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Darf eine Frau einfach nur Hausfrau und Mutter sein? Reicht das? Versäumt sie dabei nicht das Wichtigste im Leben? Victoria Bonelli, Mutter von fünf Söhnen zeigt, wie erfüllend das sein kann und wie revolutionär scheinbar konservative Lebensmodelle sind. "Frauen sollen die Karriere machen, die sie wollen, aber die schönste Karriere besteht darin, Kinder zu haben", schreibt sie.
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Victoria Bonelli:Vollzeitmutter
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Thomas Breit
Satz: Bastian Welzer
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Europa
12345—27262524
ISBN: 978-3-99001-679-4
eISBN: 978-3-99001-680-0
VICTORIA BONELLI
Der wichtigste Beruf der Welt
edition a
Abenteuer im Auto
TEIL 1
Meine Vision
Was ich immer schon wollte
Die Anfänge
Meine Entscheidung zur Familie
Job und/oder Familie?
TEIL 2
Meine Ehe
Am Du wird der Mensch zum Ich
Harmonie ist kein Zufall
Who is Who in der Familie
Geheimnisse der Liebe
TEIL 3
Meine Ressourcen
Meine Kraftquelle
Burnout-Prophylaxe
TEIL 4
Meine Kinder
Kinder sind ein Geschenk
Erziehung
Familienglück
Was Kinder so brauchen
Gewidmetmeinem Ehemann Raphael
Um Himmels willen! Auch das noch! Bitte nicht! Einen Moment lang saß ich wie gelähmt da. Tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf. Was nun? Sollen wir umdrehen? Zu spät! Warum gerade jetzt? Und warum im Auto? Unser ältester Sohn Primus hatte sich übergeben. Die halbe Rückbank war voll mit Erbrochenem, es stank. Der Kleine war gesund, da war ich mir sicher. Es lag mal wieder an der Autofahrt. Als Kind war es bei mir ja ähnlich gewesen. Ob im Flieger, in der Bahn, im Bus oder im Auto: Kaum war ich länger unterwegs, ging es los. Ich übergab mich. Allein der Gedanke an längere Fahrten löste ein Angstgefühl in mir aus. Umso mehr ärgerte mich die Sache. Ich hätte es wissen müssen. Primus war wie ich früher. Warum hatte ich keine Ersatzkleidung eingepackt? Wie ärgerlich!
Da fielen mir die Worte meines Mannes wieder ein. Er sagt immer schmunzelnd, auch heute noch, ich sei keine Perfektionistin. Genau das wäre das Schöne an mir, ich entschärfe angespannte Situationen, wirke beruhigend. Nun ja, mag sein, aber in diesem Augenblick bereute ich, keine zu sein. Einer Perfektionistin wäre das nicht passiert: Das Kind erbricht sich und Plan B fehlt. Schreien? Einfach laut drauf los schreien? Das hätte das Problem auch nicht gelöst.
Ich drehte mich zu meinem Mann. Dieser wirkte total entspannt, er lächelte sogar still vor sich hin. Die Kinder waren auch gut drauf. Ich liebe das, wenn mein Göttergatte in der Krise ruhig bleibt. Ein Exemplar, das in so einer Situation zu weinen beginnt, könnte ich nicht brauchen. Ich mag keine hysterischen Männer.
»Alles okay, Primus?«, fragte ich unseren Sohn.
»Alles wieder gut, Mama.«
Na dann. Mein Traummann kicherte gut gelaunt und öffnete die Fenster. Seine gute Laune war ansteckend. Er kann mich so am besten aus dem Drama holen. Plötzlich lachten wir alle mit. Wir saßen, im Hochsommer, zu sechst in einem vollgekotzten Auto auf dem Weg zu einer Hochzeit ins Südburgenland, und lachten. Einfach so. Spontan. Ist das nicht irgendwie komisch? Mein Mann und ich vorne, hinter uns vier kleine Buben im Alter zwischen sechs Jahren und drei Monaten, mitten im Erbrochenen, und wir konnten nicht anders, als zu lachen.
Im Nachhinein betrachtet war es ein verbindendes Erlebnis. Die Kinder blieben ruhig, vermutlich wussten sie, dass es keinen Sinn machte, sich über den Gestank und Primus zu beschweren. Es war eben so, wie es war, und es musste weitergehen.
