Volk Gottes - Georg Bergner - E-Book

Volk Gottes E-Book

Georg Bergner

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Beschreibung

Mit der ekklesiologischen Metapher "Volk Gottes" läutet das II. Vatikanische Konzil für viele eine fundamentale Wende im Selbstverständnis der Katholischen Kirche ein. Die Studie erläutert die komplexe Entstehungsgeschichte der "Volk Gottes"-Notion. Ausgewählte Debatten ("Demokratisierung der Kirche", "Volk Gottes" in der Befreiungstheologie und in der Verhältnisbestimmung von Israel und Kirche) illustrieren die kontroverse Rezeptionsgeschichte. Nach der aktuellen Bedeutung von "Volk Gottes" fragt die Studie im Kontext der "communio"-Ekklesiologie und angesichts der derzeitigen kirchlichen Umbrüche. Zuletzt stellt sie das Kirchenverständnis von Papst Franziskus dar. Der Text versteht sich als Beitrag zu einer "integralen" Ekklesiologie im Sinne des II. Vatikanums.

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Georg Bergner

VOLK GOTTES

Herausgegeben vonKarl-Heinz MenkeJulia KnopMagnus Lerch

BonnerDogmatischeStudienBand 58

Georg Bergner

VOLK GOTTES

Entstehung, Rezeption und Aktualität einer ekklesiologischen Leitmetapher

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2018 Echter Verlag GmbH

www.echter-verlag.de

Umschlaggestaltung: Peter Hellmund

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-04414-5

978-3-429-04946-1 (PDF)

978-3-429-06366-5 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation angenommen. Zum Gelingen der Promotion haben viele Personen beigetragen, denen ich an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte.

An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater Prof. em. Dr. Karl-Heinz Menke. Er ist Ideengeber für das Thema der Dissertation und hat durch seine zuvorkommende, ermutigende und freundschaftliche Begleitung entscheidenden Anteil an ihrem Gelingen.

Prof. Dr. Dr. Claude Ozankom hat das Zweitgutachten erstellt. Ihm danke ich ebenso wie dem gesamten Professorenkollegium und dem Prüfungsamt für die freundliche und kompetente Betreuung des Promotionsverfahrens. Dankbar bin ich dem Herausgebergremium der „Bonner Dogmatischen Studien“ für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe und für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Nicht vergessen möchte ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der konsultierten Bibliotheken in Bonn, Köln, Hamburg und Frankfurt, sowie des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, die mich bei der Recherche unterstützt haben.

Das Erzbistum Hamburg hat mir durch eine zweijährige Freistellung den nötigen Freiraum für das Studium ermöglicht. Herrn Erzbischof Dr. Stefan Heße, Erzbischof em. Dr. Werner Thissen und Generalvikar Ansgar Thim bin ich dafür zu großem Dank verpflichtet. Viele der ekklesiologischen Überlegungen der vergangenen Jahre im Prozess der Neustrukturierung der Pastoral, den ich als Leiter der Pastoralen Dienststelle in Hamburg mitgestalten konnte, haben für mich durch die erneute theologische Reflexion im Rahmen der Promotion an Tiefe gewonnen.

In der Zeit der Freistellung konnte ich als Subsidiar in der Pfarreiengemeinschaft Bad Honnef tätig sein. Stellvertretend für viele danke ich Herrn Pfarrer Bruno Wachten für die Gastfreundschaft, Gemeinschaft und das motivierende pastorale Umfeld.

Danken möchte ich meinen Eltern, Geschwistern und Freunden, sowie vielen Gesprächspartnern, die mich durch ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse während der Promotionszeit immer wieder gestärkt und ermutigt haben. Für ihre konkrete Hilfe bei der Durchsicht und sprachlichen Korrektur des fertigen Manuskripts bedanke ich mich bei Samira Allegue, Dr. Burkhard Conrad, Christian Johannes Flake OP, Dr. Thomas Hanke, Dag Heinrichowski SJ, Ursula Honolka und Philip Peters.

Die vorliegende Arbeit beginnt mit dem kirchlichen Aufbruch der Jugendbewegungen in den 1920er Jahren. Die Freude und Begeisterung junger Menschen hat mich in den letzten Jahren immer wieder motiviert und erfüllt mich mit Optimismus für die Zukunft der Kirche. Für diese Erfahrung danke ich den Pfadfindern im DPSG-Stamm „Charles de Foucauld“, Hamburg-Hamm, deren Kurat ich sein durfte. In diesen Dank einschließen möchte ich die Schülerinnen und Schüler der Erzbischöflichen Realschule Sankt Joseph in Bad Honnef und des Franziskus-Gymnasiums Nonnenwerth, sowie die Teilnehmer der „Karawane“, dem Libanon-Projekt der Malteser. Sie haben mir einer Kirche, die sich immer wieder erneuert, ein Gesicht gegeben. Das „Volk Gottes“ hat Zukunft.

Bad Honnef, am Fest Allerheiligen 2017

Georg Bergner

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Inhalt und Aufbau der Arbeit

Grenzen der Arbeit und formale Hinweise

I. Hauptteil: „Volk Gottes“ als zentraler Begriff im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils

1. Der „Volk Gottes“-Begriff im ekklesiologischen Aufbruch des 20. Jahrhunderts

1.1 Mannes Koster: „Ekklesiologie im Werden“

1.1.1 Kosters Schrift im Kontext ihrer Zeit

1.1.2 „Ekklesiologie im Werden“

1.1.3 Zur Diskussion um Kosters ekklesiologischen Ansatz

1.1.4 Auf dem Weg zu einer Neubestimmung der Ekklesiologie

1.2 Joseph Ratzinger: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“

1.2.1 Die Lehre von der Kirche bei Augustinus

1.2.2 Auf dem Weg zum Zweiten Vatikanischen Konzil

1.3 Ein Blick nach Frankreich und Belgien: Die Laienfrage

1.3.1 Theologie des Laientums

1.3.2 Der Zweite Weltkongress für das Laienapostolat 1957

1.4 Liturgie und Kirchenbild

2. „Volk Gottes“ in der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils

2.1 Der „Volk Gottes“-Begriff in der Entstehung von „Lumen gentium“

2.1.1 Die erste Etappe: Von der Ankündigung des Konzils zum Vorbereitungsschema „De ecclesia“

2.1.2 Die zweite Etappe: Kritik und Neufassung des Schemas

2.1.3 Die dritte Etappe: Das neue Kapitel II und die redaktionelle Bearbeitung

2.2 Beobachtungen zum „Volk Gottes“-Begriff in „Lumen gentium“

2.2.1 Die Bedeutung von „Volk Gottes“ in „Lumen gentium“

2.2.2 Das Verhältnis von „Sakrament“ und „Volk Gottes“ in der Kirchenkonstitution

2.2.3 Anmerkungen zur Struktur von „Lumen gentium“

3. Beispiele für die ekklesiologische Diskussion im Übergang zur Nachkonzilszeit: „Volk Gottes“ bei Yves Congar, Karl Rahner und Hans Küng

3.1 Yves Congar

3.2 Karl Rahner

3.3 Hans Küng

Zwischenfazit

Ergebnisse des I. Hauptteils

Zum Abschluss: Koster blickt auf das Konzil

II. Hauptteil: Die Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs am Beispiel zentraler ekklesiologischer Debatten der Nachkonzilszeit

4. „Volk Gottes“-Ekklesiologie in der Debatte um die Demokratisierung der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland

4.1 Die Frage der Demokratisierung in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren und ihre Diskussion in der katholischen Kirche

4.1.1 Gesellschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland

4.1.2 Die kirchliche Öffentlichkeit

4.1.3 „Demokratisierung in der Kirche“ – Grundzüge der theologischen Debatte

4.1.4 „Organisation“ und „Mentalität“ als Schwerpunkte der Demokratisierungsdebatte

4.2 Die Kirche als „Volk Gottes“ in der Demokratisierungsdebatte

4.2.1 „Volk Gottes“ als Begriff einer demokratisierten Kirche

4.2.2 Das Memorandum „Demokratisierung der Kirche“ des Bensberger Kreises

4.2.2.1 Entstehung und Vorstudien

4.2.2.2 Text des Memorandums

4.2.3 Kritik an der Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs in der Demokratisierungsdebatte

4.3 Auswertung

4.3.1 Grundzüge einer „Volk Gottes“-Ekklesiologie

4.3.2 Anfragen

4.3.2.1 „Volk Gottes“ und die anderen kirchlichen Leitbilder

4.3.2.2 „Volk Gottes“ als geschichtliche Größe

4.3.2.3 Die Gliederung des Gottesvolkes

5. „Volk Gottes“ als Leitbegriff in den Ansätzen der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung

5.1 Entwicklung und Leitlinien der lateinamerikanischen Befreiungstheologie

5.1.1 Kirche und Welt im lateinamerikanischen Kontext – Medellín 1968

5.1.2 Grundzüge der lateinamerikanischen Befreiungstheologie

5.1.3 Ekklesiologische Impulse der Befreiungstheologie

5.2 Ekklesiologische Ansätze der Befreiungstheologie: Leonardo Boff, Ignacio Ellacuría, Juan Carlos Scannone

5.2.1 Leonardo Boff

5.2.2 Ignacio Ellacuría

5.2.3 Juan Carlos Scannone

5.3 Reaktionen und Kritik

6. Die Verhältnisbestimmung von Judentum und Kirche und ihre Folgen für den „Volk Gottes“-Begriff

6.1 Das Verhältnis von Judentum und Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil und in der anschließenden Lehrentwicklung

6.2 Herausforderungen an den „Volk Gottes“-Begriff durch die bibeltheologische Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Judentum

6.2.1 Impulse aus der Paulusexegese

6.2.2 Der eine Bund und die neu gestellte Frage nach dem „Volk Gottes“ als Herausforderung für die Ekklesiologie

6.3 Die Kirche als „Volk Gottes“ im Verhältnis zu Israel

6.3.1 Heilsgeschichtlich konnotierte Modelle

6.3.2 Eschatologisch konnotiertes Modell

6.3.3 Heilsgeschichtlich und eschatologisch konnotierte Modelle

6.3.4 „Volk Gottes“ in Analogie zu Israel

Zwischenfazit

III. Hauptteil: Aktuelle Perspektiven des „Volk Gottes“-Begriffs

7. Kirche als „communio“ – ein ekklesiologischer Paradigmenwechsel und seine Folgen für den Begriff „Volk Gottes“

7.1 Die Außerordentliche Bischofssynode 1985

7.1.1 Im Vorfeld der Synode

7.1.2 Verlauf der Synode

7.1.2.1 Die Voten

7.1.2.2 Ekklesiologische Diskussionen im Verlauf der Synode

7.1.2.3 Das Schlussdokument der Synode und die „Botschaft an das Volk Gottes“

7.1.3 Nachbetrachtungen zur Ekklesiologie der Synode

7.2 „Volk Gottes“ unter dem Leitbegriff „communio“

7.2.1 Walter Kasper

7.2.2 Joseph Ratzinger

7.2.3 Bruno Forte

7.2.4 Medard Kehl

7.3 Ein Deja vu des ekklesiologischen Richtungsstreits

8. „Volk Gottes“-Ekklesiologie in der deutschsprachigen Debatte um eine Neuausrichtung der Pastoral

