Vom Gehen und Bleiben - Petra Hucke - E-Book
SONDERANGEBOT

Vom Gehen und Bleiben E-Book

Petra Hucke

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein idyllisches Dorf in den Alpen - doch der Berg, an dem es liegt, droht abzurutschen. Petra Huckes bewegend aktueller Roman über Natur, Gemeinschaft und was uns Heimat bedeutet. Vischnanca ist klein und wunderschön am sonnigen Hang gelegen. Aber die Natur birgt Gefahr: der Berg über dem Dorf droht abzurutschen. Das betrifft alle: die junge Bäuerin Ria ist hier zu Hause, hat ihren Hof als Biobetrieb zukunftsfähig gemacht. Die deutsche Familie Blom ist neu ins Dorf gezogen und liebt alles daran – die Natur, den Garten am Haus, die gute Nachbarschaft. Doch jetzt muss die Dorfgemeinschaft abstimmen und steht vor der Entscheidung: »Bleiben oder gehen?« Ria und die Menschen um sie herum müssen sich fragen, wie sie leben wollen und was ihnen wirklich wichtig ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 476

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Hucke

Vom Gehen und Bleiben

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

JuniJuliSeptemberOktoberDezemberListe rätoromanischer BegriffeDank

Juni

Ria

Es sind nur Häuser. Eine kleine Ansammlung von Häusern, ein Hof, eine Pension, ein Laden. Und doch scheinen sie sich alle abwartend zu ducken.

Später wird es Gewitter geben, da ist Ria sicher, doch die Häuser haben keine Angst vor einem Gewitter.

Angst haben sie vor dem Berg, der über ihnen hockt.

Sie hat den Geißen Brot gebracht und steht nun mit dem leeren Eimer auf der Wiese oberhalb von Vischnanca. Meist gehen die Herden schon im Mai mit einem Hirten weiter hoch, aber in diesem Jahr waren viele der Tiere krank, und die aus dem Nachbarort haben berichtet, dass es auf den Alpen eh nicht so richtig wächst.

Das Tal ist schmal, ganz unten fließt die Flem, die man hier oben auf ihrer Sonnenterrasse nicht mehr hört. Auf dem Piz Envers gegenüber glitzern in gleicher Höhe Trapla und Mioula im Sonnenlicht – Windschutzscheiben vorbeifahrender Autos vielleicht oder ein Fenster, das geschlossen wird. In den Dörfern dort drüben müssen sie sich nicht ducken. Dort drüben fürchten sie sich nicht vor ihrem Berg.

Luna liegt hechelnd im Schatten und behält dabei alles im Auge. Eines der Geißlein leckt Ria hingebungsvoll den Handrücken, sie krault ihm den Kopf und blickt wieder hinunter auf ihr Dorf. Schon ihr ganzes Leben wohnt sie hier und kann gar nicht zählen, wie oft sie bereits die Kirchturmglocke gehört hat, die in diesem Moment zur vollen Stunde läutet. Lang wird sie das nicht mehr tun. Man hat entschieden, sie abzumontieren, sie ist zu schwer. Dabei wurde sie erst, kein Alter für eine Glocke, vor sechzig Jahren aufgehängt, weil die aus dem siebzehnten Jahrhundert klang wie ein kaputter Ochs. Noch sei der Turm zwar statisch sicher, sagen die vom Amt, aber was ist hier schon sicher? Die Häuser drängen sich aneinander, wie sie das tun in den Bündner Alpen, und über allem liegt ein frühsommerlicher Duft nach Asphalt, Lärchen und Gras.

Rias Bauernhof ganz unten an der Straße hat den Kopf eingezogen, auf der einen Seite der Gasse das Wohnhaus, auf der anderen die große Scheune, in der der Traktor und die unzähligen alten Gerätschaften stehen, die sich im Laufe eines Hoflebens ansammeln. Sogar die alten Holzski vom bab hat sie neulich in eine Ecke gelehnt gesehen, die Lederriemen zerfressen. Weiter oben lehnt sich das Haus ihrer Freundin Eli an das der verstorbenen Mierta Vincenz, vor dem heute der Umzugswagen der deutschen Familie steht. Was das wohl für Leute sind? Warum ziehen sie her? Was haben sie ihren Kindern erzählt? Das wird ein Abenteuer?

Auf dem gepflasterten Platz in der Dorfmitte plätschert neben der hell verputzten Kirche der quadratische Brunnen, in dem sie früher die Sommerfüße gekühlt und im Winter die Milchkannen abgelegt haben. Wenn so viel Schnee lag, dass niemand runter zum Hof kam, wurden Ria und Marco mit dem Schlitten voller Kannen hochgeschickt. Das haben sie trotz der Anstrengung immer gern gemacht, schließlich hieß es auch, dass sie danach wieder nach Hause schlitteln konnten, die Nase eisig, die Fingerspitzen in den von der mamma gestrickten Fäustlingen genauso.

Mal sehen, ob der Marco morgen zur Gemeindeversammlung kommt, der Marco. Ihr Bruder wohnt schon seit zwanzig Jahren nicht mehr hier, sondern in Masein, doch sie haben telefoniert, und er will sich die Zeit nehmen, ist ja auch noch interessiert an seinem Heimatdorf. Irgendjemand hat erzählt, auf der Versammlung solle etwas Endgültiges verkündet werden. Die Behörden hätten einen großen Entscheid gefällt. Normalerweise ist es die Matilda, die über solche Dinge Bescheid weiß, die sonst nur die Leute selbst und der liebe Gott wissen, doch wenn es um den Berg geht, kneift sie ganz fest die Augen zu. Wahrscheinlich sind es eh Gerüchte, und es wird wieder nur heißen: Wir haben ihn im Blick.

Diesen tgigl von einem Berg.

Ria hat sich mit der Geburt von Blanca aus dem Gemeindevorstand zurückgezogen, weil sie die Zeit nicht mehr hat. Der Landfrauenverein ist zeitraubend genug.

Freilich hat sie seitdem das Gefühl, nichts mehr mitzubekommen.

Auf der Weide ist es drückend warm, die Fliegen surren um sie herum. Ein Schwalbenschwanz flattert von Kleeblüte zu Kleeblüte, eine unersättliche Geiß schiebt noch einmal ihren braunen Kopf in den Futtereimer.

»Der ist wirklich leer, Elfi«, sagt Ria und zieht ihn weg.

Von ihrer Stimme und dem Blöken der beleidigten Geiß geweckt, bewegt Blanca sich im Tragetuch. Ria drückt sie an sich.

»Schau«, sagt sie. »Schau und vergiss es nicht. Wer weiß, wie viel Zeit uns der Berg noch lässt.«

Die Kleine hat Hunger und fängt an zu weinen. Rias Körper reagiert sofort. Auch die letzte Geiß hat sich wieder zur Herde gestellt, und so lässt Ria den Eimer fallen und setzt sich auf den abschüssigen Boden.

Das Gras kitzelt an den nackten Beinen. Sie befreit Blanca aus dem Tuch, zieht sich selbst rasch das durchgeschwitzte T-Shirt aus, hier sieht sie ja niemand, und gibt ihrer Tochter die Brust. Sie legt das Shirt zum Trocknen neben sich, es schaut aus wie gekreuzigt. Unten im Dorf tritt Sandro aus der Kirche und schließt die Tür hinter sich. Er winkt zwei Jugendlichen, die auf dem Töff an ihm vorbeiknattern – ob die zu den Deutschen gehören? –, setzt sich auf den Brunnenrand, zieht die Schuhe aus und schwenkt die Beine herum. Ria lacht: Er braucht auch eine Abkühlung. Sie kann sich vorstellen, wie gut sich das kalte Wasser anfühlen muss, und spreizt die Zehen in den schmutzigen Stiefeln. Als Blanca mit dem Trinken fertig ist, setzt Ria sie auf das ausgebreitete Tragetuch und zieht einen Beißring aus der Tasche. Hinter ihr rumpelt es kurz, dann schleicht sich ein Rieseln hinterher. In den letzten Wochen macht er das immer häufiger.

Sie wird sich nicht umdrehen.

Der Bus fährt die Dorfstraße entlang und verlangsamt kurz vor der Haltestelle. Es ist nur ein kurzes Zögern, und ohne richtig stehen zu bleiben, rollt er weiter. Niemand will aussteigen, niemand einsteigen. Der Berg lacht leise und stippt einen Zeh in die Flem. Glaubst wohl, du hast es bald geschafft, denkt Ria. Vischnanca ist alt geworden und gebrechlich. Wenn du noch mehr drängst, wenn du endgültig ins Rutschen kommst, wird es in die Knie gehen und zusammenbrechen. Dann zerbröseln die Häuser, die Straßen brechen auf, der Kirchturm kippt und begräbt Sandro mit seinen nackten Füßen im Brunnen. Mein Hof sackt ein, mein ganzes Leben ist weg. All meine Investitionen in den Biolandbau. Mein alter Vater, mein Mann, meine Tochter und ich, wir alle sind weg. Nur weil du nicht da bleiben kannst, wo du bist. Was scherst du dich eigentlich um unser kleines Dorf? Wir sind doch nicht mehr als ein Muttermal an deinem Südhang.

