Vom Anfang und Ende der Schizophrenie - Ludger Tebartz van Elst - E-Book

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie E-Book

Ludger Tebartz van Elst

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Beschreibung

Die Schizophrenie gehört zu den dramatischsten Diagnosen der Medizin. Kaum eine andere Diagnose wird so sehr gefürchtet und von Betroffenen wie Angehörigen als Makel, Stigmatisierung und Omen einer umfassenden gesellschaftlichen Abwertung und Ausgrenzung erlebt. In diesem Buch werden Symptome, Klassifikation, Geschichte, Ursachen und Therapie der Schizophrenie umfassend beschrieben. Darauf aufbauend wird begründet, weshalb auf der Grundlage neuester neuropsychiatrischer Erkenntnisse nach Überzeugung des Autors die Schizophrenie in 100 Jahren Geschichte sein wird. In der 2. Auflage wurden u.a. die neuesten Entwicklungen im Bereich der klinischen Forschung zu immunologischen Psychosen berücksichtigt und denkbare Standards der neuropsychiatrischen Diagnostik und Therapie ergänzt.

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Der Autor

Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst ist Neurowissenschaftler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, stellv. Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Freiburg. Er studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Manchester (UK), New York (NYU/USA) und Zürich. Die Weiterbildung erfolgte in den Fächern Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an den Universitäten Freiburg, Abteilung für Neurologie, Institute of Neurology, University College London/UK und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Nach dem Facharzt in Psychiatrie und Psychotherapie habilitierte er sich im Fach Psychiatrie und Psychotherapie.

Seine klinischen Interessen gelten vor allem der Neurobiologie und Psychotherapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS, Tic-Störungen, Intelligenzminderungen) sowie der organischen (Epilepsie und Psyche) und schizophrenen Syndrome. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Differenzialdiagnose, Neurobiologie und differenzielle Therapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS, Tic-Störungen) und der organischen Differenzialdiagnostik und differenziellen Therapie affektiver, psychotischer und schizophrener Syndrome. Seine methodischen Schwerpunkte stellen dabei die Hirnbildgebung, Neuroimmunologie, Sehforschung und visuelle Elektrophysiologie dar.

Er ist Autor von über 210 englischsprachigen Fachpublikationen und 45 Buchkapiteln und Büchern darunter zwölf Monografien bzw. Herausgeberwerken. Er ist Leiter des Forschungsnetzwerks Freiburg Brain Imaging (FBI) und Vorsitzender des Referats Neuropsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

Neben seinen klinischen und neurowissenschaftlichen Tätigkeiten beschäftigt er sich seit seinem Studium mit erkenntnistheoretischen und medizintheoretischen Fragen sowie Themen der Philosophie des Geistes und hat dazu bislang drei Monografien vorgelegt.

Ludger Tebartz van Elst

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept

Mit einem Geleitwort von Heinz Häfner und Stephan Heckers

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autor haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040672-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040673-5

epub:     ISBN 978-3-17-040674-2

 

Abkürzungsverzeichnis und Glossar

 

 

 

 

Geleitwort

von Heinz Haefner

 

 

 

Dieses Buch beginnt mit einer wissenschaftlichen Analyse der altbekannten Krankheit Schizophrenie und womit es endet, verrät bereits der Titel. Diese Krankheit, die uns auf Wegen der Verständnisförderung und der Behandlungschancen nahegebracht wird, trägt seit gut einem Jahrhundert (1911) den Namen Schizophrenie.

Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen, die wir heute als Kernsymptome zur Definition der Diagnose benutzen, waren, woran uns der Autor erinnert, schon im Altertum, etwa in den Tragödien Homers, bekannt. Die erste Destillation dieses Wissens zu einem eindeutigen Krankheitskonstrukt, der sog. Dementia praecox, hat der Schöpfer der modernen Psychiatrie, Emil Kraepelin, um die Wende zum 20. Jahrhundert vollzogen. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat diese ungeeignete Diagnose 1911 durch »Schizophrenie« ersetzt, weil er Ersterkrankungen an diesem Leiden sowohl im späteren Lebensalter als auch im Verlauf ohne Demenz beobachtete. Aber Bleulers Schizophrenie war nicht exakt dasselbe Leiden wie Kraepelins Dementia praecox. Die Grenze zwischen krank und gesund war weitergezogen, und die Konstruktion wich von Kraepelins Schöpfung ab. Aber auch diese Bezeichnung, auf Deutsch »Seelenspaltung«, ist keine gute Lösung, weil sie der Wirklichkeit nicht entspricht.

Die Kernsymptome der Krankheit Schizophrenie, Wahn und Halluzinationen, sind auch bei einigen anderen psychischen Störungen und selbst isoliert als Einzelsymptome bei Gesunden zu beobachten. Die Krankheiten, die diese Symptome allein oder in Verbindung mit Denkstörungen aufweisen, sind in allen Ländern, Kulturen und politischen Systemen mit annähernd gleicher Häufigkeit anzutreffen. Aber in bemerkenswerter Weise ist der Verlauf der Schizophrenie verschieden. Ist die Krankheit Schizophrenie deshalb ein Artefakt, das wegen seiner einigermaßen gemeinsamen Merkmale ein hohes Maß an Beständigkeit erreicht hat?

Die internationalen Klassifikationssysteme konnten sich trotz aller Bemühungen um eine korrekte Beschreibung von Symptomatik und Verlauf von der kategorialen Diagnose der kraepelinschen Tradition bis heute noch nicht definitiv trennen, ungeachtet einer außerordentlich großen Zahl von Befunden, die mit der Annahme einer Krankheitseinheit Schizophrenie nicht vereinbar sind. Mit dem wachsenden Wissen breitet sich diese Überzeugung jedoch zunehmend aus.

Die überzeugten Schizophreniereformer, und Tebartz van Elst zählt in vorderster Front dazu, benötigen plausible Erklärungen der im Komplex der sog. schizophrenen Symptomatik wirksamen ätiologischen und pathogenetischen Faktoren, etwa der neuralen Netzverbände, die mit psychischen Abläufen aus diesem Systemkomplex in beide Richtungen – sprich: Stimulation und Hemmung – verbunden sind. Nur gezielte Analysen können mit geeigneten Methoden und Forschungsdesigns in solche Komplexität eindringen. Nur ein Autor, der bereits mit geeigneten Methoden und Forschungsansätzen mehrschichtige Zusammenhänge geklärt hat, kann ein geeignetes Rüstzeug dazu anbieten.