8.1 Aktuelle Herausforderungen an die Pastoral

8.2 Die Rezeption der „Volk Gottes“-Ekklesiologie in neueren pastoralen Ansätzen

8.2.1 Exemplarische Übersicht zu Aspekten der „Volk Gottes“-Ekklesiologie

8.2.1.1. Israel als heilsgeschichtliche Bezugsgröße der aktuellen kirchlichen Situation (LG 9)

8.2.1.2 Gemeinsames Priestertum, Taufe und Charismen als konstituierende Merkmale der Kirche (LG 10–12)

8.2.1.3 „Sensus fidelium“ und „sensus fidei“ als Impuls für die kirchliche Erneuerung in geistlicher und organisatorischer Perspektive (LG 12)

8.2.1.4 Die Öffnung der Kirche als „Volk Gottes“ zur Welt und ihre missionarische Dimension (LG 13–17)

8.2.1.5 Formen der Gemeinschaft und Inkulturation in der Katholizität des Gottesvolkes (LG 13)

8.2.2 Ein pastorales Paradigma unter dem Vorzeichen der „Volk Gottes“-Ekklesiologie?

8.3 Die aktuelle pastoraltheologische Debatte und die Rezeption der „Volk Gottes“-Ekklesiologie

9. Die „Volk Gottes“-Gestalt der Kirche bei Papst Franziskus

9.1. Zum theologischen Hintergrund von Papst Franziskus

9.2 Ekklesiologische Grundgedanken bei Papst Franziskus

9.2.1 Unterscheidung, Kultur und Gegenkultur

9.2.2 Die Kirche als Gemeinschaft

9.2.3 Einheit in Vielfalt, Mission

9.2.4 Zusammenfassung

Auswertung

Die wechselvolle Geschichte des Kirchenbegriffs „Volk Gottes“

„Volk Gottes“ und die Frage nach der richtigen Konzilshermeneutik

„Volk Gottes“ als Grundpfeiler einer integralen Ekklesiologie

Literaturverzeichnis

1. Lehramtliche und weitere kirchenoffizielle Quellen

1.1 Konzilien, Päpste, Bischofssynoden, Römische Kurie

1.2 Bischofskonferenzen, Nationale Synoden, Bischöfe, diözesane Verlautbarungen

2. Literatur

3. Archivmaterial „Bensberger Kreis“

4. Abkürzungen

Personenverzeichnis

Einleitung

Inhalt und Aufbau der Arbeit

Lohnt es sich, in der heutigen Zeit eine Arbeit über „Volk Gottes“ als ekklesiologische Leitmetapher zu schreiben? Die Anfrage ist berechtigt. Schließlich scheint es, als sei die große Zeit der „Volk Gottes“-Ekklesiologie, die in Deutschland mit dem kirchlichen Aufbruch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden wird, vorbei. Hatte nicht zudem in der Befreiungstheologie gerade die Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs Anlass zu harten Konfrontationen gegeben? War der Begriff ausgehend von der Außerordentlichen Bischofssynode von 1985 nicht von der ekklesiologischen Notion „communio“ abgelöst worden? In einer Studie zum „Volk Gottes“-Begriff kommt der italienische Dogmatiker Dario Vitali 2013 zu einem auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis.1 Seiner Ansicht nach ist die wahre Bedeutung des Begriffs für die katholische Ekklesiologie noch nicht richtig in der systematischen Theologie angekommen: In der bisherigen Rezeption des Konzils habe die Betrachtung der Kirche als „Volk Gottes“ zu einseitig in Kontroversthemen wie „Amt und Charisma“ oder „Synodalität und Autorität“ stattgefunden und sich damit theologisch diskreditiert. Die mit dem Zweiten Vatikanum eingeleitete „kopernikanische Wende“ in der Ekklesiologie habe unter dem Eindruck der theologischen Streitigkeiten noch nicht zur Entfaltung kommen können. Erst jetzt, 50 Jahre nach dem Konzil, scheine die Zeit für eine Neubewertung des „Volk Gottes“-Begriffs gekommen zu sein.

Die These Vitalis dient als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Die Studie zum „Volk Gottes“-Begriff ist ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie orientiert sich an drei Fragen: 1. Wie kommt es, dass der „Volk Gottes“-Begriff auf dem Konzil eine so große Aufmerksamkeit erfahren hat und welche Aussageabsicht verbindet das Konzil mit ihm? 2. Welche Rezeption erfährt „Volk Gottes“ in den Jahrzehnten nach dem Konzil? 3. Welche Bedeutung kann der Begriff für die aktuelle und zukünftige kirchliche Entwicklung haben? Zur Beantwortung dieser Fragen ergeben sich für die Gliederung der vorliegenden Arbeit drei Hauptteile. Der erste Hauptteil beschreibt die geschichtliche und theologische Entwicklung von der Vor- zur unmittelbaren Nachkonzilszeit (1918 bis ca. 1970). Der zweite stellt exemplarisch drei kontrovers diskutierte Felder der „Volk Gottes“-Rezeption in der Nachkonzilszeit vor (1968 bis 2000). Der dritte Hauptteil fragt nach der Aktualität und den Perspektiven des Begriffs (1985 bis 2016).

Die Untersuchung des „Volk Gottes“-Begriffs und seiner Rezeption erfolgt unter zwei Perspektiven: Zum ersten zeichnet die vorliegende Arbeit theologie- bzw. ideengeschichtlich die bisherige Entwicklung nach und verdeutlicht die Einbettung der verschiedenen mit dem „Volk Gottes“ verbundenen ekklesiologischen Ansätze im Kontext ihres gesellschaftlichen, theologischen und pastoral-praktischen Umfelds. Zum zweiten analysiert sie theologisch-systematisch die Verwendung des „Volk Gottes“-Begriffs in bedeutenden ekklesiologischen Gesamtentwürfen. Auf diese Weise werden neben den kontrovers diskutierten Themen, die sich in der nachträglichen Beurteilung häufig in den Vordergrund drängen, auch der große Reichtum und die große Fruchtbarkeit deutlich, welche die theologische Erschließung des Begriffs mit sich bringt. Unter diesen beiden Perspektiven sind die einzelnen Kapitel in der Regel so gestaltet, dass sie auf der einen Seite einen (theologie-) geschichtlichen Überblick zum jeweiligen Themenkomplex bieten, auf der anderen Seite exemplarisch ausgewählte ekklesiologische Entwürfe mit dem Fokus auf der Behandlung der „Volk Gottes“-Thematik vorstellen und auswerten. Dabei geht es nicht darum, die einzelnen Ansätze anhand eines vorher definierten Verständnisses des „Volk Gottes“-Begriffs zu überprüfen. Das gewählte Vorgehen ist weitgehend induktiv. Ein abschließendes Resümee am Ende der Arbeit wird versuchen, zentrale Aspekte der Rezeptionsgeschichte zu bündeln und einen Ausblick auf die von Vitali erhoffte zukünftige Bedeutung von „Volk Gottes“ zu eröffnen.

Die einzelnen Hauptteile gliedern sich in jeweils drei inhaltliche Schwerpunkte, die in jeweils einem Kapitel untersucht werden. So stellt sich der inhaltliche Leitfaden der Arbeit wie folgt dar:

Das erste Kapitel widmet sich der Vorgeschichte des Konzils. Es zeigt, wie sich der „Volk Gottes“-Begriff von verschiedenen Seiten in der ekklesiologischen Diskussion etabliert. Dies betrifft zum einen die systematische Ekklesiologie, die durch die Streitschrift des Dominikaners Mannes Koster einen entscheidenden Impuls für das Verständnis der Kirche als „Volk Gottes“ erhält (1.1).2 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich diese Bewegung fort und erfährt eine Vertiefung z.B. durch die patrologische Forschung, für die die Dissertationsschrift Joseph Ratzingers exemplarisch stehen kann (1.2). Zum zweiten bereitet das besonders im frankophonen Raum sichtbare Bemühen um eine „Theologie des Laikats“, das im römischen Laienkongress 1957 erste Früchte für die offizielle Lehre der Kirche zeigt, den Weg für die spätere Konzeption von „Lumen gentium“ (1.3). Abschließend geht das erste Kapitel kurz auf den Beitrag der Liturgischen Bewegung und im Besonderen der zentralen Idee der „participatio actuosa“ ein (1.4).

Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie der „Volk Gottes“-Begriff durch die einzelnen Phasen der konziliaren Beratung hindurch seine zentrale Stellung in der Kirchenkonstitution erhält (2.1). Es schließen sich aus systematischer Perspektive Beobachtungen zur Verwendung des Begriffs, seinem Verhältnis zur Bestimmung der Kirche als „Sakrament“ und zur Rolle des zweiten Kapitels von „Lumen gentium“ im Zusammenhang des Gesamttextes an (2.2).

Den Übergang von der Vor- zur Nachkonzilszeit dokumentiert das dritte Kapitel anhand der ekklesiologischen Entwürfe von Yves Congar (3.1), Karl Rahner (3.2) und Hans Küng (3.3). Alle drei Autoren haben sich bereits vor dem Konzil theologisch positioniert, nehmen z.T. maßgeblichen Einfluss auf das Entstehen der Kirchenkonstitution und weisen den Weg für zukünftige Spielarten der Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs. Die heilsgeschichtliche Sicht Congars wird sich als relevant für die Frage nach dem Verhältnis von Israel und Kirche (Kap. 6) und die Diskussion um den Begriff „communio“ (Kap. 7) erweisen. Rahners vom „Sakraments“-Verständnis geleiteter gnadentheologischer Impuls hat starken Einfluss auf die Befreiungstheologie (Kap. 5) und in Teilen auf die aktuellen pastoraltheologischen Positionen (Kap. 8). Küngs überwiegend vom kritischen Potential des „Volk Gottes“-Begriffs für eine strukturelle und ökumeförderliche Reform der Kirche ausgehende Ekklesiologie kommt insbesondere in den kirchenpolitischen Diskussionen der 1960er/70er Jahre zur Entfaltung (Kap. 4).