Keine hundert Meter entfernt von ihr türmt er sich auf. Sie rupft mit beiden Händen Gras aus und wirft es ihm entgegen.

Blanca schaut zu und tut es ihr nach. Sie schmeißt die Arme in die Luft, und die wenigen Grashalme, die nicht zwischen ihren Fingerchen hängen bleiben, rieseln auf sie nieder. Sie strahlt, und Ria muss lachen. Die Kleine will gar nicht mehr aufhören. Ria möchte sich am liebsten zurücklehnen und eine Weile schlafen. Krank wird sie nicht sein, krank ist sie nie, vielleicht ist es das Wetter, niemand weiß, was man mit diesem Wetter anfangen soll. Die Weiden und Gärten verdörren schon jetzt, Ende Juni, und doch will nach dem nassen Winter niemand den Sprinkler anstellen. Niemand will noch mehr Wasser im Boden. Mit Ausnahme von Matilda. In ihrem Garten blüht und summt es, der Lavendel duftet, sogar der Aprikosenbaum zeigt die ersten, steinharten Knubbel, aus denen einmal die Früchte reifen werden.

Matilda gelingt es, den Piz Brunclia zu ignorieren. Wenn Ria das doch auch könnte. Nur ab und zu, nur kurz. Sie seufzt laut, steht natürlich doch auf, eine Bündner Bergbäuerin, eine poura da muntogna, schläft nicht mitten am Tag, zieht das halb getrocknete T-Shirt wieder an und nimmt Blanca auf den Arm. Die kreischt protestierend.

»Komm, wir müssen nach Hause. Kannst mit dem Papa die Brunhild besuchen, ja?«

Schon ist Blanca beruhigt. Brunhild, ihre älteste Kuh, hat keine Lust mehr auf zu viel frische Luft und bleibt oft den ganzen Tag im Stall. Ria ergreift den Futtereimer und geht die kurze Strecke den stotzigen Hang hinunter zum unteren Rand der Weide. Mit Blanca ist sie deutlich weniger behänd, aber diese Einschränkung nimmt sie gern in Kauf, nach so vielen Jahren des Wartens auf dieses Kind. Sie gibt ihr einen Kuss auf den immer noch kahlen Kopf. Luna folgt hechelnd.

Unten klettert Ria über den Zaun. Statt die Straße entlangzugehen, nimmt sie den kürzeren Weg zwischen zwei Häusern hindurch, Abkürzungen, die sie schon in ihrer Kindheit gelaufen ist und die Blanca in wenigen Jahren auch nehmen wird. Das Steier-Haus rechts steht leer, Putz ist nur noch an wenigen Stellen zu sehen, die hölzernen Wände drücken bereits nach außen. Im linken wohnen die Gigers. Das sind merkwürdige Leute. Seit fast zwanzig Jahren sind sie hier, aber nie haben sie versucht, sich in die Dorfgemeinschaft einzugliedern. Auf die Gemeindeversammlungen kommen sie nicht, sie kaufen auch nichts auf Rias Hof ein, sondern fahren dafür in die Stadt. Natürlich nimmt Ria das persönlich – wer will Milch aus der Migros, wenn man sie gleich nebenan direkt von den Kühen holen kann? Ob die Deutschen das genauso machen werden?

Sie schiebt sich zwischen den Tannen durch, der Trampelpfad im Moos kaum sichtbar, und atmet die kühle Luft ein. Hier müsste man bleiben können bis zum Regen. Sie kratzt sich am Bein. Die Bremsen haben sie oben auf der Weide ordentlich erwischt. Sie zieht alles an, Mücken, Bremsen, Wespen. Süßes Blut, sagt Gian.

Am Garten der Pension vorbei gelangt sie auf ihre Straße. Die Leuteneggers unterhalten sich mit dem Maurer. Letzten Monat gab es einen Rohrbruch, und sie mussten die Pension schließen. Sie hatten ohnehin kaum noch Gäste, doch offenbar haben sie sich entschieden, für die Wintersaison wieder zu öffnen. Vischnanca liegt ein wenig abseits von den großen Skigebieten, aber einigen Leuten gefällt das, und der Sportbus bringt sie umsonst bis zu den Bahnen.

Ria winkt den Leuteneggers zu. Das ganze Wasser ist damals den Berg hinunter und an ihrem Hof vorbeigeschossen wie ein Fluss bei der Gletscherschmelze. Auch da hat Ria gemeint, den Berg lachen zu hören. Er hat sich wohl ein wenig geräkelt und dabei die unterirdischen Rohre verschoben. So etwas macht er gern.

Von unten kommt ihr ein Auto entgegen, wird langsamer und hält. Der Mann am Steuer lässt das Fenster herunter. »Guten Tag«, sagt er und wechselt dann ins Englische. Sie seien auf dem Hof gewesen, er und seine Frau Mabel hier – sie winkt mit gespreizten Fingern, an jedem einen Ring –, weil sie was Leckeres kaufen wollten. Aber es sei niemand da gewesen, nur ein alter Mann, der vergeblich nach einem Tony gerufen habe. Ob sie vielleicht …

»Yes, of course, please come back with me.« Sie eilt los, während das Pärchen hoch zur Kreuzung muss, um das schwer atmende, dunkle Auto zu wenden. Den ganzen Nachmittag hatte sie noch keine Kunden.

Ihr Vater sitzt auf der Bank vor dem Haus, wo sie ihn zurückgelassen hat.

»Tut mir leid, bab«, sagt sie laut. »Ich hab die Blanca gestillt und die Zeit vergessen.«

»Macht doch nichts, Toni. Mir gehts gut hier im Schatten. Meinen Tee habe ich auch getrunken.«

Sie hört es schon fast nicht mehr, wenn er sie Toni nennt und Antonia meint, seine tote Frau. An manchen Tagen ist es besser, dann ist sie wieder sein Marieli. Seine Stimme tönt immer noch kratzig, aber das ist das Alter, das kann wohl kein Salbeitee mit Bündner Honig mehr heilen. Er wirkt so fröhlich, dass sie ihn sitzen lässt und verspricht, sich um ihn zu kümmern, wenn die beiden Besucher wieder weg sind.

»What a beautiful place«, sagen die beiden fast gleichzeitig, als sie aussteigen und das Knallen ihrer Türen über den Hof hallt. Der alte Dino schaut um die Ecke, scheint zufrieden und legt sich wieder in den Schatten, dann zeigt sich Gian mit rotem Gesicht. Trotz der Hitze hat er mit einem der Landarbeiter Zäune gezogen. Jetzt setzt er sich zum bab und zieht die schweren Arbeitsschuhe aus. Er würde am liebsten das ganze Jahr barfuß laufen.

Vor sechs Sommern haben sie viel umgebaut und in der ehemaligen Waschküche einen kleinen Hofladen eingerichtet. Bio und regional, er läuft gut, seit sie an der Kantonsstraße ein Schild aufgestellt haben, mit einer grinsenden Kuh darauf. Marco hilft ihr auch mit den sozialen Medien, postet Beiträge für den Hof, damit Leute wie diese Engländer sie finden, auch wenn sie dafür extra abbiegen müssen. Im Laden ist es kühl und duftet nach Kräutern. An diesem Nachmittag riecht sie vor allem die frische Minze in ihren kompostierfähigen Töpfchen, und den Käse natürlich. Die Frau, fragt nach Ziger, davon habe sie gehört, wie der schmecke. Doch den haben sie leider nicht, nur gereifte Sorten. Die beiden stöbern eine Weile, während Ria noch einmal rausgeht und Blanca bei Gian abgibt.

»Schau, Bruno«, sagt der laut zu seinem Schwiegervater, »wie ihre Haare gewachsen sind.«

Vorsichtig fährt er Blanca mit einem Finger über den Kopf.

Ria lacht. »Ja, ihre zwei Haare sind ganz schön lang geworden.«

»Wenn das so weitergeht, müssen wir bald mit ihr zum Friseur.« Gian zwinkert Ria zu.

»Ach«, sagt ihr Vater, »das haben wir früher immer selber gemacht. Wir müssen doch kein Geld zum Fenster rauswerfen. Da hinten zieht es sich zu. Bringst du mich wieder rein, Gian?«

Er ist nicht immer klar im Kopf, sieht nicht mehr gut, hört nicht mehr gut, kann kaum noch laufen, aber das Wetter hat er in den Knochen.

Fabio

Der Möbelwagen nimmt die ganze Breite der Gasse ein. Fabio steht daneben und hält nach Autos Ausschau. Am Vormittag haben sie einmal rangieren müssen, als der Nachbar von weiter unten mit seinem Subaru rausmusste, aber seitdem parken sie hier ungestört. Sie parkieren, wie die Schweizer sagen.