Mein geliebter Ehemann suchte jetzt eine Gelegenheit, das Auto und den Buben zu sanieren. Ich war froh, mich mal zurückzulehnen. Mitten in der Pampa entdeckte er ein hübsches bäuerliches Haus mit einem Trampolin im Garten. Ein Trampolin? Welch Segen! Die hatten Kinder! Er blieb einfach stehen. Primus brauchte neue Kleidung und außerdem wollten wir das Auto sauber kriegen und den Geruch hinaus. Ich war gespannt. Wer Kinder hat, weiß, was alles möglich ist. Mit Kindern passieren die verrücktesten Sachen und das zu den unpassendsten Zeiten. So wie an diesem Tag, am Weg zur Hochzeit. Oder, wenn ich schnell mal wegmuss und mir irgendeiner meiner fünf Söhne die Schuhe versteckt, aber leider nicht mehr weiß, wo sie sind. Kinder zu haben ist ein Abenteuer, an dem wir wachsen, aber manchmal ein kleinwenig verzweifeln können. Dieser Tag war besonders speziell, nichts lief, wie es sollte, und ich ahnte, es würde noch länger so weitergehen.
Mein Mann klopfte an die Tür, während ich verschämt im Auto blieb. Ein bisschen peinlich war mir die Situation schon. Ein netter Herr öffnete sie. Meine bessere Hälfte erzählte amikal und völlig natürlich, was uns passiert war, und bat ohne Scham um Hilfe. Er stieß überraschenderweise sofort auf Verständnis. »Wir haben auch Kinder, zwei Söhne, ich kenne das.« Der Herr lächelte. Ich war erleichtert. Gott sei Dank war ich nicht allein mit den Kindern unterwegs, an der Unverschämtheit muss ich noch arbeiten!
Der hilfsbereite Herr wusste gleich, was zu tun war, und brachte einen Eimer Wasser mit Putzfetzen. Mein Mann und ich legten gleich los und befreiten das Auto vom Erbrochenen. Die Kinder hatten wir in der Wiese geparkt.
Als wir fertig waren, fiel mein Blick auf Primus. Ach ja, genau, er brauchte frische Sachen, egal, was. So konnten wir nicht weiterfahren. Ich flüsterte das meinem Mann und der bat den Hausherrn nonchalant nun auch noch darum. Auch schon egal. Der lachte nur. »Leider ist meine Frau nicht da, sie ist mit unseren Söhnen unterwegs, aber ich schau mal, was ich finde.«
Nur waren die Söhne des Mannes deutlich älter als Primus, gleich drei oder vier Jahre. Er kam also mit einem Fußballdress zurück, in das Primus zweimal hineingepasst hätte. Egal, Hauptsache er hatte frische Sachen für ihn. Wir bedankten uns und notierten die Adresse, ein paar Tage später schickten wir ihm den Dress, das bunte T-Shirt und die kurze Hose zurück.
War das ein Abenteuer! Dabei hatte der Tag ruhig und entspannt begonnen, ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war warm, mitten im Juni, vor etwas mehr als drei Jahren. Wir hatten damals vier Kinder, den Jüngsten, Quartus, stillte ich noch. An dem Morgen kam mein Traummann zu mir und nahm den Kleinsten, weil er wollte, dass ich mich ausschlief, was mir nach dem Stillen in der Nacht guttat. Danach warf ich mich in Schale: High Heels und dazu ein elegantes dunkelblaues Kleid. Mama ging aus! Endlich wieder eine Gelegenheit!
Meine Mutter schenkt den Buben jedes Jahr schöne Kleidung, und zwar für alle das Gleiche, etwas für besondere Anlässe, einen Einheitslook. Ich finde die Idee wunderbar, sie hat etwas Verbindendes. So sieht jeder, dass die Jungs zusammengehören, es ist wie eine Art Ritual. Sie sind ein Rudel. Und es fällt uns auch viel leichter, sie alle in einer größeren Gruppe im Blick zu behalten. Das erste Mal sah ich so etwas in Sevilla, der wunderschönen Hauptstadt Andalusiens. Ich war damals 19 und Studentin. Es war im Sommer, im August, ich war dort auf Urlaub und sah vor einer Kirche eine Familie mit mehreren Kindern, die alle das Gleiche trugen. Ich konnte kaum den Blick von dieser Schar lassen, die noch dazu wohlerzogen schienen. Dieses Bild hat sich tief in mir eingeprägt. Es hatte etwas Liebes, Sanftes und zugleich unglaublich Starkes. Hier sind wir! Wir gehören zusammen und stehen für dieselben Werte! Für Glauben, Familie, Freundschaft, Bescheidenheit, Normalität.