Den letztgenannten, kirchenkritischen Impuls, der die Wahrnehmung des „Volk Gottes“-Begriffs im bundesdeutschen Kontext über Jahrzehnte prägen wird, verdeutlicht das vierte Kapitel am Beispiel der Debatte um die „Demokratisierung“ der Kirche. Als zentrales Dokument wird dabei das Memorandum des Bensberger Kreises von 1970 vorgestellt (4.2.2).

Die mit 1968 beginnende Geschichte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist Thema des fünften Kapitels. Nach einer Einführung in die Entstehungsgeschichte und die inhaltlichen Leitgedanken (5.1) illustrieren drei ekklesiologische Ansätze von Leonardo Boff, Ignacio Ellacuría und Juan Carlos Scannone die vielfältige Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs in der Befreiungstheologie (5.2). Das kircheninterne Ringen um diese theologische Strömung und ihre Ekklesiologie stellt das UnterKapitel 5.3 dar.

Ein gänzlich anderes, weil hauptsächlich im innertheologischen Diskurs verankertes Thema beleuchtet das sechste Kapitel. Es behandelt die im jüdisch-christlichen Dialog aufgekommene Frage nach der Berechtigung von „Volk Gottes“ als Kirchenbegriff. Insbesondere die durch Erich Zenger und Norbert Lohfink vertretene „Ein-Bund-Theorie“ wirft die Frage nach dem Verhältnis von Israel und der Kirche und der Verwendung des „Volk Gottes“-Titels in den 1990er Jahren neu auf (6.2). Mehrere exemplarisch ausgewählte Stellungnahmen zu diesem Thema verdeutlichen die Komplexität und die Schwierigkeit der angemessenen Verhältnisbestimmung (6.3).

Das siebte Kapitel markiert den Übergang zwischen der ersten Rezeptionsphase und den aktuellen Perspektiven für den „Volk Gottes“-Begriff. Es behandelt dessen Krise, die in der Bischofssynode von 1985 Auslöser für eine Neubewertung der konziliaren Ekklesiologie unter den Stichworten „Mysterium“ und „communio“ wird (7.1). Anhand von vier ekklesiologischen Gesamtentwürfen (Walter Kasper, Joseph Ratzinger, Bruno Forte, Medard Kehl) wird gezeigt, welche Bedeutung dem „Volk Gottes“-Begriff unter dem neuen paradigmatischen Leitwort „communio“ zugemessen wird (7.2). Abschließend gilt es zu bewerten, inwiefern „Volk Gottes“ weiterhin als ekklesiologischer Leitbegriff seine Bedeutung behält (7.3).

Das erste aktuelle Beispiel, das auf eine Neubewertung und Wiederkehr von „Volk Gottes“ hinweist, ist die in Deutschland seit ca. 2005 mit zunehmender Intensität geführte Diskussion um eine Neuausrichtung der kirchlichen Pastoral. Das achte Kapitel zeigt dazu anhand maßgeblicher pastoraltheologischer Positionen die Ansätze zu einer vertieften „Volk Gottes“-Ekklesiogie auf (8.2).

Das zweite Beispiel ist die durch das „Volk Gottes“-Verständnis geprägte Ekklesiologie Papst Franziskus’, wie das neunte Kapitel verdeutlicht.

 

Grenzen der Arbeit und formale Hinweise

Die Darstellung von fast 100 Jahren theologischen Diskurses stößt im Rahmen einer Dissertationsschrift notwendigerweise an Grenzen. Dies betrifft vor allem die exemplarisch auszuwählenden Themen und die verwendete Literatur. In beiden Fällen ist versucht worden, einen repräsentativen Querschnitt durch die Bandbreite theologischer Ansätze anzubieten, der sich vor allem an den „großen Namen“ der katholischen Theologie orientiert. Weitere Einschränkungen zur Eingrenzung des Themas sind die folgenden: Die vorliegende Arbeit konzentriert sich weitgehend auf den Bereich der katholischen Ekklesiologie. Die Bedeutung der „Volk Gottes“-Thematik in der protestantischen Theologie hat etwa Max Keller in einer umfangreichen Studie deutlich gemacht.3 Eine Ausnahme von dieser konfessionellen Beschränkung bildet das sechste Kapitel, da aufgrund der engen ökumenischen Zusammenarbeit im jüdisch-christlichen Dialog und in der Exegese eine Trennung nach Konfessionen künstlich gewesen wäre. Unbestritten ist, dass etwa Yves Congar aus der ökumenischen Diskussion wichtige Impulse für seine Ekklesiologie empfangen hat. Dies führt zu einer weiteren Beschränkung: Die vorliegende Studie beginnt mit dem Aufbruch der neueren systematischen Ekklesiologie nach dem Ersten Weltkrieg. Auch diese ist wiederum nicht voraussetzungslos. Auf den Einfluss der Tübinger Schule, der möglicherweise über Lucio Gera bis zu Papst Franziskus reicht, kann nur ganz am Rande eingegangen werden. Auch ist deutlich, dass bestimmte ekklesiologische Denkfiguren des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits bei den Modernisten des 19. Jahrhunderts frühe, häufig noch unausgereifte Vorläufer gehabt haben.4 Der These, das Zweite Vatikanum habe aufgrund dieser Tatsache durch eine modernistische Unterwanderung die kirchliche Tradition verlassen, wie sie von einigen Stimmen in den letzten Jahren vertreten wurde, kann nicht eigens nachgegangen werden.5 Die Darstellung der Entstehungsgeschichte von „Lumen gentium“ (Kap. 1 und 2) zeigt den theologischen Veränderungsprozess differenziert auf und sollte derartigen Theorien Vorschub leisten können.

Zum Abschluss noch einige formale Hinweise: Die vorliegende Arbeit ist nach den Maßgaben der neuen Rechtschreibung verfasst. Der besseren Lesbarkeit halber sind Zitate älterer Publikationen orthografisch angepasst worden. Aus dem gleichen Grund sind zudem im Haupttext (teilweise auch in den Fußnoten) fremdsprachige Zitate aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen und Lateinischen weitgehend vom Verfasser übersetzt worden, ohne dass dies im Einzelnen jeweils ausgewiesen wird. Englische Zitate werden im Original wiedergegeben. Quellen werden mit Kurztiteln zitiert, ein Abkürzungsverzeichnis für kirchliche Dokumente und mehrfach zitierte Sammelwerke ist dem Literaturverzeichnis angefügt.

1 Vgl. VITALI, Popolo di Dio, 193–201.

2 Die eingefügten Ordnungsnummern in Klammern beziehen sich auf das jeweilige Unterkapitel der vorliegenden Arbeit.

3 Vgl. KELLER, „Volk Gottes“ als Kirchenbegriff.

4 Für einen Überblick s. NEUNER, Der Streit um den katholischen Modernismus.

5 S. hierzu z.B. MATTEI, Das Zweite Vatikanische Konzil – Eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.

I. Hauptteil: „Volk Gottes“ als zentraler Begriff im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils

1. Der „Volk Gottes“-Begriff im ekklesiologischen Aufbruch des 20. Jahrhunderts

1.1 Mannes Koster: „Ekklesiologie im Werden“

Es gehört zur Aufgabe der Theologie, „dass sie dort Wege zeigt, wo noch keiner sie sieht, und sie dort sieht, wo noch keiner sie geht“6. Mit diesen Worten würdigen Hans-Dieter Langer und Otto Hermann Pesch die theologische Streitschrift „Ekklesiologie im Werden“, die Mannes Dominikus Koster, Dozent für systematische Theologie an der Dominikanerhochschule in Walberberg7, im Jahr 1940 herausgegeben hatte. In ihr verdeutliche sich, so Langer und Pesch, jene Problematik, „welche sich historisch einmal mit dem Emporkommen und der geistigen Kraftentfaltung eines Verständnisses von ‚Volk Gottes‘ verband […]“8. Dieser 1971 aus der Rückschau geschriebene Satz zeigt die zwischenzeitlich eingetretene theologische Wende an. Während „Volk Gottes“ als Kern- oder Leitbegriff einer zeitgemäßen Ekklesiologie bereits wenige Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil voll etabliert war, hatte sich Koster für diese Etablierung aus der Position des Außenseiters heraus eingesetzt. Zum besseren Verständnis seines Beitrages ist ein Blick in den Kontext, die theologische Debatte um Katholizität und Kirche zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Ekklesiologie im Werden“ hilfreich.

1.1.1 Kosters Schrift im Kontext ihrer Zeit

Das Lebensgefühl und Denken, das die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt, hat Erich Przywara durch fünf grundlegende Bewegungen gekennzeichnet: 1. vom Subjekt zum Objekt, 2. vom Individuum zur Gemeinschaft, 3. vom reinen Denken zur Natur, 4. von der Kultur zur Religion, 5. von der Innerlichkeit zur Kirche.9 Gegen das als blutleer empfundene Erbe der späten Aufklärung, ihrer Konzentration auf das denkende Individuum und die Begeisterung für den technischen Fortschritt, setzt die junge Generation ein neues Gemeinschaftsgefühl.10 Besonders die philosophische Kategorie des „Lebens“ wird, ausgelöst von der Rezeption Nietzsches, begeistert aufgenommen. „Leben“ artikuliert die Sehnsucht nach dem organischen und lebendigen Zusammenhang der Wirklichkeit.11 In der seit den zwanziger Jahren aufkommenden Jugendbewegung verbindet sich dieser Gedanke mit dem Bedürfnis nach gemeinschaftlichem, häufig pantheistisch-religiösem, schwärmerischem Erleben der Natur.12 Die Phänomenologie als neu aufkommende philosophische Schule stellt das Individuum dem Objektiven, allzeit Wahren und Verbindlichen, zugleich Transzendenten und Geheimnishaften gegenüber.13 Ein Interesse an der Mystik, am Empfinden, an der Teilhabe am Lebensvollzug durch eigenes Erleben erwacht. Demgegenüber erscheinen die abstrakte Theorie, die rationale Begrifflichkeit, wie auch alle äußere Organisation als Widerspruch gegen das Geheimnishafte, Unaussprechliche und Allumfassende des Lebensprinzips.14

