bis es darin so eng wurde, dass ich kaum noch atmen konnte. Und ich fand das sogar gut, weil ich die Enge für Geborgenheit und die Fremdbestimmung für Sorge gehalten habe.

Jetzt und hier ist mein früheres Leben so weit weg wie Berlin, in dem ich aufgewachsen bin und das ich noch nie wirklich verlassen habe, abgesehen von ein paar belanglosen Pauschalurlauben. Ich stehe in diesem ruckelnden Regionalzug, dessen Räder bei jeder Weiche so hart anstoßen, dass es sich in meinem Bauch anfühlt, als wollte der Waggon abheben. Soll er ruhig. Mir ist das recht. Mir ist überhaupt jedes Abenteuer recht, volles Risiko. Ich will alles und noch mehr. Diese grenzenlose Freiheit schickt einen Hitzeschauer durch meinen ganzen Körper bis in die Fingerspitzen, bis zu den Haarwurzeln, bis zwischen meine Beine. Einen Moment lang wünsche ich mir, ich könnte auf der Stelle in diesem kleinen Abteil mit dem abgenutzten, dunkelroten Plüschsamt einfach meine Klamotten ausziehen, sodass der Wind mich überall berührt. Soll der Schaffner doch reinkommen. Sollen mich doch die wenigen anderen Fahrgäste anstarren, wie ich nackt am Fenster stehe, schaumgeboren vor Möglichkeiten. Ist mir egal. Lang genug habe ich mich versteckt. Ich lache laut gegen das Rattern des Zuges an, entfesselt. Von mir aus verhaftet mich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Dabei weiß ich gar nicht, wie die Gesetze hier sind, vielleicht darf man nackt Zug fahren in Österreich, oder haben wir schon Südtirol erreicht, keine Ahnung.

Ich bin nicht nur frei, ich bin wie ausgehungert. Es kommt mir so vor, als hätte ich eine strenge, freudlose Diät hinter mir, und jetzt brechen alle Dämme, und ich darf endlich wieder genießen. Wieso sollte ich auf irgendetwas verzichten oder mich festlegen? Ich will alles probieren, alles erleben, das brave Mädchen war gestern, ab heute bin ich wild – vögelwild. Ab sofort wird die ganze Welt meine Spielwiese sein. Ich kann nicht widerstehen, alles in mir will feiern, noch mehr spüren, überschäumen.

Also knöpfe ich meine Bluse auf, ziehe sie aus dem Jeansbund und hebe meine Brüste aus dem BH. »Wou-wohu hohe Berge«, singt der alte Schlager in meinem Kopf. Ich streichle über meine harten Nippel, die im kühlen Zugwind hart geworden sind wie Brombeeren. »Wou-wohu Gipfelstürmer in Trachtenjacke und mit Wanderstab.« Ja, ein Stab wäre nett jetzt. Leider liegt mein Lieblingsvibrator, den ich dabeihabe, ganz unten im großen Koffer. Und beim Stab des Schaffners muss ich eher an Lebt denn der alte Holzmichel noch denken. Aber selbst ist die Frau: Ich bleibe gegen das Fenster gelehnt stehen, falls draußen auf dem Gang jemand vorbeikommt, man braucht ja nicht direkt mitzukriegen, wie sehr mich diese Reise, dieser Aufbruch in ein neues Leben, erregt.

Ich öffne den Knopf und den Reißverschluss meiner Jeans und streiche mir über den Bauch, betaste kurz meinen Nabel, eine ganz empfindliche Stelle, an die ich Liebhaber nur ranlassen würde, wenn ich sie sehr gut kenne. Dann gleitet meine Hand tiefer, die Fingerspitzen schlüpfen unter den Saum meines Slips, dehnen ihn etwas, noch tiefer, bis sie das kurz geschnittene Schamhaar berühren. Ich stelle meine Füße weiter auseinander, presse meine Hand gegen meinen Venushügel, und wie von selbst flutscht der Mittelfinger zwischen die Mösenlippen. Ich bin schon so feucht, dass es mich überrascht. Das ständige Brummen und Beben des Waggons, als würde man auf einem rodeogroßen Vibrator sitzen, haben mich offensichtlich heißgemacht. Ich muss kaum etwas tun. Mein Finger rutscht über meinen Kitzler, und mit jeder Bewegung, die von den Schienen und den Rädern direkt in meinen Unterleib fährt, breiten sich die Feuchtigkeit und die Hitze zwischen meinen Beinen mehr aus. Ich beuge meinen Oberkörper vor, sodass sich die Brustspitzen gegen das kalte Glas pressen, mein ganzer Körper wacht auf nach einem langen, bleiernen Schlaf. Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Energie man zwischen den Brüsten oder auf den Oberschenkeln fühlen kann. Selbst meine Kniekehlen glühen. Ich verstärke den Druck auf meine Möse, presse mich gegen meine Hand, reibe mich daran und versuche, den Mittelfinger, so weit es geht, in meinen Möseneingang vordringen zu lassen. Eine harte Kurve lässt mich schlingern, ich halte mich erschrocken mit der freien Hand am Fenstergriff fest, mein Körper wird hin und her geworfen, ich verliere die Kontrolle, muss mich ausbalancieren, damit ich nicht auf das rote Samtpolster falle – und genau bei dieser plötzlichen Seitwärtsbewegung geschieht es: Ich komme, die Lust explodiert tief innen, verbindet den Nabel, meinen Finger, der halb in meiner Möse steckt, und den Kitzler, der mir unter diesem Feuerwerk viel größer vorkommt. Selbst mein Poloch zieht sich zuckend zusammen, ich kann gerade noch gierig einatmen, da wird mein Hals auch schon eng. Es dauert nur wenige Sekunden, aber es fühlt sich an, als wäre mein ganzer Körper in seine Atome zerlegt und wieder zusammengesetzt worden.

Ich atme einige Male tief durch, um mich zu berappeln, ziehe die Hand zwischen meinen Beinen hervor, rieche an den Fingern den salzigen Geruch meiner Möse und ordne meine Kleidung.

Ich fühle mich schläfrig, am liebsten würde ich mich auf den Plüschsamt sinken lassen und eine Weile die Augen schließen, aber das wäre Verschwendung, denn draußen wird die Landschaft immer spektakulärer, wir fahren durch die reinste Heimatfilm-Kulisse.

Die Alpen. Ich kenne unzählige Insta-Fotos, auf denen durchtrainierte Frauen in Felsspalten Yoga machen, in grünen Bergbächen baden oder vor Almhütten Smoothies trinken. Ab heute Abend bin ich eine von ihnen, aber ich werde mir sicher nicht irgendeinen malerischen Wasserfall suchen, um dann bescheuertes Zeug wie #dankbar zu posten. Ich fand immer schon, dass Insta etwas ist für Menschen mit zu viel Zeit und zu wenig eigenem Leben. Ich will nicht fotografieren, sondern fühlen, und ich bin schon ganz hibbelig, wenn ich nur daran denke, was mich erwartet.

Das topmoderne Chalet von Nikola und Sergej liegt auf gut zweitausend Meter Höhe. Ich habe Bilder davon gesehen und mich gewundert, weil ich bis dahin immer dachte, in Südtirol gebe es nur traditionelle Häuser mit Holzbalkonen und Geranien. Der Bau ist ein Architektentraum aus Glas und Sichtbeton, schräg in den Berg gesetzt, mit riesigen Fensterfronten und Solarmodulen. Die zum Chalet gehörende Kunstgalerie liegt unterirdisch. Wenn man vor dem Chalet steht, erkennt man nur einen grasbewachsenen Hügel mit eingelassenen Oberlichten, das ist das Dach. Geld spielt für die beiden offenbar keine Rolle. Nicht nur beim Haus, sondern – lucky me – auch bei der Bezahlung ihres Personals.