So fühlte sich der Gemeinschaftslook damals für mich an und so mag ich ihn auch heute noch bei unseren Kindern, aber nur für besondere Anlässe, es wäre mir sonst zu aufwändig. Die Hochzeit im Südburgenland war so ein Anlass. Sie hatten Omas Sachen an, dunkelblaue Chinohosen und hellblaue Hemden. Alle gleich. Wie süß, als ich sie am Morgen so im Flur stehen sah! Doch es sollte eben anders kommen, mittendrin hatte sich ein Fußballer eingeschlichen, Primus, im kunterbunten Fußballdress! Die viel zu große Hose rutschte ihm ständig hinunter, er war größtenteils damit beschäftigt, dass sie dort blieb, wo sie sein sollte.
Trotz des lustigen Zwischenfalls kamen wir rechtzeitig zur Hochzeit. Die Messe ging gerade los und dauerte etwa eineinhalb Stunden. Für Kinder ist das lange, aber unsere Jungs sind den Besuch der heiligen Messe gewohnt und haben gelernt, auch mal brav und ruhig zu sein – zur Abwechslung. Die Schönheit der Liturgie war wie eine Belohnung für all das, was wir an dem Tag gemeinsam durchgemacht hatten. Nach der Messe war der offizielle Empfang, wir standen vor der Kirche, draußen im Freien, bei herrlichem Sonnenschein. Die Kinder stürzten sich aufs Buffet. Für manche sahen wir vielleicht ein wenig merkwürdig aus. Wie wir so dastanden, schick und aufgebrezelt, und mittendrin Primus im bunten Fußballtrikot. Umso erleichterter war ich, dass es ihm gut ging und er bei bester Laune war. Er hüpfte zwischen dem vielen Essen hin und her und verschlang ein Brötchen nach dem anderen.
»Ich kann mir schon denken, was passiert ist«, sagte eine Freundin, die sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Sie hatte selbst sechs Kinder, ich musste ihr gar nicht erst erklären, was los war.
»Kinder«, sagte sie, »das sind eben Kinder.« Oh, wie recht sie hatte! Mit Kindern können wir nie alles perfekt planen, vor allem nicht, wenn es viele sind, und schon gar nicht, wenn Babys ins Spiel kommen. Und so ging unser Abenteuer weiter …
Quartus, damals unser Jüngster, sollte noch eins draufsetzen. Ich hatte mich nach der Messe mit ihm zurückgezogen, um ihn zu stillen, danach gab ich den Kleinen meinem Mann, der ihn liebevoll nahm. Tja. Das war’s dann. Quartus erbrach die ganze Muttermilch über den Rücken des feinen Cutaways meines Mannes. Die Milch war überall, oben, unten und in der Mitte seines schwarzen Anzugs. Da war es dann auch schon egal. Immerhin war es nur hinten. Mein Mann lachte. Es musste so kommen. Es begann mit Erbrochenem und sollte mit Erbrochenem enden. Ich wischte meinem befleckten Göttergatten notdürftig die viele Milch von seinem Gewand. Viel war nicht zu machen, es war zu großflächig, wir hätten den ganzen Cutaway waschen müssen. Ersatzgewand gab es für ihn auch keines.
»Ich sehe bestimmt schick aus«, scherzte mein Mann.
»Oh ja! Unschlagbar schick!«
Wir lachten. Weil es ohnehin egal war.
Als wir wieder zu Hause waren, verspürte ich Glück und tiefe Dankbarkeit für diese Familie. Dass wir an jenem Tag, wie schon viele Male davor, zusammenhielten; dass wir einander keine Vorwürfe machten und uns nicht anschrien; dass mein Mann die Stimmung zum Positiven herumreißen konnte, dass wir aus einem Moment, der für viele Familien vielleicht nicht so einfach gewesen wäre, das Beste machten und sogar Kraft daraus schöpften. All das ist schon etwas Besonderes. Für mich ist meine Familie das größte Geschenk, und ich bin mir dessen bewusst. Ich weiß, es ist ein Segen, Teil einer glücklichen, intakten Familie zu sein, und dazu gehören für uns Kinder, viele Kinder. Sie bereichern unser Leben und stärken unseren Zusammenhalt als Eltern, aber auch als Liebespaar. Obwohl bei uns immer was los ist, nehmen wir uns Zeit für unsere Liebe, sie ist die Basis unseres Glücks.