Nun sind auch sie Schweizer. Wahlschweizer. Vom Ruhrgebiet nach Graubünden. Es ist schon unverschämt, wie schön es hier ist. Eine kleine Ansammlung von Häusern, ein Hof, eine Pension, ein kleiner Laden, eine entzückende Dorfmitte. Dass ihm Wörter wie entzückend einfallen, ist wohl bezeichnend. Die Bergluft berauscht einen Kaskopp wie ihn halt, warum auch nicht, so würzig und greifbar. Er hat immer in der Stadt gelebt, erst Rotterdam, dann Duisburg, und Katja musste lachen, als er gestanden hat, worauf er sich freut: Dass die Leute grüßen, hat er gesagt, auf dem Dorf grüßen sich doch alle, oder? In der Stadt käme man schon auf dem Weg zur Straßenbahn nicht hinterher, Tach, Tach, Tach, die Duisburger würden denken, man hätte einen Dachschaden. Einen Tach-Schaden. Hier wird es dann Grüezi heißen, der Nachbar unten hat es vorhin schon gesagt, und Fabios Flachlandzunge hat sich in der Hektik angefühlt, als sei sie im Elektrozaun gelandet. Und auf Rätoromanisch? Das Lehrbuch hat die letzten Wochen auf dem Wohnzimmertisch gelegen, nur Jojo hat hin und wieder einen Blick hineingewagt. Allegra, meint er sich zu erinnern.

Kuhglocken sind zu hören und ein Ziegenmeckern. Ein Specht klopft, ein Hahn kräht, sie machen Musik. Fabio lauscht berauscht weiter, hört in der Ferne menschliche Stimmen, in der Nähe Stimmen von Spatzen, die ihre dringende Diskussion nur kurz unterbrochen haben, um ihn als harmlos einzuschätzen und entsprechend zu kommentieren: Ein Zugereister halt. Und ansonsten hört er viel Nichts. Die Stille ist genauso greifbar wie die warme Luft.

Er steht noch immer mitten auf der Straße. Die vier Männer von der Umzugsfirma tragen die Blom’schen Besitztümer ins Haus, Unterbrechungen gibt es nur für Zigarettenpausen. Sie gehen behutsam und doch irgendwie gleichgültig vor. Es interessiert sie nicht, ob die Gemälde von Opa Heini oder aus der Leipziger Schule sind, die Sessel aus dem schwedischen Möbelhaus oder Sammlerstücke aus Dänemark. Fabio lässt seinen Blick zärtlich auf den Kurven des Ægget ruhen, das zwei der Männer an ihm vorbeitragen.

War wohl nichts dran an seinem Gefühl, seine Kindheit abgeschüttelt zu haben, in der er hinten und vorne bedient wurde – er hat nicht einmal ein schlechtes Gewissen, dass er die starken Kerle placken lässt. Dafür werden sie bezahlt, und ein fettes Trinkgeld wird er ihnen auch geben. Sie sehen gar nicht besonders stark aus, keine Muskelprotze, sie haben sehnige Arme und schwitzen nicht einmal. Wahrscheinlich ist das der Unterschied zwischen Fitnessstudio und echter Arbeit. Er wird das Gym in Duisburg vermissen, aber hier will er wieder das Laufen anfangen, das er in den letzten Jahren vernachlässigt hat. Inzwischen ist er über fünfzig, da muss man fit bleiben. Er kann sich vorstellen, wie all die frische Luft ihn um den Verstand bringen wird, wenn er schnaufend die Berge rauf und runter rennt. Wird eine, haha, steile Trainingskurve sein.

Fabio geht um den Möbelwagen herum und betrachtet ihr neues Häuschen. Es ist winzig im Vergleich zu dem in Duisburg, aber Katja hat sich verliebt in das schiefe Haus, und hier geht es schließlich um Katja.

Vischnanca sei so süß und so klein, hat sie geschwärmt, als sie im März über das Dorf gestolpert sind, nur sechzig Einwohner. Stell dir vor, hat er daraufhin gesagt und sich gleich begeistern lassen, wir könnten das alte Haus ganz neu herrichten und würden uns bestimmt gut mit den Nachbarn verstehen. Schau dir all diese Blumen an, sogar die Bushaltestelle hat jemand geschmückt.

Der Bus heißt hier Postauto, wie urtümlich, das muss er sich merken.

Die Alternative wäre Martgea gewesen, eine Kleinstadt mit vierzigtausend Leuten, wo Katja ihre neue Stelle antritt, aber sie meinte, dort sei es bestimmt teuer. Und auch wenn das egal ist, Geld haben sie doch, hat er ihr beigepflichtet, vom urigen Schweizer Leben kriegen wir da jedenfalls nichts mit.

Sie werden erst einmal mieten, bis sie wissen, ob sie wirklich im Land bleiben wollen. Vielleicht, bis die Kinder aus dem Haus sind. Nach einiger Zeit wird es auch einfacher, in der Schweiz Eigentum zu erwerben, denn hier gelten sie dann doch nicht als superreich, nur als normal reich. Außerdem musste es wegen Katjas neuer Stelle, die sie ihr sehr kurzfristig zugesagt haben, so schnell gehen, dass sie das Haus in Duisburg nicht losbekommen haben. Jetzt ist eine Cousine von ihm mit Familie eingezogen, und sie zahlen ihnen Miete, von der sie hier einen kleinen Teil an Matilda Vincenz abgeben, einen geringen Betrag, der wird ihnen wirklich nicht weh tun. Nur an die Lebensmittelpreise müssen sie sich gewöhnen. Er hat das komischerweise noch nicht nachgeschlagen, aber die Schweiz gehört bestimmt zu den teuersten Ländern der Welt, die Restaurantrechnung gestern hat ihn jedenfalls zum Lachen gebracht, und nicht nur die, sondern auch die seltsamen Wörter auf der Speisekarte, die zu ähnlich kehligen Lauten führen wie denen, mit denen er in den Niederlanden aufgewachsen ist.

»Was stehst du hier rum, Faulpelz?« Katja klatscht ihm auf den Hintern, dreht sich wieder um und wirft ihm über die Schulter ein Lächeln zu, aber es ist ein strenges Lächeln.

»Bischt mein Chäschüechli«, sagt er.

Katja bleibt stehen. »Kannst du mir drinnen mal helfen bitte?«

Er folgt ihr in den dunklen Flur, weicht in die Küche aus, als einer der Männer mit Jaspers rotem Sitzsack an ihm vorbeiwill, und zieht den Kopf ein, um sich nicht am Türsturz zu stoßen. Katja steigt dem Mann hinterher und vor Fabio die enge Treppe hinauf, die rechte Hand am Geländer. Bald werden sie die Stufen in- und auswendig kennen.

Ihre sechs Schuhe klopfen einen unregelmäßigen Rhythmus. Katja hat alte, schlecht sitzende Jeans-Shorts an. So, wie sie sie mit einem Gürtel zusammengeschnürt hat, sind es wahrscheinlich mal seine gewesen. Er revanchiert sich und klatscht ihr auf den Po.

Sie geht geradeaus in ihr neues Schlafzimmer, wo sie das Bett ein Stück zur Seite schieben will, damit sie die Kommode noch ins Zimmer bekommen. Die Fenster im Haus stehen schon den ganzen Tag offen, es riecht trotzdem leicht feucht.

»Gut, dass wir uns damals doch gegen das Wasserbett entschieden haben«, sagt Fabio und schiebt. »Der Boden würde wohl zusammenkrachen.«

»Gut, dass wir die Kinder in die Stadt geschickt haben«, erwidert Katja, wischt sich den Schweiß von der Stirn und drückt noch einmal gegen das Kopfende. Die weißen, schlichten Möbel haben perfekt in ihr weißes, schlichtes Haus in Duisburg gepasst, sie hatten schließlich eine renommierte Designerin beauftragt. Hier hingegen scheinen sie alle ein Stück zu groß, zu eckig, zu laut.

Der Raum vermisst die Jesus- und Heiligenbilder an der Wand, die während der Besichtigung noch gehangen haben, eine Marienfigur auf dem Fenstersims, ein Kreuz in der Ecke, Hinterglasmalereien, außerdem den mit einem Blumenmuster bemalten Schrank, den die Frau Vincenz zu sich nehmen wollte, ein Familienerbstück, mindestens zweihundert Jahre alt, hat sie gesagt. Ihr Mann, der Simon, ein Guter, war Schreiner und dessen Vater und auch dessen Vater, und der hat ihn gebaut. Oder so. Fabio sieht noch genau den großen, verschnörkelten Schlüssel vor sich, der in der Holztür gesteckt hat. So etwas würde er auch gern können, etwas schmieden, etwas schreinern, richtig etwas mit den Händen machen, statt den lieben langen Tag am Computer zu sitzen, zu telefonieren und Tabellen auszufüllen. Ja, sie bauen mit der Firma Brücken, aber er selbst setzt davon doch keinen einzigen Stein.

