Autismus, ADHS und Tics - Ludger Tebartz van Elst - E-Book

Autismus, ADHS und Tics E-Book

Ludger Tebartz van Elst

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Beschreibung

Autismus und ADHS erleben ein ungebrochenes gesellschaftliches Interesse. In DSM-5 und ICD-11 werden sie gemeinsam mit den Tic-Störungen als Entwicklungsstörungen allen anderen psychischen Störungen vorweggestellt. Es mehren sich aber auch warnende Stimmen, sie würden zur Modediagnose. Jede erkennbare Persönlichkeitseigenschaft werde zur Krankheit umgedeutet. Die 3. Auflage ist um das Thema Tic-Störungen erweitert und greift folgende Fragen auf: Was ist überhaupt normal? Was ist Persönlichkeit? Wann werden Symptome und Eigenschaften zu einer Krankheit? Autistische Symptome können ebenso wie ADHS-Eigenschaften und Tics sowohl Ausdruck einer normalen Entwicklung sein als auch einer neuropsychiatrischen Krankheit oder Persönlichkeitsstörung. Dies zu begreifen, kann sowohl für Betroffene als auch ihre Mitmenschen von großer Bedeutung sein und helfen, Ängste und Vorurteile abzubauen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 3. Auflage

Prolog

1 Einleitung

2 Was ist normal?

2.1 Normalität als statistische Größe

2.2 Normalität als technische Größe

2.3 Normalität als soziale Größe

2.4 Das Konzept der multikategorialen Normalität

3 Was ist eine Krankheit?

3.1 Gibt es einen allgemeingültigen Krankheits- und Gesundheitsbegriff?

3.2 Der pragmatische medizinische Krankheitsbegriff

3.2.1 Symptome

3.2.2 Syndrome

3.2.3 Ätiologie und Pathogenese von Symptomen

3.3 Annäherung an den Begriff »Krankheit«

4 Was ist eine psychische Störung?

4.1 Klassifikatorische Prinzipien psychischer Störungen in ICD und DSM

4.2 Methodische Prinzipien der Klassifikation in ICD und DSM

4.3 Die Folgen der Aufgabe kausalen Denkens

4.3.1 Die historischen Gründe für die Aufgabe kausalen Denkens

4.3.2 Die Aufgabe eines zentralen wissenschaftlichen Zieles

4.3.3 Die Missverständnisse des Störungsbegriffs

4.4 Primäre und sekundäre Syndrome

4.5 Primäre Syndrome und Normvarianten

5 Was ist eine Persönlichkeitsstörung?

5.1 Historische Entwicklung des Begriffs

5.2 Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10, ICD-11, DSM-IV und DSM-5

5.3 Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen

5.4 Die Ursachen von Persönlichkeitsstörungen

5.4.1 Genetische Befunde

5.4.2 Bildgebende und weitere neurobiologische Befunde

5.4.3 Psychologische Theorien

5.4.4 Die dimensionale Sichtweise

5.5 Persönlichkeitsstörungen und Entwicklungsstörungen

6 Was ist Autismus?

6.1 Das autistische Syndrom

6.1.1 Historische Entwicklung des Autismus-Begriffs

6.1.2 Die Symptomatik autistischer Syndrome

6.2 Autistische Subtypen: die Klassifikation des Autismus

6.2.1 Frühkindlicher Autismus

6.2.2 Das Asperger-Syndrom

6.2.3 Der atypische Autismus

6.2.4 Die autistische Regression

6.2.5 Autistische Persönlichkeitsstruktur

6.2.6 Autismus und Konflikte

6.2.7 Primärer und sekundärer Autismus

6.2.8 Neue konzeptuelle Entwicklungen: Autismus in DSM-5 und ICD-11

6.3 Autismus als Basisstörung

6.4 Häufigkeit und Epidemiologie von Autismus

6.5 Über Ursachen des Autismus

6.5.1 Genetische Ursachen

6.5.2 Erworbene Ursachen

6.5.3 Hirnanatomische Befunde

6.5.4 Pathogenetische Theorien

6.6 Die Organisation der Netzwerkkonnektivität als Korrelat des autistischen Syndroms

6.6.1 Holistisches versus autistisches Konnektivitätsmuster

6.6.2 Strukturelle Konnektivität als Erklärungsmetapher

6.7 Die Wirklichkeit ist komplex: Autismus als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit

7 Was ist eine Aufmerksamkeitsdefizit-‌Hyperaktivitätsstörung (ADHS)?

7.1 Das Syndrom der Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität

7.1.1 Zur geschichtlichen Entwicklung des ADHS-Begriffs

7.1.2 Die klinische Symptomatik der ADHS

7.2 Klassifikation: Die Subtypen der ADHS

7.2.1 ADHS als Persönlichkeitsstruktur

7.2.2 Primäre und sekundäre ADHS

7.3 ADHS als Basisstörung

7.4 Über Ursachen der ADHS

7.5 Autismus, ADHS

7.6 Die Wirklichkeit ist komplex: ADHS als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit

8 Was sind Tic-Störungen und das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom?

8.1 Die Geschichte des Tourette-Syndroms

8.2 Zur Symptomatik und Klassifikation von Tics und dem Tourette-Syndrom

8.3 Die Ursachen von Tic-Störungen

8.4 Die Diagnose von Tic-Störungen

8.5 Tics als Basisstörung

8.6 Tics, ADHS und Autismus

8.7 Die Wirklichkeit ist komplex: Tics und Tourette als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit

9 Wie denken wir über unsere psychische Gesundheit?

9.1 Die Probleme der psychiatrischen Krankheitslehre

9.2 Entwicklungsstörungen zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit

9.2.1 Die eigene Persönlichkeit als Struktur

9.2.2 Von Strukturen, Problemen und Zuständen – das SPZ-Modell

9.2.3 Normvariante: Verharmlosung schweren Leidens?

9.2.4 Die Entwicklungsstörungen zwischen normativer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Akzeptanz

9.3 Was bedeutet es, psychisch gesund zu sein?

9.4 Über die Behandlung von Autismus, ADHS, Tics – und der eigenen Persönlichkeit

Literatur

Sachwortverzeichnis

Der Autor

Prof. Dr. med. Ludger Tebartz van Elst studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Manchester (UK), New York (NYU/USA) und Zürich. Die Weiterbildung erfolgte in den Fächern Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie an den Universitäten Freiburg, Abteilung für Neurologie, Institute of Neurology, University College London/UK und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau.

Nach dem Facharzt in Psychiatrie und Psychotherapie (2002) habilitierte er sich 2004 im Fach Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2006 ist er außerplanmäßiger Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2010 ist er stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik. Er erhielt einen Ruf auf eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf (2005) und auf das Ordinariat für Psychiatrie und Psychotherapie der Christian-Albrechts-Universität Kiel (2014), die er beide ablehnte.

Seine klinischen Interessen gelten vor allem der Neurobiologie und Psychotherapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS und Tic-Störungen) sowie der organischen und schizophrenen Syndrome. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Differenzialdiagnose, Neurobiologie und differenzielle Therapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS, Tic-Störungen) und der organischen Differenzialdiagnostik und differentiellen Therapie affektiver, psychotischer und schizophrener Syndrome. Seine methodischen Schwerpunkte stellen dabei die Hirnbildgebung, Neuroimmunologie, Sehforschung und visuelle Elektrophysiologie dar.

Er ist Autor von über 230 englischsprachigen Fachpublikationen und 40 Buchkapiteln und Büchern darunter sieben Monografien. Neben seinen klinischen und neurowissenschaftlichen Tätigkeiten beschäftigt er sich seit seinem Studium mit erkenntnistheoretischen und medizintheoretischen Fragen sowie Themen der Philosophie des Geistes und hat dazu bislang drei Monografien vorgelegt.

Ludger Tebartz van Elst

Autismus, ADHS und Tics

Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit

3., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2023Die 1. und 2. Auflage erschienen unter dem Buchtitel »Autismus und ADHS«.

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-041158-6

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-041159-3epub: ISBN 978-3-17-041160-9

Geleitwort zur 1. Auflage

Das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie tut sich in den letzten Dekaden erkennbar schwer, mit überzeugenden ätiologischen Erkenntnisgewinnen oder pharmakologischen Innovationen aufzuwarten. So lassen sich trotz der enormen methodischen Fortschritte im Bereich der Genetik und bildgebenden Hirnforschung zu keinem der großen psychiatrischen Krankheitsbilder entscheidende genetische, hirnmorphologische, neurochemische oder funktionelle Befundmuster erkennen. Damit fehlt auch die theoretische Grundlage dafür, echte kausale somatische Therapiestrategien zu entwickeln.