Kirchlich findet dieses Grundgefühl der Zeit in verschiedenen Bewegungen dankbare Aufnahme.15 Es kommt in der katholischen Kirche zu einer religiösen Erneuerungsbewegung. Die katholische Jugendbewegung bietet einer „verstörten Generation“16 seelische Heimat und Halt in der Kirche und antwortet so auf die Sehnsucht nach Geborgenheit und neuer Gemeinschaft.17 Die Kirche, vormals vornehmlich als äußere Organisation wahrgenommen, soll sich in neuer Gemeinschaft und mit Rückbesinnung auf die Mystik erneuern.18 Die liturgische Bewegung wendet sich den antiken und frühchristlichen Quellen zu und betont den Aspekt des Kultischen als Grundvollzug religiösen Lebens neu. Die Teilnahme am Mysterium Christi in der Liturgie wird als Teilhabe am göttlichen Leben und Eingliederung in die göttlich-menschliche Lebensgemeinschaft erfahren.19 Sakramente, vor allem die Eucharistie, werden als „Mysterien“ gefeiert, in denen sich diese Teilhabe in sichtbaren Zeichen ausdrückt.20 Neben der eher binnenkirchlich orientierten Liturgischen Bewegung fällt in die 1920er und 1930er Jahre auch die Hochzeit der katholischen Aktion in Italien und Frankreich, welche die Frage des Laienapostolats und des Heiligungsdienstes der Gläubigen neu belebt.21

In diesem Klima kommt es zu einer vertieften theologischen Reflexion über das Wesen und den Auftrag der Kirche. Jenseits von Apologetik und der als einschränkend empfundenen Theologie der Neuscholastik22 suchen Seelsorger, Philosophen und Theologen nach neuen Ausdrucksformen, um die Realität der Kirche zeitgemäß zu beschreiben und neu zugänglich zu machen.23 Die Schlagworte „Leben“, „Organismus“, „Mystik“ und „Gemeinschaft“ finden dabei besondere Berücksichtigung. 1925 erscheint als zweiter Band der „Deutschen Klassiker der katholischen Theologie aus neuerer Zeit“ eine Neuauflage von Johann Adam Möhlers „Die Einheit in der Kirche“ von 1825.24 Gemeinsam mit Matthias Scheebens „Mysterien des Christentums“, dem ersten Band der Reihe, bildet dieses Werk die Referenzgröße für die aktuelle theologische Diskussion.25 Möhlers von Romantik und Idealismus beeinflusstes Frühwerk sah im Zusammenschluss der Gläubigen das Wirken des Geistes, durch das sich das „strömende göttliche Leben“ in der Kirche immer wieder neu entwickelt.26 Durch den Geist entstehen das liebende Zusammenwirken der Gläubigen und die fortwährende Lebensgemeinschaft mit Christus, die nicht zuerst individuell, sondern im Gesamt der Kirche als Gemeinschaft sichtbar werden. Alles Äußerliche der Kirche, ihre Ordnung, Hierarchie und Lehre, wird erst durch das innerliche Leben im Geist hervorgebracht.27Scheebens Werk geht von der Inkarnation als zentralem Mysterium der Heilgeschichte aus. Die gott-menschliche Dimension Christi ist Bild für die mystisch übernatürlich belebte und sichtbar verfasste Kirche. Sie erhält ihren deutlichsten Ausdruck in der Eucharistie.28

Das Bild einer geistgeleiteten, vom inneren Leben erfüllten Kirche, die ihr wahres, geheimnishaftes Wesen immer zugleich preisgibt und verhüllt, trifft den Nerv der Zeit. In immer neuen Variationen durchströmt und „durchpulst“29 das göttliche Leben in den theologischen Schriften der zwanziger und dreißiger Jahre den großen göttlich-menschlichen Organismus, als der die Kirche gesehen wird.30 Als zentraler Begriff der neuen Sicht auf die Kirche etabliert sich das an Paulus angelehnte Bild des „corpus Christi mysticum“, des „mystischen Leibes Christi“.31 Mit diesem Begriff findet eine ganze Generation von Theologen und Seelsorgern ihr ekklesiologisches Paradigma.32 Zugleich stellt er sie vor eine Herausforderung: Wie lassen sich im Bild des Leibes Innen und Außen, Leben und Lebensäußerungen, ideale und reale Kirche in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen?33

In den Gegensatzpaaren von Organismus und Organisation, wie auch Gemeinschaft und Gesellschaft,34 wird das innere, geheimnisvolle Wesen der Kirche im Gegensatz zu ihrer äußeren Dimension diskutiert und präferiert. Dies geht so weit, dass beispielsweise der Religionswissenschaftler Friedrich Heiler aus phänomenologischem Blickwinkel alle geschichtlich-realen Verkörperungen, insbesondere die Dogmen oder die Leitung der Kirche durch den Papst, als Fehlformen und als Verletzungen eines universalen, lebendigen und idealen Katholizismus brandmarkt, sofern sie mehr sein wollen als zeitbedingte und damit veränderbare Ausdrücke des inneren Prinzips.35 Dieser institutionskritische Ansatz zugunsten einer wahren, inneren Kirche findet 1937 in einer von Gustav Mensching herausgegebenen, anonym verfassten Schrift über das „Stirb und Werde“ des Katholizismus seine Fortsetzung.36 Hier wird die Forderung nach einem Neuaufbruch im Geist der urchristlichen, charismatischen Kirche artikuliert.37 Auf der Seite der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung, droht die Begeisterung für die kirchliche Gemeinschaft und die Liturgie zuweilen in eine reine Innerlichkeit abzugleiten und die Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem sowie zwischen Gemeinschaft und Individuum zu verwischen. Die äußere Seite der Kirche in Lehre, Recht und Hierarchie wird im frommen Überschwang kaum mehr beachtet.38

Die geschilderten Entwicklungen fordern die akademische Theologie heraus. Karl Adams 1924 erschienenes Buch „Das Wesen des Katholizismus“ ist ein Manifest der kirchlichen „Leib Christi“-Ekklesiologie und wird ein internationaler Bestseller.39 Adam nimmt die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Hinwendung zur „strotzenden Lebenskraft, dieser ewigen Jugend der alten, uralten Kirche“40 auf und kennzeichnet sie im Anschluss an Möhler und Scheeben als Auswirkung Christi „gottmenschlichen Wesens in der Geschichte“41. Dabei verteidigt er die hierarchische Struktur der Kirche, die sich von ihrem Haupt und den Aposteln her aufbaut.42

Mannes Kosters Lehrer, der Bonner Theologieprofessor Arnold Rademacher, reflektiert in seinem ekklesiologischen Ansatz, der vom organologischen Denken geprägt ist, die gemeinschaftliche und gesellschaftliche Dimension der Kirche.43 Ähnlich wie Möhler erkennt Rademacher in der gesellschaftlichen Dimension einen notwendigen Ausdruck des inneren Lebens. Organismus und Organisation verhalten sich zueinander wie Wesen und Erscheinung.44 In Analogie zur hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit Christi ist die Kirche als Leib Christi der „fortlebende Christus“.45 Die irdische Erscheinung der Kirche verweist auf das Geheimnis der Gottheit, verhüllt es aber zugleich auch.46

Joseph Ternus wendet sich gegen die übergroße Bedeutung des Begriffs „mystischer Leib Christi“ und bestreitet die Möglichkeit einer angemessenen Wesensaussage über die Kirche.47 „Leib Christi“ ist für ihn ein guter Begriff zur Bezeichnung der innerlichen Seite der Kirche.48 Zugleich warnt Ternus vor „überspannten Ganzheitsspekulationen“49 und wendet sich gegen die in der Jugendbewegung vorkommenden Vorstellungen von der Kirche als „Kollektivperson“50.

Im Jahr 1940, in dem Kosters Schrift „Ekklesiologie im Werden“ erscheint, zeigt sich die ganze Bandbreite der ekklesiologischen Diskussion. Sie ist gekennzeichnet von der Suche nach einer „tiefen und ganzen Theologie“51, die durch die neuere Erforschung von Schrift, Vätertheologie und Scholastik bereichert wird.52

Zum einen sorgt die Schrift „Der Christ als Christus“ des Priesters Karl Pelz für Diskussionen. In ihr wird die Differenz zwischen Christus und den Gläubigen aufgehoben, so dass beide eine einzige mystische Person bilden.53 Zum anderen erscheint unter dem Titel „Der Katholizismus der Zukunft“ eine anonyme Schrift, die in der Tradition Heilers eine reine Geistkirche gegen jede geschichtlich kontingente Form des äußeren Ausdrucks der Kirche propagiert.54

Gegen eine solche gewagte, modische Verwendung des „Leib Christi“-Begriffs stellt Ludwig Deimel 1940 eine sachliche Kritik. Er führt das Bild des „Leibes“ auf seine ursprüngliche biblische Bedeutung zurück und bestreitet mit Blick auf die in Schrift und Tradition enthaltenen vielfältigen Ausdrücke für die Kirche dessen Monopolstellung.55 Ebenso kritisiert er den aus seiner Sicht unbiblischen Zusatz „mystisch“ als missverständlich56 und weist auf die Notwendigkeit des analogen Gebrauches biblischer Bilder hin.57 Deimel befürchtet eine Engführung der Kirche auf „Motive zum persönlichen Heiligungsstreben“, die „sakramentale Welt“ und das „liturgische Tun“.58 Die Kirche ist notwendig gesellschaftlich verfasst und durch Charismen und Hierarchie gegliedert.59 Ist „Leib Christi“ auch ein wichtiger Begriff zur Beschreibung der Kirche, weil er den Zusammenhang von innerem und äußerem Leben verdeutlicht, bedarf er doch der Ergänzung durch die Bilder der „Braut Christi“, die das Gegenüber von Christus und Kirche zum Ausdruck bringt60, sowie der „Familie Gottes“ als Kennzeichen der sozialen Realität der Kirche.61

Yves Congar veröffentlicht im 1940 erschienenen Sammelband „Die Kirche Christi“62 einen heilsgeschichtlich orientierten ekklesiologischen Entwurf. Im Anschluss an das Vorbild des „Volkes Gottes“ des Alten Bundes begründet Christus als neuer Adam das „neue Volk Gottes“, indem er den Gläubigen die Teilnahme an der Lebensgemeinschaft mit Gott neu ermöglicht.63 Hieraus entsteht die Kirche als „mystischer Leib Christi“, in dem das „pneumatische Leben“ in Christus seinen angemessenen Ausdruck findet.64 Es kann für Congar keine Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geben. Die Kirche ist wesenhaft „sakramental“65 und verbindet so das innerlich-gemeinschaftliche und äußerlich-gesellschaftliche Leben der Kirche zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit.66