Katja stemmt die Hände in die Taille. »Ich glaube nicht, dass die Kommode noch passt.«

Er betrachtet seine Frau. Es ist selten, dass er sie tagsüber ungeschminkt sieht, und nun steht sie hier mit einem bunten Tuch in den kurzen Haaren und alten Klamotten, die Hose sitzt schief, das ärmellose Top ist verschwitzt. Zweiunddreißig Grad sagt seine Uhr, ihre Haut und seine Handflächen kleben und sind schmutzig, und doch geht er die zwei Schritte auf sie zu, legt die Arme um sie und schiebt sie zurück, aufs Bett zu. Das können sie noch immer gut. Und oft.

»Gut, dass wir die Kinder in die Stadt geschickt haben«, murmelt er.

Katja versucht, sich von ihm wegzudrücken. »Und die Möbelpacker?«, fragt sie mit einem Lachen.

»Keine Sorge, wir gucken nicht hin.« Der jüngste von ihnen mit dem Undercut stellt grinsend einen weiteren Karton in die Ecke. »Soll ich die Tür zumachen?«

Katja windet sich aus Fabios Armen und folgt dem Mann aus dem Zimmer. »Können Sie mir wohl doch die Kommode noch hoch tragen?«

Fabio rückt sich die Hose zurecht, verstaut sein Bügelbrett mit dem Schmetterlingsbezug zwischen Wand und Kleiderschrank und tritt ans Fenster. Der Anstrich des Rahmens blättert ab, auf der Fensterbank liegen drei tote Fliegen, die er eine nach der anderen mit spitzen Fingern an den Flügeln nimmt und nach draußen wirft. Wenn man schräg nach links oben blickt, sieht man das graue Gestein des Bergs, fast zum Greifen nah. Wegen der zwei hohen Tannen und dem Nebenhaus kommt wenig Licht in den Raum, aber sie müssen ja hier auch nur schlafen. Die Kinder haben die Fenster nach Süden bekommen, und auch das Wohnzimmer zeigt ins Tal.

Als er wieder nach unten geht und auf die Straße tritt, sind dunkle Wolken aufgezogen. Der Wind treibt Staub vor sich her, so dass Fabio blinzeln muss, und irgendwo klappert eine Tür.

»Keine Sorge«, sagt der Undercut zu ihm. »Das schaffen wir locker vor dem Regen.«

Johanna

Hinter Jasper auf seiner Karre fühlt sie sich dem Gewitter voll ausgesetzt. Sie hat den alten Helm gekriegt, das Visier ist von außen nass und von innen so beschlagen, dass sie überhaupt nichts mehr sieht. Sie klammert sich so fest an Jasper, dass er Widerstand leisten und sich nach vorn beugen muss.

»Wir sind bald da«, ruft er. »Noch ein Kilometer vielleicht. Anhalten lohnt nicht. Gibt auch nix zum Unterstellen.«

Sie öffnet das Visier nur ein kleines Stück, bisschen Luft bitte, gegen die Angst. Der Regen drängt sich durch den freien Spalt vor ihrem Gesicht, kalt und spitz spritzen die Tropfen. Die Donnerschläge krachen und gehen ineinander über, ein endloses Lärmen, Blitze springen um sie herum wie Rumpelstilzchen, Blitze, die sich an den Haaren reißen.

Jasper schaltet einen Gang runter, damit die Karre die Steigung hoch nach Vischnanca schafft. Johanna stöhnt. Noch einen Kilometer.

Sie spürt ihr Telefon vibrieren, bestimmt ist das Ding auch schon total nass. Wahrscheinlich ist es Papa, der anruft und fragen will, wo sie sind, aber was soll Johanna tun, außer sich an Jasper zu klammern wie ein ausgesetztes Äffchen. Wasser rinnt ihr vom Helm in den Hals, ein Schauer nach dem anderen überfällt sie, dabei war ihr den ganzen Tag zu heiß.

Das Vibrieren stoppt, aber scheint sofort wieder anzufangen, also, es ist mehr ein Rumpeln oder so, o je, geht jetzt die Karre kaputt, so kurz bevor sie zu Hause sind? Na ja, zu Hause … noch ist es das nicht. Aber sie hofft, dass es sich bald danach anfühlt. Jasper bremst so abrupt, dass sie meint, in der nächsten Sekunde vom Sattel zu fliegen, ihr Hintern schwebt schon in der Luft, sie wird gegen Jasper gepresst, das Hinterrad schlittert. Ohne etwas zu sehen, versucht sie, irgendwie abzuspringen, zwei Beine, zwei Arme, Helme retten Leben, und wie eine Zirkuskünstlerin landet sie auf den Füßen und – steht.

»Jaspi?«

Sie reißt das Visier auf und sich dabei fast den Kopf ab und auf jeden Fall ein paar Haare, so eilig hat sie es. In ihrem Weltausschnitt sieht sie ihren Bruder und die Karre, die auf der Seite liegt. Jasper steht ebenfalls auf der Straße. Als hätte sie jemand da abgesetzt wie zwei Schaufensterpuppen. Johanna zieht den Helm vom Kopf, braucht mehr Luft.

Der Regen hat nachgelassen, und die Berggipfel auf der anderen Talseite kommen lila unter den orangenen Wolken hervor. Der Berg hier, an dem sie jetzt leben, Piz Brunclia heißt er, der ragt gleich neben der Straße auf, paar hundert Meter entfernt vielleicht, und ist als einziger gut zu erkennen. Durchnässte, dunkle Nadelbäume umgrenzen den Schotterhang, wie eine Wunde, eine bleigraue Wunde. Es riecht nach Erde und Elektrizität. Also, das ist kein Geruch, aber irgendwie eben doch.

»Was war das?«, flüstert Jasper.

»Was denn?«, fragt sie. »Bist du ausgerutscht? Der Motor läuft noch.«

Jasper lässt ihn laufen und sieht sich um, als wäre er auf der Suche nach Zombies, die in diesem unwirklichen Licht jeden Moment aus dem Nichts auftauchen könnten. Der Regen wird noch schwächer, Johanna wischt sich die Haare aus dem Gesicht. Der Motor säuft ab, es ist totenstill, anscheinend wollen nicht mal die Grillen mehr was sagen. Das Dorf unter dem Berg, ihr neues Zuhause, Vischnanca heißt es, das duckt sich irgendwie, ganz geduldig, kennt wohl so Sommergewitter. Niemand ist zu sehen.

Die wilden Wiesen gefallen ihr, dunkelgrün von der Nässe, so viele Blumen, die sich langsam wieder aufrichten. Über die Wiese links neben ihnen zieht sich eine Schneise, vom Berg hinunter direkt auf sie zu. Etwas hat das Gras durchwühlt und aus dem Boden gerissen, übergroße, schlurfende Fußstapfen, die direkt auf sie zukommen. Zombies!

Sie geht zwei Schritte auf die Karre zu, deren Vorderrad jetzt auch stillsteht. Der Teer der Straße ist aufgerissen und dampft. Sie blickt auf. Alles dampft, das Atmen wirkt gefährlich, wie unter Wasser. Auf der anderen Seite der Straße gehen die Fußstapfen weiter hinab, und dann liegt er dort.

Kein Zombie, sondern ein Stein.

Ein Felsbrocken. Ein ziemlich großer Felsbrocken.

Sie kann das nicht schätzen, so mitten auf der Wiese, aber er ist safe größer als sie, viel größer als sie und größer als Jasper, als wären sie wie Alice im Wunderland geschrumpft. Der Brocken ist vom Berg gestürzt und wenige Zentimeter vor ihnen über die Straße gerollt.

»Krass«, sagt Jasper.

Fabio

Für eine halbe Stunde ist die Welt verschwunden. Sie stehen am Wohnzimmerfenster und blicken in den Regen, er, Katja, die vier Möbelpacker daneben, gemütlich kauend. So viel Wasser hat er noch nie vom Himmel stürzen gesehen. Er hat den Männern noch mit der Siebträgermaschine einen doppelten Espresso gemacht und die Tüte mit dem Gebäck aufgerissen, das er heute ganz früh in Martgea gekauft hat, zum Preis eines halben Kleinwagens.

Sie wollten eigentlich wieder in der Pension Leutenegger im Ort übernachten, wie letzten Monat, als sie hier waren, um den Mietvertrag bei Frau Vincenz zu unterschreiben. Die alte Dame hat dabei ausgesehen, als würde sie ihre Eltern verkaufen. In dem Haus bin ich aufgewachsen, meinte sie, und meine Zwillingsschwester Mierta hat noch hier gewohnt, bis zu ihrem Tod. Der ist noch nicht lange her. Lauernd hat sie sie angesehen, als ob sie noch einen letzten Versuch unternehmen wollte, die neuen Mieter abzuwimmeln, die sie sich doch selbst ausgesucht hat.