An der Freiburger Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie wurde dieser Entwicklung insofern Rechnung getragen, als dass die Therapieforschung auf die Entwicklung und Validierung von psychotherapeutischen, störungsspezifischen Methoden konzentriert wurde. Dieser Ansatz hat es erlaubt, symptom- bzw. syndromorientierte Therapiekonzepte zu entwickeln und empirisch zu validieren unter Aussparung der meist nicht definitiv zu klärenden Frage nach der Erstursache (Ätiologie) des Störungsbilds. Ausgehend vom Aufbau störungsspezifischer Behandlungsformen für Zwangsstörungen, Depressionen und die Borderline-Persönlichkeitsstörung rückten dabei bereits früh die heute sogenannten neuronalen Entwicklungsstörungen in den Fokus des Interesses. Dabei wurde zunächst die Bedeutung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auch für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie erkannt. Vor dem Hintergrund einer sehr stark nachgefragten Spezialsprechstunde für ADHS wurde ein spezifisches Gruppenpsychotherapieprogramm entwickelt und in der klinischen Praxis implementiert und beforscht. Ganz analog wurde mit einer Latenz von einigen Jahren das Thema der Autismus-Spektrum-Störungen in seiner Bedeutung für unser Fachgebiet erforscht. Beide Entwicklungsstörungen sind mit einer Prävalenz von etwa 2 % (ADHS) bzw. 1,5 % (Autismus) im Erwachsenenalter häufig.

In diesem Buch werden einige für unser Fachgebiet sehr wichtige Erkenntnisse als Ergebnisse dieser klinischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung zusammenfassend vorgestellt. Dabei wird auf eine für Laien, Wissenschaftler und Kliniker zugleich anschauliche Art und Weise auch anhand vieler Kasuistiken herausgearbeitet, dass ADHS bzw. Autismus oft den biografischen Hintergrund für sich daraus entspinnende interpersonelle Konflikte, Probleme und Erfahrungen des Scheiterns darstellen. Diese Erfahrungen führen oft im Weiteren zu Depressionen, Angsterkrankungen, Belastungsstörungen oder Anpassungsstörungen, wegen derer die Betroffenen vorstellig werden. Erst die Erkenntnis des Autismus bzw. der ADHS als Basisstörung ermöglicht es in solchen Konstellationen, ein angemessenes Symptom- und Problemverständnis zu entwickeln, welches die Grundlage für eine spezifischere Therapieplanung bildet. Diese klinische Konstellation stellt sich in weitgehender Analogie zu der Situation bei den Persönlichkeitsstörungen dar. Ausgehend von dieser Beobachtung wird in dem Buch sehr anschaulich herausgearbeitet, dass es auch aus konzeptueller Perspektive keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Persönlichkeitsstörungen und den Entwicklungsstörungen gibt, eine Einsicht, die in Fachkreisen bislang noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Ein weiterer wichtiger konzeptueller Vorschlag, der hier entwickelt wird, ist die Unterscheidung psychischer Störungen in primäre und sekundäre Varianten. Diese Differenzierung ermöglicht es, die rein deskriptive und ätiologiefreie Klassifikation psychischer Störungen nach DSM und ICD wieder um Elemente kausalen Denkens zu bereichern. Damit wird an Traditionslinien der älteren Psychiatrie angeknüpft, wo z. B. in Form der Jaspers'schen Schichtenregel die wahrscheinlichen Ursachen von psychischen Symptomen bei der Klassifikation noch eine wichtige Rolle spielten.

Vor diesem Hintergrund werden schließlich die vielfältigen Wirklichkeiten von Autismus und ADHS beschrieben, wie sie sich uns im klinischen Alltag zeigen. Da ist zum einen die Entwicklungsstörung als Normvariante analog zur psychopathologisch nicht verwertbaren Persönlichkeitsstruktur. Im Sinne einer solchen psychobiologischen Struktur ist die Persönlichkeit eines jeden Menschen aufgespannt zwischen den polaren Gegensätzen des Holistisch-strukturiert-Seins auf der einen und des Autistisch-strukturiert-Seins auf der anderen Seite. Beide Pole der Persönlichkeitsstruktur sind dabei mit spezifischen Stärken und Schwächen vergesellschaftet. Ferner begegnen uns Autismus und ADHS im Sinne des Konstrukts einer spezifischen Persönlichkeitsstörung, dann nämlich, wenn sich bei schwerer Ausprägung aus diesen Strukturen umfassende, überdauernde und dysfunktionale Konsequenzen ergeben. Schlussendlich gibt es Autismus und ADHS ganz im Sinne einer klassischen neuropsychiatrischen Krankheit, wenn die spezifischen Ursachen der psychobiologischen Struktur benannt werden können.

Die in diesem Buch vorgetragenen Gedanken und Konzepte zum sich rasant entwickelnden Themenbereich der Entwicklungsstörungen stellen eine große Bereicherung für die psychiatrisch psychotherapeutische Theoriebildung dar. Sie ermöglichen es Ärzten, Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen gleichermaßen, einen differenzierten, wissenschaftlich angemessenen und nicht-diskriminierenden Blick auf die persönlichkeitsstrukturellen Gegebenheiten und Wirklichkeiten von Menschen mit Autismus und ADHS zu werfen. Dies gelingt in Form der zahlreichen Kasuistiken nicht nur wissenschaftlich interessant und klinisch ansprechend, sondern auch auf gut lesbare und unterhaltsame Art und Weise.

Prof. Dr. Mathias BergerDirektor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Uniklinik Freiburg

Vorwort zur 1. Auflage

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) werden in den letzten Jahren zunehmend thematisiert. Gerade im medialen Sektor haben zahlreiche Filme und Serien mit autistischen Protagonisten dazu geführt, dass sich eine breite Öffentlichkeit für das Thema interessiert. In eigentümlichem Gegensatz dazu wird die Problematik in psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkreisen immer noch nur zögerlich aufgegriffen. Obwohl die Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störungen mit über 1 % wahrscheinlich höher ist als etwa die der schizophrenen Störungen, gibt es nach wie vor an vielen Unikliniken in Deutschland keine Spezialsprechstunden für Autismus. Und auch im niedergelassenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich ist spezifische Kompetenz viel zu dünn gesät. Dieser Kontrast zwischen medialer Popularität und fachärztlich-psychotherapeutischer Ignoranz wird durch warnende Stimmen bereichert, Autismus könne zu einer Modediagnose werden. Ähnlich wie beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickele sich eine Situation, in der jede erkennbare Persönlichkeitseigenschaft zur Krankheit umgedeutet werde. Der Gesellschaft drohe eine Pathologisierung normaler Varianz und eine Psychiatrisierung.

Dieser Themenbereich wird in diesem Buch aufgegriffen und bearbeitet. Aus der Perspektive der klinischen Neurowissenschaften wird dabei Fragen nachgegangen wie: Was ist überhaupt normal? Was ist Persönlichkeit? Wann werden Symptome und Eigenschaften zu einer Krankheit? Fokussierend auf die großen Entwicklungsstörungen Autismus und ADHS soll dabei versucht werden, mehr Klarheit in die alltäglichen psychiatrisch-psychopathologischen Begrifflichkeiten und Denkkonzepte zu bringen. Die Störungsbilder Autismus und ADHS werden dabei als Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Erkrankung vorgestellt. Ziel dieses Buchbeitrags ist es, eine differenziertere Betrachtung von mentalen Phänomenen im Übergangsbereich zwischen Normalität, Abweichung und Krankheit zu begründen in der Hoffnung, dadurch Ängste und Vorurteile vor abweichenden psychischen Erlebens- und Verhaltensweisen abzubauen.

Ludger Tebartz van Elst

Vorwort zur 2. Auflage

Es freut mich sehr, dass das Buch auf eine große Resonanz trifft und nun schon nach knapp zwei Jahren in die 2. Auflage gehen kann. An der Aktualität der Fragestellung hat sich inzwischen sicher nichts geändert.

In Fachkreisen tobt eine heftige Debatte. Einige Protagonisten tragen vor, Autismus werde inzwischen zu viel und zu lax diagnostiziert. Die Diagnose sei beliebt und werde von Patienten eingefordert.