Ludger Tebartz van Elst hat ein breites Spektrum der Forschung unter Bindung an klinische Erfahrung hinter sich. So hat er etwa die Autismusspektrumstörungen, einmal in Form des schizophrenieähnlichen Kanner’schen Autismus, der in früher Kindheit bevorzugt als Sprachstörung auftritt, zum anderen des in Jugend und später als vielfältige kommunikative und sprachliche Behinderung auftretenden Asperger-Autismus, bearbeitet. Er hat die psychopathologisch gegensätzlich erscheinenden bipolaren Symptommuster aufzugliedern und einer Erklärung zuzuführen versucht. Er analysierte auch das ADHS-Syndrom in der Vielfalt seiner Ausprägungen und Folgeerscheinungen. Schließlich untersuchte er die psychischen Störungsmuster bei Temporallappenepilepsie, besonders die forcierte Normalisierung, bei der nach therapeutischer Intervention anstelle eines Anfalls abnorme psychische Phänomene, teilweise in Gestalt psychotischer Symptome, auftreten.

Der erkenntnisphilosophische Ansatz Tebartz van Elsts bewahrt zwar die von Karl Jaspers von dem Philosophen Wilhelm Dilthey in die Psychopathologie übernommene Unterscheidung von verstehender Psychologie und erklärender Naturwissenschaft. Aber der Wissenschaftlichkeit wird auch die verstehende Psychologie nicht entkleidet. Die Kernbegriffe seiner eigenen Methode sind drei Definitionen von Norm: (1) Die nummerisch-psychologisch-statistischen Maße der Abweichung vom Mittel. Sie setzen dimensionale Strukturen der quantifizierten Phänomene voraus. (2) Die zweite Form von Normalität ist die technische. Sie lässt die Abweichung von realen Erwartungswerten kategorial definierter Merkmale erkennen. (3) Die dritte ist die soziale Norm, die krankhafte Phänomene hinsichtlich ihrer sozialen und moralischen Qualität definieren lässt.

Mit dieser Trilogie macht Tebartz van Elst drei Bereiche von Normabweichungen psychischer Fähigkeiten, Leistungen und krankhafter Phänomene ebenso dimensional wie auch kategorial analysierbar.

Wenn man der Argumentation Tebartz van Elsts folgt, die durch zahlreiche Beispiele und Abbildungen verständlich wird, dann entschwindet die klassische Krankheit Schizophrenie und an ihre Stelle tritt eine zunehmende Aufspaltung des Wissens. Das, was wir Schizophrenie nennen, umfasst dann ein paar Syndrome unterschiedlicher Ätiologie. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um ein paar unterschiedliche Krankheitsprozesse, die unter bestimmen Umweltbedingungen ähnliche pathoplastische Syndrome zur Folge haben. Ansonsten sind wir wieder da, wo wir bei Beginn waren: Wir müssen uns von der traditionellen Diagnose verabschieden.

Dieses ausgezeichnete Buch kann man als Leitschnur denjenigen empfehlen, die den Weg des Verstehens und der Forschung an dem, was wir heute noch Schizophrenie nennen, einschlagen wollen. Schritte dazu sind in diesem avantgardistischen Buch in bemerkenswerter Klarheit herausgearbeitet.

Prof. Dr. h.c. mult. Heinz Häfner, im Juni 2017 zur 1. Auflage

 

Geleitwort

von Stephan Heckers

 

 

 

Wir kennen die Schizophrenie nicht. Viele fragen, ob es sie überhaupt gibt. Aber das Wort ist weiterhin in Gebrauch, als Floskel im Alltag und als klinische Diagnose. Seit mehr als 100 Jahren versuchen Wissenschafter, die Schizophrenie aus dem Dunst der klinischen Praxis in das Licht der wissenschaftlichen Erforschung zu ziehen. Bis jetzt mit geringem Erfolg.

Dieses Buch von Ludger Tebartz van Elst ist ein Versuch, den Dunstschleier zu lichten. Es ist geschrieben für alle, die sich für psychiatrische Fragen interessieren. Es ist zugänglich für Laien, bereitet aber auch genügend Neues für Kliniker und Wissenschaftler.

Der Autor ist ein Neuropsychiater und er begreift die Schizophrenie als ein Problem der klinischen Neurowissenschaft: wir müssen das Gehirn studieren, um die Person zu verstehen. Begriffe der klinischen Psychiatrie werden erklärt als Funktionen des Gehirns. Aber der Autor ist auch geschult in klassischen Sprachen und der Philosophie. Das macht es ihm möglich, die Schizophrenie nicht nur als medizinisches Problem, sondern auch als soziales und allgemeinwissenschaftliches Konstrukt zu diskutieren. Er analysiert treffend, dass Verrücktheit von der Weite des sozialen Raumes abhängt und plädiert überzeugend für eine multikategoriale Normalität.

Mit seiner Analyse praktizert er eine kritische Vernunft, die weit hinaus geht über die üblichen Bekenntnisse zum beschränkten Wissen der Medizin. Er ist sich bewusst, dass wir wenig Fortschritt gemacht haben in der Erforschung der Schizophrenie. Er schildert seine eigene Demütigung als Arzt und Lehrer, wenn er die Schizophrenie erklären will, obwohl wir so wenig wissen.

Aber die kritische Bestandsaufnahme führt nicht zur Resignation. Ludger Tebartz van Elst zeigt uns, wie wir Fortschritt machen können in der Psychiatrie: durch wissenschaftliche Entdeckung und durch begriffliche Klärung. Beide Wege sind nötig, um ein wissenschaftliches Paradigma zu formulieren, zu kritisieren und dann zu ersetzen. Dieses Buch macht den Versuch, die dialektische Bewegung von Theoriebildung und Kritik weiterzuführen: vom Anfang bis zum Ende der Schizophrenie.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Psychiatrie voller Hoffnung, dass die Ursachen und Pathogenesen psychiatrischer Erkrankungen geklärt werden können. Syphilis diente als Vorbild: viele Symptome, Syndrome und Krankheitsbilder konnten zurückgeführt werden auf eine Ursache. Aber bald zeigte sich, dass die Psychosen vielfältig sind, mit vielen Symptomen, mehreren Syndromen und unterschiedlichen Verlaufsbildern. Für einige Psychosen konnte eine Ursache gefunden werden (sie waren sekundär zu einem anderen Krankheitsbild), aber die meisten blieben unerklärt (sie waren primär).

Dieses Buch möchte das kausale Denken wieder in die Klassifikation psychischer Störungen einführen. Das neunte Kapitel ist das Zentrum der Argumentation. Hier beschreibt der Autor Syndrome, die als Beispiel dienen für eine psychiatrische Klassifikation nach der Abschaffung der Schizophrenie. Stoffwechselstörungen, paraepileptische Psychosen und Entzündungen des Gehirns werden beschrieben als Krankheitsbilder, die heute oft noch als Schizophrenie diagnostiziert und behandelt werden, aber für die wir schon heute Beweise haben, sie als sekundäre Psychosen zu definieren. Die autoimmune Enzephalitis ist von besonderem Interesse, da sie mechanistische Modelle auf der zellulären und molekularen Ebene ermöglicht. Die Validierung der sekundären Psychosen durch immunsupressive Behandlung (dargestellt mit Fallbespielen aus der Praxis des Autors und aus der Literatur) ist klinisch beeindruckend und nosologisch eindeutig.