Die Leuteneggers jedenfalls haben zumachen müssen, ein Wasserrohrbruch. So haben die Bloms dieses Mal eine teure Suite in dem neuen Vier-Sterne-Ökohotel in Martgea gebucht, in dem Katja nächste Woche zu arbeiten anfängt. Auf Kosten des Hauses, es ist uns eine Ehre. Selbstverständlich hätten sie bezahlen können, doch der Sparfuchs in ihm war begeistert. Manchmal stellt er sich den als richtiges Tier vor, das bei ihnen lebt und sich abends am Fußende des Bettes zusammenrollt. Sie haben dieses ganze Geld aus der Firma, aber er liebt es zu sparen. Eine von zum Glück nur wenigen Eigenschaften, die er von seinem Vater geerbt hat, und auch der Großvater war schon so, zwei Patriarchen der alten Schule. Fürs Unternehmen damals war es gut, eine strenge Führung und so weiter, aber heute ist das doch alles anders. Er, Fabio, will mit seinem Team auf Augenhöhe kommunizieren. Das ist ihm wichtig. Aber noch wichtiger ist ihm, seine Kinder als gleichberechtigt anzusehen und sie so zu behandeln. Das ist etwas, das sein Vater sich auch nie hat vorstellen können.

Das Unwetter lässt nach, und die Männer verabschieden sich. Mit ihrem Trinkgeld scheinen sie durchaus zufrieden zu sein, Fabios gute Wünsche für die Rückfahrt hören sie kaum noch, er plappert schon wieder zu viel.

»Da sind wir also.« Katja schließt die Haustür und legt den Kopf an seine Schulter.

Jetzt könnten sie das zurechtgerückte Bett ausprobieren, doch Katja ist erschöpft. Außerdem kommen bestimmt die Kinder gleich wieder, hoffentlich haben sie sich untergestellt, falls sie schon unterwegs waren. Jasper hat Jojo ausnahmsweise auf dem Roller mitgenommen, sonst wissen sie im Moment nicht viel miteinander anzufangen, kein Wunder, siebzehn und vierzehn, und dann noch der Umzug.

Obwohl sie davon beide überraschend begeistert waren. Er hatte befürchtet, dass Jojo ihre Freundinnen nicht verlassen will. Schüchtern wie sie ist, hat sie lang gebraucht, um auf dem Gymnasium eine kleine Dreierclique zu finden, und dann konnte sie von nichts anderem mehr reden als von Sophie und Franzi, Sophie und Franzi, Sophie und Franzi. Das sei halt so bei Mädchen, hat Katja gesagt, in dem Alter seien sie richtiggehend verliebt in ihre Freundinnen, bei ihr waren es früher Bea und Jessi. Und dann kam Fabio?, hat Fabio gefragt, aber das war doch viel später, hat sie gesagt.

Als sie in einer Familienkonferenz damit herausrückten, dass die Mama einen Job angeboten bekommen habe, hat Jojo nicht geweint, sondern ganz ernst verkündet, dass sie die Schweiz schon immer toll gefunden habe, wegen Heidi auch, und sich auf die Berge freue. Mit Sophie und Franzi könne sie ja facetimen. Jasper hat gesagt, er wolle klettern lernen. Der Jasper, der in den Monaten zuvor viel zu wenig für die Schule getan und so viel Gras geraucht hatte, dass der Geruch ständig in seinen Kleidern hing, dieser Jasper will klettern gehen und hat sich sogar schon einen Verein herausgesucht.

Seine Kinder. Stolz ist er auf sie. Jetzt haben sie noch Sommerferien, allerdings hat Fabio sie zu einem Rätoromanisch-Intensivkurs angemeldet. Die Aussicht darauf schweißt sie wohl zusammen, und so sind sie noch einmal zum Eisessen in die Stadt gefahren, die letzten freien Tage genießen. Gleich Montag wird auch Katja arbeiten gehen, und er selbst wird sein neues Büro einweihen. Homeoffice. Noch vor ein paar Jahren hat in der Firma niemand von zu Hause arbeiten dürfen, das gehe einfach nicht, hieß es, aber im Grunde konnte sein Vater, immer noch alle Fäden in den arthritischen Händen, sich nicht vorstellen, dass seine Leute sich daheim nicht einfach auf die faule Haut legten.

Er ist Katja gefolgt, die durch die vollgestellten Räume geht und sich umsieht.

»Ich bin fix und fertig«, sagt sie schließlich. »Ich muss erst mal duschen. Dann können wir noch ein bisschen auspacken.«

Sie zieht die Nikes aus und geht auf Socken nach oben. Es ist kurz vor sieben. Er dreht sich um sich selbst. So sieht es jetzt also aus bei ihnen. So riecht es jetzt also bei ihnen. Noch sind sie fremd hier. Er öffnet alle Fenster und lauscht, versucht zu raten, an welche Geräusche er sich gewöhnen wird. Zwitschernde Vögel. Ein Sausen, ein Gluckern im Rinnstein. Die Fichten schütteln sich trocken, werfen Zapfen ab. Ein Auto auf der Kantonsstraße, das hört man hier? Eine Kuh muht, ihre Glocke bimmelt. Wie furchtbar es wäre, immer zu bimmeln, wenn man sich bewegt, gut, dass er keine Kuh ist, man muss auch die kleinen Freuden zu schätzen wissen. Vielleicht werden sie morgen vom Geläut der Glocken aufwachen. Wird er den Dreck der Stadt vermissen, die breiten Straßen, die Linienbusse, den Dönerladen (hee, der Fabio!), das Piepen des Weckers, der die Uhrzeit an die Wand strahlt, einen Sonnenaufgang nachahmen kann und einen Radiosender nach Wahl abspielt? Nur einfach die Klappe halten konnte er nicht. Niemand liebt Gadgets mehr als Fabio, aber dieses Mistteil hat er weggeworfen, und wenn Katja fragt, wird er sagen, keine Ahnung, beim Umzug geht halt immer was verloren, und sie wird ihn nie im Leben verdächtigen.

Auch auf sie ist er stolz. So lange hat sie für ihn zurückgesteckt, jetzt wird sie mit Siebenmeilenstiefeln ihre Karriere vorantreiben. Montag tritt sie ihre Stelle an. Sie hat während ihres BWL-Studiums als Zimmermädchen im Hotel gejobbt und sich hochgearbeitet, zur Leitung hat es nie gereicht, weil sie wegen der Kinder immer in Teilzeit bleiben wollte. Oder musste. Das ändert sich ja jetzt. Er freut sich enorm darauf, zum Hausmann zu werden, Wäsche und Bügeln, er liebt Bügeln, vor allem mit der neuen, fauchenden Dampfstation, stundenlang gerät er da in Trance und plättet ein Stück nach dem anderen.

Es tropft noch immer, und für seine überforderten Ohren klingt es, als käme es aus dem Inneren des Hauses. Er geht durch die kleinen, engen Räume, steigt nach oben, wo es tropft. Rieselt. Katja hat die Dusche noch nicht angestellt, sondern rumort herum, sucht bestimmt einen neuen Ort für Shampoo und Kosmetik.

»Hörst du es tropfen?«, ruft er durch die geschlossene Badezimmertür.

Kurz herrscht Stille. »Nein«, sagt sie dann. »Wo denn?«

Er hebt den Blick zur Flurdecke und der geweißelten Klappe dort oben. »Wie kommen wir eigentlich auf den Speicher?«

Sie öffnet die Tür. »Ich hab so einen Stab mit Haken gesehen, ich weiß nur nicht mehr, wo … Bei Jojo im Zimmer?«

Sie werden fündig. Fabio hebelt die Klappe auf, sie stürzt mit einem lauten, metallischen Knarren auf ihn herunter, und er springt zurück. Doch die Federn halten, sehen sogar noch recht neu aus, und so kann er nach der Klappleiter greifen und sie zu sich ziehen. Trockene Hitze strömt ihm entgegen.

»Soll ich?«, fragt Katja.

»Ich geh schon. Aber hörst du es jetzt auch?«

Katja legt den Kopf schief. »Ja, es tropft.«

»Ich möchte nur jetzt schon sagen – du wolltest dieses Haus.« Es soll wie ein Scherz klingen, aber Fabio hört die Anspannung in seiner eigenen Stimme. »Wart mal noch mit dem Duschen«, fügt er schnell an, »damit das Geräusch nicht untergeht.«

Als er sein Gewicht verlagert, quietscht die Leiter, dann steht sie fest, und er steigt nach oben. Ein beängstigender Moment, als er den Kopf ins Dunkle stecken muss. Falls es Geister gibt, fegen sie ihm jetzt bestimmt durch die Haare. Er steigt höher, klettert auf den Boden und sieht sich um. Gibt es ein Licht? Ja, da hängt eine Kordel. Ratsch. Hm. Zwanzig Watt höchstens. Er nimmt die Taschenlampe des Handys dazu. Alles ist leergeräumt, nur ganz hinten steht ein vergessener Karton. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Umgebung, und dann hört er es auch wieder.