Andere entgegnen, es spräche doch nicht gegen den Autismus-Begriff, dass er auf Akzeptanz bei den so Diagnostizierten träfe. Dies spräche doch wohl eher für die Validität – also die Gültigkeit – der Diagnose. Es sei doch positiv, dass der Begriff Autismus bei den so charakterisierten Menschen Räume öffne, ihr Leben positiv zu gestalten, ein angemessenes Selbstbild und wachsendes Selbstwertgefühl aufzubauen.

Die Gegenseite argumentiert, Diagnosen könnten doch wohl nicht nach Beliebtheit vergeben werden. Damit gäbe die Wissenschaft sich dem populären Zeitgeist hin. Langfristig aber würde sie so ihre Glaubwürdigkeit verlieren.

Aber auch in der breiten Bevölkerung wird intensiv diskutiert und gerungen mit dem, was der Begriff Autismus meinen soll.

Eltern sehen bei ihren Kindern autistische Eigenschaften und hoffen mit einer Diagnose, eine bessere Selbsterkenntnis zu fördern. Begabte Eigenschaftsträger weigern sich aber, die Besonderheiten ihrer Persönlichkeit unter einem Krankheitsbegriff zu fassen. Sie denken und erleben es als Stigmatisierung, das Muster ihrer Stärken und Schwächen unter einem medizinisch-psychiatrischen Fachbegriff zusammenzufassen. Ein Paar kommt in die Spezialsprechstunde für Autismus-Spektrum-Störungen und die Ehefrau fasst zusammen: »Wenn mein Mann ein Asperger-Syndrom hat, bleibe ich bei ihm, wenn nicht, lasse ich mich scheiden!«

All diese Standpunkte, Meinungen und verzweifelten Äußerungen sind jeweils teilweise gut nachvollziehbar. Niemand hat ganz Unrecht. Aber sie sind dennoch getragen von einem unvollständigen Verständnis davon, was die verschiedenen Begriffe genau meinen.

Was meint die Ehefrau genau damit, dass ihr Mann einen Asperger-Autismus entweder hat oder nicht? Denkt sie das Asperger-Syndrom wie eine Lungenentzündung? Geht es um Verantwortung und Schuld in den vielen frustrierenden Alltagssituationen?

Was will der Protagonist wirklich bekämpfen, wenn er gegen die Überdiagnostizierung des Autismus zu Felde zieht? Die nachvollziehbare und auch in meinen Augen bedenkliche Psychiatrisierung der Gesellschaft? Sicher will er nicht Merkmalsträgern Räume verbauen, ein positives Selbstbild zu entwickeln.

Wogegen wehren sich Menschen mit erkennbaren autistischen Persönlichkeitsstrukturen, wenn sie eine Diagnose ablehnen? Gegen die erkennbar wachsende Intoleranz unserer Zeit? Dagegen jeder Eigenschaft einen Namen zu geben und so zu tun als sei sie eine Krankheit? Erkennen sie das große Problem unserer Zeit, dass es den Menschen erst dann gelingt, dem Anders-Sein gegenüber wohlwollend aufzutreten, wenn sie es in einem ersten Schritt normativ ausgegrenzt haben, indem sie es mit einem Krankheitsbegriff belegt haben? Oder wollen sie nur die eigene Struktur nicht erkennen, verweigern sich dem existenziellen »Gnothi seauton«, dem »Erkenne Dich selbst«?

All diese Fragen und Urteile drehen sich um ein Verständnis von Normalität, Gesundheit, Freiheit und Verantwortung. Und sie können nur dann in einem tieferen Sinne verstehend gelöst werden, wenn wirklich erkannt wird, was es überhaupt bedeutet, normal zu sein, nicht normal zu sein, gesund zu sein, krank zu sein, eine Persönlichkeit zu haben, eine Persönlichkeitsstörung zu haben. Erst die Auseinandersetzung mit diesen grundlegenden Fragen öffnet einem jeden Menschen den Raum für ein umfassendes Verständnis seines eigenen So-Seins – und zwar völlig unabhängig davon, ob ein Autismus oder eine ADHS gegeben ist.

Dann kann erkannt werden, dass die Struktur der eigenen Persönlichkeit im Sinne eines Autismus oder einer ADHS als Normvariante begriffen werden kann – wie in den meisten Fällen – aber auch einer Krankheit im engeren Sinne entsprechen kann. Beides ist möglich. Autismus und ADHS können dimensional gegeben sein im Sinne eines mehr oder weniger ausgeprägt seins und kategorial, wie bei einer echten Krankheit. Nicht immer ist die Zuordnung eindeutig möglich.

Dennoch erlaubt erst dieses umfassende Verständnis dieser Phänomene, die Vielzahl der unterschiedlichen Erscheinungsformen, die unter den Begriffen Autismus und ADHS geführt werden, angemessen zu verstehen und auf einem solchen angemessenen Verständnis der eigenen Person ein gut funktionierendes und das Selbstwertgefühl förderndes Selbstbild aufzubauen.

Freiburg, im November 2017Ludger Tebartz van Elst

Vorwort zur 3. Auflage

Ich freue mich sehr nun bereits die 3. Auflage dieses Buches vorlegen zu können. Sie wurde nach der letzten Auflage von 2018 komplett überarbeitet und erweitert. Der hier bearbeitete Themenbereich entwickelt sich dynamisch nicht nur in Deutschland, sondern der ganzen Welt. Im DSM-5 und in der Anfang 2022 offiziell in Kraft getretenen ICD-11 – die allerdings in Deutschland vorläufig noch nicht zur Anwendung kommt – wurden Autismus und ADHS nun offiziell in der Kategorie der Entwicklungsstörungen zusammengefasst und allen anderen psychischen Krankheitsbildern vorangestellt.

Auch die Tic-Störungen und das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom wurden nun diesen Entwicklungsstörungen zugeordnet, auch wenn sie im ICD-11 offiziell als neurologische Erkrankungen geführt werden. Diese Tatsache veranschaulicht, wie viel Unsicherheit bei der Betrachtung und Interpretation von Phänomenen wie Autismus, ADHS und Tics selbst in den Fachkreisen besteht, die ihr ganzes Leben diesen Themen widmen. Schon in den ersten beiden Auflagen dieses Buches waren die Tic-Störungen sowohl kasuistisch als auch paradigmatisch an prominenter Stelle vertreten. In der 3. Auflage dieses Werks wurden sie nun offiziell mit in den Buchtitel aufgenommen (die 1. und 2. Auflage erschienen unter dem Titel »Autismus und ADHS«) und in einem eigenen Kapitel bearbeitet. Dies spiegelt meine persönliche Überzeugung wider, dass es in der Tat angemessen ist, sie als Entwicklungsstörung in enger Verwandtschaft zu Autismus und ADHS zu sehen. Wenn meine Intuition mich nicht trügt, werden zumindest die juvenilen Zwangsstörungen und möglicherweise auch die Essstörungen in einigen Dekaden folgen – aber das wird die Zukunft zeigen.

Autismus, ADHS und Tic-Störungen werden in dieser 3. Auflage noch klarer als strukturelle Phänomene von Menschen herausgearbeitet in weitgehender Analogie zur eigenen Persönlichkeit. Sie sind nicht zwingend als Krankheit zu verstehen, sondern meistens als Normvariante zu begreifen. Als solche können sie wie seltenere Instrumente eines Orchesters begriffen werden, deren Eigenart verstanden werden will, soll die fantastische Musik erahnt werden, die man mit ihnen hervorbringen kann. Aber als Instrument sind sie dingliche Körper, sind rigide, können nicht beliebig verändert werden, sind Begrenzung – und gerade durch diese Begrenzung – Potenzial in einem.

Auch das Zusammenspiel zwischen den strukturellen Gegebenheiten der Menschen in Form ihrer Körper und Persönlichkeiten, sich daraus entwickelnder musterhafter Probleme und Problemverhaltensweisen und häufig resultierenden Zuständen wie Depression, Dissoziation und Angst wurde in dieser Auflage noch einmal breiter beschrieben. Das SPZ-Modell (Struktur-Problem-Zustand), welches in der klinischen Praxis und Pädagogik in den letzten Jahren einen zunehmend größeren Raum einnimmt, wurde ebenfalls als eigenes Unterkapitel aufgenommen.

Das grundlegende Ziel des Buches hat sich aber über die Auflagen hinweg nicht geändert. Es wird nach wie vor durch das einleitende Zitat »gnothi seauton«, »erkenne Dich selbst« gut repräsentiert. Es geht mir darum, dass Menschen mit und ohne Entwicklungsstörungen die strukturellen Besonderheiten ihres Körpers in einem nicht-diskriminierenden Sinne erkennen, auch wenn diese Strukturen erkennbar anders sind als bei anderen. Denn jedes Instrument ist anders und doch unverzichtbar für das große Orchester. Und erst über ein zutreffendes Selbstbild wird es – hoffentlich – gelingen, ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, welches im Staunen über und der Faszination an der Vielfalt der Instrumente der Musik des großen Orchesters des Lebens wurzelt.