Ich hatte so lange darüber nachgedacht wegzugehen, weg aus Berlin, weg von der Uni, weg von Sven, weg von der kleingeistigen Spießerin, zu der ich geworden war, und plötzlich passierte alles ganz schnell. Wild entschlossen rief ich Marei an, meine berühmt-berüchtigte Tante. Sven hat ihren Namen in Anführungszeichen gesprochen, und zwar immer, wenn ich irgendetwas in seinen Augen Ungehöriges gesagt, gedacht oder getan habe. »Das hätte jetzt auch von deiner Marei kommen können«, meinte er dann, oder: »Da hör ich deine Hippietante Marei.«

Dabei ist Marei alles andere als ein Hippie – obwohl ich auch das cool fände, weil eigentlich alles cool ist, was sie macht. Sie zieht ihr Ding durch, und es kümmert sie nicht, was andere davon halten. Sie liebt Männer. Und Frauen. Oder beides. Nacheinander und gleichzeitig. Ich wusste, dass sie mich unterstützen würde. Und das tat sie auch. Ich habe am Telefon nur gesagt: »Ich bin so weit. Ich muss hier weg.«

Sie hat nicht gefragt, ob ich das alles nicht lieber noch mal überdenken will. Sie würde nie meine größeren Gefühle oder Entschlüsse hinterfragen. Wenn ich etwas sage, nimmt sie das ernst, anders als Sven, der mir gern in endlosen Monologen erklärte, wieso ich nur meinte, etwas zu wollen oder zu finden, ich aber doch eigentlich ganz anderer Meinung sei, nämlich seiner. Damit ist er lange durchgekommen. »Er kennt mich besser als ich mich selbst«, habe ich zu meinen Freundinnen gesagt. Das ist mir jetzt peinlich, denn wahr ist wohl: Er kannte mich überhaupt nicht und hatte auch kein Interesse daran herauszufinden, wer ich wirklich bin. Er wollte, dass wir unser Boy-Girl-Ding, das wir in der Mittelstufe angefangen hatten, nahtlos weiterführten bis zu einer Reihenhaus-Jägerzaun-Idylle. Oder wie ich es eher bezeichnen würde: bis zu einem Zwangsjacken-Gehirnwäsche-Kollaps. Aber ich bin keine Höhlenfrau, die mit Beerensammeln zufrieden ist, sondern eine Jägerin. Ich will die Nacht und den Herzschlag und den Rausch. Tief in mir wusste ich das immer, aber meine Freundinnen waren sich alle so einig, die Sache mit Sven müsse etwas Großes sein.

Marei dagegen verstand sofort, was ich wollte. Am gleichen Abend rief sie zurück und erzählte mir von Nikola und Sergej. Dass sie die beiden auf einer Reise in der Toskana kennengelernt habe und sie dort mit ihrer alten Freundin Gemma unterwegs gewesen seien.

Gemma. Da klingelten bei mir alle Alarmglocken, denn über Gemma erzählt Marei fast nie etwas – wenn aber doch, ist es immer geheimnisvoll und aufregend. Fotos habe ich von Gemma noch nie gesehen, und Marei behauptet, es gebe auch kein einziges. Sobald Marei Gemma-das-Phantom erwähnt, könnte man meinen, sie stehe kurz vor der Heiligsprechung, eine Mischung aus Wonder Woman und Kameliendame. Nikola und Sergej jedenfalls, die sie in Gemmas Begleitung getroffen hatte, seien schwerreiche Galeristen in Südtirol, und sie suchten eine Art Personal Trainer oder Mädchen für alles.

»Sie haben schon eine Hausangestellte, einen Privatsekretär und einen Koch, du musst also keine Böden wischen, Akten ablegen oder Gemüse schnippeln.« Ich hatte neben meinem Studium der Kunstgeschichte Zumba- und Yogastunden in einem Fitnessstudio gegeben und fragte mich, ob das als Qualifikation reichen würde, aber Marei ließ meine Zweifel nicht gelten, also schickte ich eine Bewerbung – und war innerhalb einer Woche engagiert.

Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Wohnen würde ich oben am Berg in diesem Traumhaus mit Pool und Koch, zu einem fürstlichen Honorar. Da Nikola und Sergej das Ganze auf ein Jahr begrenzt hatten, weil sie wohl wieder nach Sankt Petersburg zurückgehen wollten, passte es mir perfekt. Ein Jahr Auszeit, genau das, was ich brauchte, um mich zu sortieren und meine neu gewonnene Freiheit zu genießen. »Ich will mal ein Jahr keinen Stress!«, sagte ich zu Marei. »Keine Liebesverwicklungen, keine emotionalen Achterbahnfahrten. Sex allerdings gern. Und gern viel. Aber nur Sex!«

Marei lachte.

»Loulou, es ist nie nur Sex. Und wie ich dich kenne, hältst du das Rumspielen nicht lang durch. Da brauche ich keine Kristallkugel. Du verliebst dich wieder. Unsterblich und bis in die Knochen. Du kannst nicht nur Sex. So bist du eben. Und das ist ja auch schön so.«

Ich war ein bisschen beleidigt, als sie das sagte. Als wäre ich eine weltfremde Romantikerin, die direkt ihr Herz verschenkt, nur weil sie ein paar Orgasmen hatte. Marei wird schon sehen, wie viel Hetäre in mir steckt. Liebesstress kommt für mich nicht infrage, nicht in diesem Jahr, nicht mit mir. Ich will ein wildes Jahr. Auf der Alm, da gibts koa Sünd, also schau’n mer mal, wie es unterm Dirndl und in der Lederhose jodelt.

Eine Durchsage unterbricht meine Gedanken. Gries am Brenner. Von Berlin aus bin ich bis Innsbruck geflogen und habe dann den Bummelzug genommen. Bis Brixen dauert es noch etwa eine Stunde. Dort wird mich ein Fahrer abholen. Und die letzten zwanzig Minuten nehme ich eine Berggondel, verrückt: Zum Chalet hoch fährt eine Art Seilbahn, die noch aus der Zeit stammt, als dort oben ein Hof war und man damit Milchkannen rauf- und runtertransportierte. Man steht in großen Metallkörben, in denen nach wie vor auch Vorräte und Einkäufe befördert werden.

Außerdem gibt es natürlich eine normale Zufahrt, die habe ich auf den Fotos gesehen, aber sie wird wohl eher selten benutzt. Nichts soll oben die Ruhe der Berge und die Natur stören, keine Autos, keine Abgase. Sogar die Besucher der Ausstellungen müssen in den Korbgondeln hinaufschweben. Ich stelle es mir vor wie ein Zauberschloss.

