Vom Dauerstress zur Depression - Anna Maria Möller-Leimkühler - E-Book

Vom Dauerstress zur Depression E-Book

Anna Maria Möller-Leimkühler

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Beschreibung

Im Beruf und Alltag jederzeit funktionieren, sich abschotten, wenn es einmal nicht so gut läuft, die Fassade wahren - so die Devise vieler Männer. Doch ist der Stress in der Arbeit zu stark oder die Beziehung in der Krise, kann schon einmal alles zu viel werden. Was dann folgt ist Depression: Gerade vom starken Geschlecht wird sie oftmals tabuisiert und unterschätzt. Warum sind Männer verletzlicher als allgemein angenommen? Die Autorin beschreibt vor dem Hintergrund der aktuellen Depressions- und Männerforschung die vielfach verdeckten Erscheinungsformen männlicher Depression, ihre Ursachen und die typischen Bewältigungsstrategien. Sie plädiert für einen offeneren Umgang mit der Krankheit und zeigt Wege der Prävention und Behandlung auf.

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Anne Maria Möller-Leimkühler

Vom Dauerstress zur Depression

ANNE MARIA MÖLLER-LEIMKÜHLER

VOM DAUERSTRESS

ZUR DEPRESSION

Wie Männer mit psychischen Belastungen umgehen

und sie besser bewältigen können

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

© Verlag Fischer & Gann, Munderfing 2016

Umschlaggestaltung | Layout: Gesine Beran, Turin

Umschlagmotiv: © shutterstock/iconogenic

Gesamtherstellung | Druck: Aumayer Druck + Verlag Ges.m.b.H. & Co KG, Munderfing

Printed in the European Union

ISBN 978-3-903072-33-6

ISBN E-BOOK 978-3-903072-40-4

www.fischerundgann.com

inhalt

Geleitwort I

Geleitwort II

Vorwort

EINLEITUNG

MÄNNER ALS HELDEN – STARK, ABER VERLETZLICH

Die antiken Helden und ihre »Achillesfersen«

Die Superhelden der Comics und ihre Schwachstellen

Verletzliche Helden in Krimis, Politik und Sport

DER MANN – DAS UNBEKANNTE WESEN

Warum sind Männer so verletzlich?

Der Mann als Embryo und Neugeborener: schwieriger Start ins Leben

Weitere Hürden: schwieriger Start ins Erwachsenenleben

Die kompensierte Schwäche: Wann ist ein Mann ein Mann?

Das Schweigen der Männer

Die Argumente der Männer

Der Aktionismus der Männer

Der Körper der Männer

Die Potenz der Männer

Die Gewalt der Männer

Kleiner historischer Exkurs: Die Militarisierung von Männlichkeit

Männer im Stress: Was ist anders als bei Frauen?

Jeder hat Stress

Männer haben stärkere biologische Stressreaktionen als Frauen

Männer haben andere Stressoren als Frauen

Männer gehen anders mit Stress um als Frauen

Das große Geschlechterparadox bei Stress

Männer wirft so schnell nichts um, aber was macht sie depressiv?

Stress am Arbeitsplatz

Den Job verlieren

Pensionierung – für immer zu Hause

Die Frau ist weg – plötzlich allein

Allein lebend, männlich…

Leben mit einer chronischen körperlichen Krankheit

DEPRESSION – DIE UNBEKANNTE KRANKHEIT

Nur schlecht drauf oder schon depressiv? Typische Symptome der Depression

Warum gerade ich? Ursachen der Depression

Häufiger als gedacht: Depression ist eine Volkskrankheit

Burn-out oder Depression?

Ist Depression eine Frauenkrankheit?

Haben Männer ein geringeres Depressionsrisiko?

Depression ist bei Männern unterdiagnostiziert und unterbehandelt!

Frauen suchen Hilfe, Männer bringen sich um

WENN MÄNNER DEPRESSIV WERDEN

Das Chamäleon-Phänomen oder die verborgene Depression der Männer

»Ich habe aufgrund meiner Erkrankung alles kaputt gemacht«

Die Entdeckung der unsichtbaren Depression

Was man nicht erfragt, kann man auch nicht entdecken

Riskante Fluchten: Männer, Sex und andere Süchte

»Immer mehr und immer schneller«

Gut getarnt ist halb gewonnen? Wenn eine Depression nicht erkannt und behandelt wird

Depressionen machen das Herz kaputt

Depressionen machen das Gehirn kaputt

Depressionen machen den Zuckerstoffwechsel kaputt

Depressionen machen alkoholabhängig

Depressionen machen suizidal

THERAPIE ODER BIER? WAS WIRKLICH HILFT

Ein Bier, zwei Biere, drei Biere…

Antidepressiva und Psychotherapie

Depression als wake-up call

Prophylaktisch denken, entspannter leben

Danksagung

Literatur

geleitwort i

das thema männergesundheit hat bei weitem nicht den Stellenwert, den es verdient. Vor allem wir Männer selbst erwarten von uns, dass wir ohne Reibungsverluste »funktionieren«. Klassische organische Erkrankungen wie »Herzinfarkt« oder »Magen­geschwür« gelten als akzeptiert, psychische Erkrankungen werden weiter tabuisiert. Dies gilt vor allem, wenn Männer von depres­siven Erkrankungen betroffen sind.

Seit Jahrzehnten besteht eine erschreckend hohe männliche Suizidrate, die die Anzahl der tödlichen Unfälle im Straßenverkehr deutlich übersteigt und die wir trotzdem mehr oder weniger lautlos tolerieren. Das zeigt, dass wir Aufklärungsarbeit leisten müssen und noch einen langen Weg vor uns haben.

Der Autorin dieses Werkes ist es in hervorragender Weise gelungen, dieses aktuelle Thema leicht verständlich und mit­ großer Sorgfalt leserfreundlich aufzuarbeiten und den Blick für geschlechter­spezifische Vulnerabilitäten – hier im Hinblick auf das männliche Geschlecht – zu schärfen. Besonders die gut verständliche Hinführung zu Erkrankungen aus dem depressiven Formenkreis bei Männern darf als einzigartig angesehen werden.