Manchmal fragen mich Menschen, warum wir so viele Kinder haben, mittlerweile immerhin fünf, und hoffentlich werden es noch mehr. So Tage wie dieser sind eine Antwort darauf. Weil es einfach wunderschön mit ihnen ist. Weil sie uns zum Lachen bringen. Weil es ein unglaubliches Lebensglück ist, sie heranwachsen zu sehen. Weil man Kinder besser lieben kann als eine kalte Karriere. Weil es viele Kinder leichter und niemals schwerer machen. Weil Geld nicht die Ärmchen ausbreitet, an einem hochspringt und »Mama, Mama!« ruft. Weil man mit Gold schlecht kuscheln kann. Wie sie an jenem Sommertag ruhig und hilfsbereit dasaßen, als Primus plötzlich erbrach, das sagt viel über unsere Buben aus.
Wir kennen Eltern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihre Kinder ständig zu bespaßen, damit ihnen nicht langweilig wird. Oder damit sie Ruhe geben. Das sagen sie auch so: »bespaßen«. Sie wirken wie gestresste Entertainer, die am Ende das Handy zücken, um ein wenig auszuspannen. Das ist gar nicht unser Ehrgeiz, die Bespaßung. Bei mehreren Kindern rückt man von so einem Ziel auch ganz schnell ab, sonst ist man verloren. Unsere Jungs spielen ohnehin die ganze Zeit miteinander, es schwebt nicht immer ein ängstlicher Helikopter-Elternteil kontrollierend über ihnen, und so werden sie umso selbständiger und sozialer. Jeder von ihnen hat ständig vier potenzielle Spielkameraden, mit den Eltern sogar sechs. Wie viele verschiedene Gruppenbildungen da möglich sind, ist gar nicht so leicht auszurechen. Aber die Größe der Familie schärft auf jeden Fall die soziale Kompetenz der Kinder. Neulich las ich ein Buch, und einige Kinder spielten vor mir auf dem Boden. Primus, der Älteste, war damit beschäftigt, ein selbsterfundenes Comic zu zeichnen. Da baumelte plötzlich der einjährige Sturzpilot Quintus mit den Beinen vom Esstisch, weil er auf den Stuhl geklettert und dieser umgefallen war. Wortlos und tief versunken in den kreativen Prozess stand der 8-jährige Primus auf und hob den Kleinen auf den Boden. Danach setzte er sich wieder hin, als sei nichts geschehen, und malte konzentriert weiter. Ich war wirklich berührt: Sie achten ganz selbstverständlich aufeinander!
Falls Sie sich über die komischen Namen unserer Kinder wundern: Die sind frei erfunden. Vielleicht sind Sie jetzt erleichtert. Nein, wir leiden nicht an einer chronischen Geschmacksverirrung, und wir sind auch nicht Teilnehmer an dem Wettbewerb »Finde den seltensten Vornamen des Jahrhunderts und traumatisiere dein Kind schon bei der Geburt«. Die Lateiner unter Ihnen werden durchschaut haben, was Primus, Secundus, Tertius, Quartus und Quintus bedeuten. Mir war hier ein gewisser emotionaler Abstand des Buches zu meinen Kindern wichtiger als biographische Korrektheit.
Ich werde in diesem Buch noch viele lustige Geschichten erzählen. Wenn sie uns mit köstlichem Essen überraschen, das aus Wasser, Nudeln, Seife und jede Menge Spülmittel besteht, was wir gerade noch rechtzeitig bemerken, um es dann doch nicht zu essen. Oder wenn sie die Wände bemalen, mit herrlichen Ritterburgen und imposanten Schwertern, die Farbe aber nicht abgeht. Wenn ein schwarzer Permanentmarker moderne Kunst auf den Esstisch zaubert. Wenn das Badezimmer geflutet wird oder mein Handy stundenlang unauffindbar bleibt, weil es im Burgverlies deponiert wurde. Wenn der Einjährige auf dem Schreibtisch unseres Arbeitszimmers steht und interessiert den Computer bearbeitet. Wenn die Sandkiste in das Kinderzimmer verlegt wird. Wenn ich fünf Minuten vor der Ankunft des noblen Besuches zum festlichen Abendessen feststelle, dass die Polstermöbel des Wohnzimmers zum Zwecke des Baus einer Festungsanlage auseinandergenommen und kreativ neu zusammengefügt wurden. All das ist Glück, ein Glück, das zu leben sich viele nicht trauen, weil sie meinen, irgendwelche gesellschaftlichen Konventionen erfüllen zu müssen, die mehr Last als Freude sind: Karriere, Geld, Optik.