Widerwillig schiebe ich das Abteilfenster hoch. Ich würde so gern die Landschaft draußen bewundern, aber ich sollte mich vorbereiten, immerhin haben meine Chefs mich noch nicht kennengelernt, und ich will nicht dumm dastehen und gar keine Ahnung von ihrem Geschäft haben. Ich habe mir einiges zusammengegoogelt und ausgedruckt. Die Galerie ist erst seit etwa einem Jahr dort oben und offenbar in der Kunstszene schon schwer angesagt. Besonders eine Ausstellungsreihe, die erst vor wenigen Monaten angefangen hat, wird immer wieder erwähnt. Ein unbekannter Künstler liefert in kurzen Abständen jeweils drei neue Gemälde. Niemand weiß, wer er ist oder wo er herkommt. Angeblich handelt es sich um einen Mann, so lautete ein bloßes Gerücht, dem aber nie widersprochen wurde. Die italienischen Zeitungen nennen ihn »La Nebbia«, den Nebel, weil er ganz urplötzlich aufgetaucht ist und seine Bilder so mysteriös sind. Eine Serie fand ich online und bekam direkt Gänsehaut: Diese Bilder sind ganz anders als das, was ich bisher in Ausstellungen gesehen habe. Sie sind klassisch, ja geradezu altmeisterlich gemalt, Öl auf Leinwand, und könnten auch aus dem sechzehnten Jahrhundert stammen.

Man sieht in der Dreierserie, die online zu finden ist, immer einen Ausschnitt aus einem dunklen Zimmer. Einmal mit einer brennenden Kerze, einmal mit einem umgeworfenen Hocker und einmal mit einer Türklinke, auf die ein Schlaglicht fällt. Hyperrealistisch. Keine Erklärung, keine Geschichte, keine Titel. Und trotzdem berühren mich diese Bilder auf eine merkwürdige Art. Die Gegenstände scheinen zu schweben wie in einem Traum. Die Atmosphäre ist bedrohlich, ohne dass ich sagen könnte, warum.

Ich bin gespannt, was dahintersteckt, und den Kunstsammlern geht es offenbar genauso, denn innerhalb kürzester Zeit hat dieser Maler, den noch nie jemand interviewt oder getroffen hat, Höchstpreise erzielt. Er stellt nur bei Nikola und Sergej aus, und sie schweigen darüber, woher sie ihn kennen.

Jedes Bild wird teurer verkauft als das vorige, was mich wundert, denn modern sind diese Arbeiten nicht. Die Kritik überschlägt sich vor Begeisterung, obwohl es gegenständliche Bilder sonst schwer haben und schnell kitschig oder epigonal genannt werden. Ich lese von Neo-Manierismus, beseelten Stillleben, Seelenräumen oder psychotischen Nachtgeburten, die sich im Profanen des Gegenständlichen manifestieren. Während meines Studiums bin ich mit dieser Sorte Kunst noch nicht in Berührung gekommen, aber Bilder und Kritiken faszinieren mich gleichermaßen. Ich hoffe, Nikola will nicht nur mit mir durch die Berge joggen und an ihrer Dirndl-Figur arbeiten, sondern setzt mich auch in der Galerie ein.

Es sind allerdings nicht alle begeistert. So überschwänglich die großen Feuilletons schreiben, so sehr ätzen die alpenländischen Kunstblogs.

»Wieder nur drei Bilder, und das für sechs Euro Eintritt«, schreibt Muse Moni. »Die Ausstellung deprimiert mich«, findet Coras World of Art. »Alles so schwarz, kaum Farbe, eher Tupfer. Der Künstler hat offenbar durchgehend schlechte Laune beim Malen.« Und KunstundKreatives empört sich: »Die Bilder versteh ich nicht, ärgerlich, bei Kunst will ich nicht denken, sondern sie einfach schön finden.«

Eine scheppernde Zugdurchsage unterbricht meine Lektüre und kündigt Brixen an, ich bin endlich da. Aufgeregt sammle ich meine Sachen zusammen, den Rollkoffer, zwei Taschen und einen Schlapphut. In meinem Kopf fühlt es sich an, als hätte jemand eine Dose Alpenkräuterlimo geschüttelt und geöffnet, alles sprudelt und prickelt.

Ich balanciere mit beiden Taschen jeweils über einer Schulter die Metallstufen hinunter und wuchte schnaufend den großen Koffer aus dem Zug. Um mich herum lachen und schwatzen Familien, die Gesichter voller Vorfreude auf den Urlaub oder einen Ausflug. Frauen in tief dekolletierten Dirndln gehen mit schnellen Schritten zum Ausgang, die Augen fest auf ihre Handys gerichtet, und gönnen der atemberaubenden Berglandschaft keinen Blick. Wahrscheinlich sieht man die gar nicht mehr, wenn man hier aufwächst. Plötzlich springt ein Verschluss meines Koffers auf, er ist einfach zu voll. Ein Windstoß weht mir den Strohhut vom Kopf, ich erwische ihn gerade noch und stelle eine der Taschen auf die Krempe. Dann kümmere ich mich um die Kofferschnalle, es wäre ja zu blöd, wenn sich der ganze Inhalt über den Bahnsteig verteilen würde: Bikinis, Unterwäsche, meine Vibratoren, die ich für einsame Nächte eingepackt habe. Am besten noch vor die Füße meines Kollegen, der mich abholen soll.

Aber das Schloss meines Koffers rastet anstandslos wieder ein, und außerdem bin ich nicht verklemmt. Ich lass mich nicht so leicht einschüchtern, ich nehme alles, wie es kommt, und stehe meine Frau. Ich atme tief durch, schultere meine Taschen, setze mir den Hut wieder auf und ziehe den Koffer hinter mir her zum Ausgang. Der Sommer meines Lebens beginnt, hoffentlich wird er heiß und feucht.

Wo sind die feschen Jungs und Mädels? Ich bin bereit!

KAPITEL 2

Auf dem kleinen schmalen Bahnhofsplatz steht der von Nikola angekündigte weiße SUV mit getönten Scheiben. Zwei Männer erwarten mich, sie sehen sehr verschieden aus, sind aber beide auf ihre Art attraktiv. Das fängt schon mal gut an.

Der eine, mittelgroß und geschmeidig wie ein Panther, telefoniert über ein Headset in einer Sprache, die ich nicht verstehe und auch nicht einordnen kann. Er winkt mir zu und nickt kurz, dann wendet er sich ab und spricht weiter in diesen fremden, gutturalen Lauten. Ich nutze den Moment, in dem er nicht hersieht, um ihn mir genauer anzuschauen. Und das lohnt sich. Zuerst fallen mir seine ungewöhnlich hohen Wangenknochen auf und dann, als er sich umdreht und sich unsere Blicke treffen, seine grauen Augen. Kein verwaschenes Blau, sondern das tiefe, helle Grau einer dichten Schicht Eis. Sein Mund ist fast feminin geschwungen, die dunkelblonden Haare sind im Nacken ausrasiert und fallen ihm in einem dichten Pony ins Gesicht bis zur Nasenspitze. Er ist eher schmal und nicht übermäßig groß, aber er bewegt sich wie jemand, der Kampfsport oder Freeclimbing betreibt. Oder doch eher wie einer, der auf Pilates schwört und nur Avocado mit Haferflocken isst? Ich tippe darauf, dass dieser Mann mit dem schicken schwarzen Hemd und dem katzenhaften Gang Titus ist, der von Nikola erwähnte Privatsekretär. Und er hat es drauf, einen sehr wichtigen Eindruck zu machen. Manche Männer haben ja schon diese Superhelden-Ausstrahlung, wenn sie bloß die Kaffeemaschine anschalten. Lassen Sie mich durch, ich bin Espresso-Man und werde die Menschheit vor Koffeinmangel beschützen. Ob Titus so einer ist, weiß ich noch nicht. Jedenfalls lässt er sich bei seinem Telefonat von meiner Ankunft nicht stören, und obwohl ich seine Worte nicht verstehe, klingen sie so, als würde er ununterbrochen Anweisungen geben. Er hebt nicht einmal die Stimme, er bleibt immer gleich höflich und gelassen, doch ich könnte wetten, dass man ihm besser gehorcht, und zwar zack, zack.