In dieses Buch wurde viel Arbeit und Energie investiert. Es ist mir eine Freude, es allen Leserinnen und Lesern zu empfehlen. Ich hoffe und wünsche mir, dass das Thema männliche Depression durch dieses Buch weiter enttabuisiert wird. Dies gilt umso mehr, da für Depressionserkrankungen sehr gute Therapiemöglichkeiten bestehen und wir uns immer vergegenwärtigen müssen, dass eine geschlechterspezifische Beschäftigung mit psychischer Gesundheit Männern und Frauen dient.

Prof. Dr. med. T. Klotz, MPH Wissenschaftlicher Vorstand der Stiftung Männergesundheit www.stiftung-maennergesundheit.de

geleitwort ii

psychische probleme, belastungen und erkrankungen sind häufig. Sie entwickeln sich oft schleichend über einen längeren Zeitraum und werden zunächst weder vom Betroffenen noch von seinem Umfeld erkannt. Im Gegensatz zu Frauen nehmen Männer häufig entweder gar nicht oder erst spät ärztliche oder psycho­­lo­gische Hilfe in Anspruch, wofür es vielfältige Gründe gibt.

Wenn es um das Seelenleben geht, herrschen auch heute noch Geschlechterklischees vor: Frauen seien vorrangig Gefühlswesen, Männer vorrangig Verstandeswesen. Männer, die ihre Gefühle zeigen, traurig sind oder sogar weinen, gelten als un­-männlich. Psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, scheinen daher für viele Männer mit einem »männlichen« Selbstbild nicht vereinbar zu sein. Alltägliche Redewendungen wie »Echte Männer weinen nicht« oder »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« bringen diese Geschlechterklischees zum Ausdruck und sind in unserer Gesellschaft nach wie vor verbreitet.

Mit ihrem Buch »Vom Dauerstress zur Depression. Wie Männer mit psychischen Belastungen umgehen und sie besser bewältigen können« gewährt uns die Autorin einen tiefen Einblick in die Männerpsyche und ihre ­typischen Denk- und Verhaltensfallen. Das Besondere an diesem Buch ist die breite und aktuelle Aufspannung der Thematik, die soziologische, psychologische und neurowissenschaftliche Faktoren und ihr Zusammenspiel berücksichtigt. Und vor allem: Es zu lesen, ist spannend wie ein Krimi.

Ich wünsche der Autorin und ihrem Buch eine große Reichweite, um die männliche Depression zu entstigmatisieren.

Prof. Dr. med. Peter FalkaiDirektor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München

vorwort

im gegensatz zu den klischees, denen wir häufig in den Medien begegnen, ist der Mann weder ein »Defizit-« noch ein »Auslaufmodell« noch eine »genetische Minusvariante«. Und wir glauben auch nicht, dass er in 120 000 Jahren ausgestorben sein wird. Dennoch:

Die hohe Suizidrate (im Vergleich zu Frauen) und die hohe vorzeitige Sterblichkeit der Männer in jedem Alter sind lange übersehene Alarmzeichen, welche gesundheitlichen und psychischen Kosten Männer dafür zahlen müssen, dass sie gesellschaftlich als Leistungsträger funktionieren – oder auch trotz der Kosten gesellschaftlich nicht mithalten können.

Von den fünf Jahren der geringeren Lebenserwartung von Männern kann nur ein Jahr durch biologische Faktoren erklärt werden, die anderen vier sind gesellschaftlich »gemacht«. Es ist höchste Zeit, sich mehr um die Männer zu kümmern. Das gilt für die Männer selbst, ihre Partnerin, ihre Familie, ihre Freunde und ihr weiteres Umfeld (Arbeitgeber, Politiker et cetera).

Dieses Buch ist getragen von der Wertschätzung und Sorge um die Männer, ihr Selbstverständnis und ihr Wohlbefinden in Zeiten von zunehmendem Stress und zunehmender Abwertung des Männlichen. Die Sorge um die eigene, auch psychische Gesundheit müssen Männer trotz aller Ideale und gesellschaft­licher Zwänge selbst im Auge behalten und mit ihren eigenen Qualitäten dafür kämpfen: psychische Probleme nicht zu verdrängen, sondern aktiv Lösungen dafür zu finden, gegebenenfalls auch mit professioneller Unterstützung. Vielen Männern, die eine Depression durchgemacht haben, liegt daran, die Erkenntnis weiterzugeben: »Mann, lass dir helfen und warte nicht zu lange damit! Hätte ich das Wissen von heute, wäre ich viel früher zum Arzt gegangen!« Das ist die Quintessenz dieses Buches. Ein jüdischer Witz dazu bringt das Problem auf den Punkt:

»Dem Rabbiner wird mitgeteilt, dass ein braver Mann aus der Gemeinde jung gestorben ist. Der Rabbi wundert sich: ›Was hat ihm denn gefehlt?‹ ›Er ist verhungert.‹ ›Kein Jude kann Hungers sterben. Wenn er zu mir gekommen wäre, hätte ich ihn durch die Gemeinde unterstützen lassen.‹ ›Er hat sich geschämt.‹ ›Also mit anderen Worten: er ist an seinem Stolz gestorben‹, erklärt der Rabbi, ›an Hunger stirbt ein Jude nie.‹ «

(Landmann 2014, S. 124)

einleitung

wenn sie eine frau sind und sich nach einigem Hin- und Herblättern dazu entschließen, dieses Buch zu kaufen, um Ihren Mann (Bruder, Vater et cetera) und sein Verhalten besser zu verstehen oder um es ihm unauffällig zukommen zu lassen, dann bestätigen Sie mit Ihrem Entschluss, dass Sie sich um dessen Gesundheit sorgen. Denn: Wir Frauen kümmern uns nicht nur um unsere eigene körperliche und psychosoziale Gesundheit, sondern auch um die Gesundheit unserer Lieben.

Insbesondere die Gesundheit der Männer war und ist heute noch weitgehend Frauensache. Ihr Mann geht möglicherweise erst dann zum Arzt, wenn Sie mit Scheidung drohen. Gesundheit? Arztbesuche? Befindlichkeiten? Das sind doch typische ­Frauenthemen, aber keine Themen für Männer, denen doch Sport, Politik oder Technik als die wichtigeren Dinge des Lebens viel näher liegen …

Oder sollten Sie etwa doch ein Mann sein, der sich für dieses Buch interessiert? Und dem es gleichgültig ist, ob ihm jemand dabei über die Schulter schaut? Dann herzlichen Glückwunsch! Dann gehören Sie zu den Männern, die ahnen, dass Gesundheit mehr ist als ein körperlicher Betriebszustand und dass es auch noch die Psyche gibt, von der viele Männer gar nichts wissen wollen, die aber den reibungslosen Betriebszustand durchaus stören kann. Und Sie gehören zu der wachsenden Zahl der neugierigen Männer, die verstehen wollen, warum Depression keine Frauenkrankheit ist, aber bei Männern völlig unterschätzt wird. Und die vielleicht selbst im Verborgenen leiden und das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt.