In einer Ecke, es muss über Jaspers Zimmer sein, ist der Boden nass.

»Siehst du was?«

»Ja, ein Leck. Haben wir einen Eimer? Oder einen Topf griffbereit?«

Er wartet, während Katja auf Suche geht. Seine Schritte klingen hohl, jetzt ist er der Geist. Er hat schon im Erdgeschoss gehört, wie laut es ist, wenn jemand im Stock darüber hin und her läuft. Von effizienter Schalldämmung haben die Erbauer wohl damals noch nichts gewusst. Abhängen kann man die Decke vermutlich nicht, so niedrig wie die Zimmer sind, aber man könnte bestimmt irgendwie eine Trittschalldämmung unter den Bodenbelag kriegen.

In dem einsamen Karton liegen alte Hefte, zwei leere Blumentöpfe und eine Ukulele. Witzig, die passt irgendwie gar nicht hierher. Er zupft an den Saiten. Als Kind wollte er gern E-Gitarre lernen wie sein cooler Cousin, aber seine standesbewussten Eltern haben ihn natürlich erst einmal zum Klavierunterricht geschickt. Da hat sich ganz schnell herausgestellt, wie unmusikalisch er ist, und das ist noch eine Untertreibung. Aus seiner Rockerkarriere ist nichts geworden. Er legt die Ukulele wieder in den Karton und schiebt ihn zur Luke.

Katja kommt mit einem Putzeimer nach oben geklettert. Doch der hilft wenig, denn das Wasser dringt an verschiedenen Stellen ein und tropft dann direkt auf den Boden oder läuft noch am Holzbalken entlang.

»Das muss man sich wohl von außen ansehen«, sagt sie.

Sie lassen den Eimer stehen und klettern nach unten. Katjas Telefon klingelt, und sie nimmt ab – ihre Mutter, die wahrscheinlich wissen will, ob alles geklappt hat, und sich beschweren, dass sie nun so weit weg wohnen.

Gibt es noch mehr Eimer? Eine lange Leiter, um aufs Dach zu kommen, haben sie jedenfalls nicht. Er wird Frau Vincenz fragen, es ist ja ihr Haus, ihr Dach.

Er geht nach draußen. Am Straßenrand fließt das Wasser ab, immer bergab. Ob Schweizer Bergkinder jemals das Gefühl genießen können, in meeresgroße Pfützen zu springen, so, wie er das früher in Holland tun konnte? Wobei die Schweizer Kinder heutzutage wahrscheinlich auch ihre ganze Zeit vor dem iPad verbringen, vielleicht gibt es ein Videospiel, in dem man in 3D-Pfützen springt. Seltsam, er hat sich so gefreut, endlich in den Alpen zu leben. Schon als Kind war ihm das Land in der niederländischen Heimat zu flach, wie der sprichwörtliche Pfannkuchen, und dann die letzte Zeit im Ruhrgebiet. Jetzt ist er hier und pickt sich die Sachen aus dem Gedächtnis, die er vermisst. Pfützen. Das kraftvolle Wuschen von Windrädern am Stadtrand.

Doch er mag die gedrungene Kompaktheit von Vischnanca, die Häuser aus Stein und dunklem Holz, die Seite an Seite an den asphaltierten oder gepflasterten Straßen stehen. Wenn sie Gärten haben, dann meist daneben statt dahinter, ein Stück Erde zwischen zwei Gassen, das zu schmal ist für ein Gebäude. Er kennt sich nicht aus mit Pflanzen, erkennt nur so gerade den Unterschied zwischen Blumen und Gemüse. Die Gemüsebeete sehen ernster aus, als trügen sie die ganze Verantwortung. Oh, und Geranien kennt er von der Großtante, die blühen hier auf allen Fensterbänken und Balkonbrüstungen.

Wasser prasselt ihm in den Nacken. Er zieht die Schultern hoch, duckt sich und schreit heiser auf. Sein Rücken ist komplett durchnässt, noch bevor er einen Schritt nach vorn machen kann. Verdammt. Er blickt nach oben. Alles sieht normal aus, bis der nächste Schwall vom Dach stürzt und auf den Boden klatscht, da muss sich irgendwo etwas gestaut haben. Die Spritzer auf seinen nackten Füßen sind kalt, er wischt sie sich hinten am Hosenbein ab. Die Spatzen lachen sich tot.

Das Haus ist seit Geburt der Vincenz-Schwestern im Jahre siebzehnhundertsauerkraut nur vage modernisiert worden, Heizung und Bäder sind glücklicherweise aus den Neunzehnachtzigern, und wenn es ihnen hier wirklich gefällt und sie zu diesem Mietpreis bleiben, kann man ja auch so einiges renovieren, viel selbst machen, auch wenn es ihnen nicht gehört. So der Plan.

Er klingelt bei Frau Vincenz, steht da und wartet. Sie ist wohl nicht zu Hause. Fabio lässt den Blick über die Straße wandern. Wie ist der Himmel so schnell wieder so blau geworden? Wie ist es nur so schön hier? Wieso ist so etwas überhaupt schön, Alpengipfel über kleinem Dorf mit alten Holzhäusern und Blumen in den Fenstern? Woher kommt dieses Gefühl der helvetischen Idylle? Er hat doch nicht mehr die alten Heimatfilme gesehen, die seine Großmutter so gern geguckt hat, und die waren größtenteils schwarzweiß, oder?

Dieses oder?, das sagen die Schweizer immer am Satzende, und er hat schon gemerkt, wie man andauernd damit beschäftigt ist, den Leuten nicht ständig zuzustimmen, so wie die im Pott sich nicht bei jedem ne? oder wa? zustimmen würden.

Vielleicht schläft Frau Vincenz auch. Vom Klingeln aufgeschreckt muss sie jetzt erst einmal die, Verzeihung, alten Knochen wieder in Gang kriegen. Wie alt sie wohl ist? Über siebzig bestimmt. Aber da steht sie schon in der Tür und streicht sich Kleid und Frisur glatt.

»Ja bitte?«, sagt sie mit knarziger Stimme.

»Oh, Entschuldigung bitte«, sagt er. »Habe ich Sie geweckt?«

Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich schlafe tagsüber nicht. Das machen nur alte Leute. Was gibt es denn?«

In diesem Moment öffnet sich nebenan die Haustür, ein dreifarbiger Hund stürmt heraus und bellt Fabio aus der Entfernung an. Dahinter tritt ein Mann auf die Straße, ruft dem Gebelle etwas Rätoromanisches entgegen und winkt ihnen zu.

»Buna seira.«

»Hallo«, sagt Fabio hastig, nicht einmal Grüezi fällt ihm schnell genug ein.

»Buna seira«, sagt auch Frau Vincenz.

Der Hund mustert Fabio noch einmal kurz, wedelt mit dem Schwanz und tobt auf die Straße, während der Mann zu ihnen herüberkommt.

»Willkommen in Vischnanca. Ich bin Sandro. Wir duzen uns hier, ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Natürlich. Fabio Blom.«

Sandro ist jung, Mitte dreißig vielleicht, und sein Stoppelbart leuchtet rötlich in der Sonne.

»Ihr kommt aus Deutschland?«

»Ja, aus dem Ruhrgebiet. Ich bin eigentlich aus den Niederlanden, aber meine Frau Katja ist aus Duisburg, da haben wir die letzten zwanzig Jahre gelebt, mit den Kindern.«

»Guter Fußballverein?«, fragt Sandro.

Fabio lacht. »Dritte Liga.«

Matilda Vincenz räuspert sich.

»Unser Dach ist undicht«, sagt er zu ihr, »und wir haben keine Eimer oder so, um das Wasser aufzuhalten. Keine Leiter, um aufs Dach zu sehen. Haben Sie da was?«

Frau Vincenz runzelt die Stirn. »Püh, ich hab das Dach doch überprüfen lassen.«

Fabio zupft sich am nassen T-Shirt. »Es tropft jedenfalls. Und überschüttet mich auch draußen mit Wasser.«

Sandro pfeift – der Hund bleibt enttäuscht stehen – und geht schräg über die Gasse auf einen verwitterten Schuppen zu. »Vielleicht werden wir hier fündig.«

»Ich habe das Dach überprüfen lassen«, ruft Frau Vincenz, als Fabio dem jungen Mann hinterhergeht. »Es war ein Gutachter da.«

Ein Vorhängeschloss baumelt am Riegel des Schuppens, Sandro beachtet es kaum und schiebt das Tor auf seiner rostigen Schiene auf. Darüber hängt ein Rechen, als hätte er sich festgebissen. Sandro verschwindet im Inneren. Zum zweiten Mal heute muss Fabio in staubige Dunkelheit tauchen. Zwischen den Balken ist jedoch genug Freiraum für Sonnenlicht, Spinnweben wehen, und am Giebel hängen Nester.