Ich muss unbedingt früh herauskriegen, wie das innerhalb des Chalets funktioniert, wer wem etwas zu sagen hat. Ich kenne zwar alle Staffeln von Haus am Eaton Place, und auch in Downton Abbey bin ich sehr zu Hause, aber meine Eltern hatten nicht mal eine Putzkraft, Dienstmädchen habe ich höchstens im Porno gesehen, und die verstanden unter Bohnern und Staubwedeln etwas anderes als Großputz. Ein Haushalt mit richtigem Personalstab ist mir in etwa so fremd wie ein exotischer Stamm.

Der andere Mann verkörpert, obwohl auch er ein gutes Gesicht hat, das Gegenteil vom ersten, lehnt groß und massig an dem weißen SUV und ist eher der Bärchentyp. Sein Poloshirt spannt überm Bauch. Sein Bart ist strubbelig, als hätte er sich einige Tage nicht darum gekümmert, und er wirkt irgendwie verkatert – er könnte einen Schurken in einem Italowestern spielen. Ich finde diesen moppeligen, griesgrämigen Typ Mann ja irgendwie niedlich. Es muss nicht immer alles durchtrainiert und top sein. Nicht jeder ist ein Siamkater, auch mit Grumpy Cat wollte ich immer kuscheln.

Ich und mein Koffer haben gleich den SUV erreicht. So, Louisa, wer soll nun dein Herzblatt sein?, lispelt es in meinem Kopf wie in einer dieser altmodischen Datingshows, die sich Marei so gern reinzieht, wenn sie stoned ist und halb aufgetauten Käsekuchen direkt aus der Packung löffelt.

Ich sehe von einem zum anderen, als wäre ich Produzentin für Frauenpornos. In meinem Kopf entsteht sofort eine Casting-Szene: Ich sitze auf einem plüschigen Thron, lasse mir Champagner reichen und wedele mit der Hand, damit der Kandidat die Hüllen fallen lässt.

»Du willst also mein Star werden in ›Vier Schwänze für ein Halleluja‹? Hast du denn Referenzen, Kohabitationskompetenz, ärztliche Spritzatteste, irgendwelche Special Skills?«

Ich öffne die Beine und lege sie über die Thronarmstützen, dabei gleitet mir der schwarze Kimono von den Schultern.

»Na dann, improvisier doch mal, Brummbär. Du kannst meine Muschi anspielen. Das finstere Gesicht darf bleiben, viele unserer Zuschauerinnen stehen auf Bad Boys. Mach mich feucht.«

In der Wirklichkeit räuspert sich der große Bärtige unwillig und holt mich damit unsanft aus meiner Fantasie zurück auf den Brixener Bahnhofsplatz. Er verschränkt die Arme vor der Brust und macht keine Anstalten, mir mit meinem Gepäck zu helfen. Sehr zuvorkommend. Der Koch, der sauer ist, dass er die Neue abholen muss? Bestimmt stehe ich in der Hackordnung unter dem Kulinarienkünstler, keine Frage, aber als Bedienstete, die wir doch wohl beide sind, sollte man zusammenhalten.

»Hallo«, sage ich und versuche, verbindlich zu lächeln. »Ich bin Louisa, die neue Kollegin. Kannst du mir mal mit dem Koffer helfen?« Er zieht die Augenbraue hoch, zögert und geht dann provozierend langsam ums Auto herum, ohne sich auch nur einen Deut zu beeilen.

Ich warte ab. Der fette weiße SUV weckt bei mir negative Assoziationen.

Es war im Hotpants-Sommer etwa ein Jahr vor dem Abi. Die Mädels meiner Klasse nannten ihn so, weil wir alle winzige Jeans trugen, die kaum über die Pobacken gingen. Bei vielen waren die eingenähten Taschen länger als der ausgefranste Saum. Es gab einen Wettbewerb, wer die knappsten trug, und meine Freundin Wanda und ich waren ganz vorn dabei. Wir lachten, wenn uns die alten Männer auf der Straße hinterherstarrten und nicht wussten, ob sie geifern oder schimpfen sollten.

Wanda hatte damals einen Nebenjob, sie arbeitete vor dem Freibad im Kiosk, den ein Freund ihrer Eltern betrieb, und verkaufte dort Süßigkeiten und Zigaretten. Daneben parkte der Kioskbesitzer oft seinen weißen Mercedes-Geländewagen, der fast so groß und dick war wie der, vor dem ich jetzt stehe.

Auch er gaffte uns an, wie wir nur in den superkurzen Höschen und Bikinioberteilen vor dem Laden herumtänzelten und die ganze Zeit kicherten. Wir fanden es lustig, ihn zu ärgern, und taten so, als bemerkten wir ihn nicht. Dann schmiegten wir uns aneinander und fingen an, uns zu küssen und dann zu knutschen. Wir hatten viel Spaß in diesem Hotpants-Jahr rund ums Freibad, aber dann gerieten die Dinge außer Kontrolle.

Denn gegen Ende des Sommers fand ich mich plötzlich zu Hause im Wohnzimmer wieder, vor einem Tribunal aus zwei Polizistinnen und meinen Eltern, die verstört, enttäuscht und fassungslos dem Bericht der Ordnungshüterinnen lauschten, während meine Mutter mir eine ihrer kratzigen Wolljacken umlegte.

»Brandstiftung, Diebstahl eines Fahrzeugs, Fahren ohne Führerschein, das sind alles keine Lappalien«, zählte die eine Polizistin auf, und meine Eltern wurden mit jedem Wort grauer im Gesicht, bis sie dasaßen wie Brunnenfiguren, unbeweglich und versteinert.

Nur meine Tante Marei, die an dem Abend zu Besuch war, versuchte, mich zu verteidigen oder wenigstens aus mir herauszukriegen, warum ich das getan hatte. Denn es stimmte, ich hatte hinter dem Kiosk am Freibad den Abfallkorb angezündet, und den Mercedes des Kioskbesitzers hatte ich auch geklaut und war damit losgefahren, obwohl ich noch keinen Führerschein besaß. Schuldig im Sinne der Anklage. Ich nickte zu allem, was sie mir vorwarfen, und schwieg weiter hartnäckig.

Die Polizistinnen kündigten an, dass die Sache noch ein Nachspiel haben würde, schließlich sei ich ja schon fast volljährig. Dann verließen sie endlich die Wohnung.

Sobald sie weg waren, fing meine Mutter an, hektisch aufzuräumen, und mein Vater quetschte sich in seine Laufklamotten, um sich abzureagieren. Und nachdem meine Mutter noch gemurmelt hatte, ich solle mir endlich was Vernünftiges anziehen, sprachen beide kein Wort mehr mit mir.

Marei und ich blieben allein im Wohnzimmer.

»Loulou, du machst so was doch nicht einfach aus Jux und Tollerei«, sagte sie, denn sie war eigentlich immer auf meiner Seite. Und daraufhin rückte ich endlich mit der ganzen Geschichte heraus.

Nämlich dass der Kioskbesitzer meine Freundin Wanda an dem Tag gedrängt hatte, mit ihm auf seinen angeblichen Geburtstag anzustoßen, und sie dann so abgefüllt hatte, dass sie kaum noch stehen konnte. Als ich zufälligerweise dazukam, hatte er sich bereits die Hose aufgeknöpft und sie hinter dem Verkaufstresen eingezwängt.