Gesundheit bedeutet für Männer in erster Linie körper­liche Leistungsfähigkeit. Deshalb vernachlässigen Männer sie oft, solange sie sich leistungsfähig fühlen, und zögern Arztbesuche hinaus, bis sie die Symptome nicht mehr ignorieren können. Paral­lel dazu war die Gesundheit von Männern auch in Gesellschaft, Medizin und Politik lange kein Thema. Erst jetzt, wo seit den 1990er-Jahren ganz offensichtlich Krankschreibungen von Männern wegen psychischer Störungen, hauptsächlich Depressionen, rasant zugenommen haben, während Krankschreibungen wegen körperlicher Krankheiten gleich blieben oder sogar rückläufig sind, fällt auf, dass es ja tatsächlich noch die psychische Gesundheit gibt, die immer erst einmal als gegeben vorausgesetzt wird. Generell fällt es Männern schwerer als Frauen, einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Gerade Männer, die sich von psychischen Problemen belastet fühlen, neigen dazu, aus Gründen des Selbstschutzes diese für sich zu behalten. Ihnen geht es doch gut! Statistiken bestätigen dies. Kein Wunder also, dass es in Bezug auf Depressionen eine hohe Dunkelziffer gibt, auch wenn die Diagnose Depression heut­zutage häufiger gestellt wird als früher. Einen einzigen Grund dafür gibt es nicht, sondern viele Gründe spielen dabei eine Rolle: eine Arbeitsbelastung, die kaum noch zu bewältigen ist, Beziehungsprobleme, die Männer zwar erst verspätet bemerken, unter denen sie aber dann umso heftiger leiden, eine bessere diagnostische Kompetenz der Ärzte, die sich nicht mehr so leicht in die diagnostische Irre führen lassen, und nicht zuletzt wohl auch eine gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung für psychische Pro­bleme und ihre Folgen, die natürlich auch Männer treffen können. Obwohl Männer immer noch gern als stark und kaum verwundbar gesehen werden wollen, müssen sie doch irgendwann vielleicht schmerzlich begreifen, dass auch sie verwundbar sind – im Vergleich zu Frauen sogar in mancherlei Dingen in besonderem Maße –, auch wenn dies zunächst einmal unplausibel erscheinen mag.

Wenn man sich Gesundheitsstatistiken anschaut, zum Beispiel die neuesten vom Robert-Koch-Institut des Bundesgesundheitsamtes, das 2014 den lange erwarteten Männergesundheitsbericht veröffentlichte, ist man als Laie vielleicht erstaunt darüber, dass es – jenseits der Urologie und Gynäkologie – derart viele geschlechts­typische Häufigkeiten bei Krankheiten gibt: So ist zum Beispiel das Risiko, Diabetes zu bekommen, bei Männern im Vergleich zu Frauen doppelt so hoch, Alkoholabhängigkeit ist eine typische Männerkrankheit, Männer sterben häufiger als Frauen an koronaren Herzkrankheiten, Herzinfarkt, Lungenkrebs oder Darmkrebs – mit Abstand die häufigste Todesursache in Bezug auf Krebs. Männer sind häufiger von Unfällen betroffen, insbesondere in jüngeren Jahren, und sterben daran auch häufiger. Suizid wird von Männern etwa dreimal häufiger begangen als von Frauen, in der Altersgruppe der 25- bis 44-Jährigen war Suizid 2011 mit 93 Prozent die häufigste Todes­ursache. Da wir wissen, dass bei den meisten Fällen eine psychische Krankheit vorgelegen hat, meist eine Depression, verweist auch die erschreckend hohe Suizidrate wieder auf die große Bedeutung der Depression als potenziell tödliche Krankheit.

Insgesamt sterben Männer im Vergleich zu Frauen fünf Jahre früher, wobei die vorzeitige Sterblichkeit fast alle Altersgruppen betrifft. Wenn sich aber bis zu 90 Prozent aller Männer zwischen zwanzig und siebzig gesund fühlen, könnte dies eine fatale Fehleinschätzung sein!

Die Hintergründe und Ursachen vieler typischer Männer­krankheiten, Todesursachen und des zu frühen Ablebens deuten auf chronisch riskante Verhaltensweisen und belastende Umweltbedingungen, die prinzipiell positiv beeinflusst werden können (Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen, Alkohol, riskante Sportarten, gefährliche Arbeitsplätze, psycho­soziale Belastungen am Arbeitsplatz).

Es entsteht inzwischen jedoch ein Bewusstsein dafür, dass die Verbesserung der körperlichen und psychischen Gesundheit von Männern eine große Herausforderung für den einzelnen Mann, für die Medizin, die Gesellschaft und die Politik darstellt. Die bekannten Schuldzuweisungen und Imperative, die Männer sollten sich doch bitte gesünder ernähren und mehr auf sich achten, sind wenig sinnvoll; wichtiger ist das Verstehen der Hintergründe ungünstiger Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster.

Dieses Buch ist kein Ratgeber. Es soll vielmehr eine Ein­ladung sein, mehr über die vielfältigen Hintergründe zu erfahren, warum Männer an Depressionen erkranken, wie sie diese erleben, damit umgehen und warum Depressionen bei Männern schlechter erkannt werden: Gründe dafür sind traditionelle Leitbilder von Männlichkeit, die Architektur der männlichen Psyche, die biologische Ausstattung, spezifische Risikofaktoren für Depression und männertypische Strategien der Stressverarbeitung, Geschlechter­stereotype, die sich auch in den Köpfen der Ärzte und in ihren Diagnosegewohnheiten wiederfinden, sowie etwaige Defizite in der Kommunikation zwischen männlichem Arzt und männlichem Patienten. Abschließend geht es um konstruktive Möglichkeiten der Problemlösung.