Unsere moderne, vermeintlich offene Gesellschaft ist voller unbewusster Vorurteile. Es ist aus meiner Sicht keine Bosheit, es ist mehr eine völlige Entfremdung vom wahren Leben. Hat eine Frau viele Kinder, wird sie als »Heimchen am Herd« schubladisiert, als eine, die ja »nur« Kinder hat und bestimmt frustriert ist. So eine Ehe kann doch nicht glücklich sein, heißt es da, weil die Zeit für den Partner fehle; eine Frau ohne Karriere und ohne »eigenes« Geld, das könne doch nicht gutgehen; und überhaupt, da stimme doch etwas nicht, wer bekomme heute denn noch viele Kinder?
Auf all das habe ich meine Sicht der Dinge. Sie steht in meinem Buch und wird Sie vielleicht manchmal überraschen. Ich lebe ein Leben, das sich nicht im oberen Management irgendwelcher Firmen abspielt, das nicht aus lebensfremden Meetings besteht, bei denen man letztendlich die Zeit totschlägt, das sich nicht in einer Tätigkeit erschöpft, die außer einem üppigen Gehalt wenig Sinn zu stiften vermag. All das, was heute jungen Frauen als erstrebenswert angepriesen wird, hätte ich haben können. Aber das war mir zu wenig.
Ich habe mein Glück ganz woanders gefunden, in einer Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit, die sich nicht toppen lässt.
»Vici, was möchtest du später einmal werden?«, fragte mich mein Vater einmal.
»Ich möchte die Welt retten, Papa«, sagte ich als kleines Mädchen. Nun, ich war damals ausgesprochen bescheiden.
Als Teenager war ich überzeugt: »Ich will Ärztin werden und für Ärzte ohne Grenzen arbeiten!«
Heute verwirkliche ich mich in meiner Familie. Ich unterstütze. Ich organisiere. Ich bin da. Ich kümmere mich. Ich umhege. Ich schenke mich. Ich liebe. Für mich gibt es nichts Schöneres. Ich rette die Welt. Jeden Tag. Wenn auch eine sehr kleine Welt.
Meine Eltern waren darüber, wenn auch nur anfangs, ein wenig verwundert. Lange hatte es ja ganz anders ausgesehen.
»Wozu?«, fragte mich mein Vater, als ich ihm erzählte, dass ich heiraten wolle.
Er war überrascht. Er dachte, ich wolle zuerst Karriere machen, danach hatte es immer ausgesehen. Ich war eine Leseratte, im Gymnasium Klassensprecherin, eine ehrgeizige Einser-Schülerin, sattelfest in jedem Fach, und ich maturierte mit Auszeichnung. Ich war die Topkandidatin für das vielgepriesene Konzept der »Frauenkarriere«, und bin später zum Aussteiger geworden. Und das bereue ich nicht. Ganz im Gegenteil: Ich bin stolz darauf. Ich habe etwas Größeres entdeckt.
Die ersten Inspirationen für mein Familienideal waren das Leben, das Charisma und die Erzählungen meiner Oma Marianne. Erst jetzt ist mir klar, wie sehr sie mich beeindruckt hat. Früher war sie für mich einfach völlig selbstverständlich. Sie beflügelte meine Fantasie mit schönen Erinnerungen aus ihrer Kindheit. »Ich hatte einen sehr lieben Papa«, erzählte sie mir einmal, als ich ein Kind war. »Wir hatten wenig Geld, aber das war nicht wichtig. Eines Tages brachte Papa einen alten Bus nach Hause. Er war kaputt, Schrott. Papa lud ihn im Garten ab. Es war das schönste Geschenk, das er uns Kindern hätte machen können! Dieser Bus war unser neuer Spielplatz. Wir haben darin gespielt, stundenlang, es war wunderschön!«
Meine Großmutter wuchs in Vorarlberg auf, in Bregenz, mit ihren Eltern und sechs Geschwistern, drei Mädchen und vier Buben. Es gab ein Zimmer für die Mädchen und eines für die Buben. Die Familie lebte bescheiden, aber sie litt keine Not.