Und aus diesem guten Selbstwertgefühl erwächst die Essenz der Gesundheit: die Freude am Leben.

St. Trudpert, im Sommer 2022Ludger Tebartz van Elst

Prolog

»Medizinstudenten und Ärzte haben daher Schwierigkeiten zu sehen, in welchem Ausmaß die Praxis, die sie erlernen und ausüben, von Theorien durchtränkt ist. Sie glauben, die Realität der Krankheiten habe die Theorien der Medizin geschaffen und sehen nicht, wie weit die Theorien fremder Fächer die Realität der Krankheiten bestimmen, welche die Medizin diagnostiziert und behandelt. Offenbar ist die Tatsache, dass Theorien die Praxis bestimmen, anderen Disziplinen bewusst. So gibt es eine theoretische Physik und Bücher über theoretische Biologie. Unter diesen Gesichtspunkten wäre eine Disziplin theoretische Medizin ein dringendes Erfordernis« (von Uexküll und Wesiack 1991, S. 3).

Dieser Anregung der Ikonen der modernen psychosomatischen Medizin folgend, setzen sich die ersten Kapitel dieses Buches mit theoretischen Fragestellungen auseinander, die nicht nur das Fachgebiet der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kern betreffen, sondern auch das Selbstverständnis, das Selbstbild und oft auch das Selbstwertgefühl eines jedes Menschen.

Besonderheiten des eigenen Körpers, der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Erlebens sind nicht von Beginn des eigenen Lebens an offensichtlich. Sie erschließen sich erst mit den erwachenden geistigen Fähigkeiten im Laufe der ersten beiden Dekaden, und zwar gerade aus dem Erleben von Differenz zu den anderen. Das Erleben des eigenen Ähnlich- und Anders-Seins im Vergleich zu anderen Kindern ist die Grundlage der Erkenntnis der eigenen Besonderheit. Ob diese Besonderheit aber als Geschenk und Bereicherung oder Abart, Störung oder Krankheit verstanden wird, hängt eben von der Beantwortung solcher Fragen der theoretischen Medizin ab: Was ist normal? Was ist eine Krankheit, was ist Gesundheit? Was ist eine psychische Störung und was eine Persönlichkeitsstörung? Und worin wurzelt die Werthaftigkeit meines Lebens? Sind Assimilation und Anpassung an die Lebensart der Vielen Grundlage der Werthaftigkeit der Einzelnen? Oder ist es gerade deren Gegenteil: Widerstand und Eigensinn?

Das Leben als Ganzes, das Leben der Menschheit und das Leben jedes einzelnen Menschen war schon immer von diesen beiden Polen geprägt – und wird es auch immer bleiben, solange es besteht. Das konservative, beharrende Festhalten am Bewährten ist für das Leben von ebenso fundamentaler Bedeutung wie die progressive Detailvariation und Bereitschaft zur Veränderung. Ersteres bereitet dem Leben die fundamentale Sicherheit und Beständigkeit, letztere ist Grundlage der Anpassungsfähigkeit des Lebens als Ganzes und des individuellen Lebens in einer sich wandelnden Gesellschaft und einer sich wandelnden Umwelt (Tebartz van Elst 2021).

Aber was genau am eigenen So-Sein, dem eigenen Erleben, den eigenen Gefühlen, den eigenen Bedürfnissen, dem eigenen Denken und Wollen sollte überhaupt angepasst werden an die soziale Umwelt, die Vorstellungen und Normen der anderen, der Vielen, der Moral – und was genau sollte bewahrt, akzeptiert und als gegeben genommen werden?

Diese Frage stellt sich allen Menschen. Aber solchen, die von der Durchschnittsnorm abweichen, stellt sie sich mit einer viel höheren existenziellen Dringlichkeit. Und dies sind Menschen mit Autismus, ADHS und Tics. Sie sind anders als andere und ringen selbst mit der Frage, warum das so ist, wie sie es verstehen sollen, ob sie sich anpassen sollen, tarnen sollen oder ihre Besonderheit voller Stolz als Auszeichnung des Schicksals begreifen sollen. In der Auseinandersetzung mit solchen Menschen mit Autismus, ADHS und Tics, mit ihren typischen Problemen, Reaktionsmustern, Lösungsstrategien und Lebenswegen wurde mir klar, dass viele der mentalen Eigenschaften von Menschen mit Autismus, ADHS und Tics als strukturelle Besonderheiten begriffen werden müssen, die weitgehend unabänderlich sind, als strukturelle Phänomene wie Körpergröße und Weitsichtigkeit. Diese müssen akzeptiert werden, können allenfalls mit Tricks und Hilfsmitteln wie einer Brille kompensiert werden. Andere Phänomene müssen als Probleme oder Problemverhaltensweisen begriffen werden, wie Mobbing und Ausgrenzung oder sozialer Rückzug aus Scham und Angst. Sie sollten gelöst oder überwunden werden. Und schließlich gibt es Zustände wie Depressionen und psychotische Dekompensationen. Diese haben einen Anfang und ein Ende. Sie sollten behandelt, wenn möglich geheilt werden – oder müssen ausgehalten werden, bis sie von allein verschwinden. Eine Schwierigkeit des sich entwickelnden Lebens ist die, hier zwischen diesen Elementen zu unterscheiden. Was genau sollte ich als meine Struktur erkennen, als mein Schicksal mit Stolz akzeptieren, allenfalls mit Tricks und Hilfsmitteln kompensieren? Wo bin ich frei, Probleme zu lösen und Alternativen zu etablierten Problemverhaltensweisen auszudenken und einzuüben? Welche Zustände muss ich »abwettern«, aushalten oder therapieren lassen?

Mir wurde klar, dass sich diese Lebensaufgabe der Unterscheidung nicht nur Menschen mit Autismus, ADHS und Tics stellt. Sie stellt sich allen Menschen, auch den durchschnittlicheren, die in ihrer höheren Durchschnittlichkeit zwar weniger auffallen, in ihrem Leben aber derselben unausweichlichen Psychodynamik aus struktureller Rigidität (Unfreiheit), situativen Verhaltensmustern (Freiheit) und zustandshafter Dekompensation (Unfreiheit) ausgeliefert sind. Und so können wir alle lernen am Beispiel von Menschen mit Autismus, ADHS und Tics: Was es bedeutet, in dem einen oder anderen Aspekt anders zu sein, wie man das eigene Anders-Sein versteht und mit welchen kreativen und phantasievollen Ideen und Tricks ein Leben trotz aller Differenz und Einschränkung gelingen, Sinn entfalten und Freude machen kann.

Und genau dazu – so meine Intuition – könnte die unten zitierte berühmte Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi aufgerufen haben: sich selbst zu erkennen in der schicksalhaft gegebenen, überdauernden, strukturellen Unfreiheit (für die man keine Verantwortung übernehmen kann) und in den ebenfalls schicksalhaften, phasischen Dekompensationen in Krankheit und Depression, den Übeln aus Pandoras Büchse. Erkannt werden kann dann aber eben auch die situative Freiheit, die es uns allen ermöglicht, eingetretene Verhaltensmuster zu verlassen, mit kreativer Phantasie mithilfe schlauer Kompensationsstrategien strukturell bedingte Defizite auszugleichen und auch mithilfe innovativer Technik und Medizin krankhafte Zustände zu überwinden. Diese Erkenntnis kann der Hoffnung, die Pandoras Büchse als letztes entsprang, zur Hilfe eilen, der Gesundheit zu dienen und der Freude am Leben.