Wenn Sie ein Mann sind und dieses Buch zur Hand nehmen, lassen Sie sich vermutlich nicht so leicht vom Inhalt erschlagen, aber: Lassen Sie sich informieren, irritieren, überraschen, erkennen, infrage stellen, bestätigen, bewundern, bedauern, verstehen, herausfordern, ermutigen. Und wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie spätestens nach der Lektüre eine professionelle Problemlösung anstreben sollten, dann nehmen Sie vorsichtshalber dieses Buch mit …

Und bitte verzeihen Sie mir, dass ich aus Gründen der Komplexitätsreduktion von »den Männern« spreche, die Männer also »auf den statistischen Durchschnittsmann« reduziere. Die Unterschiede zwischen Männern können natürlich größer sein als die zwischen Männern und Frauen … Außerdem beschränke ich mich auf unseren westlichen Kulturkreis. Deshalb werden Sie vielleicht manches vermissen, was Sie auch noch interessiert hätte. Aber diese Beschränkungen sollten der Lesbarkeit des Buches dienen – und Lücken lassen sich ohnehin kaum vermeiden.

männer als helden – stark, aber verletzlich

helden sind nie aus der mode gekommen, denn sie haben von der Antike bis heute in ganz unterschiedlicher Gestalt überlebt und dienen immer noch als Orientierungs- und Projektions­figuren, sowohl kollektiv als auch individuell. Deshalb brauchen wir auch in unserer Zeit noch Helden und Heldinnen (Schneider 2010). Kinder und Jugendliche haben eine Vielzahl von Helden, beginnend bei den eigenen Eltern und Freunden über Berufshelden wie Ärzten und Feuerwehrleuten, bewunderten Idolen aus dem Sport und berühmten Stars aus den Unterhaltungsmedien bis hin zu unzähligen fiktiven Figuren aus Kinderbüchern, Sagenwelten, Comic­universen, Computerspielen und Filmen ­(https://www.lwl.org­/LWL/Kultur/wim/.../S/.../Helden/ausstellung/katalog/).

helden setzen sich für andere ein

meine herren, sie sind zwar keine götter, aber Sie können ­Helden sein. Nicht nur Helden, die grandios Unmögliches vollbringen, Grenzen erweitern und es ins kollektive Bewusstsein schaffen, sondern auch Helden, die in ganz verschiedenen Bereichen unsere Zivilisation vorangebracht haben – heimliche Helden, unbekannte Helden, Helden des Alltags. Zwar gibt es keine allgemein gültige Definition von Heldentum, die für die antiken Helden gleichermaßen gilt wie für die Helden aus verschiedenen geschichtlichen Epochen bis hin zu den Superhelden der Comics. Doch Helden haben mindestens zwei wichtige Eigenschaften gemeinsam, die sie von den Göttern unterscheiden (abgesehen davon, dass sie sterblich sind): erstens, sie setzen sich für andere ein. Zweitens, sie sind stark, aber verletzlich.

Helden verfolgen eine selbstlose und soziale Mission, kämpfen gegen das Böse und für das Gute, um Bedrohungen und Missstände zu überwinden. Sie sind keine Egozentriker, sondern von Altruismus geprägt, nehmen wissentlich Gefahren für Leib und Leben in Kauf, um das Leben anderer zu retten. Oft ist es für sie selbstverständlich, sich für andere zu engagieren, es geht ihnen nicht um Heldentum. »Namenlose« Helden sind zum Beispiel Ärzte, die nach Afrika gehen und sich dem Ebola-Virus aussetzen, Feuerwehrleute, die in brennende Häuser gehen, ehrenamtliche Retter, die Flüchtlingen in Seenot helfen, die New Yorker Feuerwehrleute vom 11. September 2001 oder die Männer, die bei der Reaktorkatastrophe in Fukushima in den brennenden Reaktor gestiegen sind. Hier zeigt sich das Wort Held, abgeleitet vom griechischen heros, in seiner ursprünglichen Bedeutung: schützen und dienen.

Helden handeln selbstlos oder geben nicht auf, wenn sie in schwierigen oder bedrohlichen Situationen sind, sie wachsen über sich selbst hinaus. Insofern hat jeder Mann (und jede Frau) das Zeug zum Helden (zur Heldin) in sich. Heldenhaftes Verhalten setzt nicht voraus, dass das eigene Leben dabei aufs Spiel gesetzt wird. Das zeigen auch die Helden des Alltags, die regelmäßig vom Deutschen Fernsehen ausgezeichnet werden. Zu den Preisträgern im Jahr 2015 gehört u.a. ein Kriminaloberkommissar aus München (CB), der für den Opferschutz zuständig war. Es ging damals um einen 11-jährigen Jungen, der die Ermordung seiner Mutter durch seinen Vater miterlebt hatte und angesichts dieses Traumas intensiv von CB betreut wurde. Schließlich wurde er von CB auf eigenen Wunsch hin adoptiert. Dieser gründete zudem den Verein »Weitblick Jugendhilfe«, der Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen helfen soll (https://de.nachrichten.yahoo.com/auf-einen-blick-zeichnet-helden-des-alltags).

Und nicht zu vergessen: deutsche Soldaten der Bundeswehr. Denn sie entscheiden sich bewusst dafür, unsere Werte notfalls mit ihrem eigenen Leben zu verteidigen. Auch wenn heroisches Pathos in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr angebracht ist, der Beruf des Soldaten an Prestige verloren hat und Soldaten sich von Kriegern zu IT-Spezialisten gewandelt zu haben scheinen, ist doch eines unverändert geblieben: der Kampf auf Leben und Tod für eine große Sache. »Und wenn es ihnen (den Soldaten, Anm. der Autorin) gelingt, trotz der Gräuel, die sie im Krieg erleben, und trotz der Tötungen, die sie im Ernstfall selbst zu verantworten haben, sich vom Sog der Gewalt nicht erfassen zu lassen, sondern im Herzen jene Zivilität zu wahren, die zu verteidigen sie aufgebrochen sind, dann dürfen wir sie getrost als das bezeichnen, was sie sind: Helden« (Thea Dorn; www.zeit.de/2014/46/beruf-soldat-bundeswehr).

helden sind verletzlich

soldaten sind nicht nur mutig, sondern auch verletzlich – womit wir bei der zweiten Eigenschaft wären, die Helden von Göttern unterscheidet und auf die es uns hier besonders ankommt. Auf die spezifische Verletzlichkeit der Soldaten verweist allein schon die Häufigkeit ihrer Störungen nach Auslandseinsätzen mit einem zwei- bis vierfach erhöhten Risiko für sogenannte Post­traumatische Belastungsstörungen (Wittchen et al. 2012), aber auch mit einem erhöhten Risiko für andere psychische Störungen, zum Beispiel Depressionen. Jede zweite psychische Störung wird nicht erkannt und behandelt – was das weitere Leben jener Soldaten tiefgreifend verändert. Erst seit Kurzem ist dies auch ein Thema für die Politik.