Als meine Oma mit 96 Jahren starb, war ich traurig und dankbar zugleich. Traurig, weil sie nicht mehr bei mir war, und dankbar, weil sie lange in meinem Leben gewesen war und noch unsere Kinder sehen durfte – ihre Urenkel! Sie verkörperte Werte wie Familie, Glaube, Treue und Liebe wie niemand anderer in unserer Großfamilie. Das sind starke Werte, die für das Fundament unserer Gesellschaft stehen.
Eine gesunde Gesellschaft braucht gesunde Werte. Es ist wie bei einer Ernte. Damit die ausgesäten Samen einmal richtig keimen, benötigen sie ausreichend Wärme und Feuchtigkeit. Bei uns Menschen ist es ähnlich. Wollen wir, dass sich unsere Gesellschaft richtig entwickelt, dass wir ehrliche Menschen heranziehen, die mit Ethik und Herz regieren, müssen wir ihnen Werte vermitteln, die sie genau dorthin führen.
Auch das geht am besten in der Kindheit. Wenn wir sie schon in ihren ersten Jahren ganztags in Betreuungsstätten zu fremden Leuten abgeben, wird das kaum klappen.
Warum sind diese Werte so wichtig, abgesehen davon, dass die Gesellschaft sie braucht, um stabil zu sein? Weil alles andere nicht glücklich macht. Lügen, Betrug, Untreue, Gier, all das führt ins Unglück. Es führt auf einen Weg, auf dem wir uns am Ende verlieren und wo wir vielleicht sogar zerbrechen.
Meine Großmutter wusste das. Sie schenkte sich, sie war da. Sie kreiste nie um sich selbst, war immer ausgerichtet auf ihre Kinder, Schwiegerkinder und Enkel. Sie half uns, wann immer es ihr möglich war. Sie kam stets leise und respektvoll, kümmerte sich um alles, während meine Mutter arbeitete, und ging dann wieder genauso leise, wie sie gekommen war.
Sie wollte nie stören. Sie dachte immer zuerst an uns, war stark und sanft zugleich, liebevoll und fürsorglich. Niemals war sie aufdringlich. Ihre Käsespätzle mit Vorarlberger Bergkäse waren legendär.
Ich sehe es noch heute vor mir. Es gab keine teuren Geschenke bei ihr, keinen Firlefanz, keine Puppen, kein Lego oder Playmobil. Ihr Wäscheständer war mein Gehege, ich kippte ihn um und setzte meine Stofftiere hinein. Die Wäschekluppen waren das Futter für meine Tiere, es war wunderbar. Dank ihr lernte ich, mit den einfachsten Dingen Ausgefallenes zu zaubern, ein unbezahlbares Vergnügen.
»Oma, ich hab dich so lieb, mit dir ist’s immer so schön«, sagte ich viele Male zu ihr. Sie lächelte dann. Ich weiß gar nicht, ob sie wusste, wie sehr sie mich beschenkte.
Meine Großmutter führte mit ihrem geliebten Mann eine glückliche Ehe. Sie hatten zwei Kinder, meine Mutter und meine Tante. Leider verstarb mein Großvater, ein Ungar, früh. Ihn habe ich nicht kennenlernen dürfen. Ich weiß noch, dass meine Großmutter stets sein Grab pflegte und oft in der Krimkirche, der Pfarrkirche Franz von Sales in Wien-Döbling, betete.
»Weißt du, Vici, Opa freut sich, wenn ich das mache«, sagte sie zu mir. Es gab ihr Kraft. Es berührte mich, wenn sie von ihm schwärmte. In mir entstand damals das Ideal einer Ehe.
Meine Großmutter verehrte den Heiligen Antonius, genannt auch »Antonius von Lissabon«, ein portugiesischer Priester des Franziskanerordens. Er soll zahlreiche Wunder vollbracht haben. So sollen ihm die Fische im Meer andächtig zugehört haben, genauso wie dem heiligen Franz von Assisi die Vögel. Meine Großmutter bat ihn immer um Hilfe, wenn sie etwas nicht finden konnte. Oft, daran erinnere ich mich noch genau, sagte sie: »Heiliger Antonius, guter Mann, führe mich bitte zu meiner Brille heran.« Am Ende fand sie immer alles. Wie viel da der heilige Antonius wirklich mithalf, entzieht sich meiner Kenntnis.