Γνῶθι σεαυτόνGnothi seautonErkenne Dich selbst(Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi)

1 Einleitung

Als wir 2004 in Freiburg mit der Spezialsprechstunde für Menschen mit Autismus begannen, war ich nicht nur von der Originalität und den ungewöhnlichen und meist bemerkenswerten Bewältigungsstrategien autistischer Menschen fasziniert. Ich fand es auch beruhigend, endlich auf eine psychiatrische Diagnose zu treffen, die mich als Kategorie zunächst überzeugte. Denn anders als bei vielen anderen Diagnosen wie etwa den Depressionen, wo die Übergänge fließend sind von erlebnisreaktiv ausgelösten depressiven Trauerreaktionen bis hin zu endogenen Depressionen, die wie eine Grippe auftreten können, empfand ich die Diagnose Autismus als Kategorie viel klarer. Denn die klar benennbaren autistischen Eigenschaften beziehen sich nicht nur auf einen Symptombereich, wie die soziale Wahrnehmung und Kommunikation, sondern beinhalten auch Besonderheiten des Denkstils, der Wahrnehmung und der Stressreaktion. Vor allem aber müssen all diese Besonderheiten langfristig vorhanden sein und sich wie ein roter Faden durch das Leben der Betroffenen ziehen. Das macht es möglich, situationsbedingte Phänomene, die nur in einer erkennbaren Konfliktkonstellation auftreten, auch im kategorialen Sinne zu unterscheiden von der lebenslangen und situationsübergreifenden Auffälligkeit des autistischen So-Seins. Dass diese Charakterisierung auch auf die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Tic-Störungen zutrifft und ich mit dem Gemeinten ein Kernkriterium aller Entwicklungsstörungen in den Blick genommen hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Mit zunehmender Erfahrung geriet dann aber diese frühe Überzeugung der klaren Abgrenzbarkeit des Autismus wie bei vielen anderen psychiatrischen Diagnosen ins Wanken. In der Praxis begegneten mir einfach zu viele Fälle, in denen eine saubere kategoriale Trennung zwischen gesund und krank nicht möglich war. Diese Beobachtung ist Ausgangspunkt dieses Buchprojekts. Dabei wurde ganz im Sinne der diesem Buch vorangestellten Forderung von Uexküll und Wesiack (1991) nach einer theoretischen Medizin eine Reihe von grundsätzlichen Fragen zur psychiatrischen Krankheitslehre systematisch abgearbeitet.

Am Anfang dieses Arbeitskatalogs steht die Frage danach, was überhaupt als normal betrachtet werden kann (▶ Kap. 2). Dabei wird Normalität im Sinne von drei Bedeutungen herausgearbeitet.

Die statistische Norm beschreibt weitgehend wertfrei die Verteilung von bestimmten Eigenschaften in Gruppen. Sie definiert Ausprägungen dieser Eigenschaften in Relation zur Häufigkeit ihres Auftretens. Wo genau der Grenzwert zwischen normgerecht und zu viel oder zu wenig definiert wird, bleibt zwar eine Konvention, dennoch ist der so operationalisierte Bereich des Normalen weitgehend frei von moralischen Bewertungen. Klassisches Beispiel bei Menschen ist die Körpergröße.

Die technische Norm bezieht sich vor allem auf das Funktionieren von Geräten. Dabei wird von einem bestimmten Gerät eine bestimmte technische Leistung gefordert. Wird diese Leistung nicht erbracht, wird das Gerät als defekt eingestuft. Diese Vorstellung von Normalität wird im alltäglichen Denken und Sprechen oft auf den menschlichen Körper angewendet. Dieser Normalitätsbegriff definiert anders als die statistische Norm nicht notwendig einen Bereich des Anormalen. Andererseits ist er implizit doch oft auf sozial-normative Vorstellungen bezogen. Denn die Vorstellung davon, wie ein menschlicher Körper vor allem im Bereich des Psychischen zu funktionieren habe, wird meist nicht wissenschaftlich-empirisch, sondern in einem moralisch-normativen Sinne im gesellschaftlichen Diskurs festgelegt.

Schließlich wird als dritter Bereich des Normalen die soziale Norm beschrieben. Dies ist eine Größe, die sich auf das Verhalten und Funktionieren von Menschen in Gruppen bezieht. Die soziale (gesellschaftliche) Normalität orientiert sich am sozial erwünschten Verhalten bzw. der Sitte und Moral der jeweiligen Zeit. Sie ist damit sehr stark eingebunden in die Wert- und Moralvorstellungen einer bestimmten Gruppe in einer bestimmten Zeit. Sie wird im gesellschaftlichen Diskurs vor dem Hintergrund kultureller Traditionen und gegenwärtiger Interessen von den Mehrheiten, den Machthabern oder den Meinungsführern einer Gruppe definiert, um das Verhalten der Gruppenmitglieder nach eigenen Wertvorstellungen zu beeinflussen. In diesem Sinne anormales Verhalten ist amoralisches Verhalten, welches von der Gruppe sanktioniert wird. Diese Analyse macht deutlich, dass soziale Norm- und Moralvorstellungen bei der wissenschaftlichen Definition von Krankheit vermieden werden sollten, wenn sich die Wissenschaft nicht zum Handlanger der Moral ihrer Zeit machen will.

Schließlich wird das Konzept der multikategorialen Normalität als ein statistisches und damit deskriptives und primär nicht sozialnormatives Normalitätskonzept als persönlich bevorzugtes Denkmodell für eine wissenschaftliche Psychobiologie vorgestellt. Es hebt hervor, dass in der Biologie selbst bei einfachen Eigenschaften statistische Normalität nicht ohne Bezug auf relevante Randbedingungen wie Geschlecht oder Ethnizität definiert werden kann. Das Konzept der multikategorialen Normalität betont die Vielgestaltigkeit von Normbereichen.

Aufbauend auf dieser Analyse wird in den folgenden beiden Kapiteln der Frage nach der psychiatrischen Krankheitslehre nachgegangen. Dabei wird zunächst festgestellt, dass es einen allgemeingültigen Begriff von Krankheit und Gesundheit nach aktuellem Wissensstand nicht gibt. Da die Medizin als praktische Wissenschaft aber dennoch pragmatisch mit Begriffen wie Krankheit und Gesundheit umgehen muss, werden im Folgenden die praktischen Lösungsentwürfe der Medizin vorgestellt (▶ Kap. 3). Die Unterscheidung zwischen Symptomen, Syndromen und Krankheiten erlaubt es in der Medizin, funktionelle Auffälligkeiten der lebendigen Körper zu beschreiben und in einen Bezug zu setzen zu einer erkannten oder vermuteten Kausalität. Dabei muss unterschieden werden zwischen einer Kausalität im Sinne einer Erstverursachung (Ätiologie) auf der einen Seite und Kausalzusammenhängen in Form von Sekundärursachen (Ursache-Wirkungs-Ketten, Folgeursachen und Folgeschäden), die als Pathogenese beschrieben werden, auf der anderen Seite. Nicht selten werden im alltäglichen Verständnis von Krankheit diese beiden Ursachenbereiche verwechselt.

Da es in der Psychiatrie ebenso wie in vielen anderen Disziplinen der Medizin oft keine erkennbaren Kausalitäten für auffällige Phänomene (Symptome oder Syndrome) gibt, wird dort meist mit dem Störungsbegriff operiert. Dieser wird oft sehr unscharf und vage eingesetzt. Im Sinne der engeren Bedeutung meint er, dass psychische Symptome oder Syndrome hypothetisch auf eine beschreibbare, aber noch nicht unbedingt bereits erkannte Ursächlichkeit zurückgeführt werden können. In Kapitel 4 dieses Buches wird beschrieben, wie der Störungsbegriff in den großen Klassifikationssystemen der Psychiatrie (DSM und ICD) definiert wird. Als problematisch wird dabei herausgearbeitet, dass in beiden Systemen psychische Störungen weitgehend unter Aufgabe eines konkreten kausalen Denkens nach operationalisierten Kriterien definiert, festgestellt und klassifiziert werden. Durch diese Entkoppelung des Störungsbegriffs von der die Störungen verursachenden Kausalität wird aber de facto ein pseudokategorialer Krankheitsbegriff geschaffen. Das bedeutet, dass in der Pragmatik des alltäglichen Sprechens Störungsbegriffe wie Autismus, ADHS, das Tourette-Syndrom, Depression und Schizophrenie wie Krankheitsbegriffe daherkommen, obwohl sie in Wirklichkeit lediglich Sammelbegriffe für kausal nur unscharf verbundene Symptom- und Syndrom-Cluster sind. Das hat weitreichende – und leider oft nachteilige – Folgen für das eigene Krankheitsverständnis und Selbstbild, die Therapie- und die Forschungsstrategien.