Ich musste diesen schweren, großen Kerl irgendwie von ihr wegbekommen, und da fiel mir nichts Besseres ein, als den Abfalleimer draußen anzuzünden und »Es brennt!« zu rufen. Was auch klappte. Er rannte aus seinem Kiosk und suchte laut fluchend nach irgendetwas, um das Feuer zu löschen, während auch schon die Kartons neben dem Abfallkorb in Flammen aufgingen. Wanda lallte nur. Ich griff reflexartig nach den Autoschlüsseln, die offen herumlagen. Dann schleppte ich meine Freundin, so schnell es ging und solange der Ladenbesitzer noch mit Fluchen und Löschen beschäftigt war, zu seinem großen Mercedes-Geländewagen. Ich bereitete mich zwar erst auf die Führerscheinprüfung vor, aber wir mussten da weg, also setzte ich mich hinters Steuer und fuhr los. Dummerweise wurde während der Fahrt eine Polizeistreife auf uns aufmerksam, und dann ging alles sehr schnell. Noch während wir kontrolliert wurden, hatte der Ladenbesitzer bereits Anzeige erstattet. Wanda flehte mich in einem ihrer kurzen wacheren Momente an, bloß nichts zu sagen, weil ihr das alles unheimlich peinlich war und sie sich fragte, ob sie nicht doch mit ihm geflirtet oder sich zu knapp angezogen hatte.

»Und das war dein einziger Fehler heute.« Marei unterbrach mich und drehte mein Gesicht zu ihr.

»Dass du auch nur erwogen hast, sie könnte recht haben mit diesem Unsinn. Er hat sie abgefüllt, er hat sie angegriffen, er ist der Täter. Schlimm genug, wenn sie sich für sein Verhalten schämt, aber warum hast du ihr nicht sofort widersprochen? Hast du von mir denn gar nichts gelernt?«

Ich fing an zu weinen, sie zog mich in ihre Arme und versprach mir, dass alles gut werden würde. Und das wurde es, gewissermaßen. Denn Wandas Eltern riefen noch am selben Abend an, um sich bei mir zu bedanken und um Bescheid zu geben, dass der Kioskbesitzer auf ihren Druck hin die Anzeige zurückgenommen hatte. Sie hatten aus ihrer Tochter herausgekriegt, was hinter der Sache steckte, und erklärten es meinen Eltern.

Doch die entschuldigten sich nicht bei mir, sondern brummten mir einen Monat Hausarrest auf, und den Führerschein durfte ich zur Strafe auch nicht mehr machen. Später als Studentin hatte ich dann kein Geld dafür, mein Job als Zumba- und Yogalehrerin brachte nicht genug ein.

Außerdem baten meine Eltern Sven, mit dem ich zu der Zeit schon so halb zusammen war, auf mich »ein bisschen aufzupassen« und mich vor mir selbst »zu schützen«.

Und das tat er.

Bei jedem noch so kleinen Regelverstoß erinnerte er mich an diesen Abend, egal, ob ich im Kino auf bessere Plätze wechseln oder bei Rot über die Ampel gehen wollte. Und ich fügte mich.

Meine Eltern schwärmten von Svens positivem Einfluss. Marei nicht. »Junge Mädchen brauchen keinen Einfluss, sondern Freiraum«, sagte sie oft. Aber sie war ja meistens auf Reisen. So wie ich jetzt. Auf Reisen kann man sich neu erfinden, und Sven gehört endgültig der Vergangenheit an.

Das alles schießt mir durch den Kopf, während ich mir immer wieder sage, dass man die Situation nicht vergleichen kann. Es ist nur ein ähnlicher Wagen, es ist kein Omen! Ich werde hier den Sommer meines Lebens haben, und Spaß ohne Ende.

Also winke ich dem mürrisch aussehenden Fahrer und zeige auf die Heckklappe.

»Ich bin die Zumba-Mieze, keine Spiritistin, ich kann so was nicht mit bloßer Gedankenkraft öffnen.«

Täusche ich mich, oder verkneift sich der seriöse Sekretär gerade ein Grinsen?

Da gibt der Bärtige seinen Widerstand auf, drückt einen Knopf am Armaturenbrett, und der Kofferraumdeckel schwingt auf. Er kommt mit genervter Miene zum Heck und wuchtet meinen großen Koffer ins Auto.

»Das ist nett von dir, vielen Dank.«

Ich strahle ihn an und lege meine Taschen und den Hut obendrauf. Er erwidert mein Lächeln nicht, offenbar ist er einer von der reservierten Sorte.

Egal, den werde ich schon knacken. Vielleicht machen er und ich mal eine Extrarunde Zumba oder Hot Yoga? Ich habe ein paar rattenscharfe Sport-Outfits dabei. Es wäre doch gelacht, wenn ich diesen grantigen Yeti mit meinen Moves nicht in Schwung brächte.

Ich steige mit dem Sekretär hinten ein. Er tippt und wischt weiter ungerührt auf seinem Handy herum und beachtet mich nicht weiter. Marei kommentiert so ein unhöfliches Verhalten gern mit: »Der wurde wohl von Wölfen aufgezogen.« Zumindest zu seinen Augen würde es passen.

Der Motor startet, und wir fahren los durch die atemberaubende Landschaft. Jetzt fängt mein Abenteuer an, denke ich, als sich der schwere Wagen in die erste Serpentine legt.

Die Berge sind so hoch, dass oben auf den Gipfeln Schnee zu sehen ist. Die Bäche haben eine ganz eigentümliche grüne Farbe, wie gefärbtes Kristallglas. Wir fahren an einer verfallenen Burg vorbei. Der Bär hinterm Steuer ist ein Raser, mir wird fast schlecht, aber er hat die Strecke sicher schon tausendmal bewältigt und kennt jede Kurve. Auf den Hängen grasen Kühe, deren Glockengeläut bis ins Auto dringt.

Das ist aber auch das Einzige, was ich höre, denn niemand spricht mit mir, und der schöne Sekretär hat inzwischen ein Laptop auf seinen Knien aufgeklappt und tippt in beeindruckender Geschwindigkeit darauf herum. Er scheint wirklich wichtig zu sein, vielleicht beschützt er gerade die Welt vor dem Untergang – mindestens seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen – oder gleich das ganze Universum.

Ich taxiere ihn möglichst unauffällig von der Seite. Sein Pony verdeckt die Hälfte seines Gesichts. Aber auch so fällt der scharfe Schnitt seines Profils auf. Zugegebenermaßen ist er atemberaubend attraktiv, hoffentlich lässt er beim Sex gern das Licht an, alles andere wäre Verschwendung. Seine Haut: feinporig wie bei einer Frau. Ich wette, sie ist ganz weich, wenn man drüberstreicht.

Ob er und der Bärtige es schon mal miteinander gemacht haben? Ich kann einfach nicht anders, ich muss mir diese Frage zwanghaft stellen, zu jeder unpassenden Gelegenheit. Selbst wenn ich bloß einen vollen Fahrstuhl betrete, frage ich mich sofort, wer mit wem Sex gehabt haben könnte. Und zwei Männer miteinander – das ist schon irgendwie scharf. Ich habe eine Freundin, die in solchen Situationen immer überlegt, wer bei einer Zombie-Apokalypse wen fressen würde, da finde ich meine Sexbesessenheit doch wesentlich appetitlicher.