Zweifel kommen aber dennoch auf. Zum einen ist der kausale Zusammenhang zwischen den biologischen Veränderungen und dem klinischen Bild nicht klar. Zum anderen zeigt die Mehrzahl der Patienten, die mit Schizophrenie diagnostiziert werden, keine dieser biologischen Veränderungen. Aber der Autor ist zuversichtlich, dass wissenschaftliche Entdeckungen die Lücke schließen werden.

Die Psychiatrie braucht Kritiker wie Ludger Tebartz van Elst. Sein Buch erinnert uns, dass im Zentrum der psychiatrischen Klassifikation nicht die Diagnose steht, sondern ein Mensch lebt. Es ist unsere Aufgabe als Kliniker und Wissenschaftler, die Besonderheiten menschlichen Erlebens zu begreifen und, wenn nötig, heilend zu helfen. Wenn Diagnosen diesem Auftrag im Wege stehen, dann müssen wir sie ändern.

Prof. Dr. Stephan Heckers

Nashville, TN, USA im Juli 2017 zur 1. Auflage

 

Inhalt

 

 

 

Abkürzungsverzeichnis und Glossar

Geleitwort

von Heinz Haefner

Geleitwort

von Stephan Heckers

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1    Einleitung

2    Die Symptome und Verläufe der Schizophrenie

2.1   Schizophrenie in der Lebenswirklichkeit

2.2   Die Symptome der Schizophrenie

2.3   Die Verläufe der Schizophrenie

2.4   Was sind psychotische Symptome?

3    Vom Anfang der Schizophrenie – die Geschichte des Schizophrenie-Konzepts

4    Was ist normal?

4.1   Normalität als statistische Größe

4.2   Normalität als technische Größe

4.3   Normalität als soziale Größe

4.4   Das Konzept der multikategorialen Normalität

5    Was ist eine Krankheit?

5.1   Gibt es einen allgemeingültigen Krankheits- und Gesundheitsbegriff?

5.2   Der pragmatische medizinische Krankheitsbegriff

5.3   Annäherung an den Begriff »Krankheit«

6    Was ist eine psychische Störung?

6.1   Klassifikatorische Prinzipien psychischer Störungen in ICD und DSM

6.2   Methodische Prinzipien der Klassifikation in ICD und DSM

6.3   Die Folgen der Aufgabe kausalen Denkens

6.4   Primäre und sekundäre Syndrome

6.5   Primäre Syndrome und Normvarianten

7    Die Ursachen der schizophrenen Syndrome

7.1   Die Phrenologie

7.2   Die frontobasalen Schleifensysteme

7.3   Die Relation Symptom – Pathogenese – Ätiologie

7.4   Die dopaminerge Hypothese der Schizophrenie

7.5   Die glutamaterge Hypothese der Schizophrenie

7.6   Die Genetik schizophrener Syndrome

7.7   Die Bedeutung von Umweltfaktoren

7.8   Die Bedeutung von persönlichkeitsstrukturellen Faktoren

7.9   Die Rolle von psychosozialem Stress

7.10 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell

8    Neue Entwicklungen – die Neuropsychiatrie schizophrener Syndrome

8.1   Schizophrene Syndrome als Teilaspekt genetisch bedingter Stoffwechselerkrankungen

8.2   Schizophrene Syndrome als Ausdruck paraepileptischer Pathomechanismen

8.3   Schizophrene Syndrome als Ausdruck entzündlicher Prozesse

8.4   Schizophrene Syndrome als Ausdruck einer Normvariante?

8.5   Die Problematik Einzelfall-basierter Forschung

9    Vom Ende der Schizophrenie

9.1   Ist die Schizophrenie eine Krankheit?

9.2   Für und Wider Schizophrenie

9.3   Die Alternative – die Schizophrenien im nächsten Jahrhundert

9.4   Neuropsychiatrische Diagnostik, Deutung und Therapie schizophrener Syndrome im 21. Jahrhundert

10 Die Abschaffung der Schizophrenie – ein antipsychiatrisches Statement?

Literatur

Anhang

Anhang 1: Das Freiburger Diagnostische Protokoll für Psychosen (FDPP, modifiziert nach Endres et al. 2020a): Labordiagnostik

Anhang 2: Aktuelles Protokoll einer Steroidpulsbehandlung der Freiburger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Anhang 3: Denkbarer Aufklärungsbogen für eine Kortisonstoßtherapie

Anhang 4: Fiktiver Kostenübernahmeantrag für eine Plasmapherese bzw. Rituximab-Therapie der Freiburger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Stichwortverzeichnis

 

Vorwort zur 2. Auflage

 

 

 

Dieses Buch zum Anfang, aber auch zum Ende der Schizophrenie ist in den vergangenen Jahren auf sehr viel positive Resonanz gestoßen. Auch in Fachkreisen wurde selbst die Forderung nach der Abschaffung des Schizophrenie-Konzepts, mit der auch die zweite Auflage dieses Buches endet, mit sehr viel Verständnis, Wohlwollen und häufig auch offener Unterstützung aufgenommen. Das freut mich sehr. Es kontrastiert vielleicht ein wenig zu der Tatsache, dass die Schizophrenie auch in der neuesten, 11. Auflage der internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD-11), die ab 2022 in den meisten Ländern der Welt gültig werden wird, in fast unveränderter Form beibehalten wurde. Diese Tatsache zeigt aber auch, dass das Ziel dieses Buches lange noch nicht erreicht wurde: nämlich eine Dekonstruktion des Schizophrenie-Konzepts in den Köpfen der Menschen.

Umso mehr freue ich mich, dass nun schon die zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage des Buches erscheinen kann. Insbesondere die Erkenntnisse und klinischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Immunopsychiatrie haben sich dabei in den letzten Jahren weiter stürmisch entwickelt. Immer mehr Fälle werden berichtet, bei denen eine intensivierte Diagnostik bei Menschen mit psychotischen, depressiven oder demenziellen Syndromen Hinweise auf eine immunologische Verursachung ergaben und bei denen darauf basierende Heilversuche, z. B. mit einer Kortisontherapie, erfolgreich waren. Inzwischen wurden auch erste psychiatrische Patienten erfolgreich mit immunologischen Methoden wie der Plasmapherese oder Medikamenten wie Rituximab behandelt. Die genauen ursächlichen Zusammenhänge sind in den meisten dieser Fälle leider immer noch unklar. Der Forschungsbedarf ist immens und die finanziellen Ressourcen dafür leider immer noch sehr begrenzt. Aber ein Anfang ist gemacht und die Perspektiven dieses spannenden Forschungsbereichs für das Fachgebiet der Psychiatrie sind aufgezeigt. Sie werden sich sicher weiter stürmisch entwickeln.