Als mögliche Lösung dieses Dilemmas wird eine Unterscheidung in primäre und sekundäre Störungen erarbeitet. Diese könnte dem kausalen Denken in der psychobiologischen Wissenschaft wieder mehr Raum eröffnen. Denn sie schärft den Blick dafür, dass psychische Symptome sowohl Ausdruck verschiedener meist zahlenmäßig kleiner kategorialer Untergruppen mit klar beschreibbarer Ursache sind (also kleine echte Krankheitsuntergruppen). Darüber hinaus existieren aber auch die meist zahlenmäßig viel größeren primären Varianten. Diese können qualitativ eigentlich gar nicht als Krankheiten begriffen werden, weil sie dimensional aufgespannte psychobiologische Eigenschaftscluster repräsentieren. Hier kann die Analogie zur Eigenschaft Körpergröße fruchtbar gemacht werden. Extremformen eines psychobiologischen Eigenschaftsclusters (Strukturiertheit der Persönlichkeit im Sinne eines Autismus oder einer ADHS, Veranlagung zu Tics) können dann zwar nach statistischen Kriterien deskriptiv als auffällig charakterisiert werden. Ähnlich wie bei einem 2,13 m großen Menschen muss dies aber nicht zwangsläufig zur Anwendung eines Krankheitsmodells führen.

Bevor dieses Verständnis in den Kapiteln 6, 7 und 8 anhand der drei großen Entwicklungsstörungen Autismus, ADHS und den Tic-Syndromen an konkreten Beispielen veranschaulicht wird, widmet sich das Kapitel 5 dem Thema der Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD- und DSM-Konzeptualisierung. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Persönlichkeitsstörungen und die Entwicklungsstörungen aus qualitativer Perspektive theoretisch kaum zu unterscheiden sind. Bei beiden Konstrukten handelt es sich um eine Gruppe von psychobiologischen Besonderheiten eines Menschen, welche bereits in der ersten (Autismus, ADHS und Tics) oder spätestens der zweiten Dekade des Lebens (Persönlichkeitsstörungen) erkennbar werden. Dann ziehen sich die entsprechenden Erlebens-‍, Denk- und Verhaltensmuster wie ein roter Faden durch das Leben der Betroffenen. Bis hin zu den Randkriterien, wie etwa dem Dysfunktionalitätskriterium, wird gezeigt, dass die beiden Kategorien theoretisch völlig analog zueinander strukturiert sind. Vor allem für den Bereich der Persönlichkeitsstörungen nach ICD- und DSM-Definition wird als problematisch herausgearbeitet, dass sich die Definition der qualitativen psychobiologischen Eigenschaftscluster ausdrücklich an sozialnormativen Wertvorstellungen orientiert. Dass sich damit ein psychisches Krankheitskonzept – nämlich das der Persönlichkeitsstörungen – zu Beginn des 21. Jahrhunderts und dritten Jahrtausends explizit an normativ-moralischen Vorstellungen der Referenzgruppe orientiert – und zwar in klarer Abgrenzung von klassischen Autoren wie Kurt Schneider, der genau davor warnte –, bleibt schwer verständlich.

Im abschließenden Kapitel 9 wird zusammenfassend festgehalten, dass die Wirklichkeit der psychischen Phänomene zu komplex ist, als dass sie sich mit den wenigen, ausschließlich störungsfokussierten, pseudokategorialen Begriffen des ICD und DSM angemessen beschreiben ließe. Autismus wie ADHS und Tics begegnen uns bei genauer Betrachtung häufig als Normvariante der psychobiologischen Wirklichkeit. Wie sehr große oder kleine Menschen fallen sie in der Gruppe der vielen durchschnittlichen Menschen auf. Das Auffällige an sich darf aber nicht als krank missverstanden werden, will man nicht einem inhumanen Chauvinismus der Mehrheit das Wort reden. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Fälle, bei denen aufgrund erkennbarer Ursachen für das So-Sein die inhaltlichen Kriterien des pragmatischen medizinischen Krankheitsbegriffs erfüllt sind. Bei leichten Ausprägungen können solche Phänomene als Krankheit ohne Krankheitswert verstanden werden. Schwere Ausprägungen repräsentieren oft klassische schwere Krankheitsbilder. Es wird dabei betont, dass es in diesem Buch nicht darum geht, alle Phänomene des Autismus, der ADHS oder Tics zu »normalisieren«. Es soll nicht verharmlost werden, dass aus dem Autistisch-Sein, den ADH-Eigenschaften und schweren Tics psychosoziale Beeinträchtigungen und existenzielles Leid resultieren, welches das anderer Krankheiten oft dramatisch übersteigt. Aber gerade Autismus, ADHS und Tics sind gute Beispiele dafür, dass dieses Leid oft nicht nur aus den Eigenschaften oder den Symptomen an sich resultiert, sondern aus der Art und Weise, wie die anderen und die Gesellschaft damit umgehen. Dabei sind die ausgrenzenden und aggressiven Formen des Umgangs mit den Besonderheiten und Eigenheiten betroffener Menschen nur in einer Minderzahl einem bösen Wollen geschuldet. Viel häufiger sind es nicht enden wollende Missverständnisse, die für einen Großteil des Leids verantwortlich sind, indem sie zu einer unerschöpflichen Quelle quälender Konflikte werden, welche beim Autismus, der ADHS, den Tic-Störungen und ebenso bei vielen Persönlichkeitsstörungen zu beobachten sind. Um die gelegentlich schwer analytisch zu differenzierende Gemengelage aus persönlichkeitsstrukturellen Besonderheiten, daraus resultierenden Problemen und auch Problemverhaltensweisen und komplizierenden Zuständen wie Depressionen besser zu verstehen, wurde im 9. Kapitel nun auch das SPZ-Modell aufgenommen. Dieses hat sich im klinischen Alltag zur Klärung komplexer Fallkonstellationen als sehr hilfreich erwiesen. Nach meiner persönlichen Erfahrung kann es auch helfen, das eigene Erleben, Denken und Verhalten sowie das nahestehender Menschen besser zu verstehen.

An dieser Stelle kann die – vielleicht ja auch so gemeinte – Bedeutung des »Gnothi seauton«, des »Erkenne dich selbst!« aufleuchten, welches als paradigmatisches Eingangszitat diesem Buch im Prolog vorangestellt wurde.

Erst wenn die Persönlichkeit des anderen als Struktur erkannt wird, der er oder sie im Erleben seiner/ihrer Welt nicht entkommen kann und die damit Grund für die stereotypen – weil unfreien – und oft nervigen Erlebens- und Verhaltensweisen ist, können diese verziehen werden. Denn die stereotypen Erlebens- und Verhaltensweisen der anderen werden dann nicht mehr als Ausdruck eines freien Willens gedeutet, sondern als Ergebnis einer unausweichlichen körperlichen Begrenztheit.

An dieser Stelle wird dann vielleicht auch der Blick frei für die eigene Begrenztheit, die sich im qualitativen Muster eigener, meist ebenso stereotyper Wahrnehmungen, Ängste und Verhaltensweisen zeigt. Diese mögen quantitativ weniger vom Mittel der Vielen abweichen. Deshalb sind sie aber nicht weniger starr und begrenzt – sondern nur besser getarnt! Und so kann mit der Anerkennung der Begrenztheit der anderen oft erst die Voraussetzung dafür geschaffen werden, die eigene Begrenztheit zu sehen und zu akzeptieren.

Vielleicht ist es aber auch genau umgekehrt, wie es das Gnothi seauton in Delphi suggeriert: Erst die Selbsterkenntnis und Anerkennung des eigenen Strukturiert- und Gefangen-Seins in den psychobiologischen Gesetzmäßigkeiten der eigenen Persönlichkeit ermöglicht es, die Begrenzungen der anderen zu erkennen und sie zu akzeptieren – und sie nicht als intentionale Angriffe auf die eigene Welt zu deuten, gegen die es sich zu wehren gilt.

Eine Persönlichkeit haben wir alle, von früh an, sei sie autistisch oder holistisch, primär oder sekundär verursacht, angeboren oder erworben, gesund oder krank. Sie ist ein psychobiologisches Faktum, die innere Umwelt unseres Geistes, unser Gefängnis, aber auch das Instrument, mit dem wir die Melodie unseres Lebens spielen werden – ob wir es wollen oder nicht.

Gnothi seauton!

2 Was ist normal?

»Der Typ ist nicht mehr ganz normal, der spinnt!«»Das war echt krass, absolut nicht normal!«»Die Frau ist völlig abgedreht, echt abartig, total unnormal!«»Wie krank ist das denn, die ticken nicht mehr sauber, die sind wirklich nicht mehr normal!«

In derartigen Redewendungen wird so manchem Leser1 das Thema des Normalen im Bereich der Psyche schon einmal begegnet sein. Oft werden so einzelne Personen, Gruppen oder auch nur Verhaltensweisen mit dem Prädikat des Anormalen belegt. In der Alltagssprache sind auch Umschreibungen des Gemeinten wie »krank«, »wahnsinnig«, »extrem«, »krass«, »abgedreht«, »nicht mehr sauber ticken« häufig der Behauptung des Anormalen zur Illustration beigestellt.