Der Sekretär bemerkt, dass ich ihn verstohlen mustere, und erwidert kurz meinen Blick. Seine gletschergrauen Augen haben einen dunklen Rand um die Iris, das verleiht ihm etwas Katzenhaftes. Also falls ich jemals so einen unsäglichen Gestaltwandler-Film drehe (Brillenboy – Steuerberater bei Tag, Waschbär in der Nacht oder Kroko-UPS-Paketbote bekämpft als Aligatormann aus der Kanalisation heraus das Verbrechen), dann müsste mein Hauptdarsteller solche Augen haben. Man kann darin versinken, mir wird ganz flau im Magen, und das kommt nicht von den Serpentinen, die der Zottelbär nimmt wie Kurven beim Super-G.

Der Sekretär wendet sich wieder seinem Bildschirm zu, offenbar bin ich nicht würdig, von ihm angesprochen zu werden. Okay, der ist schwer zu knacken. Vielleicht will er erobert werden? Oder er jagt lieber selbst? Das werde ich noch herausfinden.

Außerdem gibt es etwas, das er nicht von mir weiß: Ich sehe nämlich besser aus, je weniger ich anhabe. Voll bekleidet und mit hochgesteckten Haaren bin ich fast unscheinbar, da muss man schon genauer hinsehen, aber je mehr ich ausziehe, umso attraktiver werde ich. Das hat Sven auch nach Jahren immer wieder verblüfft. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nackt einfach wohlfühle. Und spätestens wenn Männer sehen, dass meine Schneewittchenhaare bis zur Hüfte gehen, sind die meisten doch sehr angetan. »Du bist ganz schön von dir selbst eingenommen«, hat Sven mich gern getadelt, als wäre er mein Erzieher und nicht mein Freund.

Marei sah das anders. Als mich die Pubertät beutelte und ich ununterbrochen an mir herummäkelte, schob sie mich in ihr Schlafzimmer, das bei ihr »Boudoir« hieß, zog sich aus und stellte sich nackt vor ihren großen Spiegel. Erst machte mich das schwer verlegen, obwohl wir schon oft zusammen in der Sauna gewesen waren.

»Guck her, Loulou«, sagte sie, »so sehen echte Frauen aus. Die Magazine zeigen nur zu Tode retuschierte Fantasiekörper. Ich meine richtige Frauen. Wir haben Dellen und kleine Fettpolster.«

Sie strich über ihre Hüften und schnippte sich in die Falte zwischen Arm und Brustansatz.

»Aber das macht nichts. Du solltest dich viel weniger darum kümmern, wie du aussiehst, sondern mehr um das, was du fühlst. Wie viel Lust dir dein Körper schenken kann, ist viel interessanter, als in welche Klamottengröße er passt.«

Und sie riet mir noch, möglichst viel zu masturbieren.

»Denn irgendwann liegst du mit einem Jungen im Bett, der keine Ahnung hat und der Reinstecken für Sex hält und glaubt, sein Beitrag sei damit erledigt. Und dann ist es sehr sinnvoll, wenn du ihm erklären kannst, wozu dieses mösige Wunderwerk der Schöpfung alles taugt.«

Sie stellte sich in die Pose, die Turnerinnen am Ende ihrer Kür einnehmen.

»Kannst du deinen Körper genießen, ist er auch schön, meine Loulou.«

Diese Lektion blieb bei mir hängen. Meine Brüste sind etwas zu groß für meine restliche Figur, Po habe ich wenig, dafür helle Streifen auf der Hüfte, und meine Nase hat eine fast griechische Kurve, aber das macht alles nichts. Denn dieser Körper schenkt mir verlässlich wunderbare, erdbebengleiche Orgasmen. Dafür danke ich ihm sehr. Und ich sehe an den Blicken der Männer, dass auch sie das offenbar unterbewusst spüren und zu schätzen wissen.

Ich schreibe schnell eine SMS an meine so vorbildliche sexpositive Tante, während der SUV an einer kleinen Herde Lamas – tatsächlich, Lamas – vorbeifährt.

– Huhu, Marei, bin fast da. Ein Jahr Spaß, no dramatic Herzschmerz, ick freu mir!

Marei antwortet umgehend.

– Lass es krachen, Loulou, aber wenn sich dein heißes Herz verliebt, dann sperr es nicht ein.

Na, die wortkargen Jungs hier bringen es jedenfalls nicht zum Brennen. Vielleicht wollen sie mich nur zappeln lassen, aber so schnell bin ich nicht einzuschüchtern. Auch als wir die letzte Kurve hinter uns haben, der SUV auf einem Parkplatz abgestellt ist und wir ausgestiegen sind, sagen die beiden nichts.

Wir warten neben einem Holzhaus, von dem sich ein Drahtseil den Berg hinaufspannt. In Abständen von etwa dreißig Metern laufen Metallkörbe an Stangen unter dem Seil, sie erinnern mich an ein Fahrgeschäft auf der Kirmes oder an oben offene Hundezwinger. Als Fracht des nächsten Transportkorbes gleiten große leere Milchkannen und leere Obst- oder Gemüsekisten scheppernd und klappernd an uns vorbei und verschwinden in der Hütte, wo sie von zwei Männern aus dem Korb gehievt werden. Diese Gondel ist für uns.

Einer der Mitarbeiter, der ein zerfurchtes, sonnengegerbtes Gesicht hat, packt mich am Arm und schiebt mich auf ein kleines Podest. Dann, als der Korb genau vor mir steht, schubst er mich durch die Gittertür hinein, der Korb schwankt unter meinem Gewicht, ich stolpere etwas und halte mich am Rand fest. Hinter mir betritt der schöne Titus mit einem großen, geübten Schritt den Korb und schließt die Tür, die nur ein dünner rostiger Haken sichert. Der Bär folgt uns im nächsten mit griesgrämiger Miene und meinem Gepäck.

Dicht gedrängt stehen Titus und ich im schwankenden Seilbahnkorb, und wenn er unter einem Mast hindurchfährt, rattert die Halterung über eine Reihe von Rollen. Ich hoffe, diese Konstruktion ist zuverlässig und trägt uns beide, aber Titus hält sich nicht mal fest und geht nur leicht in die Knie, wenn unser Gefährt besonders wackelt. Ansonsten starrt er ungerührt auf sein Handy. Ich rieche sein Parfüm und kann es nicht einordnen, obwohl ich mich mit Herrendüften gut auskenne, weil es das Einzige war, das ich Sven schenken konnte. Ich habe mich also mehrfach im Jahr durch die Parfümerien geschnüffelt. So eins war nie dabei.

Titus gibt die Beschäftigung mit seinem Handy endlich auf, kümmert sich aber trotzdem nicht um mich. Er steht, von mir abgewandt, mit verschränkten Armen da und betrachtet die Landschaft, und ja, die ist sensationell. Dichter Tannenwald, zirpende Grillen, Felsbrocken, gewundene, von Tannennadeln übersäte Wege zwischen Riesenfarnen, kleine Bäche, sogar ein weghuschendes Murmeltier sehe ich. Die schöne Umgebung hier kennt er doch wohl längst bestens, mich dagegen nicht, ich bin neu hier und hätte schon ganz gern ein bisschen Interesse für meine Wenigkeit gespürt.