Nicht nur Soldaten, sondern auch alle anderen realen und mythologischen Helden weisen neben ihrer relativen Unverwundbarkeit (beziehungsweise ihrer körperlichen und/oder psychischen Stärke) auch deutliche Schwächen auf. Wie die Geschichten der Helden zeigen, sind diese keinesfalls vor Fehlverhalten, Unglück, Scheitern oder Verletzungen gefeit. Diese Verletzlichkeit macht sie menschlich, sympathisch und entwicklungsfähig. Jeder Mann – und jeder Held – hat seine ganz eigene »Achillesferse«. Die Vorstellung, dass ein Held und ein richtiger Mann unverwundbar sein müssen, ist eine hybride Fiktion, die – ungeachtet aller alten und neuen Heldenkonstruktionen und aller realer Helden – als männliches Ideal immer noch in einigen Köpfen nistet. Verletzlichkeit, ob psychische oder körperliche, ist vielmehr unvermeidlich, da zutiefst menschlich.

die antiken helden und ihre »achillesfersen«

achilles, einer der bedeutendsten helden der antiken Mythologie, Sohn des Königs Peleus und der Nymphe Thetis, wurde von seiner Mutter in den Unterweltfluss Styx getaucht, um ihn unverwundbar zu machen. Da sie ihn dabei an seiner Ferse festhielt, wurde diese nicht eingetaucht und blieb daher verwundbar (daher »Achillesferse«). An seiner Ferse wird er schließlich im Kampf um Troja von einem giftigen Pfeil tödlich getroffen.

Die bekannteste deutsche Heldengestalt ist siegfried, der drachentöter. Durch ein Bad im Drachenblut wird er unverwundbar – bis auf eine Stelle zwischen den Schultern, auf die ein Lindenblatt gefallen war. Diese verwundbare Stelle wird ihm durch eine Intrige zum tödlichen Verhängnis.

Der Prototyp des tragischen Helden ist ödipus, der schuldlos schuldig wird, weil er unwissentlich seinen Vater, den König von Theben tötet und nach der Befreiung Thebens die Königswitwe, das heißt seine Mutter, zur Frau nimmt, mit der er vier Kinder zeugt. Erst später erfährt er, wer seine leiblichen Eltern sind. ­Ödipus begeht also sowohl Vatermord als auch Inzest, ohne dies zu wissen. Als er es erfährt, sticht er sich die Augen aus und flieht ins Exil.

ikarus, ebenfalls der griechischen Mythologie entstammend, gilt als Held, obwohl er gescheitert ist. Zusammen mit seinem Vater Dädalus wurde er in einem Labyrinth gefangen gehalten, aus dem es kein Entkommen zu geben schien. Da kam Dädalus auf die Idee, für sich und seinen Sohn Flügel zu bauen, die aus einem Gestänge, Wachs und Federn bestanden. Bevor sie in die Lüfte stiegen, schärfte Dädalus seinem Sohn Ikarus ein, nur nicht zu nahe an die Sonne heran zu fliegen, denn sonst würde das Wachs schmelzen. Auch sollte Ikarus nicht zu nah an der Meeresoberfläche dahingleiten, da auch die hohe Feuchtigkeit des Meeres das Wachs aufweichen und damit einen Absturz verur­sachen könnte. Einige Zeit flogen sie so dahin, doch dann wurde Ikarus übermütig und stieg immer höher hinauf, bis er zu nah an die Sonne kam, ins Meer stürzte und ertrank.

orpheus ist kein typischer Held wie etwa der Kraftprotz Herakles oder der listenreiche Odysseus. Orpheus erfand die Leier (Lyra) und bezauberte alle mit seinem Gesang: Menschen, Tiere, Pflanzen und Felsen, sogar die Götter. Als seine geliebte Frau Eurydike starb, stieg er hinab in die Unterwelt. Dort sang er so herzerweichend, dass die Götter der Unterwelt Eurydike die Rückkehr erlaubten, aber nur unter der Bedingung, dass Orpheus sich nicht nach ihr umschaute, bis sie die Oberwelt erreichten. Doch Orpheus drehte sich um – und Eurydike musste zurück in die Unterwelt. In seinem Unglück verstummt Orpheus.

Und schließlich sei odysseus erwähnt, der große Heros des Trojanischen Krieges, der zwar listenreich und von außergewöhnlicher Intelligenz war, aber erst durch das Erdulden von Schmerz und zahlreichen Niederlagen während seiner zehnjährigen Irrfahrten sowie durch seine Beharrlichkeit zum Helden wird. Er wurde zum Symbol für die Bewältigung von Umbruchsituationen und für die Reise zu sich selbst, die durch Irrungen und Wirrungen führt.

die superhelden der comics und ihre schwachstellen

dass helden nicht nur strahlende sieger sein müssen, wird zunehmend auch in Comics, Film, Fernsehen und Kunst deutlich. Wir erleben hier so etwas wie die öffentliche Rehabilitation beziehungsweise Wiederentdeckung der männlichen Verletzlichkeit, die Abkehr von eindimensionaler Macht und Stärke. Die neuen Helden der Comics und Filme imponieren zwar auch durch ihre jeweiligen Stärken und Leistungen, aber fast noch mehr durch ihre innere Gespaltenheit, Verletzlichkeit und psychische Entwicklung. Es geht zwar auch immer noch um die Überwindung des Bösen, immer wichtiger wird aber die Selbstüberwindung des Helden, der die Konflikte zwischen seiner Mission und seiner »Achillesferse« lösen muss.