In dieser zweiten überarbeiteten Auflage wurden diese Entwicklungen der letzten Jahre berücksichtigt. Das Buch wurde aktualisiert und dem Wissensstand angepasst. So wurden etwa die neuesten Ideen und Operationalisierungen zu den immunologischen Psychosen aufgegriffen. Auch wurde in einem neu aufgenommenen Anhang der aktuelle Stand der diagnostischen Abklärungsschemata und Therapieschemata, wie sie z. B. an der Universitätsklinik Freiburg zur Anwendung kommen, aufgeführt. Dies ist der Tatsache geschuldet, das Woche für Woche so viele diesbezügliche Nachfragen eintreffen, dass sie individuell kaum noch bearbeitet werden können. Umso wichtiger ist es an dieser Stelle noch einmal prominent zu betonen, dass weder das diagnostische Angebot eines Zentrums wie in Freiburg noch die in diesem Kontext durchgeführten individuellen Heilversuche als allgemeine diagnostisch-therapeutische Standards begriffen werden dürfen. Vielmehr sind sie Ausdruck der vordersten Linie der klinischen Forschung, die sicher nicht so auf alle anderen Bereiche der psychiatrischen Medizin übertragen werden können.

Ich hoffe aber, damit einen Beitrag zu leisten, das Krankheitskonzept der Schizophrenie weiter zu naturalisieren und sie weiter aus ihrem mystisch-magischen Dunstkreis, der sie immer noch umgibt, zu befreien.

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg, im September 2021

 

Vorwort zur 1. Auflage

 

 

 

Die Psychiatrie ist und bleibt in meinen Augen eine besondere Disziplin innerhalb der medizinischen Fächer. Sie steht wie keine andere ihrer Schwesterdisziplinen an einer Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Normalität, Abweichung und Ausgrenzung, zwischen erlebnisreaktiven Stressreaktionen und organischer Fehlsteuerung. Und die Tatsache, dass ein und dasselbe psychische Symptom sowohl Folge normaler, weil situationsbedingt durchschnittlicher, hirnphysiologicher Prozesse, sein kann als auch Ausdruck der teuflischten Erkrankungen, die Pandora mit der Hoffnung auf Heilung in ihrer Büchse auf die Welt brachte, ist Horror und Faszinosum in einem.

Und innerhalb der Psychiatrie spielt die Schizophrenie nach wie vor eine Sonderrolle. Ich kann mich gut erinnern, wie dieser Begriff der Alltagssprache, den auch ich als Schüler, Student und junger Arzt lange Zeit als klassische Krankheit missverstand, mich schon in meiner Jugend geängstigt hat als schweres Schicksal für Betroffene und Angehörige, gleichzeitig aber auch auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise fasziniert hat, als mystisch-sakrale Form des Existierens, als das ganz und gar fundamental Andere im Wahrnehmen, Erleben, Fühlen und Denken, dem trotz seines Anders-Seins immer auch etwas Exotisches und Neues, Unentdecktes und abenteuerlich Spannendes innewohnen kann. Diese sakral-verborgene Vorstellung von Schizophrenie halte ich heute, einige Dekaden später, aus poetischer Perspektive zwar nach wie vor für inspirierend und attraktiv, aus meiner inzwischen entwickelten, ärztlich-wissenschaftlichen Sicht aber für einen entscheidenden Nachteil des Schizophrenie-Konzepts.

Als Student und junger Arzt meinte ich eine Weile lang, die Krankheit Schizophrenie verstanden zu haben. Die Definition über die scheinbar doch klaren Positivsymptome Halluzinationen, Wahn, Denkzerfahrenheit und Katatonie überzeugte mich in der Auffassung, die Schizophrenie sei die Krankheit, die zu eben diesen Symptomen führe. Aber wie so oft in der Medizin und insbesondere in der psychiatrischen Medizin machte die Zunahme von Wissen und Erfahrung den wissenschaftlichen Blick auf diese Erkrankung nicht klarer. Vielmehr fiel es mir immer schwerer, die vielen Einzelfälle mit ihren Gemeinsamkeiten aber auch weitreichenden Unterschieden in Symptomatik, Ursächlichkeit, Verlauf, Therapieergebnis und Prognose auf für mich überzeugende Art und Weise unter dem zumindest alltagssprachlich einheitlich daherkommenden Schizophrenie-Konzept zu fassen.

Dieses Buch ist das Ergebnis meines ganz persönlichen Ringens mit dem Phänomen Schizophrenie als Mensch, der anderen Menschen mit manchmal ganz alltäglichen und manchmal sehr ungewöhnlichen Wahrnehmungen, Denkstilen und Verhaltensweisen begegnet, die man heutzutage Schizophrenie nennt, als Arzt, der versucht in solchen Fällen die richtigen Untersuchungen zu veranlassen und die besten Therapien zu finden, und als Wissenschaftler, der versucht, die Ursächlichkeit dieser Phänomene zu verstehen. Das Buch fasst meine Sichtweise und mein Denken zum Thema Schizophrenie umfassend zusammen. Ich kann mir dabei durchaus vorstellen, dass sich hier in den weiteren Dekaden noch zahlreiche Änderungen ergeben. Denn entgegen dem, wie auch ich finde, zutreffenden Eindruck, dass sich in den letzten Dekaden wenig getan hat in der Diagnostik und Therapie der Schizophrenien, meine ich zu erkennen, dass sich in den letzten Jahren doch erhebliche Fortschritte zumindest für einige Untergruppen von Menschen abzeichnen, denen man heute noch vielerorts, sicher aber vor 10–20 Jahren ohne große Zweifel die Diagnose Schizophrenie gegeben hätte.

Dieses Buch verdankt viele Erkenntnisse jahrelangen sehr engagierten und manchmal auch sehr kontroversen Diskussionen mit Freunden und Kollegen in der Ambulanz, am Mittagstisch und an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg, aber auch an anderen Orten wie dem Institute of Neurology in London. All meinen Freunden, Förderern und Diskutanten möchte ich an dieser Stelle herzlich danken, auch wenn sie sicher nicht in allen Einzelheiten immer meine Sichtweise teilen werden wie ich weiß. Danken möchte ich vor allem aber all meinen Patientinnen und Patienten, die sich und ihr Erleben offenbarten und mir damit einen Einblick in die Vielfalt der Erlebens-, Fühlens- und Denkweisen menschlicher Existenz erlaubten.

Das Schicksal, sein Leben zeitweise oder auch langfristig mit schizophrenen Symptomen leben zu müssen, ist nicht immer schlimm, häufig ist es aber extrem belastend und für manche Menschen und ihre Angehörigen kaum zu ertragen. Dabei ist es nach meiner Wahrnehmung für fast alle von ganz zentraler Bedeutung, wie man die Besonderheiten des eigenen Erlebens deutet und interpretiert. Und so verbringe ich immer wieder viel Zeit damit, meinen Patientinnen und Patienten, aber auch ihren Angehörigen einen möglichst nüchternen und wissenschaftlichen Blick auf das Geschehen zu eröffnen. Da ich glaube, dass nicht nur der Schizophrenie-Begriff, sondern auch das zugrunde liegende Schizophrenie-Konzept in 100 Jahren nicht mehr in Gebrauch sein werden – und ich das auch gut fände –, unterscheidet sich das, was ich meinen Patienten und ihren Angehörigen erzähle, in einigen Punkten doch grundlegend von dem, was in den allgemeinen Büchern zur Psychoedukation der Schizophrenie zu lesen ist.