Erich Przywara legt im gleichen Jahr eine Übersicht über die umfangreichen Veröffentlichungen vor, die das „Corpus Christi Mysticum“ behandeln. In seiner Bilanz hebt auch er die Notwendigkeit der Überwindung des Dualismus’ von Innen und Außen, Transzendenz und Immanenz in der Betrachtung der Kirche als „Leib Christi“ hervor und sieht die Gefahr einer pneumatischen Verengung.67 Die Kirche ist für Przywara „werkzeugliche Repräsentation und repräsentierende Werkzeuglichkeit“68 Gottes. Der unendliche Abstand zwischen Gott und der Kirche bewirkt, dass sich die Kirche nicht anders zu Gott verhalten kann als die menschliche Natur Christi zu ihrer göttlichen. Sie dient Gott dazu, durch die Sendung der Gläubigen in die Welt hinein zu wirken.69 Für diesen Dienst bildet die Kirche ihre innerweltliche Wirkweise in Leben und Dienst der Gläubigen, in Lehre, Amt und Rechtsordnung aus.70 Bei Przywara kündigt sich so die kommende Bedeutung des Begriffs „Sakrament“ an, ein Begriff, der für ihn in der Lage ist, eine Synthese zwischen der unsichtbar-gnadenhaften Seite der Kirche und ihrer sichtbargesellschaftlichen Dimension zu schaffen. Dabei bedient sich Przywara der Analogie des inkarnatorischen Geschehens und der beiden Naturen Christi.71

Die hier nur kurz vorgestellten Entwürfe des Jahres 1940 geben einen Eindruck in das geistige Umfeld, in dem Kosters Beitrag zu verorten ist. Im Zuge des Ringens um einen Neuansatz der systematischen Ekklesiologie versteht er seine Schrift „Ekklesiologie im Werden“ als einen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Debatte.72 So findet sich bei ihm neben der kritischen Bewertung der zeitgenössischen Theologie des „corpus Christi mysticum“ ein eigenständiger und origineller Ansatz durch die Einführung eines neuen ekklesiologischen Zentralbegriffes, nämlich „Volk Gottes“.73

1.1.2 „Ekklesiologie im Werden“

Kosters Werk „Ekklesiologie im Werden“ versucht, einen neuen Weg zu einer systematischen Ekklesiologie zu bahnen. Dies ist laut Koster notwendig um den Status einer „vortheologischen Kenntnis der Kirche“74 zu überwinden, die er in den zahlreichen seelsorglich und geistlich motivierten Aktivitäten und Schriften etwa der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung vorfindet. Die Ekklesiologie, zeitgenössisch als Sehnsucht zu einem umfassenderen Begriff und einer tieferen Erkenntnis der Kirche zu verstehen, ist, so Koster, derzeit im „Werden“ (154f). Die von Koster als Vorstadien zu einer theologischen Neubestimmung gekennzeichneten geschichtlichen Entwicklungen sind seiner Ansicht nach auf drei wesentliche Begriffe zurückzuführen, die dem jeweils zeitgemäßen Verständnis der Kirche dienen sollen: die Kirche „in ihrer Rechtsordnung“, wie sie in der neuscholastischen, apologetischen Ekklesiologie zu finden ist, die Kirche als „Leib Christi“ und als „Kultgemeinschaft“(12). Mit diesen Begriffen verbinden sich für Koster bestimmte Vorstellungen. Hinter der Kirche in der Rechtsordnung verbirgt sich der Begriff des „Volkes Gottes“, hinter „Leib Christi“ die Idee des „Organismus“, welche jedoch den zumeist im Verbund mit der „Leib Christ“-Theologie anzutreffenden „verhüllten Solidarismus“ nur scheinbar verdeckt (12). Damit verbunden steht hinter der „Kultgemeinschaft“ ein „liturgischer Solidarismus“ (13). Auf der Suche nach einem umfassenden theologischen Begriff der Kirche habe die Theologie bisher, so Kosters Kritik, zumeist oder sogar ausschließlich auf den „Leib Christi“-Begriff zurückgegriffen. Er sieht hierin eine fälschliche Ineinssetzung einer vortheologischen Vorstellung der Kirche mit dem Begriff, der theologischen Definition der Kirche in ihrer Gesamtheit (14). Von dort aus stellt Koster der Theologie seiner Zeit ein schlechtes Zeugnis aus: „Die Ekklesiologie unserer Tage befindet sich noch im vortheologischen Zustand“ (15).75 Sie wählt einen Teil der kirchlichen Glaubensanschauung, des Glaubensschatzes, zur Bestimmung der Kirche als Ganze aus (18).76 Diese Entwicklung hat laut Koster ihren Ursprung in der vornehmlich apologetisch geprägten Ausrichtung früherer Ekklesiologien. Die Kirche wird gegen ihre Kritiker in Schutz genommen und Einzelaspekte besonders betont (24f, 26f). Ziel einer theologischen Neubestimmung wäre jedoch die Erfassung der Totalität der Kirche aus dem Gesamt des Glaubensschatzes (16), sprich, die Suche nach einem Begriff, der das Gesamt der kirchlichen Wirklichkeit angemessen und umfassend wiedergeben könnte (18, 31). Diese Suche liegt, so Koster, angesichts des fortschreitenden Bedürfnisses aller Teile der Kirche zur Bewusstwerdung ihrer selbst gewissermaßen in der Luft (85, 89). Wie also lässt sich der „Gemeinschaftscharakter“ der Kirche theologisch umfassend bestimmen? Wie kann die Kirche als eine „konkrete, wirkliche, im Diesseits stehende und doch nicht in ihm beheimatete Gemeinschaft“ (25f) begriffen und verstanden werden? Vorarbeiten hierzu möchte Koster in seiner Schrift leisten (22, 153).

Zunächst widmet sich der Autor dabei der Analyse bestehender ekklesiologischer Ansätze. Er konstatiert eine nach dem 1. Weltkrieg vollzogene Entwicklung der Ekklesiologie, die sich von der apologetischen in eine vortheologische Richtung weiterentwickelt habe (26). Kennzeichen dafür ist zum einen die Neufassung des Kirchenrechts, in der eher der „Leitungskörper“ der Kirche seinen Ausdruck findet, zum anderen die Bestimmungen der Kirche als „Leib Christi“ und „Kultgemeinschaft“, die dem „Glaubenskörper“ der Kirche zuzurechnen sind (27, 30).

Die Rechtsordnung ist Ausdruck der konkreten kirchlichen Gemeinschaft. Sie ist das „Volk Gottes in seiner eigenen Ordnung“ (29) und verbindet menschliches und göttliches Tun in der positiven Setzung von Regelungen und Gesetzen. In der laut Koster häufig zu wenig wahrgenommenen Bedeutung des Kirchenrechts zeigt sich in besonderer Weise der „Volk Gottes“-Charakter der Kirche, da sich aus ihm die sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen ihre Gestalt gibt (28ff.).

Deutliche Kritik übt Koster an der zeitgenössischen Leitmetapher des „Leibes Christi“, die häufig als Wesensbestimmung der Kirche angesehen wird. Vehement bestreitet er, dass von diesem Begriff aus eine wirkliche theologische Darlegung der Kirche erfolgen kann, „weil das der Ökonomie der Verkündigung von der Kirche, die nicht so einseitig auf ‚Leib Christi‘ begrenzt ist, wie man das in der Gegenwart wahrhaben will entgegen ist, und weil auch ‚Leib Christi‘ nicht die Sinngebung besitzt, die man unter dem eigenartigen Einfluss des Hl. Augustinus dieser Metapher zuschreibt“ (31f). Konkret bemängelt Koster, dass die übermäßige Konzentration auf den „Leib Christi“-Begriff zu einem Dualismus führt, in dem die mystische und die sichtbar-juridische Seite der Kirche unverbunden nebeneinander stehen (32).77 Es gilt daher, einen Begriff der Kirche zu finden, der „ihre Wesensgestalt in ihrem Ungeteiltsein umfasst und aus dem sich theologisch einwandfrei ableiten lässt, was immer der Kirche nach den Angaben des kirchlichen Lehrzeugnisses eigentümlich ist“ (34). So gleitet die Rede vom „Leib Christi“ in der zeitgenössischen Theologie Kosters Meinung nach zu stark in die Betonung der mystischen und damit übernatürlich-geheimnisvollen Seite ab und vernachlässige die simple Tatsache, dass ein Leib immer auch natürlich, d.h. konkret ist (35). Koster stellt mit Verweis auf die kirchliche, theologische wie liturgische Tradition heraus, dass diese in Bezug auf die Kirche ein weites und vielfältiges Verständnis entwickelt hat. So wird die Kirche in den Orationen des Messbuchs beispielsweise über fünfzigmal als „populus“ tituliert (37). Eine einseitige Aufnahme lediglich des „Leib Christi“-Begriffes ist für Koster von der Tradition her nicht zu rechtfertigen (38).

Ursächlich für das dominante Auftreten des Begriffes und dessen nach Kosters Ansicht einseitigen Interpretation ist das Kirchenverständnis Augustins (38f, 62).78 Während Paulus die Kirche als „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ nie getrennt von ihrer konkreten sozialen Gestalt versteht, bezieht Augustinus Koster zufolge „Leib Christi“ auf die Welt als Ganze in ihrer Bezogenheit auf Christus (39f). Weniger auf die Kirche als auf Christus ausgerichtet, wird hier die objektiv-hinreichende und subjektiv-wirksame Erlösung der „uneigentlichen Kirche“ (42), also der ganzen Menschheit beschrieben (40). Diese ist in der Menschwerdung bereits hypostatisch angenommen (56). Augustinus selbst ist in seiner Deutung, so Kosters Vermutung, von der Prädestinationslehre ausgegangen, die die gnadenhafte Erwählung des Einzelnen in den Vordergrund stellt (49). Die Kirche leitet sich somit von der Erwählung des Einzelnen im gesamten Menschengeschlecht her, was zur Vernachlässigung der notwendigen biblisch geforderten Eingliederung in das Gesamt des „Volkes Gottes“ führt (50f).79 Dem platonischen Denken folgend interessiert sich Augustinus zudem eher für die unsichtbare, heilige Dimension der Kirche und weniger für ihre konkrete Gestalt. Die Kirche wird damit zum „unsichtbaren Leib Christi“ (57). Die Lehre vom „Leib Christi“ ist bei Augustinus somit eher Teil der Christologie (40f). In dem Maße, in dem sich spätere Theologen in der Betrachtung der Kirche auf Augustinus’ Lehre vom „Leib Christi“ beziehen, entsteht ein von Koster kritisch angemahnter Dualismus: So setzt sich die Kirche aus den „sittlich heiligen Einzelpersonen des Menschengeschlechtes“ zusammen, wohingegen die Gemeinschaft der Glieder untereinander durch die Unterordnung unter die kirchliche Hierarchie und die gegenseitige Nächstenliebe entsteht. Hier handelt es sich weniger um eine wirkliche Gemeinschaft, sondern um „bloß in Ordnung sich vollziehende ‚Solidarität‘“ (44), in Augustins Verständnis um eine „personalistische Gnadenkirche“ der Erwählten (57f). Die Taufe ist bei Augustinus eher ein äußeres Merkmal der Zugehörigkeit. Entscheidender für die Konstitution des „Volkes Gottes“ sind die individuelle Erwählung und die gegenseitige Liebe. Das Volk ist die Gemeinschaft der „Guten“ in der Kirche und somit als Begriff dem „Leib Christi“ untergeordnet (59). Die unsichtbar durch die Liebe geeinte Gemeinschaft der Gläubigen bildet die „heilige Kirche“, während das „Volk Gottes“ als bloße äußerliche Gemeinschaft der Getauften von Augustinus eher herablassend betrachtet wird (60). Das Verhältnis von ideeller und sichtbar-empirischer Seite der Kirche bleibt bei Augustinus ungeklärt (63).