Wenn – wie im Titel dieses Buch – davon die Rede ist, dass Autismus, ADHS oder Tics nicht unbedingt immer als Krankheit, sondern auch als Normvariante eines psychisch gesunden Lebens verstanden werden können, so muss zunächst ein Verständnis davon entwickelt werden, was es überhaupt bedeutet, dass etwas oder jemand normal ist – oder auch nicht. Beim Nachdenken über Normalität können drei verschiedene Kategorien des Normalen identifiziert werden, die z. T. ganz Unterschiedliches meinen: eine statistische Normalität, eine technische Normalität und eine soziale Normalität.

2.1 Normalität als statistische Größe

In einer weit verbreiteten Bedeutung des Begriffs »normal« wird primär auf ein statistisches Phänomen abgehoben. Dieser Aspekt kommt etwa zum Ausdruck, wenn Wörter wie »krass« oder »extrem« gewählt werden. Bezug genommen wird dabei auf die Häufigkeit, mit der bestimmte Phänomene oder Verhaltensweisen beobachtet werden können. Ein klassisches Beispiel für diesen statistischen Bedeutungsbereich des Normalitätsbegriffs ist die Körpergröße.

Abb. 2.1:Illustration der statistischen Verteilung der Eigenschaft Körpergröße in Deutschland (Quelle der oberen Grafik: SOEP & statista.org)

▶ Abb. 2.1 illustriert die statistische Verteilung der Körpergrößen in Deutschland. Als normal im Sinne einer statistischen Norm wird meist jener Bereich von zwei Standardabweichungen oberhalb und unterhalb des Mittelwerts definiert, in dem etwa 96 % der Messwerte einer normalverteilten Messgröße liegen. Folgt man dieser Definition des Normalen, so ist der Normbereich stets gleich groß und etwa 4 % der beobachteten Eigenschaften wären per definitionem anormal, nämlich etwa 2 % weniger stark ausgeprägte (sehr Kleine) und etwa 2 % stärker ausgeprägte Merkmale (sehr Große).

Diese statistische Art, Normalität zu definieren, hat einen großen Vorteil: Sie ist sehr objektiv. Die Normalität einer definierten Eigenschaft kann anhand von objektiven Messungen und Grenzwerten festgestellt oder zurückgewiesen werden. Allerdings gibt es auch einen Nachteil an dieser Art und Weise, Normalität zu definieren: Es gibt immer notwendig 4 % nicht-normale Werte, und zwar 2 %, die zu stark, und 2 %, die zu gering ausgeprägt sind. Um im Beispiel zu bleiben: der statistischen Definition von normaler Körpergröße folgend wären 2 % der Menschen in Deutschland krankhaft groß und 2 % krankhaft klein. Nun ist es in der Tat so, dass aus biologischer Perspektive bei den extrem großen und extrem kleinen Menschen nicht selten solche anzutreffen sind, die an Krankheiten im Sinne der biologischen Norm leiden wie etwa an einer Akromegalie bei den sehr Großen oder einer Achondroplasie bei den sehr kleinen Menschen. Aber es gibt eben auch eine Vielzahl von Menschen, die die statistischen Kriterien einer Körpergröße außerhalb der Norm erfüllen, ohne an solchen Krankheiten zu leiden.

Bei strenger Anwendung einer statistischen Norm würde fast die gesamte Basketballelite der NBA-Liga in den USA an einer Krankheit im Sinne einer pathologischen Größe leiden. Kaum jemand käme aber wirklich auf die Idee, Idole wie Dirk Nowitzki als nicht-normal oder krank zu bezeichnen, nur weil die Eigenschaft Körpergröße im Sinne einer statistischen Größe mehr als zwei Standardabweichungen oberhalb des Mittelwerts liegt.

Normalität im statistischen Sinne ist eine objektive Variable, die durch Messungen quantifiziert werden kann.

Die Grenzen werden nicht durch qualitative Änderungen, sondern quantitativ durch die statistische Verteilung definiert.

Auch unabhängig von qualitativen Merkmalen wird für jede denkbare Eigenschaft notwendig ein nicht-normaler (krankhafter) Bereich im Sinne eines Zuviels oder Zuwenig festgeschrieben.

2.2 Normalität als technische Größe

Der zweite Bedeutungsbereich von Normalität soll hier technische Normalität genannt werden. Im Kontext neurowissenschaftlicher Diskussionen zum Krankheitsbegriff wird er gelegentlich auch biologische Normalität genannt (Walter und Müller 2015).

Als Beispiel aus dem technischen Bereich sei das Auto genannt, welches bei Kälte nicht mehr anspringt. Alltagssprachlich ist dann davon die Rede, das Auto funktioniere nicht mehr normal. Ein Beispiel aus dem biologischen Bereich wäre etwa ein Mensch, der mit Drehschwindelattacken zum Arzt kommt und bei dem ein paroxysmaler Lagerungsschwindel diagnostiziert werden kann. Dabei reizen kleine Kristalle in den Bogengängen des Innenohrs das Gleichgewichtsorgan, was zu dem Schwindel führt. In beiden Beispielen, der technischen und biologischen Norm, wird mit Normalität ein Funktionieren eines technischen (Autos) oder biologischen Systems (Körper) gemeint, welches man aufgrund der bisherigen Erfahrungen erwartet, das aber nicht erwartungsgemäß eintritt. In der Alltagssprache wird verkürzt oft gesagt: »Da ist etwas kaputt«.

Dieses Kaputt-Sein, die Funktionsstörung, kann nun verschiedene Qualitäten haben. Sie kann sich auf alle Funktionen eines technischen Geräts beziehen, z. B. wenn ein Radio auf das Einschalten in keinster Weise mehr reagiert. Bei einem nicht funktionierenden Telefon wird im Englischen z. B. auch davon gesprochen, dass die Verbindung tot sei (»the line is dead«). Bei einem Lebewesen entspricht das Fehlen jedweder biologischen Reaktion auf Außenreize in der Tat meist dem »Tot-Sein«. Es gibt aber auch partielle Funktionsverluste, etwa wenn ein Mensch unter Schwindelattacken, epileptischen Anfällen oder einem Diabetes mellitus leidet. In Analogie dazu gibt es auch bei technischen Geräten partielle Funktionsstörungen, etwa wenn bei einem Fahrrad der Dynamo nicht funktioniert oder die Kette bremst, weil sie verrostet ist.

In all diesen Bereichen wird auf das Fehlen von Normalität geschlossen auf der Grundlage der Beobachtung, dass erwartete Funktionen, die dem Gerät oder dem menschlichen Körper in seinem Normal-Sein zugeschrieben werden, ausbleiben. Und genau das Ausbleiben dieser erwarteten Funktionen wird als nicht-normal qualifiziert.

In meinen Augen ist hier der Begriff einer technischen Normalität passender als der einer biologischen Normalität. Denn das Verstehensmodell der Ursächlichkeit der Funktionsstörung orientiert sich an den Erfahrungen mit technischen Geräten. Die Uhr funktioniert nicht, weil die Batterie leer ist. Das Fahrrad quietscht, weil die Kette verrostet ist. Das Auto springt nicht an, weil der Anlasser einen Wackelkontakt hat und bei Kälte die Kontakte verloren gehen. Und noch wichtiger: Ein Reparieren der so identifizierten defizitären Teile der Maschine bzw. ein Einbau von Ersatzteilen führt dazu, dass die Maschine wieder funktioniert.

Es ist die Vielzahl dieser mechanistischen Erklärungen als plausible Ursachen für technische Funktionsstörungen, die in uns die Überzeugung wachsen lässt, dass aufgrund der ausbleibenden erwarteten Funktion auch fehlende Normalität im Sinne eines Kaputt-Seins eines Teils der Maschine geschlussfolgert werden kann. Und in der Tat kann dieses Modell für viele der Funktionsstörungen des menschlichen Körpers auch fruchtbar gemacht werden. Wenn etwa beim Drehschwindel geschlossen wird, dass irgendetwas am eigenen Körper kaputt sein muss, so ist diese Beschreibung für das Beispiel des paroxysmalen Lagerungsschwindels auch angemessen. Denn die Kristalle, die in der Flüssigkeit des Innenohrs die Haarzellen unangemessen stimulieren, gehören da normalerweise nicht hin. Und in diesem Sinne sind sie – wie der Rost auf der Fahrradkette – Fremdkörper, die das Funktionieren der »Maschine Körper« stören.