Gleichzeitig halte ich es nicht für klug, Menschen, die schizophrene Symptome erleben, im Gespräch und in der ärztlichen Diagnose nicht mit dem Schizophrenie-Begriff zu konfrontieren. Dies geschieht gelegentlich bei Ärzten, die befürchten, ihre Patienten oder deren Angehörige mit diesem so stigmatisierten Begriff zu verschrecken. Ich halte wenig davon, denn, wenn Menschen dialogisierende oder kommentierende Stimmen halluzinieren, so wissen sie und ihre Angehörigen ohnehin, dass die Schizophrenie im Raum steht. Dann hilft ein diesbezügliches ausklammerndes Schweigen meiner Meinung nach nicht weiter. Wohl aber möchte ich Ihnen erklären, wieso ich diesen Begriff nicht für hilfreich halte, und dass die Schizophrenie streng genommen auch schon im heutigen Denken keine Krankheit ist.

Dabei erzähle ich immer wieder ähnliche Dinge. Auch dies war eine Motivation für mich, dieses Buch zu schreiben. So können Patienten und ihre Angehörigen meine Überlegungen in Ruhe nachlesen und ich muss nicht immer wieder das gleiche erzählen.

Ich möchte mich in diesem Buch aber nicht nur an Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch an Ärzte, Wissenschaftler, Fachärzte, Therapeuten und die interessierte Laienöffentlichkeit wenden. Das gesellschaftliche Interesse an dem Thema ist in meinen Augen gerade wegen der Sonderrolle der Psychiatrie in der Medizin und der Schizophrenie in der Psychiatrie groß. Damit versucht das Buch den Spagat, sich an ein medizinisches Fachpublikum zu wenden und gleichzeitig Ärzte, Wissenschaftler, Therapeuten, Betroffene, Angehörige und medizinische Laien anzusprechen. Dies ist natürlich im Hinblick auf die gewählte Sprache ein gewagtes Unterfangen. Und so wird es sicher so sein, dass ich nach dem Geschmack vieler zu sehr in der Fachsprache schreibe und andere sich an anderen Stellen über alltagssprachliche Formulierungen wundern. Ich möchte um Verständnis dafür werben, dass dieser Spagat nicht immer ganz leicht ist und an vielen Stellen sicher nicht optimal gelungen ist. Da nicht durchgängig auf medizinische Fachbegriffe verzichtet werden konnte, werden diese in einem Glossar und Abkürzungsverzeichnis erklärend aufgelistet.

Dieses Buch ist im Ergebnis länger geworden als ursprünglich vorgesehen. Dies liegt daran, dass die Thematik sehr grundsätzlich und umfassend entwickelt wurde. Es liegt sicher auch an den vielen Tabellen, Abbildungen, Kasuistiken und Überlegungen zu weitergehenden Themen am Rande. Die einzelnen Kapitel bauen zwar systematisch aufeinander auf, sie sind aber so gestaltet, dass sie auch jeweils für sich gelesen werden können, ohne dass das Buch systematisch von vorne bis hinten durchgearbeitet werden muss. Dies soll es angesichts der Länge des Textes Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich in einer freien halben Stunde auch nur mit Teilaspekten der übergeordneten Thematik auseinanderzusetzen. Auch können Kapitel, die grundsätzliche und theoretische Fragestellungen betreffen, wie etwa eher philosophische Fragen nach dem Wesen des Normalen, Gesunden und Kranken oder nach der Definition von Krankheiten und Störungen in der Psychiatrie, ganz weggelassen werden, ohne dass dies die Verständlichkeit späterer Kapitel zu den Ursachen schizophrener Symptome beinträchtigen würde. Ich möchte dem Verlag und insbesondere meinen beiden unmittelbaren Ansprechpartnern, Frau Dr. Boll und Herrn Dr. Poensgen ausdrücklich dafür danken, dass sie mir diese Freiheit bei der Gestaltung des Textes gaben und dieses Projekt jederzeit wohlwollend unterstützt haben.

Ich hoffe, mit diesem Buch den mystisch-sakralen Dunstschleier, der die Schizophrenie in Fachkreisen wie in der Laienöffentlichkeit immer noch umgibt, ein wenig lichten zu können, eine Vorstellung von der Vielfalt psychischer Wirklichkeiten und ihrer Ursächlichkeiten zu vermitteln, und meine neuropsychiatrische Perspektive auf diese Vielfalt der geistigen Phänomene und Zusammenhänge zu veranschaulichen, die nach meiner Überzeugung in 100 Jahren nicht mehr Schizophrenie genannt werden. Wenn es in diesem Rahmen gelingen sollte, die Angst, das Unheimliche und die sakrale Bedrohung, die der Schizophrenie für viele innewohnt, ein wenig zu mildern, so würde mich dies freuen.

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg, im März 2017

 

1          Einleitung

 

 

 

Die Schizophrenie gehört zu den dramatischsten Diagnosen der Medizin der Neuzeit, denn sie scheint nicht nur defizitäre Körperfunktionen, sondern den Wesenskern des Menschseins zu berühren. Sie fungiert nicht nur als Bezeichnung für ein psychiatrisches Symptomgemenge, sondern hat darüber hinaus weitreichende gesellschaftliche Implikationen. Kaum eine andere Diagnose der Medizin wird so sehr gefürchtet und von Betroffenen wie Angehörigen als Makel, Stigmatisierung und Omen einer umfassenden gesellschaftlichen Ausgrenzung erlebt.

Während schizophrene Symptome so alt sind wie die Menschheit selbst, wurde das Konzept der Schizophrenie in seinen Grundzügen vor etwas über 100 Jahren geprägt. Der Begriff setzte sich einige Dekaden später durch und ist nicht nur im medizinischen Denken, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart fest verankert. Dabei besteht inzwischen unter Wissenschaftlern und Medizinern weitgehende Einigkeit darüber, dass es die Krankheit Schizophrenie so gar nicht gibt. Vielmehr wird sie heute – anders als noch vor 100 Jahren – als Sammelbegriff für eine Gruppe von unterschiedlich verursachten teils vorübergehenden, teils chronischen zerebralen Funktionsstörungen verstanden. Dementsprechend ist im Zusammenhang mit der Überarbeitung der großen psychiatrischen Klassifikationssysteme DSM-5 und ICD-11 eine Diskussion darüber entbrannt, ob der Begriff und das Konzept der Schizophrenie nun nach etwa 100 Jahren seiner Existenz abgeschafft werden sollten. In Japan wurde die Abschaffung des Schizophrenie-Begriffs seit Anfang des neuen Jahrtausends bereits umgesetzt.