Thomas von Aquin hat, so Koster, die eigentlichen ekklesiologischen Implikationen Augustins richtig interpretiert und den sakramentalen Charakter der Kirche als objektives heiligendes Prinzip wie auch die hierarchische Gliederung der Kirche stärker herausgestellt (45). Die Kirche kann paulinisch vom Priestertum Christi und der sakramentalen Teilhabe der Glieder an diesem Priestertum gedacht werden. Von hier aus konstituiert sie sich (46f). Indem vor allem die Sakramentalität als Grundvoraussetzung für die Gemeinschaft der Kirche in der nachtridentinischen Entwicklung vernachlässigt wird, halten ein „ungerechtfertigter, einseitiger Heilspersonalismus“ (45) und ein daraus folgender „ekklesiologischer Solidarismus“ Einzug in die Lehre von der Kirche (47).

Nach biblischer Lehre, so Koster weiter, werden die Menschen durch Taufe und Eucharistie in das „Volk Gottes“ eingegliedert und in einer Gemeinschaft zusammengeführt. „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ sind bei Paulus identisch (51). Bei Augustinus kommt es daher nicht zur Unterscheidung von Eingliederung des Einzelnen in das Volk durch den sakramentalen Charakter und gnadenhafte Zugehörigkeit zu Christus (51). Hier ist für Koster der Schlüssel zu einer „wahren Ekklesiologie“ zu finden. Subjekt der Erlösung ist im biblischen Sinne weniger der einzelne Mensch, als vielmehr das Heilskollektiv (52). Dabei ist nicht die Summe der individuell Erwählten entscheidend. Vielmehr geht es um den „Leib Christi“ als Kollektivperson, das durch „die sakramentalen Charaktere begründete und durch sie gestufte und gegliederte Personenganze oder Heilskollektiv, insofern es sich nach den Weisungen des Stellvertreters Christi leiten lässt“ (54). Ohne die individuelle Heilsnotwendigkeit zu leugnen, wird es, so Koster, in Zukunft darum gehen, gemeinschaftliches und persönliches Heil zusammen zu betrachten und einzusehen, dass die diesseitige gemeinschaftliche Dimension als „Werkzeug und Mittel“ zur Erlangung des persönlichen Heils dienen soll (55f). Zudem sollte, Kosters Ansicht nach, die einseitige Rede vom nur persönlichen Heil korrigiert werden (56). Paulus bringt die verschiedenen Dimension der Kirche zur Sprache, wenn er von dem einen Leib spricht, der aus der Taufe gebildet und mit Dienstämtern versehen ist, dem einen Leib der aus der Eucharistie heraus entsteht, dem einen Leib, der aus der Sendung des Geistes Christi gebildet wird und dem Leib, der sich durch die Nächstenliebe unter dem Haupt Christi bildet. Diese Weite bringt für Koster die volle Bedeutung des Begriffes eher zum Ausdruck, als dessen einseitige Betrachtung bei Augustinus. Thomas von Aquin zeigt diese Mehrdimensionalität auf (64ff).

Koster wendet sich dann dem dritten ekklesiologischen Paradigma, der Kirche als Kultgemeinschaft zu. Das Grundproblem des Dualismus von sichtbarer (Gesellschaft) und unsichtbarer Heilsgemeinschaft wird auch mit diesem Verständnis noch nicht überwunden (67). Gleichzeitig weist das Verständnis des Kultes als gemeinschaftlichem Werk der Kirche bereits in die richtige Richtung (68f). Kritisch merkt Koster jedoch an, dass mit dem meist liturgisch verstandenen Kult immer nur ein Teil des Lebens der Kirche beschrieben wird. Wie lassen sich liturgischer und außerliturgischer Kult zusammendenken (69)? Hierbei ist besonders der sakramentale „Charakter“ der Laien, etwa als Gefirmte oder Eheleute zu bedenken. Es geht um ein tätiges christliches Handeln, das nicht auf seine liturgische Dimension verkürzt werden darf (70). Aber auch in Bezug auf die Liturgie ist das richtige Verhältnis zwischen dem Tun der Priester und dem der Laien nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn, wie Koster mit Verweis auf Odo Casel darstellt, Priester und Laien gemeinsam am sakramentalen Handeln in der Feier der Heiligen Messe teilhaben sollen, ist diese Äußerung lehramtlich nicht gedeckt (71). Koster weist darauf hin, dass die Konsekration den Priestern vorbehalten bleibt, die damit als Glieder des ganzen Leibes eine spezifische Aufgabe für das Kollektiv übernehmen. Zugleich weist Koster die Vorstellung zurück, nach der eine Handlung der Kirche, in diesem Fall der Konsekration der Gaben in der Heiligen Messe, als gleichzeitige Tätigkeit aller Glieder zu verstehen ist (74). In der Vorstellung von „Kultgemeinschaft“ wirkt für ihn die alte, auch von der Liturgischen Bewegung kritisierte Sichtweise der subjektivistischen Heilszugehörigkeit nach (73, 76). Bei Casel und anderen Vertretern dieser Richtung sieht Koster statt einer wirklichen Gemeinschaft einen „liturgischen Solidarismus“ entstehen (81). In ihm ist der Einzelne als Eigen-, nicht aber als „Gliedperson“ des gesamten Leibes der Kirche bedacht. Damit steht diese theologische Richtung der Liturgischen Bewegung der „Leib-Christi“-Ekklesiologie nahe (81).80 Koster dagegen unterscheidet die sakramental eingeprägten Charaktere (Gefirmte, Diakone, Priester, Bischöfe) in ihrer jeweiligen Rolle für das Gesamt der Kirche (75). Sie stellen in gestufter und geteilter Form das ganze Priestertum Christi dar (79). Das Priestertum ist also als „gemeinschaftsmäßiges“ in der Kirche ausgeprägt. Die einzelnen gehören als „Gliedpersonen“ und nicht als Einzelpersonen der Gemeinschaft der Kirche an (79, 81).

Von dieser Analyse der zeitgenössischen theologischen Strömungen aus entwickelt Koster seinen Ansatz, der dem Gesamt der kirchlichen Lehrverkündigung besser entsprechen soll (82, 99). Dabei vergewissert er sich, gegen eine allzu sehr vom seelsorglichen Impetus getragene Darlegung mancher seiner Zeitgenossen (98f), zunächst seiner eigenen Rolle als Theologe, der mit dem eigenen Glaubenssinn nach größtmöglicher Objektivität und Übereinstimmung mit dem Lehramt zu suchen hat (88f). Ihm geht es um die Systematisierung und wissenschaftliche Durchdringung seines Stoffes. Im Lebensgefühl der zeitgenössischen Christen, so Koster, liegt es nicht, in einem entpersonalisierten Ganzen aufzugehen, wie die überschwängliche Rede vom „Leib Christi“ zuweilen vorgibt. Vielmehr sucht der Gläubige nach seinem Platz in der Kirche, in die er als Glied- und Eigenperson aufgenommen ist (92f). Koster möchte dabei zum einen der aus der Kanonistik entlehnten Einsicht folgen, die Mitgliedschaft in der Kirche nicht von der Gnade, sondern vom sakramentalen Charakter der Einzelnen her zu definieren (92f). Zum anderen sucht er nach Wegen, die gestufte Zugehörigkeit auch der Nichtkatholiken zur Kirche in seine Gesamtsicht zu integrieren. Koster unterscheidet zwischen der Gliedschaft Christi und der Gliedschaft der Kirche, die durch die Taufe konstituiert wird (93). Unter den Mitgliedern der Kirche führt er eine Unterscheidung in Voll- und Teilglieder ein. Erstere sind diejenigen, die ihr persönliches Heil im „Heilskollektiv“ der Kirche erreichen (93). Teilglieder sind entweder als „Verwendungsglieder“ solche, die im Sinne der Gesamtheit der Kirche tätig sind, ohne ihr anzugehören, oder als „Konstitutionsglieder“ solche, die die Taufe empfangen haben, von deren derzeitigem Gnadenstand aber abgesehen wird. Sie sind entweder „volltätig“ in dem Sinne, dass sie unter der Weisung des Papstes Aufgaben und Handlungen ausführen, die ihrem sakramentalen Charakter entsprechen oder „teiltätig“, indem sie dies ohne Weisung oder gegen die Weisung des Papstes tun. Hierzu gehören auch die Nichtkatholiken (94). Kirchenglieder sind also dort zu finden, wo im Sinne der Kirche gehandelt wird. Koster führt seine Systematik der Stufung der unterschiedlichen Gliedschaften nicht weiter aus, weist aber darauf hin, dass sie nur unter dem Leitverständnis der Kirche als „Volk Gottes“ verständlich ist, da der „Leib Christi“ nur Vollglieder kennen kann (95). Der „Volk Gottes“- Begriff weist somit eine größere Offenheit in der Frage der Mitgliedschaft der Kirche auf.

Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen zu den Voraussetzungen einer neuen Ekklesiologie beobachtet Koster im dritten Teil seiner Schrift Bewegungen, die zu einer in seinem Sinne theologischen Neubestimmung der Kirche führen können. Dabei erkennt er in der zeitgenössischen Forschung drei wesentliche „Erscheinungen“.