Dieser technische Normalitätsbegriff war im Bereich der Medizin in den letzten Jahrhunderten extrem erfolgreich. So können z. B. viele orthopädische Funktionsstörungen (Knochenbruch, Arthrose, Arthritis), Herzinfarkte (Verengung der Herzkranzgefäße), Schlaganfälle (Embolien der Hirngefäße oder Blutungen), Diabetes mellitus, Infektionen, Neurosyphilis, Tuberkulose und zahlreiche andere Erkrankungen vor dem Hintergrund eines solchen mechanistischen Denkens verstanden und erfolgreich behandelt werden.

In den letzten Jahrzehnten hat die Genetik in der Medizin eine zunehmend große Bedeutung gewonnen. Auch bei Phänomenen wie Autismus, ADHS oder den Tics spielt sie eine zentrale Rolle. Im Hinblick auf genetische Krankheitsmodelle herrscht dabei meist ebenfalls ein technischer Normalitätsbegriff vor. D. h., entweder das Geräteteil – das Chromosom oder das Gen – funktioniert ordnungsgemäß, dann ist es normal wie die gut geölte Kette am Fahrrad. Oder aber es gibt chromosomale oder Gendefekte, dann kommt es zu Funktionsstörungen, zu mentalen Symptomen oder psychischen Krankheiten.

Auch für den Bereich genetischen Denkens kann rückblickend festgestellt werden, dass ein solcher mechanistischer Normalitätsbegriff in vielen Fällen überzeugend ist. Etwa beim Rett-Syndrom, einer X-chromosomal dominanten Erkrankung, kommt es früh in der Entwicklung der betroffenen Mädchen zu einem schweren autistischen Syndrom. Das sogenannte Fragile-X-Syndrom kann sowohl zur Entwicklung eines Autismus als auch einer ADHS führen. In diesen Fällen scheint der technische Normalitätsbegriff auf den ersten Blick auch im Kontext eines genetischen Denkens angemessen zu sein. Denn die Struktur des nicht normalen Gens oder Chromosoms ist benennbar anders als bei nicht betroffenen Menschen und die Ablesung des veränderten Gens in der Entwicklung führt dann zu noch nicht immer ganz verstandenen, aber wahrscheinlich benennbaren Funktionsänderungen der betroffenen Zellen, die schlussendlich zum Funktionsverlust von Zellen, Geweben oder Organen und damit zur Krankheit führen. Fehlende Normalität kann also im Sinne des technischen Normalitätsbegriffs verstanden werden als das Kaputt-Sein eines Teils des Ganzen, welches auf mehr oder weniger komplexe Art und Weise zu einer Funktionsstörung der »Maschine Mensch« führt.

Allerdings soll schon hier darauf hingewiesen werden, dass nicht sämtliche genetischen Bedingtheiten so verstanden werden können. So ist z. B. auch die Körpergröße wesentlich genetisch mitbedingt. Nur ist die genetische Determiniertheit der Körpergröße nicht auf eines oder wenige Gene zurückzuführen, sondern wahrscheinlich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Gene, welche dann im weiteren Verlauf der Entwicklung eines Lebewesens mit der Umwelt interagieren. Ob für die daraus resultierenden wesentlich komplexeren funktionalen Bedingungsgefüge der Begriff einer technischen Normalität noch angemessen ist, soll weiter unten thematisiert werden (▶ Kap. 4.4 und ▶ Kap. 6.5). Und auch bei klassischen Erbkrankheiten sind viele Details noch unverstanden. So können auch klare strukturelle genetische Auffälligkeiten wie etwa ein Herausbrechen eines größeren Teils aus dem Genom (Mikrodeletion z. B. beim 22q11-Syndrom) oder die Verlängerung von Basensequenzen wie beim o. g. fragilen-X Syndrom manchmal zu klaren genetischen Erkrankungen führen und in anderen Fällen keine erkennbaren Auswirkungen haben. Dieses Phänomen wird in der Medizin mit dem Begriff der unvollständigen Penetranz einer genetischen Besonderheit angesprochen und ist im Detail noch weitgehend unverstanden.

Hier soll aber zunächst zusammenfassend festgehalten werden, dass der technische Normalitätsbegriff auf Erfahrungen im Umgang mit Werkzeugen in Form von Geräten und Maschinen zurückgreift. Dem Normalzustand entspricht dabei das Funktionieren des Geräts oder der Maschine im bestimmungsgemäßen Sinne. Übertragen auf das Funktionieren des menschlichen Körpers liegt diesem Verständnis implizit die Maschinenmetapher als Erklärungsschablone zugrunde. Fehlende Normalität wird dabei in großer inhaltlicher Nähe zum Krankheitsbegriff gedacht (▶ Kap. 3.1 und ▶ Kap. 3.2).

Während der statistische Normalitätsbegriff unabhängig von der Qualität des Funktionierens eines menschlichen Körpers mit Notwendigkeit eine Untergruppe von Menschen als nicht normal klassifiziert – allein aufgrund der quantitativen Ausprägung von Eigenschaften –, ist dies beim technischen Normalitätsbegriff nicht der Fall.

Die technische (biologische) Normalität orientiert sich am erwarteten Funktionieren des Geräts (Körpers).

Bei nicht erwartungsgemäßem Funktionieren wird fehlende Normalität (Krankheit) geschlussfolgert.

Als Ursache wird implizit eine strukturelle Änderung von Teilen des Geräts (Körpers) angenommen, die die Funktionsstörung zur Folge hat.

Der technische (biologische) Normalitätsbegriff erfordert nicht zwingend nicht-normale (krankhafte) Zustände.

2.3 Normalität als soziale Größe

Der soziale Normalitätsbegriff wird von manchen Autoren auch als gesellschaftlicher oder moralischer Normalitätsbegriff angesprochen. Nach Peters versteht man unter der sozialen Norm »Verhaltens- und Verständigungsanforderungen innerhalb einer Gruppe, Subkultur, Kultur, an denen sich das Handeln einzelner Individuen orientieren kann. [...] Durch soziale Normen wird z. B. auch festgelegt, was als geistesgesund bzw. geisteskrank verstanden wird« (Peters 2011, S. 369).

Ganz in diesem Sinne und entgegen allen aufklärerischen Elementen ist in den Medien immer wieder v. a. dann, wenn besonders emotional aufwühlende Konflikte thematisiert werden, zu lesen oder zu hören, die ein oder andere Handlung oder der ein oder andere Konfliktteilnehmer sei »nicht normal«, »irre« oder »geisteskrank«. Ganz besonders beliebt ist in diesem Zusammenhang auch die Charakterisierung bestimmter Verhaltensweisen als schizophren oder gelegentlich auch als autistisch. Welcher Normalitätsbegriff liegt solchen Charakterisierungen zugrunde?

Offensichtlich handelt es sich beim sozialen Normalitätsbegriff um eine »normative Normalität«. Das Normale wird nicht deskriptiv oder empirisch objektiv aufgefunden oder untersucht, wie etwa beim statistischen Normalitätsbegriff, und auch nicht aufgrund von Funktionsstörungen geschlussfolgert, wie beim technisch-biologischen Normalitätsbegriff, sondern aufgrund gesellschaftlicher Konventionen gesetzt und verordnet. Es handelt sich also um einen moralischen Begriff von Normalität.

Der Begriff Moral beschreibt dabei die in einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe vorfindlichen Verhaltensregeln z. B. im Hinblick auf Kleidung, Essen, Trinken, Geldausgeben, Sexualität etc. (Springer Gabler Verlag 2015). Oft sind dabei Verhaltensweisen, die den zeitgemäßen moralischen Vorstellungen widersprechen, sanktionsbewährt. Sind die moralischen Regeln durch Erziehung und gesellschaftliche Prägung stark internalisiert und im persönlichen Wertesystem eines Menschen tief verankert, so führt ein unmoralisches, d. h. den sozialen Normen der Zeit und der Referenzgruppe widersprechendes Verhalten zu negativen emotionalen Reaktionen wie z. B. einem Schamgefühl, Schuldgefühlen oder einem schlechten Gewissen. Die moralischen Verhaltensregeln innerhalb einer Gruppe können aber auch durch formale Gesetze eingefordert werden bzw. strafbewehrt sein. Dies ist in den allermeisten Gesellschaften etwa in Bezug auf das Töten anderer Menschen der Fall.