Vor diesem Hintergrund werden in dieser Buchpublikation zunächst die verschiedenen Phänomene und Symptome beschrieben, die eine Schizophrenie nach den aktuell gültigen Klassifikationssystemen ausmachen. Darauf aufbauend wird die Kultur- und Medizingeschichte der Schizophrenie skizziert. Denn während die Symptome und Phänomene der Schizophrenie so alt sind wie die Menschheit, so sind das Krankheitskonzept und der Begriff der Schizophrenie doch zeitgeschichtliche Phänomene.

An dieser Stelle schließen sich drei Kapitel an, in denen grundlegende medizintheoretische Fragen thematisiert werden. Zunächst wird dabei der Frage nachgegangen, was es überhaupt bedeutet, dass ein Phänomen normal ist. In diesem Zusammenhang werden drei Bedeutungsbereiche von Normalität herausgearbeitet. Zunächst einmal kann Normalität als statistische Größe verstanden werden. Dies ist in der Medizin, aber auch in der Physik und Technik dann der Fall, wenn die Eigenschaft, deren Normalität infrage steht, einer Normalverteilung folgt. Dies ist bei zahlreichen biologischen Eigenschaften wie z. B. der Körpergröße der Fall. Solche Eigenschaften sind also nicht entweder gegeben oder nicht, sondern sie sind dimensional strukturiert, d. h. die fragliche Eigenschaft, wie die Körpergröße, ist mehr oder weniger stark ausgeprägt. Fehlende Normalität kann dann recht objektiv über statistische Maße wie Mittelwert und Standardabweichung definiert und gemessen werden. Bei der technischen Norm geht es dagegen um funktionale Eigenschaften von Geräten, Maschinen oder auch Körpern. So kann etwa die Lautsprechanlage funktionieren oder nicht, das Rücklicht am Auto leuchtet oder nicht, ein Mensch kann sehen oder nicht. Solche technischen Normbegriffe sind meist kategorial strukturiert, d. h. die interessierende Eigenschaft ist nicht mehr oder weniger vorhanden, sondern sie ist vorhanden oder nicht. Auch für die technische Norm gibt es im Bereich der Biologie zahlreiche Beispiele. So kann etwa nach einer Entzündung des Sehnervs das Sehvermögen ausfallen, was einer fehlenden Normalität im Sinne der kategorialen oder technischen Norm entspräche. Schließlich gibt es gerade im Bereich des Psychischen und der Organisation von Gesellschaften auch die soziale Norm. Die soziale Norm definiert Normalität auf der Grundlage von Erwünschtheit aus der Sicht einer Gruppe oder definiert durch Machthaber. Weder die medizinische Wissenschaft noch das ärztliche Handeln kann auf Normalitätsbegriffe verzichten. Nach humanistischem Grundverständnis sollte aber bei der Definition von Krankheiten auf soziale bzw. moralische Normen möglichst verzichtet werden. Ob das in der Psychiatrie tatsächlich immer gelingt, wird dann im Folgenden thematisiert, wenn der Frage nachgegangen wird, was nach medizinischem Verständnis überhaupt eine psychische Störung ist. Dabei zeigt es sich, dass die Medizin im Allgemeinen, aber auch die Psychiatrie im Speziellen, mit je nach Konstellation unterschiedlichen Normbegriffen operiert. Sie können sich auf dimensional ausgeprägte, mehr oder weniger stark vorhandene Eigenschaften des Körpers beziehen und damit statistisch organisiert sein. Sie können sich aber auch auf funktionale Aspekte beziehen und damit kategorial bzw. technisch verfasst sein. Gerade in der Psychiatrie, wo es u. a. auch um die Bewertung von Verhaltensweisen bei der Definition und Klassifikation von Krankheiten bzw. Störungen ankommt, wird teilweise offen, teilweise verdeckt, aber auch auf soziale Normen zurückgegriffen. Dies wird im 6. Kapitel des Buches in seiner ganzen Zwiespältigkeit klar herausgearbeitet.

Auf der Basis dieser grundlegenden medizintheoretischen Überlegungen wird dann der Frage nach der Ursächlichkeit schizophrener Symptome nachgegangen. Dabei wird das Wissen über die verschiedenen Kausalstränge, die das Entstehen schizophrener Phänomene begünstigen können, umfassend zusammengefasst und vorgestellt. Es werden die funktionelle Neuroanatomie höherer mentaler Leistungen und ihrer Störungen ebenso herausgearbeitet wie die klassische dopaminerge und glutamaterge Hypothese der Schizophrenie, bildgebende, genetische, aber auch umweltbedingte, psychoreaktive und persönlichkeitsstrukturelle Ursachen der schizophrenen Störungen. Gerade im Hinblick auf die genetischen Aspekte der Schizophrenien wird dabei verdeutlicht, dass genetische Ursachen schizophrener Syndrome sowohl im klassischen, kategorialen Sinne in Form monogenetischer Erkrankungen als auch aber eben deutlich häufiger im dimensionalen Sinne in Form von multigenetischen Normvarianten gegeben sind. Es ist dabei ein zentrales Anliegen dieses Buches, zu erklären und darauf hinzuweisen, dass es gerade bei multigenetischen Verursachungen problematisch ist, von Krankheiten im klassischen Sinne zu sprechen.

Im daran anschließenden 8. Kapitel des Buches werden neue neuropsychiatrische Entwicklungen auf dem Gebiet der Schizophrenie vorgestellt. Wie im gesamten Buch wird gerade auch hier anhand von zahlreichen Kasuistiken veranschaulicht, dass bei vielen Einzelfällen, bei denen noch vor 20 Jahren dem Wissensstand entsprechend zu Recht eine Schizophrenie diagnostiziert wurde, heute neuropsychiatrische Krankheitsdiagnosen im engeren Sinne möglich sind. So können – zumindest auf Einzelfallebene – Stoffwechselerkrankungen wie die Niemann-Pick-Typ C Erkrankung, immunologische Erkrankungen wie die limbischen Enzephalitiden oder die Hashimoto-Enzephalopathie oder paraepileptische schizophrene Störungen identifiziert und oft auch kausal behandelt werden. Gerade diese jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Neuropsychiatrie illustrieren dabei anschaulich, dass es sich bei der Schizophrenie um einen Sammelbegriff für zahlreiche, unterschiedlich verursachte, meist noch unverstandene, neuropsychiatrische Erkrankungen handelt.

In diesem Zusammenhang wird dann der Frage nachgegangen, ob gerade im multigenetischen Bereich, schizophrene Erlebensweisen nicht auch als Normvariante menschlichen Wahrnehmens und Erlebens verstanden werden sollten. Dafür spricht etwa die Tatsache, dass epidemiologischen Befunden zufolge 6–7 % der gesunden Allgemeinbevölkerung zumindest einmal im Leben schizophrene Symptome aufweisen, ohne dass nach psychiatrischen Kriterien eine psychische Störung diagnostiziert werden könnte.