Sie arbeitete gern, vor allem für andere. Sie nahm mich mit in ihre Welt, zeigte mir, wie sie wusch, bügelte, putzte und kochte. Sie war eine wunderbare Köchin und zauberte wunderbare Gerichte aus dem Nichts. Manche würden diese Aufgabe abwertend dem »Heimchen am Herd« zuschreiben. Wie wenig haben diese engstirnigen Menschen doch vom wahren Leben verstanden. Meine Oma war der Fels in der Brandung! Ich spürte früh, dass sie für die Großfamilie viel wichtiger war als all die berufstätigen Erwachsenen, die einfach nie ganz da waren. Wir alle liebten sie sehr, sie war der unumstrittene Mittelpunkt und das Herz unserer Großfamilie. Nach getaner Arbeit ging meine Großmutter und kam wieder, sobald sie gebraucht wurde. Dafür schien sie einen sechsten Sinn zu haben.
Sie zeigte mir, wie wertvoll es ist, ganz Frau zu sein. Dass es nicht auf eine berufliche Leistung ankommt, die man präsentieren kann. Dass sich das wahre Leben nicht um eine ehrenvolle Position dreht, die man bekleidet, und die andere bewundern sollen. Das alles nahm ich nur subkutan auf, ganz unbewusst, denn lange Jahre war ich ja oberflächlich auf Karriere-Powerfrau gepolt. Ich hatte das Zeug dazu, daran zweifelte keiner. Doch in mir drinnen verdichtete sich leise dieses umwerfende, bescheidene, wunderschöne Lebenszeugnis meiner Großmutter.
Sie zeigte mir auch, dass sich aus dem Gebet Kraft schöpfen lässt. Es war ihr wichtig. Sie war davon überzeugt, dass es Wunder wirkte. Ein solches war für sie die Rückkehr ihrer Brüder aus dem Krieg. Alle vier überlebten diese Schrecken.
»Es war ein Wunder, Vici«, sagte sie zu mir. »Meine Mutter ging jeden Tag in die Kirche. Sogar im tiefsten Winter, wenn der Schnee über einen Meter hoch war. Und der Weg zur Kirche war recht lang. Sie hat Gott wieder und wieder gebeten, dass alle ihre vier Söhne aus dem Krieg heil heimkommen sollen. Und Gott hat ihre Gebete erhört.«
Frauen wie meine Großmutter sind der Grund, warum Systeme bestehen und sich erfolgreich weiterentwickeln. Sie sind der Grund, warum die Familie, die für unsere Gesellschaft so essenziell ist, überlebt. Das sind keine minderbemittelten Weibchen, denen langweilig ist und die sonst nichts Besseres zu tun haben. Das sind bodenständige, fleißige Frauen, die für ihre Familien und für die ganze Gesellschaft unbezahlbar wertvolle Arbeit leisten. Ohne sie würde uns etwas Wesentliches fehlen. Wichtige Werte würden verlorengehen. Gemeinschaft. Hingabe. Liebe. Wie wertvoll ist doch der Beitrag dieser wirklichen Frauen!
Liebende und hingebungsvolle Frauen bringen Kinder hervor, die gelernt haben, zu lieben und sich hinzugeben. Diese Kinder werden – so sie die Werte ihrer Mütter leben – diese Liebe weitergeben, in der Welt Gutes tun und sie positiv verändern. Kinder brauchen ihre Mütter. Es ist keine Schande, zu Hause zu sein.
Frauen sollen, wenn sie es möchten, in Spitzenpositionen sitzen. Sie sollen Parteien gründen und ihnen vorstehen, Konzerne aufbauen und sie lenken. Sie sollen Formel 1 fahren und Kampfjets steuern. All das machen sie bestimmt wunderbar. Jedoch gibt es für uns Frauen Größeres: Muttersein ist der wichtigste aller Berufe, ein Beruf, der wahrlich mehr Wertschätzung verdient.
Manchmal gibt es Situationen im Leben, die alles verändern und die uns radikal zeigen, worum es wirklich geht. Ich hatte so ein Erlebnis. Ich war als Jugendliche verliebt, Jahre bevor ich meinen Ehemann kennenlernte. Dieser junge Mann, vier Jahre älter, war nicht die große Liebe, aber ich schwärmte für ihn. Ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft. Als ich 16 Jahre alt war, starb er völlig unerwartet an einem Aneurysma. Es hat mich tief erschüttert, ich fiel in eine Krise und jahrelang konnte ich kaum auf einen Friedhof gehen. Ich begriff damals sehr früh, dass die Zeit endlich ist. Dass man Nägel mit Köpfen machen muss. Niemand weiß, wie lange er noch hat.