»Das war die Werkstatt vom Simon.« Sandros Stimme klingt dumpf und körperlos.

Fabio kommt der Name bekannt vor. »Simon … Frau Vincenz’ Mann?«

»Ja, er war Schreiner.«

»Riecht gar nicht mehr nach Holz.«

»Er ist auch schon eine ganze Weile tot, Matilda hat die meisten Maschinen verkauft, und wir stellen immer mehr Kram ab.«

»Wir?«

»Matilda selbst, Eli und ich. Meine Frau ist Matildas Nichte.«

In einer Ecke steht noch eine alte Werkbank, eine Boulevardzeitung liegt aufgeschlagen darauf, Erster schwarzer US-Präsident vereidigt, o Mann, das waren Zeiten, daneben eine Lesebrille mit staubigen Gläsern. Auch ein Wandkalender mit Spitzweg-Motiv bewahrt das Jahr 2009, während der Fuchsschwanz mit rostigen Zähnen alle Hoffnungen hat fahrenlassen, eine Konservendose mit vegetarischem Linseneintopf ebenfalls.

»Ach, schau«, sagt Sandro. Es poltert, er kommt mit drei Eimern aus der Dunkelheit und reicht sie Fabio. Dann findet er noch eine Plastikwanne, aber im Licht sehen sie gleich, dass die nicht mehr dicht ist. Die Eimer hingegen taugen noch.

»Danke«, sagt Fabio. »Kann ich die einfach so nehmen?«

»Sicher.«

Der Hund steht wedelnd auf der Straße, Frau Vincenz kommt hinter ihrem Haus hervor, mit einem Lappen in der Hand, und treibt vier gackernde Hühner vor sich her.

»Selbst schuld bist du«, murmelt sie vor sich hin, »was fütterst du sie auch?«

»Sind das schon wieder unsere?« Sandro verzieht verlegen den Mund.

»Sind immer eure.« Matilda Vincenz scheucht sie über die Gasse.

»Sie hat gedacht«, sagt Sandro zu Fabio, »wir können ein bisschen Ausgleich gebrauchen, die Eli und ich, immer nur diese Kopfarbeit. Und dann noch die Eli mit ihren Verrückten …«

Fabio sieht ihn ratlos an.

»Eli ist Psychologin und Therapeutin, und Matilda fragt sich immer, wie sie damit zurechtkommt, mit ihren … Verrückten. Nicht mein Wort. Da braucht es doch einen Garten. Oder eben Tiere.«

»Hühner zum Beispiel?«

»Sie hat einen Stall im Nachbardorf gekauft, und jetzt vergessen wir dauernd, die Viecher zu füttern und einzusperren, damit der Fuchs sie nicht holt.« Sandro hebt die Hände. »Deswegen spazieren sie immer zu Matilda rüber.«

Bevor Fabio fragen kann, was genau Sandro macht, sieht er, wie Katja drüben aus ihrem Häuschen tritt und sich suchend umsieht. Richtig, die Eimer. Die Leiter.

Da kommen Jojo und Jasper auf dem Roller um die Ecke, beide durchnässt, das sieht er von hier. Jojo rutscht vom Sitz und rennt mit dem Helm auf dem Kopf zum Haus. »Ich muss so dringend, ich muss so dringend!«

Jasper grüßt mit der Hand im dicken Handschuh, bevor er den Helm abzieht. Sein Blick wandert zwischen ihnen allen hin und her und bleibt dann hängen. Fabio dreht den Kopf. Aus Sandros Haus kommt jemand auf sie zu – wohl die schönste Frau, die er jemals gesehen hat, ein richtiges Schneewittchen. Hastig sieht er zu Katja, aber die beobachtet auch die Neue, die bestimmt nicht die Neue ist, weil sie ja die Neuen sind.

Die Frau stellt sich neben Sandro und lächelt. »Hallo, ich bin Elisabeth Goldinger.«

Das ist Sandros Frau? Damit hätte Fabio jetzt wirklich nicht gerechnet, und er könnte nicht einmal sagen, wieso. Er lächelt, während Eli den sich wie wild freuenden Hund streichelt und Jasper den Blick nicht von ihr lösen kann. Die schwarzen Haare hat sie zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden, sie trägt einen dünnen Sommerrock und ein Top mit Spaghettiträgern und keinen BH. Das ist einfach nur eine Beobachtung, sagt Fabio sich, das ist ihm halt aufgefallen, auch als sie sich so zum Hund heruntergebeugt hat. Katja geht auf sie zu und stellt sich bei den beiden vor, Jasper folgt ihr und läuft mit jedem Schritt röter an.

»Da ist ein Stein vom Berg gekommen«, sagt er, nur zu Eli, »ein richtiger Ömmes.«

»Ein richtiger was?« Sie lacht.

»Ein Ömmes …« Jasper zögert.

»Ein Riesending«, sagt Katja.

»Dat sacht man so, wo wir herkommen«, ergänzt Fabio.

»Aha, ein gigant, würden wir wohl einfach sagen«, erwidert Eli. »Passiert manchmal. Den ganzen Sommer ist es knochentrocken, und dann hat es ab und zu so heftige Regenfälle. Das setzt ihm zu.«

»Wem?«, fragt Katja.

»Unserem Piz Brunclia.«

Katja hebt den Blick zum Berg, von dem man hier zwischen den Häusern nur den obersten Grat sieht. »War das Gewitter denn vorhin besonders stark?«

»Nein«, sagt Frau Vincenz.

»Schon«, sagt Eli gleichzeitig. »Wird immer heftiger in den letzten Jahren. Alles wird heftiger.«

»Es hat schon immer Gewitter gegeben. Der Teufel hat schon immer mit Steinen geschmissen.« Matilda Vincenz sieht sie ärgerlich an. »Aber ich kümmere mich natürlich um das Dach. Ich schaue es mir an. Ich kann auch den Gutachter noch mal anrufen oder einen anderen Handwerker.«

»Draußen an der Straße liegt der Brocken«, sagt Jasper und dreht den Helm in den Händen. »Wir haben Fotos gemacht. Ich bin klatschnass.«

Er schiebt seinen Roller in die mit Efeu überwachsene Garage. In der steht ihr einziges Auto. Kurz vorm Umzug ist das andere kaputtgegangen, und was es für Zollgebühren kostet, ein unter sechs Monate altes Auto in die Schweiz zu überführen, das kannst du dir nicht vorstellen. Marie Kondo jedenfalls wäre stolz auf sie, kleineres Haus, nur noch ein Wagen. Sie müssen mal sehen, ob das so funktioniert, weil Katja mit dem verbliebenen Auto ja immer zur Arbeit fahren wird.

»Ich muss mit Raclette los«, sagt Sandro und zieht die bunt geflochtene Leine zurecht, die ihm quer über den Körper hängt.

»Ich schau mir das Dach an.« Frau Vincenz stapft allein über die Straße, Fabio folgt ihr eilig mit den Eimern, Katja und Eli hinter ihnen her.

»Raclette heißt euer Hund?«, hört er Katja fragen. »Was ist sie für eine Rasse?«

»Appenzeller«, sagt Eli.

»Hübsch ist sie.«

»Ja, danke. Will onda Matilda denn jetzt aufs Dach steigen? Dann komme ich lieber mit, auch wenn ich handwerklich eine Niete bin.«

»Nein, nein«, sagt Fabio über die Schulter. »Es tropft auch von innen. Wir müssen nur auf den Speicher.«

Frau Vincenz bleibt vor der Haustür stehen, ihr ist wohl eingefallen, dass sie da nicht mehr einfach so reindarf. »Der Mann hat gesagt, es ist noch alles stabil, ein gutes, altes Haus. Das hat er gesagt, ein gutes, altes Haus.«

»Im Gegensatz zu deinem«, sagt Eli.

»Kommen Sie rein.« Fabio geht vor.

»Meins ist auch noch stabil. Ist noch vierzig Jahre jünger.«

»Und der Riss im Bad?«

Alle zusammen trampeln sie die Treppe hinauf.

»Das ist nur ein Riss. So was kann überall passieren. Die Leute regen sich immer gleich so auf.«

Eli gibt einen zweifelnden Laut von sich. »Wir werden sehen, was sie morgen bei der Versammlung sagen.«

Jasper scheint unter der Dusche zu sein, Jojo kommt aus ihrem Zimmer, in frischen Klamotten. Fabio drückt sie an sich.

»Trocken gelegt?«

Jojo nickt und lächelt schüchtern Eli zu, dann Frau Vincenz, die nur kurz ihr Stirnrunzeln unterbricht. Die Stufen haben sie kaum angestrengt, sie ist fit für ihr Alter.