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und Überlegungen wird dann im 9. Kapitel das Für und Wider der Schizophrenie gegeneinander abgewogen. Perspektivisch wird nach Abwägung der Vor- und Nachteile das Urteil vertreten, dass der Schizophrenie-Begriff und – viel wichtiger noch – das Schizophrenie-Konzept in den Köpfen aller Akteure mehr Nachteile haben als dass sie nutzen. Damit ist das übergeordnete Ziel dieses Buches ein Unbescheidenes, nämlich die Abschaffung des Begriffs und des Konzepts der Schizophrenie in den Köpfen der Leserinnen und Leser – zumindest für den Fall, dass meine Argumentation und Sichtweise überzeugen sollten. Umso wichtiger ist es mir, zu betonen, dass die meisten der hier vorgetragenen und entwickelten Gedanken nicht wirklich neu und exotisch sind, sondern dem Diskurs der Zeit entspringen, was in Kapitel 10 dargelegt wird.

 

2          Die Symptome und Verläufe der Schizophrenie

 

 

 

2.1       Schizophrenie in der Lebenswirklichkeit

Was ist die Schizophrenie in unserer Welt? Medizinische Begriffe haben in der alltäglichen Lebenswelt oft vielfältige Bedeutungen, die über den Kern der wissenschaftlichen Definition weit hinausreichen. Aber für kaum einen medizinischen Begriff gilt dies so sehr wie für den Schizophrenie-Begriff. Was bedeutet es in der alltäglichen Lebenswirklichkeit, eine Schizophreniediagnose zu bekommen?

Zunächst einmal ist eine Schizophrenie für viele Menschen eine große Angst. Denn hinter der bangen Frage »Bin ich verrückt?« verbirgt sich nicht nur eine Verunsicherung dem eigenen Körper gegenüber, die nicht wenige Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen werden.1 Die Verunsicherung über das Symptom reicht viel weiter als wenn ein Mensch mit übergroßem Durst sich sorgenvoll fragt: »Habe ich einen Diabetes?«. Denn auch wenn die Psyche im wissenschaftlichen und populären Denken der Postmoderne meist als körperliches Phänomen begriffen wird, so ist doch unbestreitbar, dass psychiatrische Diagnosen das Selbstbild, die eigene Identität, das Selbstwertgefühl und die Stellung des Betroffenen in der Gesellschaft viel weitreichender beeinflussen als somatische Diagnosen. Und so zielt die sorgenvolle Frage »Bin ich verrückt?« eben nicht nur auf das Symptom an sich, sondern auf das Unheil in der Gesellschaft, welches mit der offiziellen Diagnose einer Schizophrenie von vielen befürchtet wird – teilweise sicher zu Recht.

Darüber hinaus ist mit der Schizophreniediagnose auch eine Drohung verbunden. Denn es schwingt auch die Zuordnung mit: »Du bist verrückt!« Die Schizophreniediagnose steht wie kein anderer Begriff für das Verrückt-Sein in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Zeit. Die Epochen, in denen Menschen, die Stimmen hören, sich unter Umständen auch als auserwählt und begnadet begreifen durften – zumindest solange die übrigen kognitiven Funktionen intakt blieben –, sind lange vorbei. Die meisten Betroffenen haben den »Verrückheits-Begriff« selbst oft in alltäglichen Auseinandersetzungen als Vorwurf und Schimpfwort benutzt, nicht ahnend, dass er eines Tages auf sie zurückfallen würde.

Schließlich ist die Schizophrenie ein Stigma, ein Mal: »Der da, die da, ist verrückt! Von dem kann man nichts erwarten!« Menschen, die in den Gesellschaften unserer Zeit als schizophren markiert wurden, wird mit Misstrauen und Vorsicht begegnet. »Kann ich diesem Mann trauen?« »Muss ich vorsichtig sein?« »Kann ich dieser Frau meine Kinder anvertrauen, wenn sie doch eine Schizophrenie-Diagnose hat?« Solche Fragen beschäftigen Menschen, wenn sie anderen begegnen, von denen sie wissen, dass sie an einer Schizophrenie leiden.

Weitreichendere Folgen als die Stigmatisierung durch die Gesellschaft hat die Selbst-Stigmatisierung (Rüsch 2021), denn sie greift in das Binnen-Verhältnis, den Selbst-Bezug betroffener Menschen ein. Sie betrifft nicht die Beziehung zwischen Außenstehenden und der eigenen Person, sondern die Beziehung der Betroffenen zu sich selbst. »Kann ich mir trauen?« »Kann es sein, dass ich die Kontrolle über mein Leben, mein Denken, mein Handeln verliere?« »Bin ich noch in hinreichendem Ausmaß frei und zurechnungsfähig?« All diese Fragen könnten viele nicht-schizophrene Menschen sich mit guter Begründung stellen, denen es nie in den Sinn käme. Zu nennen sind hier etwa Menschen, die regelmäßig Alkohol trinken – und gelegentlich auch deutlich zu viel – Menschen, die einen Diabetes haben, ein hohes Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko, Menschen, die Drogen nehmen usw. Keine dieser medizinischen Konstellationen ist aber auch nur im entferntesten Sinne in einem vergleichbaren Ausmaß mit dem Problem der Selbststigmatisierung behaftet, wie dies bei den Schizophrenien der Fall ist.

Ein Großteil dieser Stigmatisierung speist sich aus dem alltäglichen Gebrauch des Schizophrenie-Begriffs als Schimpfwort: »Diese Politik ist schizophren!« Mit Schlagzeilen dieser Art werden wir leider nicht nur in der Boulevard-Presse, sondern auch in Medien konfrontiert, von denen man das eigentlich nicht erwarten würde.

Und Hand aufs Herz, verehrte Leserin, verehrter Leser, haben Sie nicht auch selbst das Schimpfwort so oder in ähnlicher Form (»Du bist ja verrückt!«) schon häufiger benutzt. Wer ahnt schon, dass dieser nachlässige Sprachgebrauch und vor allem die damit verbundenen Assoziationen einmal auf Freunde, Angehörige oder gar die eigene Person zurückfallen könnte? Wenn es dann aber so weit ist, d. h., wenn eine Schizophreniediagnose im Raum steht, so fällt dieser Sprachgebrauch, der im Kern darin besteht, den anderen auszugrenzen, anstatt sich inhaltlich mit seinen Problemen und seinem Erleben auseinanderzusetzen, auf den als schizophren markierten Menschen und sein Umfeld zurück.

Schließlich kann der Schizophrenie-Begriff auch als Angstabwehr verstanden werden. Etwa wenn schwer nachvollziehbare Straftaten oft mit ausgeprägter Brutalität unter der Überschrift »Schizophrener Patient beging ein Massaker« berichtet werden. Dann mag die Ausgrenzung des Unfassbaren, aber Geschehenen, in eine »andere Welt«, die von der »der Gesunden« in Form des Begriffs Schizophrenie abtgetrennt ist, auch dabei helfen, die Angst vor der Unbegreiflichkeit und Zufälligkeit des Schicksals – mit der wir alle immer wieder konfrontiert werden – einzudämmen.