Hier ein kurzer Blick auf die Superhelden der Comics:

Allen voran sei der 1930 geschaffene superman genannt, der Mann aus Stahl mit den übermenschlichen Kräften, der Helfer der Schwachen und Unterdrückten, der unbesiegbar und allen anderen turmhoch überlegen erscheint. Im Laufe der Jahrzehnte schmelzen allerdings seine Kräfte dahin, und er ist zunehmend gefährdet: durch radioaktives Gift, rotes Sonnenlicht und Magie. Außerdem wird sein Mitleid ausgenutzt oder seine Seele kann angegriffen werden. Auch Superman muss einsehen, dass er nicht überall gleichzeitig sein oder nicht dauerhaft ohne Atmung, Schlaf und Nahrung leben kann.

Der 1939 erfundene batman, der sich der Verbrechens­bekämpfung widmet, erscheint gleich ohne jegliche übermenschliche Fähigkeit und muss dies durch hartes körperliches Training, Intelligenz, Mut und Willensstärke kompensieren; allein dadurch ist er schon verletzlich. Besonders verletzlich ist er jedoch aufgrund seines Kindheitstraumas – seine Eltern wurden vor seinen Augen ermordet –, was seine Mission begründet. Er ist misstrauisch und leidet zuweilen an Verfolgungswahn.

Ein weiterer Held namens spiderman aus den 1960er-Jahren verfügt zwar über Superkräfte, die er für Gewaltprävention einsetzen will, ist aber in beständigem Kampf mit seiner doppelten Identität, mit Selbstzweifeln und Zweifeln an seiner Mission und mit den Schwierigkeiten, seine Heldenexistenz mit einer normalen bürgerlichen Existenz in Einklang zu bringen. Daran zerbricht auch seine Beziehung und es macht ihn zu einer tragischen Gestalt. Superman wird bewundert, mit Spiderman hat man Mitleid.

Auch der superagent 007 alias james bond hat in den letzten Jahre eine Metamorphose erfahren, die ihn letztlich vor seiner Unzeitgemäßheit gerettet hat. Er darf hart, aber gleichzeitig auch verletzlich sein. Der neue James Bond zeigt Gefühle und Selbstzweifel, ist einsam, müde und verwundbar (vgl. den Film »Skyfall« 2012 zum fünfzigsten Jubiläum der Filmserie). Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht, ob er in späteren Filmen zu seiner alten Stärke zurückfinden wird oder mit seinen Schwächen umzugehen lernt.

verletzliche helden in krimis, politik und sport

die aktuelle wiederentdeckung der männlichen Verwundbarkeit zeigt sich auch in spannender Weise in den Fernsehkrimis. Die Kommissare sind keinesfalls immer heldenhaft, souverän und edel, sondern werden zunehmend als ambivalente Figuren gezeichnet, mit Alkoholproblemen, Launenhaftigkeit und psychischer Labilität, sodass sie zeitweise kaum von ihren Kollegen zu ertragen sind. Trotzdem geben sie die Ermittlung nicht aus der Hand, denn trotz ihrer offen gezeigten Probleme sind sie geprägt von einer starken (mitunter narzisstischen) Leistungs- und Erfolgsorientierung, die dazu führt, dass natürlich sie selbst es sind, die den Fall in letzter Minute noch aufklären.

Männer werden dann zu besonderen Helden, wenn sie Schwächen akzeptieren, insbesondere in einem Kontext, der ­heldenhafte Dauerhöchstleistungen und fragloses wie rücksichtsloses Funktionieren von ihnen fordert, wie etwa in der Politik, dem Topmanagement oder im Spitzensport. Seelische und körperliche Erschöpfung oder Krankheit, insbesondere psychische Probleme, sind absolute Tabuthemen für Topleute, denn damit würden sie ihren Konkurrenten unfreiwillig Chancen einräumen. Selbst »unverdächtige« Gesundheitseinschränkungen oder medizinisch notwendige Eingriffe werden von Politikern aus Angst vor Imageverlust höchst selten eingestanden, zumindest nicht in ihrer aktiven Amtszeit. Helmut Kohl schildert in seinen Erinnerungen, wie er sich trotz »wahnsinniger Schmerzen« 1989 gezwungen sah, an einem Parteitag teilzunehmen, weil er wusste, dass seine Gegner ihn stürzen wollten, und er sich keine Schwächen meinte leisten zu können. Herzinfarkt und Depressionen bei Willy Brandt wurden ebenso kaschiert wie der Herzinfarkt bei Hans-Dietrich Genscher oder der Schlaganfall bei Peter Struck. Das eindimensionale Heldenbild wird dann von jenen zurechtgerückt, die mutig und selbstverantwortlich der Öffentlichkeit ihre Grenzen beziehungsweise Erkrankungen mitteilen und damit ihren Status zur Disposition stellen. Sie machen sich angreifbar – und zeigen mit ihrer Schwäche ihre eigentliche Stärke. Wie Matthias Platzek, der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident, der nach zwei Hörstürzen und einem Nervenzusammenbruch zugegeben hat, seine Kräfte überschätzt zu haben, und vom Amt des SPD-Vorsitzenden nach wenigen Monaten zurückgetreten ist. Wie Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Hans-Christian Ströbele oder Wolfgang Bosbach, die offen mit ihren Erkrankungen umgegangen sind.

Wie in den Medien zu lesen war, wird solche Ehrlichkeit von der Öffentlichkeit geschätzt. Genau das macht diese Männer zu zeitgemäßen Helden der Politik, die trotz offen eingestandener »Achillesferse« imstande sind, Großes zu leisten. Oder Helden des Spitzensports wie der Profifußballer Sebastian Deisler, der seine Karriere wegen schwerer Depressionen, zu denen er sich öffentlich bekannte, aufgeben musste: trotzdem – und gerade deshalb – ein Held.

Die verbreitete Annahme, dass Helden des Spitzensports keine psychischen Störungen haben können aufgrund ihrer herausragenden psychischen Stärke und Frustrationstoleranz, ist falsch. Im Gegenteil: Wie der Kölner Psychiater und ehemalige Profi­handballer Valentin Markser, bei dem auch der durch Suizid verstorbene Profitorwart Robert Enke in Behandlung war, vermutet, sind Depressionen im Leistungssport wahrscheinlich noch häufiger als in der übrigen Bevölkerung, werden aber noch seltener von den Betroffenen und ihrem Umfeld erkannt (Markser 2011).