Ich will meine Zeit nutzen und dankbar sein für jeden schönen Augenblick. Ich will im Hier und Jetzt sein, keine halben Sachen machen, denn ich will mir nicht irgendwann sagen müssen: »Hätte ich doch nur …«
Mein Mann ist Psychiater und stellt seinen Patienten immer wieder die »Sterbebett-Frage«, wie er das nennt: »Wenn Sie am Sterbebett auf Ihr Leben zurückblicken, was für ein Leben wollen Sie dann gelebt haben?« Ich finde diese Frage wahnsinnig spannend, weil sie die Menschen auf eine höhere Ebene hebt. Die kurzfristige Befriedigung der Bauchgefühle ist als Bedürfnis dann natürlich verschwunden. Niemand sagt: »viel Sex, gutes Essen, teuren Wein.« Viele, sehr viele, sagen: »weniger Büro, weniger Dienstreisen, weniger Karriere.« Und fast alle sagen: »Mehr Zeit mit meinem Ehepartner, mehr Zeit mit meinen Kindern, gerade als sie klein waren.« Das geht mir besonders zu Herzen. Menschen sprechen von Freundschaften, von der Versöhnung mit dem Vater vor dessen Tod. Besonders bemerkenswert die Wünsche vieler Karrierefrauen: »Familie und Kinder« – aber keine Mutter sagt: »Hätte ich doch Karriere gemacht, statt meine Kinder zu bekommen.«
Sehen Sie, was ich meine? Kurz vor ihrem Tod denken Menschen nicht daran, wie viel Geld sie verdient haben und wie ihre Karriere verlaufen ist. Sie denken an Beziehungen, an Freunde und Familie, daran, was sie glücklich gemacht hat oder gemacht hätte. Gutes zu tun, sich Menschen hinzugeben, gibt eine Kraft, die schwer in Worte zu fassen ist. Wir müssen es einfach tun, um es zu verstehen. Wir Frauen sind im besonderen Maße Beziehungswesen.
Umso trauriger ist es, dass so viele, gedeckt und getragen vom gesellschaftlichen Zeitgeist, solche Erkenntnisse ignorieren. Es zählen Statussymbole, Scheinwerte wie Ruhm, Macht und hohe Summen auf Bankkonten. Doch dahinter verbirgt sich oft eine Leere. Setzen wir uns ihr zu lange aus, zieht unser ganzes Leben ungelebt an uns vorbei.
»Die Familie besaß hunderte Millionen Euro, vielleicht sogar mehr. Der Verstorbene, ein erfolgreicher Industrieller, hinterließ eine Frau und mehrere Kinder. Sie alle waren zerstritten, obwohl jeder von ihnen viel geerbt hatte. Viele Therapeuten kamen ins Spiel, aber der Hass war zu groß. Die ganze Familie zerbrach an Erbschaftsstreitigkeiten, niemand war glücklich.«
Ein Mitglied dieser Familie konsultierte meinen Mann, und als er mir den Fall, wie immer anonymisiert und im Sinne der Unkenntlichkeit verändert, schilderte, dachte ich: Wie ist es, wenn so ein Leben zu Ende geht? Ein Leben voll Hass statt voll Liebe?
Als alte Frau werde ich mir hoffentlich nicht vorwerfen, zu wenige Kinder bekommen zu haben oder meinen Mann und meine Kinder zu wenig gesehen und geliebt zu haben. Ich werde mir hoffentlich nicht vorwerfen müssen, meine Liebsten zu wenig berührt zu haben. Denn ich habe den Mut gefasst, ausgelöst durch den plötzlichen Tod meiner Jugendliebe, mein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu leben, indem ich mich schenke, mich der Liebe hingebe, selbst wenn ich dabei auf Gegenwind stoßen sollte. Vor allem den Gegenwind von jenen, die mich früher beeinflusst haben. Die meinen, eine Frau müsse Karriere machen, um sich zu verwirklichen, um glücklich zu werden. Für mich ist Hingabe die höchste Form der Selbstverwirklichung.
Oh, die arbeitet nicht? So viele Kinder? Komisch …
Immer wieder erzählen mir Freundinnen von dieser gläsernen Wand aus ablehnender Skepsis, mit der Vollzeitmütter konfrontiert sind, die oftmals schwer fassbar ist und manchmal nur aus einem vielsagenden Blick oder einem Nebensatz besteht. Umso mehr schmerzen diese