Oben angekommen, fahren wir in die Bergstation ein, die anders als die gepflegte Hütte im Tal eher wie eine Bushaltestelle aussieht, sie ist nur ein überdachter Verschlag aus verwittertem Holz mit einem Betonfundament und alten Stahlstreben. Mitarbeiter gibt es hier keine. Titus öffnet die Tür des Korbs, die hart gegen das Metallgestänge schlägt, dann springt er auf eine mit Kies bedeckte Plattform. Ich denke schon, er hat mich vergessen, weil er keine Anstalten macht, mir aus der Seilbahn herauszuhelfen. Ich erwarte ja nicht, dass er mich auf seinen Armen ins Chalet trägt, aber eine Hand reichen könnte er mir schon, ich hüpfe schließlich nicht jeden Tag aus einem noch fahrenden Milchkannenexpress. Noch während ich überlege, ob ich einfach springen soll, ist er zu einem Schalter an der Barackenwand gegangen und hat auf einen großen Knopf gedrückt. Ruckelnd kommt der Korb zum Stehen. Er stellt sich neben die offene Tür und hält mir die Hand hin, aber jetzt habe ich auch meinen Stolz und steige aus, ohne mir von ihm helfen zu lassen. Sofort startet er die Seilbahn neu. Ich wüsste zwar gern, wie sich seine Hand anfühlt, aber er soll mich nicht für eine Mimose halten.

Auch der Bär kann jetzt seinen Korb verlassen und wuchtet mein Gepäck heraus. Da stehen nun der Koffer und die Taschen, und niemand kümmert sich darum. Jungs, das mit dem Kavaliersein müssen wir noch üben. Der Bär marschiert davon, und Titus wirft den Lift wieder an, der sich quietschend in Bewegung setzt. Da auch ihm mein Gepäck egal ist, lasse ich es erst mal stehen und steige hinter ihm her den Kiesweg zum Chalet hoch.

Und das Haus ist der Hammer! Noch nie habe ich so etwas gesehen. Der schräg in die Erde gebaute, halb im Berg versenkte Kubus aus Sichtbeton und Glas ist noch eindrucksvoller als auf den Fotos. Apokalyptisch und wunderschön zugleich. Und merkwürdigerweise, obwohl er die romantische Bergwelt ringsherum bricht, wirkt er nicht störend. Das Gebäude ist einfach so extrem anders, dass es der Landschaft keine Konkurrenz macht. Ein gestrandetes Raumschiff mitten in einer Disney-Idylle. Ich habe Ehrfurcht vor dieser Architektur. Bisher war ich kein Fan von Brutalismus, aber jetzt bin ich begeistert.

Vor dem Haus steht ein Paar, das genauso modelmäßig aussieht wie auf den Fotos, die sie mir geschickt haben. Nikola hat lange weißblonde Haare und ist in ein Etuikleid und einen bunt bestickten Kaschmirschal gehüllt. Sie steht auf berggipfelhohen Absätzen, und natürlich haben die Schuhe eine rote Sohle, Louboutins, das erkenne ich sofort. Sergej könnte einer Vogue-Modestrecke entsprungen sein. Auch er trägt Bart, der aber im Gegensatz zum strubbeligen Bären genau ausrasiert ist. Nikola hält einen kleinen Eimer in der Hand und bearbeitet mit einer Bürste eine Skulptur, die direkt neben dem Eingang steht. Ein dunkel patinierter weiblicher Akt, dessen Brüste und Möse golden schimmern – wahrscheinlich weil jeder Besucher dort hingreift. Die Figur biegt sich zurück, bildet eine Yogabrücke, ein Chakrasana, wobei ihre Füße so weit auseinanderstehen, dass man unausweichlich in ihre geöffnete Spalte sieht, wenn man aufs Haus zugeht. Nikola taucht die Bürste in den kleinen Eimer und schrubbt zwischen den Beinen der Skulptur herum.

Als sie mich bemerken, strahlen sie mich an und kommen mir entgegen. Endlich freut sich mal jemand angemessen, dass ich da bin.

»Moos in der Möse«, ist das Erste, was die Frau sagt.

Darauf fällt mir nichts Intelligentes ein, also sage ich einfach: »Guten Tag, ich bin die Louisa.«

Der Bär geht an ihnen vorbei, ohne zu grüßen. Vielleicht ist er ein Gott am Herd und darf sich deshalb dieses Benehmen seinen Arbeitgebern gegenüber erlauben. Vielleicht muss er auch einfach dringend zurück in die Küche. Der Hausherr ruft ihm nach: »Jari! Sei mal ein bisschen gastfreundlicher und begrüße unser neues Familienmitglied!«

Dann zuckt er die Achseln.

»Du musst meinen Bruder entschuldigen. Künstler! Hat nur seine Arbeit im Kopf. Wahrscheinlich denkt er gerade darüber nach, ob er die Keilrahmen noch heute oder erst morgen spannt. Wir hatten beim Frühstück eine Diskussion wegen seiner Leinwände. Immer diese Leinwände. Na egal, erst mal herzlich willkommen!«

Er küsst mich schwungvoll auf beide Wangen, mein Gesicht glüht. Es hat mich also nicht der Koch abgeholt, sondern der Bruder des Hausherrn, na toll, da hab ich ja direkt einen super Eindruck hinterlassen.

Auch Nikola stellt sich mir vor, lächelt von einem Ohr zum anderen und hält meine Hand lange in ihrer.

»Wir sind so froh, dass du da bist«, zwitschert sie und küsst mich. »Ehrlich, wir brauchen jemanden, der uns fit macht und der uns in der Galerie hilft. Jari ist unser Hausgenie, aber nicht alltagstauglich, wie du ja schon festgestellt hast.«

»Ich hab ihn einfach geduzt, weil ich ihn für den Koch gehalten habe«, stammle ich verlegen.

Sergej und Nikola lachen.

Sie hakt sich bei mir ein und führt mich zum Eingang.

»Na hoffentlich. Wir duzen uns hier alle. Ab morgen siehst du mich im Sportdress schwitzen, oder wir machen Nackt-Yoga zusammen, ich finde, Kleidung stört oft einfach, und da wären steife Umgangsformen fehl am Platz.«

Sergej holt meinen schweren Koffer von der Liftstation und trägt ihn so mühelos, als wäre nur Styropor darin. Unter seinem Seidenhemd zeichnen sich deutlich seine Muskeln ab, dieser Mann braucht mich definitiv nicht für seine Fitness.

Titus hat sich einfach in Luft aufgelöst, ich habe gar nicht bemerkt, wie er an uns vorbeigegangen ist.

»Du gehörst jetzt zur Familie«, sagt Sergej und lächelt mit seinen weißen Zähnen so strahlend, dass ich gar nicht wegsehen kann. Rund um seine dunklen Augen bildet sich dabei ein Netz aus Lachfältchen.

Nikola lacht und stellt das Putzeimerchen neben der Haustür ab.

»Und ich habe endlich weibliche Verstärkung. Wir brauchen hier dringend mehr Muschi-Mojo.«

Ich zucke innerlich leicht zusammen. Von so einer eleganten, kultivierten Frau hätte ich nicht erwartet, dass sie das Wort »Muschi« verwendet. Ich muss wieder an Marei denken, die mir als Kind, wenn ich etwas Klemmiges sagte wie »da unten«, über die Wange strich. »Such dir ein schönes Wort aus, Loulou. Ein Körperteil, das dir so viel Freude und Energie bringen wird, hat einen Namen verdient. Der darf auch biestig sein, denn manchmal ist eine Möse ein kleines hungriges Monster.«

Nikola bemerkt meine Verlegenheit.