Helden können also auch depressiv werden; es gibt keine Gründe dafür, warum dies nicht der Fall sein sollte. Übrigens: Depressionen müssen nicht immer das Karriere-Aus bedeuten. Auch ein an Depression erkrankter Sportler kann Spitzenleistungen vollbringen wie zum Beispiel der Hürdenläufer Derreck Adkins, der 1996 in Atlanta Olympiasieger im 400m-Hürdenlauf wurde – obwohl er sich wegen seiner Depression in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung befand und Antidepressiva nahm. Ein anderes Beispiel ist der Basketballspieler Ron Artest, der mit seiner Mannschaft 2010 die amerikanische Basketballmeisterschaft gewann und sich bei der anschließenden Presse­konferenz für die professionelle Behandlung seiner Angsterkrankung bei seinem Arzt bedankte (Schneider 2013).

der mann – das unbekannte wesen

in den folgenden kapiteln versuchen wir, uns den Männern und ihrer Psyche anzunähern, auch wenn wir wissen, dass Männer dies gar nicht mögen. Deshalb werden wir behutsam vorgehen und uns an die Fakten halten – und zwar mit großer Wertschätzung und Hochachtung für die anstrengenden Leistungen, die mit dem Mannwerden und Mannsein verbunden sind. Den Prozess der Mannwerdung schauen wir uns sowohl mit Blick auf die neuro­biologische als auch die psychosoziale Entwicklung an, die sich gegenseitig vielfältig beeinflussen, genauso wie es Körper und Psyche tun – das ist heute Allgemeinwissen. Zur Definition: Unter Psyche verstehen wir im Allgemeinen das Seelenleben oder Innenleben, das Männern offenbar weniger zugänglich ist als Frauen und das ihnen daher oft unheimlich erscheint. Das Wort Psyche stammt aus dem Altgriechischen, bedeutet »Atem-Hauch« (Seele). Nach den Schöpfungsmythen vieler Völker haucht Gott dem von ihm geschaffenen, aber noch leblosen Körper seinen Atem ein und macht ihn damit lebendig. Im heutigen Sinne umfasst die Seele oder die Psyche alle Gefühlsregungen und geistigen Prozesse, also alles, was wir denken, fühlen, wahrnehmen und wie wir es erleben und verarbeiten.

Der Obertitel der folgenden Kapitel ist von dem bekannten Filmtitel »Dein Mann, das unbekannte Wesen« von Oswald Kolle inspiriert; in dem Film ging es um die Aufklärung über männ­liche Sexualität. Möglicherweise finden wir uns jetzt besser im Dschungel männlicher Sexualität zurecht, aber hinsichtlich des männlichen Seelenlebens tappen wir oftmals noch im Dunkeln. Da brauchen wir auch etwas, das uns weiterbringt. Vielleicht lohnt es sich, einfach nur weiterzulesen. Denn es wird spannend: Es wird sich zeigen, dass sich sowohl die Hirn­entwicklung als auch die Entwicklung der Psyche von Anfang an in einer großen »Werkstatt« vollziehen, deren »Produkte« nie fertig werden und die sich je nach Nutzung beziehungsweise Bearbeitung modifizieren lassen. Alles im Gehirn ist plastisch, aber es gibt natürlich auch eine Hardware …

warum sind männer so verletzlich?

der mann als embryo und neugeborener: schwieriger start ins leben

beginnen wir mit der hardware, der genetischen Ausstattung des Menschen. Die Schwierigkeiten beginnen schon vor der Geburt: Der Embryo ist nicht sofort männlich, sondern muss erst dazu gemacht werden – denn alle Embryos sind zunächst weiblich! Das ist das Standardmodell der Natur! Anders als in der Bibel ist nämlich nicht das männliche, sondern das weibliche Geschlecht das ursprüngliche: Alle Embryonen bleiben weiblich, wenn die Natur nicht ab der siebten Woche energisch dagegen einschreitet. Wird die Eizelle von einem Spermium befruchtet, das ein X- und ein Y-Chromosom besitzt, bewirkt ein kleines Genschnipselchen auf dem Y-Chromosom, dass aus dem Embryo ein Junge werden kann. Das Ganze klappt dann, wenn einerseits Testos­­teron gebildet wird und andererseits das sogenannte Anti-Müller-Hormon produziert wird, das dafür sorgt, dass aus dem Embryo tatsächlich kein Mädchen mehr werden kann.

das männliche gehirn entwickelt sich

das testos­­teron des männlichen embryos wandert nun in sein Gehirn, wird dort in Östrogen umgewandelt und erledigt in dieser »Maskierung« die Umbauarbeiten an den Nervenzellen, das heißt die Organisation und Verschaltung eines männlichen Gehirns: Beispielsweise entwickelt sich eine stärkere Lateralisierung der beiden Hirnhälften, was eine stärkere Spezialisierung der Hirnhälften für bestimmte Funktionen bedeutet und was konkret heißt, dass Männer bestimmte Dinge besser können als Frauen (und umgekehrt). Ein anderer Unterschied besteht darin, dass ein Teil des Hypothalamus, einer wichtigen Schaltzentrale des Gehirns, beim männlichen Embryo deutlich größer wird und später das Sexualverhalten steuert.

Der Hirnforscher Gerald Hüther vergleicht das männliche Gehirn mit einem Orchester, bei dem die Pauken und Trompeten nach vorn und die harmonischen Instrumente nach hinten gerückt sind. Beim weiblichen Gehirn sei es umgekehrt. Das ist die biologische Hardware, die sich sofort bei männlichen Neu­geborenen beobachten lässt: Sie sind impulsiver, schneller aufgeregt und lassen sich schwerer wieder beruhigen als neugeborene Mädchen (Hüther 2009). Aber auch später zeigen sich eine höhere Impulsivität, mehr Antrieb, mehr Motorik, mehr Aggressivität, aber auch größere Schwierigkeiten beim Spracherwerb. Wenn sie die Wahl haben, greifen kleine Jungen spontan zu Autos, Baggern und Bällen, kleine Mädchen dagegen zu Puppen, was deutlich zeigt: Geschlechtsspezifisches Verhalten ist nicht nur eine Sache der Erziehung, sondern auch eine der Biologie (was übrigens lange als »politically incorrect« galt).