Die erste Erscheinung ist das Vorhandensein verschiedener Ansätze zur theologischen Wesensbestimmung der Kirche (100), die sich in der theologischen Debatte der Zeit in vier Grundformen finden: Eine erste, radikale Position besteht dabei in der Ablehnung eines solchen Unterfangens aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, ein Mysterium in einem formalen Begriff zu fassen (101). Koster weist eine solche Position unter Eingeständnis der analogen Sprechweise für alle theologischen Aussagen zurück. Die hier geäußerte Sichtweise der Kirche als reinem Mysterium entspricht nicht ihrem Wesen. Nach Kosters Meinung wird an dieser Stelle die eben auch konkrete Kirche in ihrer Geheimnishaftigkeit mit Christus bzw. dem göttlichen Geheimnis gleichgesetzt (103ff). Eine zweite Position wird von Koster als „theologischer Agnostizismus“ bezeichnet. Hier wird die Kirche ebenfalls als so geheimnishaft angesehen, dass die biblische, bildliche Sprache nicht an das eigentliche Mysterium heranreicht (105). Die Bestimmung der Kirche bleibt somit bei Bildern oder „Analogaten“ und damit in einem vortheologischen Stadium stehen (106). Höchster Ausdruck der Analogie ist dann der „Leib Christi“-Begriff, der als Ersatz für eine fehlende Wesensdefinition genommen wird (107). Koster wendet sich gegen die Beschränkung auf eine reine Begriffssammlung, die sich aus der Bibel und der Vätertheologie speist (107). Abgesehen davon, dass Kirchenväterzitate nicht wie in einem Parlament versammelt werden können, um in ihren Aussagen mehr Gewicht zu geben, gilt auch für diese frühen Theologen der Maßstab der lehramtlichen Verkündigung (108f). Auch die Väter müssen nach ihrer theologischen Argumentation beurteilt werden, nicht nach ihrer persönlichen Autorität oder Heiligkeit (109ff). Ebenso wendet sich Koster gegen eine Lesart, die verschiedene Begriffe dialektisch miteinander in Beziehung setzt, ohne jedoch eine Entscheidung zur Auffindung eines umfassenden Verständnisses der Kirche zu treffen (112). Eine weitere Fehlform besteht in der schnellen Synthetisierung der verschiedenen Metaphern zur Beschreibung der Kirche unter den Begriff „Leib Christi“ (113).

Der dritte Ansatz besteht in einer Festlegung auf den Begriff des „Leibes Christi“ als umfassende Wesensbestimmung der Kirche (114). Gegen diese Sichtweise hatte Koster im ersten Teil seiner Streitschrift bereits zahlreiche Gründe angeführt. Er betont noch einmal die Einseitigkeit und die schwierige Geschichte des Begriffs (117) und verweist auf die Häufigkeit des „Volk Gottes“- Begriffs im biblischen, lehramtlichen und liturgischen Zeugnis der Kirche (115). Gegen das Theologenschema zur Kirchenkonstitution des I. Vatikanischen Konzils weist Koster darauf hin, dass es sich bei „Leib Christi“ keineswegs um die häufigste und genaueste Bezeichnung für die Kirche handelt (114f). Aus einer ursprünglichen Beschreibung der Kirche sei, so Koster, mittlerweile ihre Wesensbestimmung geworden (116, 122). Zahlreiche Bischöfe hätten daher noch auf dem Konzil gegen eine solche Verwendung des Begriffes eingewandt, dass in ihm die sichtbare Seite der Kirche zugunsten der mystischen Seite nahezu verschwinden würde (116). Koster weist zudem auf die Wandlungen hin, die der Begriff im Laufe der Kirchengschichte genommen hat, und dessen genaue Bedeutung wieder in die Diskussion geraten ist (117f). „Leib Christi“ nimmt in der aktuelle Verwendung eher ein emotionales Verständnis der Kirche auf. Koster beobachtet zudem, dass der Begriff in seiner Unschärfe zu allen möglichen Zwecken für oder gegen die Kirche verwendet wird. Er verkommt zu einem Schlagwort, das sowohl den Verteidigern der Kirche als auch ihren Kritikern dient (118f).81 Auch aus diesem Grund erweist sich „Leib Christi“ zur Wesensbestimmung der Kirche als untauglich (119) und erscheint weniger als Frucht nüchterner theologischer Überlegung denn als reine „Festsetzung“ (121f).

Die vierte von Koster angeführte Position hält eine theologische Wesensbestimmung der Kirche für möglich. Mit Berufung auf einen Artikel von Johannes Brinktrine82 nennt Koster die dort vorgelegten Ansatzpunkte, die Kirche von der Taufe, von den „notae ecclesiae“ und den kirchlichen Funktionen und Tätigkeiten her zu verstehen. Zugleich sieht er dieses Vorgehen noch als defizitär an. Am Beginn jeder Ekklesiologie muss die Bestimmung des Wesens der Kirche stehen (123f).

Die zweite der von Koster ausgemachten Erscheinungen der zeitgenössischen Ekklesiologie ist die „Stoffverkürzung“. Er diagnostiziert eine Verengung der Ekklesiologie auf bestimmte Spezialfragen und Einzelbetrachtungen, die häufig mit der Rede vom „Leib Christi“ zusammenhängen (129f). Allzu sehr fehlt Koster die Berücksichtigung der gemeinschaftlichen, sowie der ordnungsmäßigen, äußeren Seite der Kirche (126f). Hier geht es dem Autor weniger um die Beschreibung einzelner Bestandteile kirchlichen Handelns, als um eine Gesamtsicht der Kirche, die sich aus der Begnadung und Befähigung der handelnden Personen in ihren „Charakteren und Charismen“(127)83 heraus konstituiert. Die defizitäre Behandlung dieser Grundlage für das Leben der Kirche ist ein Versäumnis der von Koster angeprangerten „Ideologie des begnadeten Einzelmenschen“ in der zeitgenössischen Ekklesiologie (132). Es wird nicht gesehen, „wie die Kirche zuallererst die Gemeinschaft für den sozialen unveränderlichen Kult des Priestertums Christi ist, der erst in Hinsicht auf den Einzelnen und unter der Voraussetzung der rechten sittlichen Disposition beim ihm heilsvermittelnd sein kann, aber nicht muss“ (132). Dabei ist mit Blick auf die lehramtlichen Verlautbarungen der Gemeinschafts- und Volkscharakter der Kirche in besonderer Weise betont (128f).

Die dritte Erscheinung sind für Koster die methodischen Mängel. Seiner Ansicht nach wird die Ekklesiologie seiner Tage hauptsächlich von seelsorglich aktiven Priestern getragen, die von einem hohen kirchlichen, aber eher anti-institutionellen und anti-scholastischen Standpunkt aus ihre Gedanken zur Kirche entwickeln (135). Weniger die Theologie, als vielmehr die Liturgie als aktives Tun der Kirche steht dabei im Vordergrund, so dass das vertiefte Nahdenken über Wesen und Grundlagen der Kirche in den Hintergrund tritt (136ff). Koster sieht hier einen eher seelsorglich-aktivistischen Zug der Ekklesiologie, gegenüber dem eine „kontemplative“ Betrachtung zurücksteht (141). Er schreibt: „Hier an diesem Punkte stoßen zwei Grundanschauungen und zwei Grundaffekte aufeinander: der neuplatonisch-augustinisch-personalistische und der biblisch-kollektiv-sozial-kritische […]“ (140).

Im Ergebnis konstatiert Koster, dass eine eigentliche Ekklesiologie im Rückgriff auf die kirchliche Tradition noch aussteht (142). Hierzu gehört methodisch ein Ausgehen von der zeitgemäßen „ordentlichen“ Verkündigung, d.h. für Koster von den offiziellen Texten der Liturgie, in denen der Begriff des „Volkes Gottes“ die häufigste Bezeichnung für die Kirche ist (143). Dieser Begriff zeigt das Geheimnis der Kirche „in der deutlichsten und bildlosesten Fassung“ (143). Koster erkennt in ihm einen Sachbegriff und mehr als ein bloßes Bild, wie er es in der meist einseitig augustinisch gelesenen „Leib Christi“-Theologie seiner Zeit findet (145). Daher ist bei einer Neubeschreibung der Ekklesiologie unbedingt vom Begriff „Volk Gottes“ auszugehen (145, 148). „‚Volk Gottes‘ bringt aus sich und sofort die Kirche als Gemeinschaft zum Bewusstsein“ (146) und damit die menschliche Dimension. Zudem orientiert sich die Bezeichnung heilsgeschichtlich am „Volk Gottes“ des Alten Testamentes und ist von dort her schon legitimiert (146f). Diese heilsgeschichtliche Analogie wird Kosters Ansicht nach in der zeitgenössischen Theologie zu häufig übersehen (151). Koster hat somit den theologischen Grundbegriff gefunden, von dem her alle anderen analogen, bildhaften Aussagen über die Kirche ihren Ausgangspunkt nehmen müssen (147f). Es gibt nichts, was diesem Begriff vorausliegt (152). Die anderen biblischen Bezeichnungen wie „Familie Gottes“, „Leib Christi“ oder „Braut Christi“ müssen von diesem Leitbegriff, und damit vom Einbezug der gemeinschaftlichen Dimension der Kirche her bestimmt werden (141). Die Kirche ist keine übernatürliche Person, kein Christuskörper, sondern eine übernatürlich bewirkte Körperschaft (150). Im Begriff der „Braut Christi“ kommt die personal Verschiedenheit Christi und seiner Kirche in besonderer Weise zum Ausdruck (151). Die Kirche ist „freierwähltes, personenhaftes, messianisch-priesterlich beschenktes Werkzeug in Dienst des Heilswirkens Christi“ (151) und zudem erstes Ergebnis seines Heilswirkens (151).

Ist „Volk Gottes“ der Ausgangspunkt einer neuen Ekklesiologie, so ist das Ziel der „theologische Begriff“ der Kirche. „Volk Gottes“ und theologischer Begriff sind nicht notwendigerweise identisch (156).

Fasst man die Argumentation Kosters kurz zusammen, sprechen bei ihm folgende Argumente für den „Volk Gottes“-Begriff als ekklesiologische Leitmetapher: 1. „Volk Gottes“ bringt die gemeinschaftliche und die gesellschaftliche Seite der Kirche zum Ausdruck. 2. Damit regt der Begriff dazu an, die Binnendifferenzierung hinsichtlich des Auftrags und Apostolats der Kirchenmitglieder in Bezug auf ihren „sakramentalen Charakter“ besser zu definieren (der hiermit verbundene Begriff des „gemeinsamen Priestertums“ wird von Koster nicht ausdrücklich reflektiert). 3. Der „Volk Gottes“-Begriff ermöglicht eine differenzierte Bestimmung der gestuften Zugehörigkeit zur Kirche. 4. Der Begriff betont den Abstand zwischen Gott und der Kirche.