»Was für eine Versammlung?«, fragt Katja und zeigt auf die geöffnete Luke, geht dann aber doch als Erste. Fabio folgt ihr mit den Augen. Eli mag schön sein, aber Katja muss ihre Beine in seinen alten Shorts auch nicht verstecken. Na, niemand muss was verstecken, schiebt er schnell in Gedanken hinterher, egal wie hübsch oder hässlich, das sagt er Jojo auch immer. Wobei sie zum Glück nicht in Hotpants herumläuft, wie andere in ihrem Alter, im Gegenteil, sie trägt meist viel zu weite, gemütliche Kleidung.

»Morgen ist Gemeindeversammlung«, sagt Eli zur Erklärung, während sie ihrer Tante den Vortritt lässt.

»Da werden sie auch wieder nur ein Fass aufmachen.« Die Stimme der alten Frau wird dumpf, als sie nach und nach auf dem Dachboden verschwindet. »Vergeudete Lebenszeit und ein Haufen ach so wichtiger Menschen, die große Reden schwingen und alles besser wissen.«

»Aber du kommst trotzdem, onda Matilda, oder?«

»Natürlich, Liebes.«

Eli zwinkert Fabio zu. »Kommt doch auch, ihr gehört doch jetzt dazu. Dann lernt ihr gleich das ganze Dorf kennen.«

Ria

Vom Küchenfenster aus hört Ria das Auto von der Stella Marić auf den Hof fahren. Wie immer ist die Musik lauter als der Wagen. Epidemic circumstances, brüllt es, scan the airports, epidemic circum – scan the airports. Selbst Rias Vater mit seinen alten Ohren hört jeden Morgen und Abend seine Pflegerin kommen. Stella hat Ria erzählt, dass sie früher in Fažana in einer Groove-Metal-Band war, ein Haufen kroatischer Vollidioten, wie sie sagte, bis sie sich von dem Lead-Sänger getrennt hat und weggegangen ist. Spray the poor, stay the course, epidemic circumstances. Stellas Musik erstirbt, wenige Sekunden später knallt die Autotür zu.

»Tgau«, hört Ria sie sagen. Gian grüßt zurück. Er läuft mit Blanca auf dem Arm herum und antwortet auf das Brabbeln seiner Tochter, als ob sie Fragen zum kaputten Motor des Traktors oder zur Futterzusammensetzung des Braunviehs stellen würde. Doch jetzt berichtet Stella von einem gigantischen Felsbrocken, der vom Berg gefallen und quer über die Straße gerollt ist. Die Ampeln von der Steinschlag-Warnanlage seien auf Rot gesprungen, aber wohl zu spät, fast wurde ein Töff getroffen.

»Das wird bestimmt morgen auf der Gemeindeversammlung besprochen«, sagt Gian. »Kommst du auch?«

»Sorry, ich muss bis spät arbeiten«, sagt Stella.

Das stimmt vermutlich, aber es ist auch eine Ausrede. Stella hat Ria einmal gestanden, dass sie sich bei solchen Versammlungen nicht willkommen fühlt und weil sie auch nach vier Jahren hier im Land noch keine Stimme habe, könne sie gleich wegbleiben. Woraufhin Ria meinte, wenn sie nie käme, würde sich daran auch nichts ändern, sie könne doch auch, ohne abzustimmen, ihre Meinung sagen. Ich bin nicht so ein Kollektivmensch wie du, Ria, hat sie da erwidert, du bist daran gewöhnt, dass Leute auf dich hören.

Ria wischt sich die nassen Hände an einem Tuch ab und hängt es über den Backofen. Nächstes Mal feuert sie doch wieder den großen Steinofen an, das ist zwar mehr Arbeit, aber das Brot schmeckt so viel besser und die Kruste wird knuspriger. Sie kann das Krachen des ersten Bissens schon hören, dick Butter und ein bisschen Salz darauf.

»Ist denn alles gut mit eurer Wohnung?«, fragt Gian.

»Sicher«, sagt Stella.

Sie wohnt in einer Wohngemeinschaft im zweiten Haus an der engen Veia Selerign, die auch ins Dorf führt, die mit der Durchfahrtsbeschränkung für Anrainer. Das ist der westliche, jüngere Teil von Vischnanca. Nach einem Steinschlag dort draußen ist die Frage von ihrem Vermieter also berechtigt, aber Gian fragt Stella so oft, wenn sie herkommt, viel zu oft. Als wäre er, mit Anfang vierzig, der Vergessliche in der Familie und nicht Rias achtzigjähriger Vater.

Er sei eben ein aufmerksamer Vermieter, sagt Gian, wenn Ria ihn drauf anspricht. Stella solle sich doch wohl fühlen, auch als Zugezogene.

Stella wirft die Autotür zu. »Dann geh ich mal nach deinem Schwiegervater sehen.«

»Ist gut«, erwidert Gian. »Sag tgau, Blanca.«

»Au«, sagt Blanca.

Ria wirft noch einen Blick in den Ofen und kontrolliert die Uhr. Dann geht sie nach draußen. Stella ist in dem kleinen Nebengebäude verschwunden, das Rias Vater sich eingerichtet hat, als sie und Gian den Hof übernommen haben. Sie hätten genug Platz für ihn im Haus gehabt, aber er wollte etwas Eigenes, eine Art Altenteil. Auch Gian und Blanca sind verschwunden. »Au, au, au«, hört sie aus dem Stall. Sie zupft ein paar trockene Blüten von den Geranien und hält sie in der hohlen Hand, steht da und schließt kurz die Augen, um durchzuatmen und den Knoten in ihrem Magen zu lösen. Schließlich wendet sie sich doch dem Berg zu, die Zähne zusammengebissen. So, so, denkt sie, jetzt wirfst du also mit Steinen, hm? Nur treffen kannst du offenbar nicht, portg. Schau nur zu, wie ich meine Blumen pflege. Und die Fensterläden werde ich nächste Woche abschleifen und neu streichen, hörst du? In Blau, einem richtigen, schönen Blau.

Stella steht in der Tür und winkt. Ria geht zu ihr, die abgezupften Blätter vorsichtig wie ein Vogeljunges in der Hand.

»Dem Bruno gehts nicht so gut, vielleicht sollten wir den Doktor rufen«, sagt Stella, zieht sich wieder die Maske vors Gesicht und geht vor Ria zurück in das Häuschen.

»Scu vogl, bab«, sagt Ria zu ihrem Vater und legt die Blütenblätter auf die alte Eckbank. Der Duft zieht ihr in die Nase. Alles hier drinnen hat ihr Vater damals selbst gezimmert – manchmal mit Hilfe vom alten Simon Vincenz. Simon hat dem ganzen Dorf geholfen, war ein Guter. Und für die Matilda so heilig, als hätte er seinen Mantel an einem Sonnenstrahl aufhängen können, der ins Zimmer fällt.

Sie haben dem bab das Bett in die Stube gestellt, nur die alte Eckbank ist geblieben. »Die kann ich mir immer anschauen«, hat ihr Vater gesagt, »die mag ich besonders gern.«

»Was ist mit dir?«, fragt Ria.

»Nur ein bisschen Fieber, Toni«, sagt er.

Stella legt die Hände auf die Metallstange am Fußende. »Achtunddreißig, Bruno, und es kommt aus dem Nichts.«

Ria fühlt die Stirn ihres Vaters. »Du bist wirklich warm, bab. Ich ruf den Doktor.«

Sie zieht das Handy aus der Tasche.

»Gut«, sagt ihr Vater. Im Winter hat er oft gemeckert, aber der frühe Sommer hat ihn milde gestimmt. Er sitzt fast jeden Tag im Schatten und schaut zum Himmel. Steht da der Adler, fragt er oft, und Ria sagt manchmal ja, auch wenn es nur Wolken sind. Das ist ihr Vater, wie sie ihn von früher kennt, gemütlich, ein wenig zu schicksalsergeben, das ist wohl der Glaube, den sie selbst nie gehabt hat. Gian ist ähnlich. Es soll so sein. Es wird zu was gut sein.

»Hast du mit deinen Eltern gesprochen, Stella?«, fragt ihr Vater, während die Leitung tutet. »Waren sie wieder am Strand?«

Ria lächelt. Stellas Eltern haben den alten Bruno Dosch unbekannterweise ins Herz geschlossen. Immer, wenn sie bei sich in Kroatien einen Spaziergang am Meer entlang machen, schicken sie ihrer Tochter ein Foto nach Graubünden, damit die es ihrem Patienten zeigen kann. Und das vergisst er interessanterweise auch nicht. Ria ist dankbar, dass Stella sich so viel Zeit nimmt, obwohl sie bestimmt Feierabend machen will. Sie hat noch zwei andere Patientinnen in Vischnanca, aber zum bab kommt sie immer als Letztes. Jetzt setzt sie sich auf die Bettkante und holt ebenfalls ihr Handy heraus. Ihre Schutzhülle ziert ein Totenkopf aus Strasssteinen.

Ria spricht mit dem Arzt und hört, wie Stella sich verabschiedet. Sie winkt.

»Erinnerst du dich noch«, sagt der bab, als sie ihm das Kopfkissen zurechtzieht, »an den Lorenzo?«