Die Aufzählung illustriert, dass der Schizophrenie-Begriff und das Gemeinte dieses Begriffs, das Schizophrenie-Konzept, viele sehr unterschiedliche Bedeutungen in unserer alltäglichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit haben, die den Rahmen der Medizin weit überschreiten. Aber davon abgesehen ist er eben auch ein medizinischer Fachbegriff, mit dessen Hilfe Wissenschaftler und Ärzte versuchen, die komplexe psychobiologische Wirklichkeit fassbar zu machen, welche sich in Form der schizophrenen Symptome und Verläufe hinter diesem Begriff verbergen.

Die Schizophrenie bzw. das mit diesem Begriff gemeinte ist also mehr als der Name für eine Gruppe von Krankheiten. Sie ist eine Angst, ein Vorwurf, ein Stigma, ein politischer Kampfbegriff, ein soziologisches Regulativ, eine juristisch relevante Kategorie – aber eben auch ein Krankheitsbegriff, ein Name, für eine Gruppe im Detail sehr unterschiedlicher psychobiologischer Phänomene und Verläufe.

Die Schizophrenie ist mehr: sie ist eine Angst, ein Vorwurf, ein Stigma, ein Kampfbegriff, ein Ausgrenzungsprinzip usw. Aber sie ist eben auch ein medizinischer Fachbegriff.

Was ist nun aber eine Schizophrenie in der Medizin? Die Schizophrenie wird im Französischen auch als die große Ungreifbare, »la grande insaissisable« beschrieben (Peters 2014, S. 7).2 Diese Beschreibung erscheint mir nicht ganz unangemessen. Denn auf die simple Frage des Laien »Was ist denn überhaupt eine Schizophrenie?« geraten die Experten nicht selten ins Zaudern und kämpfen damit, diesen Begriff, der doch in aller Munde ist, klar und anschaulich zu erklären. Meist wird dann der Weg gewählt, die Krankheit Schizophrenie über die Symptome zu erklären. Erste Näherungsversuche an eine Antwort lauten dann etwa: »Schizophrenie ist, wenn man Halluzinationen hat und Stimmen hört, die in Wirklichkeit gar nicht da sind.« oder: »Schizophrenie ist, wenn Menschen an Wahnvorstellungen leiden, das Gefühl haben, verfolgt zu werden, abgehört zu werden, manipuliert zu werden, beobachtet zu werden, obwohl dies gar nicht stimmt.«

Dieser Weg soll auch in diesem Buch gewählt werden. D. h., dass die erste Annäherung an den Schizophrenie-Begriff unserer Zeit so erfolgen soll, dass all die Symptome, die eine Schizophrenie nach heutigem Verständnis ausmachen, vorgestellt werden sollen.

2.2       Die Symptome der Schizophrenie

Nach den Kriterien der neuesten Ausgabe des »Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (Diagnostic and statistical manual of mental disorders, DSM-5; American Psychiatric Association 2013; APA 2013) können fünf Domänen schizophrener oder psychotischer Symptome definiert werden:

•  Wahnsymptome

•  Halluzinationen

•  desorganisiertes Denken (Sprache)

•  deutlich desorganisiertes oder abnormales motorisches Verhalten (inklusive Katatonie)

•  sogenannte negative Symptome.

Tab. 2.1: Diagnostische Kriterien der Schizophrenie nach DSM-5 (APA 2018, S 133) (Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag.)

Schizophrenie. Diagnostische Kriterien gemäß DSM-5 295.90 (F20.9)

Nach der noch vorläufigen ICD-11-Konzeption, ist eine Schizophrenie folgendermaßen definiert:

»Die Schizophrenie ist charakterisiert durch Störungen in multiplen mentalen Modalitäten einschließlich des Denkens (z. B. Wahn, Desorganisation im formalen Denken), der Wahrnehmung (z. B. Halluzinationen), des Selbst-Erlebens (z. B. das Gefühl, dass eigene Gefühle, Impulse, Gedanken, oder das Verhalten unter Kontrolle einer äußeren Macht stehen), der Kognition (z. B. beeinträchtigte Aufmerksamkeit, verbales Gedächtnis und soziale Kognition), des Willens (z. B. Motivationsverlust), des Affekts (z. B. verflachter emotionaler Ausdruck), und Verhaltens (z. B. Verhalten, das bizarr oder zwecklos erscheint, unvorhersehbare oder unangemessene emotionale Reaktionen, die die Organisation des Verhaltens stören). Psychomotorische Störungen, einschließlich Katatonie, können vorhanden sein. Anhaltender Wahn, anhaltende Halluzinationen, Denkstörung und Beeinflussungserleben, Passivitätsgefühle oder Kontrollgefühle werden als Kernsymptome begriffen. Die Symptome müssen wenigstens einen Montat andauern, um die Diagnose einer Schizophrenie zu stellen.« (WHO 2021)3

Auch wenn die Überschriften der verschiedenen Symptombereiche nicht völlig deckungsgleich sind im Vergleich zu DSM-5, so ergebnen sich inhaltlich doch keine wesentlichen Unterschiede im Hinblick auf die für eine Schizophrenie kritischen Symptombereiche. Die obige Tabelle (Tab. 2.1) illustriert, wie die konkrete Schizophreniediagnose gemäß DSM-5 operationalisiert ist.

Im Folgenden sollen die im ICD-114 genannten Symptombereiche nacheinander in ihrer Bedeutung im Hinblick auf das mentale Funktionieren von Menschen vorgestellt und illustriert werden.

2.2.1     Auffälligkeiten des Denkens (z. B. Wahn, Desorganisation im formalen Denken)

Dieses ICD-11 Kriterium entspricht den DSM-5 Kriterien A.1 (Wahn) und A.3 (desorganisierte Sprechweisen) wie in Tabelle 2.1 (Tab. 2.1) aufgeführt.

Wenn im Folgenden Auffälligkeiten des Denkens beschrieben und charakterisiert werden sollen, so sollte zunächst Klarheit darüber geschaffen werden, was der Begriff Denken überhaupt bedeuten soll.

Auf den ersten Blick scheint jeder Mensch intuitiv zu wissen, was denken bedeutet. Betrachtet man die berühmte Skulptur von Rodin, der Denker (Abb. 2.1), so scheint Denken ein Geisteszustand zu sein, bei dem eine Person in sich gekehrt ist, mit seiner Aufmerksamkeit nicht in die Welt gerichtet ist, sondern auf seine eigenen mentalen Prozesse. Ist Denken also ein Zustand der nach innen gekehrten Selbstreflexion?

Das würde bedeuten, dass ein Schachspieler, der sich strategische Zugkombinationen überlegt, um eine Partie zu gewinnen, nicht denkt, weil er mit seiner strategisch ausgerichteten mentalen Tätigkeit auf die Außenwelt gerichtet ist. So scheint der Begriff also zu eng gefasst zu sein, um das alltagssprachlich Gemeinte zu fassen.