1.1.3 Zur Diskussion um Kosters ekklesiologischen Ansatz

Die ausführliche Darstellung von „Ekklesiologie im Werden“ zeigt das Anliegen und die vielschichtige Argumentation Kosters deutlich auf. Der Vorwurf, Koster würde in der Konzentration auf das Kirchenrecht und den Aufbau der kirchlichen „Gesellschaft“ eine juridische Sicht des Volkes Gottes entwerfen und die heilsgeschichtliche Dynamik des Begriffes vernachlässigen84, trifft nicht zu. Ebenso wenig darf man vermuten, Koster sei in Wirklichkeit ein verkappter Vertreter einer überkommenen apologetischen Ekklesiologie, da er die Kirche als „Volk Gottes“ nicht von ihrem inneren Geheimnis, sondern von ihrem durch Amt und sakramentale Charaktere aufgebauten Gesellschaftswesen betrachte.85 Beide Vorwürfe zeigen Schwächen der Argumentation Kosters auf, würdigen aber nicht die Intention seiner Schrift. Koster beansprucht, wie gesehen, nicht, eine vollständige und geschlossene Ekklesiologie vorzulegen. Es geht ihm darum, die Einseitigkeiten bestehender ekklesiologischer Ansätze aufzuzeigen: sowohl des apologetischen, des liturgisch motivierten, wie auch des systematischen einer „Leib Christi“-Theologie. Er öffnet durch den Verweis auf die Gesamttradition der Kirche, die sich in ihren biblischen, liturgischen, rechtlichen Quellen, wie auch bei den Kirchenvätern findet, das Panorama für einen umfassenden ekklesiologischen Neuansatz und kritisiert die teilweise erdrückende zeitgenössische Vorrangstellung der Augustinusrezeption als Grundlage der Lehre von der Kirche. Gegen eine Fixierung auf den geheimnishaften Charakter der Kirche dringt er auf die Einbeziehung ihrer gesellschaftlichen, sozialen und konkreten Wirklichkeit. Der Begriff „Volk Gottes“ stellt ein Gegengewicht zu einem zum Teil kritiklos und assoziativ verwendeten Begriff des „mystischen Leibes Christi“ dar, und bildet somit eine solide Ausgangsbasis für eine noch zu entwickelnde Gesamtsicht auf die Kirche.86 Kosters Schrift hat ohne Zweifel Schwächen. Sie ist polemisch, teilweise pauschalierend, wirft Themen auf, die argumentativ nicht bis zum Ende entwickelt werden und wirkt zuweilen ungeordnet. Sie ist kein abgeschlossener akademischer Traktat, sondern ein engagierter Zwischenruf, eine Streitschrift. Als solche allerdings wirkt sie mit Blick auf die ekklesiologische Standortbestimmung des II. Vatikanischen Konzils erstaunlich hellsichtig und richtungsweisend.

1.1.4 Auf dem Weg zu einer Neubestimmung der Ekklesiologie

Kosters „Ekklesiologie im Werden“ erntet bei seinen Zeitgenossen insgesamt Beachtung. Sein zentrales Anliegen findet jedoch wenig Anerkennung.87 Erich Przywara etwa nimmt zwar Kosters Gedanken der „sakramentalen Charaktere“ als Hinweis auf eine zu entwickelnde Ekklesiologie unter dem Leitbegriff des Sakramentes auf, würdigt die Neuentdeckung des „Volk Gottes“-Begriffs jedoch nicht.88 Ähnlich betont auch Joseph Loosen lediglich einen Teilaspekt, Kosters „wissenschaftlich überlegene“ Kritik an der theologisch oft mangelhaften Darstellung der Kirche als „Leib Christi“.89

Mit der Enzyklika „Mystici Corporis“ erreicht die Diskussion um das Wesen der Kirche 1943 ihren vorläufigen Abschluss und Höhepunkt.90 Pius XII. richtet sich in ihr zum einen gegen einen „falschen Rationalismus“ und „Naturalismus“, der die Kirche als rein soziologische und rechtliche Größe sieht91, sowie gegen einen Mystizismus, „der die unverrückbaren Grenzen zwischen Geschöpf und Schöpfer zu beseitigen sucht und gegen die Heilige Schrift missdeutet“92. Der Papst hebt den Begriff des „mystischen Leibes Jesu Christi“ als zu bevorzugenden Ausdruck zur Erklärung des Wesens der Kirche hervor93, da in ihm sowohl die übernatürliche, als auch die gesellschaftlich-hierarchische Dimension der Kirche zum Ausdruck gebracht werden.94 Der „corpus Christi mysticum“ und die katholische Kirche sind miteinander identisch.95 Den Kritikern des Begriffs bescheinigt der Papst eine „unbegründete Furcht“ vor einer „tieferen Lehre“ von der Kirche.96 Damit vereinigt „Mystici Corporis“ die hierarchiologische Kirchenverfassung von 1870 mit dem romantisch beeinflussten Kirchenbild der Zwischenkriegszeit97 und bringt die katholische Diskussion zunächst zu einem Stillstand.98

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der von Koster gegebene Anstoß zu einer Weiterentwicklung der Ekklesiologie anhand des „Volk Gottes“-Begriffs ungehört verhallt. So hält etwa der Kirchenrechtler Klaus Mörsdorf in dem von ihm herausgegeben „Lehrbuch des Kirchenrechtes“ mit Verweis auf Kosters Werk fest, der Begriff „ecclesia“, sowie der liturgisch verwendete Ausdruck „Volk Gottes“ haben den Vorzug, „die einzigen Sachbezeichnungen“, und damit Grundbegriffe zur Kennzeichnung der Kirche zu sein.99 „Die Kirche ist das in hierarchischer Ordnung lebende neue Gottesvolk zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.“100 Ebenso knüpfen der Patristiker Josef Eger101 und der Liturgiewissenschaftler Ambrosius Schaut102 in ihrer Forschung direkt an Koster an.103 Für Ulrich Valeske wird daher 1962 im Rückblick deutlich, wie die katholische Ekklesiologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Entwicklung nimmt, die „im Wesentlichen nicht in den von der Enzyklika ‚Mystici Corporis‘ vorgezeichneten Linien verlief, sondern die von Pater Koster und L. Cerfaux angegebene Richtung einschlug und sich dann um eine Synthese beider Betrachtungsweisen bemühte.“104

Der belgische Bibelwissenschaftler Lucien Cerfaux legt 1942 eine umfangreiche Studie zur Theologie der Kirche bei Paulus vor, in der er nachweist, dass die jüdische Idee des „Volkes Gottes“ auch für Paulus’ Verständnis der Kirche, mindestens für seine frühe Phase, prägend war.105 Israel, das nicht mehr als nationales, sondern als geistiges messianisches Volk verstanden wird, bleibt Träger der göttlichen Verheißungen.106 Aus dem heiligen Rest der Juden, sowie den hinzukommenden Heiden bildet sich das neue „Volk Gottes“.107 Der „Leib Christi“, von Paulus auf die Eucharistiegemeinschaft hin gedeutet, erhält seine symbolische Bedeutung für die Kirche als Ausdruck der geistgewirkten Gemeinschaft108 und wird in den Deuteropaulinen zunehmend hellenistisch im Sinne eines „corpus magnum“, der die Welt mit Christus als Haupt überformt, verstanden.109 „Volk Gottes“ ist für Paulus die ursprüngliche, heilsgeschichtlich konnotierte Bezeichnung, aus der sich der Begriff der „Kirche“ erst entwickelt.110 Ähnlich wie Koster im Bereich der systematischen Theologie geht es Cerfaux, gegen die Engführung auf den „Leib Christi“-Begriff, um die Gewinnung eines weiteren exegetischen Horizonts, von dem er sich einen Beitrag für die ekklesiologische Forschung seiner Zeit verspricht.111

Von den umfassenden exegetischen und systematischen Forschungen im protestantischen Bereich, die ebenfalls zu einer Neubelebung des „Volk Gottes“ als Grundkategorie biblischer Theologie beitragen112, sei hier exemplarisch nur auf die Studie von Nils Alstrup Dahl, „Das Volk Gottes“, von 1941 hingewiesen.113 In einem großen geschichtlichen Bogen stellt Dahl die Entwicklung des Begriffs bis in die Spätschriften des Neuen Testaments dar und sieht im „Volk Gottes“ bei Paulus die konsequenteste Weiterführung des Erwählungsgedankens Israels in der jungen Kirche, die nicht im Gegensatz, sondern als Grundlage für die spätere Bestimmung der Kirche als „Leib Christi“ zu sehen ist.114 Jesus erscheint bei Dahl als personale Verkörperung des Gottesvolkes, seine Jünger als die Vertreter des wahren Israel.115

Insgesamt deutet sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein langsamer Wandel in der katholischen Theologie an, an dessen Ausgangspunkt das Werk Kosters steht.116 Einen Meilenstein auf diesem Weg zu einem neuen ekklesiologischen Grundverständnis stellt die Dissertation Joseph Ratzingers zum Kirchenverständnis bei Augustinus dar. An ihr lässt sich der eingetretene Wandel in besonderer Weise illustrieren. Ihr Entstehen kann direkt auf den Einfluss der koster’schen Streitschrift zurückgeführt werden.

 

1.2 Joseph Ratzinger: „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“

Als der Münchener Fundamentaltheologe Gottlieb Söhngen seinen Schüler Joseph Ratzinger im Sommer 1950 zur Beteiligung an der von ihm gestellten Preisaufgabe der Theologischen Fakultät auffordert117, schickt er ihn „an die vorderste Front der theologischen Diskussion, wie ein angemessener Kirchenbegriff formuliert werden könne“118. Die von Söhngen gestellte Aufgabe „Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche“ ist bewusst gewählt. Ratzinger berichtet, Söhngen, der wie Koster in den dreißiger Jahren Schüler von Arnold Rademacher war119, sei ein aufmerksamer Leser von Kosters „Ekklesiologie im Werden“ gewesen: „Dieses Buch hat meinem Lehrer Gottlieb Söhngen großen Eindruck gemacht. Er erinnerte sich dabei daran, dass der Katechismus des Trienter Konzils einen Satz des Hl. Augustinus zitiert: ‚Die Kirche ist das über den ganzen Erdkreis verbreitete gläubige Volk‘“.120 Hiervon ausgehend habe Söhngen laut Ratzinger die Frage beschäftigt, ob der Begriff „Leib Christi“ bei Augustinus wirklich so zentral sei, wie es die zeitgenössische Augustinusforschung behauptete, oder ob die Kirchenauffassung des Bischofs von Hippo nicht vielmehr auf dem Begriff „Volk Gottes“ gründe.121 Auch wenn Ratzingers Dissertation diese Annahme so später nicht bestätigen wird122, zeigen sich in der Doktorarbeit deutlich der veränderte Horizont ekklesiologischer Forschung und das Interesse an einem neu zu gewinnenden Zentralbegriff für die Lehre von der Kirche.123