Wir wollen hier nicht intensiver in die Hirnforschung einsteigen, das würde nur verwirren, da für die einen das Gehirn quasi ein Geschlechtsorgan ist mit deutlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen, während die anderen nur wenige Unterschiede für ausreichend belegt halten. Wie dem auch sei, es gibt einige hirnanatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die bedeutsam sein können für die Verarbeitung von Emo­tionen. So sind bei Frauen zum Beispiel die beiden Hirnhälften (die rechte ist zuständig für Gefühle, die linke für Verstand) unter­einander besser durch neuronale Kommunikation verschaltet, was bewirkt, dass sie eher als Männer gleichzeitig analytisch und intuitiv sein können, sprachlich besser und sozial intelligenter sind und auch ein besseres Gedächtnis haben. Bei Männern dagegen hat sich die Verschaltung auf die einzelnen Hirnhälften konzentriert: Sie haben bessere räumliche und motorische Fähigkeiten. Wenn Männer reden, ist nur ihre linke Hirnhälfte aktiv. Wenn Frauen reden, ist das ganze Gehirn aktiv.

Wir alle kennen solche Vorwürfe aus eigener Erfahrung: den Männern sind Frauen zu emotional und den Frauen sind Männer zu wenig emotional. Denn alle glauben, das sei eine Sache der freien Entscheidung. Stimmt nicht – kaum jemand weiß, dass Männer und Frauen unterschiedliche Hirnschaltkreise für die Verarbeitung von Emotionen haben.

Emotionen werden im Gehirn wesentlich von einem Teil des limbischen Systems verarbeitet, der sogenannten Amygdala, dem Mandelkern. Die Amygdala ist sozusagen die Alarmanlage des Gehirns. Sie verknüpft eingehende Informationen der Sinnes­organe mit Gefühlen und leitet sie an die anderen Hirnbereiche weiter, erst dann wird das Bewusstsein mit eingeschaltet. Die Amygdala spielt daher bei der Entstehung von Angst und Aggression eine große Rolle. Bei Männern ist sie in Relation zum Gesamt­volumen des Gehirns größer als bei Frauen. Wir werden später noch sehen, warum dieser und andere hirnanatomische Unterschiede für das Verständnis der Depression von Männern eine Rolle spielen könnten. Soweit nur in Kürze zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden in den Gehirnen von Männern und Frauen. Nun zurück zu unserem Ausgangspunkt: dem für Männer besonders schwierigen Start ins Leben.

das grosse x- und das kleine y-chromosom

neurobiologen sind sich einig darüber, dass Männer genetisch das schwächere Geschlecht sind, weil sie nicht wie Frauen über zwei stattliche X-Chromosomen verfügen, bei dem eins die »Sicherungskopie« des anderen ist, sondern nur über ein ­X-Chromosom und ein eher winziges Y-Chromosom, auf dem etwa nur 60 Gene lokalisiert sind gegenüber den jeweils 800 Genen auf jedem X-Chromosom. Damit fehlt den Männern das »Ersatzrad«, was sie in ihrer Entwicklung als kleiner Embryomann (und auch in der langen Zeit danach) viel empfindlicher macht für alle Störungen; zunächst für all diejenigen, die in der Schwangerschaft der Mutter auftreten können.

Deshalb sterben männliche Embryonen auch häufiger unbemerkt ab, sind als Frühgeborene deutlich empfindlicher und sterben bei Komplikationen öfter als weibliche Frühgeborene. Hüther macht klar: Das, was Männer genetisch verletzlicher macht als Frauen, ist nicht das Y-Chromosom, sondern die Tatsache, dass eben kein zweites X-Chromosom vorhanden ist. Die 800 Gene auf einem X-Chromosom werden in jeder embryonalen Zelle gebraucht, und wenn ein Gen einmal nicht so optimal funktioniert, springt das entsprechende Gen auf dem zweiten X-Chromosom ein. Ein toller Mechanismus! Hier sind die Männer wirklich benachteiligt: Ihnen fehlt der »doppelte Boden«, und das macht ihnen den Start ins Leben einfach schwieriger.

Aber kommen wir noch einmal zurück zum Y-Chromosom, das den Männern zwar ihr Geschlecht gibt, aber ansonsten unnütz ist, anders als bisher angenommen. Es soll sich hierbei übrigens um den verstümmelten Rest eines ursprünglich weiblichen X-Chromo­soms handeln. Seit ein paar Jahren hat das Y-Chromo­som nun eine Rehabilitation erfahren. Es sieht zwar ziemlich mickrig aus, soll aber extrem stabil sein. Denn in den letzten 25 Millionen Jahren soll das männliche Geschlechtschromosom nur ein einziges Gen verloren haben, wie der DNA-Vergleich mit Rhesus-Affen vermuten lässt. Vor einiger Zeit ging man noch davon aus, dass das Y-Chromosom weiter schrumpft und Gene verliert, wie dies in den vorangegangenen 300 Millionen Jahren Evolution der Fall gewesen war. Vor diesem Hintergrund schien der Untergang des Mannes in geschätzten 125 000 Jahren unaufhaltsam, denn dann würde das Y-Chromosom endgültig verschwunden sein. Dies stellte sich als falsch heraus – wir können aufatmen! Die neuen Erkenntnisse besagen, dass auf dem Y-Chromosom die 12 Gene, die im Laufe der Evolution erhalten geblieben sind, offenbar sehr wichtig für das Überleben sind, aber was sie konkret bewirken, ist noch unklar. Das interessiert uns hier aber nicht besonders, denn entscheidend ist nur, dass die Männer, und seien sie genetisch auch nicht ganz so robust, uns erhalten bleiben. Und dass das Y-Chromosom, so mickrig es auch aussieht, weiterhin für die Erhaltung der Menschheit gebraucht wird.

weitere hürden: schwieriger start ins erwachsenenleben

fast noch faszinierender als der blick in die vorgeburtliche Hirnentwicklung ist die Tatsache, dass unser Gehirn – zumindest theoretisch – nie zu Ende entwickelt ist, auch nicht im Alter. Wir kommen zwar mit männlichen oder weiblichen Hirnstrukturen als Hardware auf die Welt, aber das ist kein biologischer Determinismus, im Gegenteil: Wie die Leber wächst auch das Gehirn mit seinen Aufgaben (hier im positiven Sinne der Neurogenese). So wie es genutzt wird, so organisiert es sich auch, und das schon recht schnell bei kurzfristigen sich wiederholenden Erfahrungen beziehungsweise Aktivitäten. Wir sind gespannt darauf, wie aus dem kleinen Embryomann mit seinen hirnspezifischen »Pauken und Trompeten« ein richtiger Mann wird und welche weiteren Hürden er überwinden muss.