»Wir sind hier alle ganz locker. Wenn man mit Kunst arbeitet, muss man einen offenen Geist haben. Ich zeig dir jetzt erst mal unser Chalet. Dann richtest du dich ein, Constanze kann dir beim Auspacken helfen, sie ist das Hausmädchen und eher ein Schatz als eine Mitarbeiterin. Ohne sie wären wir verloren. Wenn du irgendwas brauchst, sag’s ihr. Sobald du richtig angekommen bist, treffen wir uns am Pool zu einem leichten Dinner, dann lernst du die anderen kennen. Unseren Privatsekretär Titus hast du ja schon kennengelernt, und Tonio triffst du später, der ist dann wirklich der Koch.«

Beide lachen, und mein Kopf glüht wieder.

So puristisch und kubisch, wie das Chalet von außen aussieht, ist es innen nicht. Vor allem ist es viel größer, weil weite Teile in den Berg hineingebaut wurden. Verwinkelte Gänge, Treppen, Patios, die Licht hereinlassen, Fenster auf Höhe der Fußleisten oder der Decke und unendlich viele Türen verwirren mich. Ich werde Tage brauchen, um mich hier zurechtzufinden.

Mein Zimmer liegt im oberen Stockwerk. Vom Fenster aus blicke ich direkt auf ein Bergmassiv. Ein gewundener Pfad schlängelt sich ins Tal, und die Hänge sind so grün wie in einem Prospekt. Arbeiten, wo andere Urlaub machen, ein Traum. Ich habe ein Bad aus weißem Marmor. Auch der Boden des Schlafzimmers ist damit gefliest, und es fühlt sich angenehm kühl unter meinen heißen Fußsohlen an. An den Wänden hängen schwarz-weiße Akte, und der ganze Raum ist mit allem möglichen technischen Schnickschnack ausgerüstet, vom dimmbaren Sternenhimmel über einen Massagesessel bis hin zum Dusch-WC. Ich habe noch nie so luxuriös gewohnt und kann mein Glück gar nicht fassen.

Kaum stehe ich vor meinem geöffneten Koffer, klopft es auch schon, und eine junge Frau in schwarzer Hose und schwarzer Bluse kommt herein. Im Ausschnitt trägt sie ein gold-weiß gestreiftes Halstuch, die Farben der Galerie. Ihre roten Haare sind zu einem Dutt hochgesteckt, und um die Nase herum ist die weiße Haut gesprenkelt von Sommersprossen. Constanze. Sie lacht mich herzlich an und reicht mir die Hand. Sie kann zupacken, das merkt man sofort.

»Haut einen ganz schön um, unser Architekturwunder, was?«

Ich seufze.

»Ich hab Sergejs Bruder beim Abholen für den Koch gehalten, der glaubt jetzt, ich bin völlig bescheuert.«

Constanze rollt mit den Augen und wischt durch die Luft.

»Ach was, Jari spielt gerne die beleidigte Leberwurst, und er denkt, Nörgeln gehört zum künstlerischen Charisma. Eigentlich ist er ganz nett, und seine Bilder sind gar nicht schlecht, ich steh ihm manchmal Modell.« Sie lacht wieder und wirft sich in eine übertrieben verführerische Pose. »Dann werden sie natürlich besonders gut. Seine Grundstimmung ist eine Mischung aus Weltschmerz und Rivalität mit Sergej.«

Ich nicke und bin sofort froh, dass ich hier jemanden habe, der die Beziehungen im Haus durchschaut und mir auf die Sprünge hilft.

»Verkanntes Genie im Schatten des wirtschaftlich erfolgreichen Bruders?«

»Du hast es erfasst, begriffsstutzig bist du also schon mal nicht.«

Ich werfe einen Pullover nach ihr, den ich gerade in eine Schublade falten wollte.

»Wenn er sich zu sehr reinsteigert, stell ich mir immer vor, er wäre dieses grüne Vieh aus der Mülltonne.«

»Oscar?«

»Ja, das Krümelmonster in Grün.«

Ich versuche es und fantasiere mir seine mürrische Miene mit grünem Plüsch und einer Mülltonne zusammen.

»Funktioniert.«

Wir wuchten den Koffer gemeinsam auf einen Schrank. Da sind hauptsächlich Sport-Outfits drin, immerhin soll ich ja Nikola auf Trab bringen. Ansonsten habe ich wohl zu wenig schicke Sachen dabei, ich besitze so was gar nicht. Constanze bemerkt es gleich.

»Wenn wir in der Galerie eingesetzt werden oder Gäste im Haus sind, tragen wir schwarze Hosen und Blusen und immer das Galerie-Halstuch.« Sie streicht über ihren Körper wie ein Pin-up.

»Das hier ist unsere Uniform. Ich zeig dir gleich deine. Oder morgen. Heute kannst du es entspannter angehen lassen.«

»Wie ist der mit dem Laptop … Titus? Der hält sich für was Besseres, oder?«

»Immer busy, aber ein Guter, im Ernst. Nikola und Sergej beschäftigen ihn rund um die Uhr, manchmal glaube ich, er schläft überhaupt nicht. Lass ihn einfach in Ruhe sein Ding machen und komm zu mir, wenn was klemmt, ich wohne eine Treppe tiefer am Ende des Gangs.«

»Ich werde mich hier ständig verlaufen, das Haus ist wie eine Escher-Zeichnung.«

Sie zieht anerkennend die Augenbraue hoch.

»Kunsthistorische Vorbildung, nice. Aber du kriegst das hin, ich führ dich gleich rum.«

Wir gehen durch verwinkelte Gänge, eine Treppe runter, wieder einige Stufen hoch, an einer Glasfront vorbei, durch einen mit Pflanzen bewucherten Innenhof mit Deckenfester, durch das man einen Berggipfel sieht, und dann einen Korridor mit künstlichem Oberlicht entlang. Immer mal wieder bleibt sie kurz stehen und deutet auf eine Tür. »Hier schläft Titus«, sagt sie dann oder: »Hier gehts zu Nikolas Privaträumen.« Oder: »Da ist Jaris Atelier.«

Ich bin jetzt schon völlig verwirrt. Besonders irritiert mich, dass mittendrin einige alte Steinmauern wie von einer mittelalterlichen Burgruine erkennbar sind.

»Nikola und Sergej wollten eigentlich einen Entwurf von Zaha Hadid, die hat ja schon in Südtirol gearbeitet, das Museum Corones auf dem Kronplatzgipfel ist von ihr, aber die war gerade gestorben, dann haben sie einen jungen Architekten hier aus der Gegend genommen. Das Haus steht neben den Grundmauern einer alten Festung. In Südtirol gibt es viele solcher Objekte.«

Ich nicke, als wüsste ich das, und nehme mir vor, die Architekturlandschaft Südtirols heute Abend im Bett zu googeln.

Wir bleiben vor einer kleinen schmalen Wendeltreppe stehen. Ich will vorweggehen – da hält Constanze meinen Arm fest.

»Niemals diese Treppe hoch!«

Ich sehe sie irritiert an, aber Constanze erklärt es nicht.

»Einfach hier nicht hochgehen. Für Personal streng verboten.«

Ich stelle mir vor, dass Nikola und Sergej dort oben eine S/M-Folterkammer oder einen Klistierraum eingerichtet haben, wer weiß schon, was dieses »Wir sind hier alle ganz locker« wirklich bedeutet. Aber, wie Butler Hudson im Haus am Eaton Place