Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern - Blu Doppe - E-Book

Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern E-Book

Blu Doppe

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Beschreibung

Warum setzen sich eigentlich so wenige Männer für die Gleichberechtigung aller Geschlechter ein, wenn doch die Ungerechtigkeiten so offensichtlich sind? Die derzeitigen Ausformungen der Männlichkeiten spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung wie auch der Beständigkeit von Patriarchat, Sexismus und geschlechtlichen Ungleichheiten auf strukturellen Ebenen. Aber ebenso üben sie Einfluss auf der individuellen Ebene aus. Der vorliegende Sammelband nähert sich dem Thema aus 15 verschiedenen Perspektiven, sowohl cis-männlichen als auch anderen. Er verknüpft und berücksichtigt dazu abstrakt-analytische und biografisch-persönliche Herangehensweisen, bringt diese immer wieder in Zusammenhang und beschreibt Wechselwirkungen. Zentrales Anliegen des Sammelbandes ist es, aufzuzeigen, wo und wie geschlechtliche Machtstrukturen offensichtlich und subtil fortbestehen, selbst wenn die involvierten Personen ein ernsthaftes Interesse daran haben, diese abzubauen. Die Zielrichtung ist dabei, Wege für ein gutes Zusammenleben für alle zu finden, in dem Geschlecht keine Ungleichheiten, Gewalt und Hierarchien mehr erzeugt.

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Würden alle Männer danach streben

mehr Gefühl und Empfindsamkeit in ihrem Leben zuzulassen

anstatt nach Macht durch Dominanz

dann würde sich die Welt

zum Besseren verändern.

Frei nach bell hooks, The will to change

Ich bin nicht auf die Idee gekommen,

dass ich das könnte,

bis ich es gesehen habe.

Rae Spoon, goodbye gender

Blu Doppe und Daniel Holtermann (Hg.)

Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern

Kritische Reflexionen von Männlichkeiten

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Blu Doppe, Daniel Holtermann (Hg.):

Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern

2. Auflage, November 2021

eBook UNRAST Verlag, Februar 2023

ISBN 978-3-95405-093-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: cuore.berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

Zur Sprache

In diesem Sammelband verwenden wir das Gender-Sternchen*. Dieses * soll Platz schaffen für alle Geschlechtsidentitäten, die sich weder als männlich noch weiblich, teils männlich oder weiblich oder über diese Binarität hinausgehend identifizieren. Wir tun dies, um darauf hinzuweisen, dass Geschlecht, Geschlechtsidentitäten und die damit verbundenen Machtverhältnisse gesellschaftlich konstruiert sind, was die von ihnen ausgehende Wirkmächtigkeit und Gewalt jedoch nicht schmälert. Das bedeutet unter anderem, dass nicht alle Personen, die als Jungen, Männer, Frauen oder Mädchen wahrgenommen werden, sich auch als solche identifizieren. Das * zeigt die Offenheit der Geschlechtsidentitäten an und betont, dass es sich bei ihnen um nicht abgeschlossene Prozesse handelt. Wenn also von Jungen oder Männern die Rede ist, sind alle die gemeint, die sich als solche identifizieren. Die Autor*innen haben z.T. unterschiedliche geschlechtersensible Sprachen gewählt.

Inhalt

Blu Doppe, Daniel HoltermannEinleitung

Teil eins: Scheitern

Daniel Holtermann»Herumreflektieren reicht nicht« – Gespräch mit Blu Doppe und Kim Posster über das Scheitern pro_feministischer Praxis

Gabriel_Nox KoenigVom Versuch, sich verbündet zu zeigen und die eigene männliche Performance und männliche Privilegien zu sabotieren

Sebastian Schädlern(ich)t ... oder auch zu den Versuchen, sich als ›Mann‹ nicht ›vermännlichen‹ zu lassen

Fikri Anıl Altıntaş1001 Annahmen, die nicht meine waren

Kim MöhrsGeboren als ein Mensch, der zum Mann* wird? – Sexualität und Männlichkeit(en)* aus einer nicht-binären Perspektive

Teil zwei: Zweifeln

Blu Doppe»Wie, du trinkst nicht?« – Der Alkohol-(Nicht-)Konsum meines Lebens

Ricci EggemannDepression, who cares? Oder wie ich anfing, meine Depression und Männlichkeit zusammenzudenken

Gustavo HernándezIm Stuttgarter Schlossgarten: Schnittstelle von zwei Marginalitäten

Hubert GotzGewaltbetroffenheit und Privilegien: (Un)mögliche Gleichzeitigkeiten?

Bilke SchnibbeSprachlosigkeit – Vom Streiten und Nicht-Streiten mit Männern, die gute Verbündete sein wollen

Teil drei: Ändern

Ulla WittenzellnerBoy meets Girl – Kritisches Vorwärtsstolpern in Heterobeziehungen

Gruppe besser als nixKeine Sondertörtchen für Männlichkeit! – Gedanken zu unseren Erfahrungen aus der transformativen Arbeit mit cis Männern, die sexualisierte Gewalt ausüben

Till Baumann und Andreas SpadingAnti-patriarchale Lockerungsübungen – Ein Dialog zwischen zwei Aktiven der Theatergruppe Masculinities Lab (Berlin)

Sascha Verlan»Ich sorge, also bin ich!« – Care-Biografien fördern und wertschätzen, für alle Geschlechter

Inga Zimprich»Wenn man sich gegen herrschende Normen verändern will, braucht man Unterstützung« – Gespräch mit Andreas Hechler

Glossar

Autor*innen und Beteiligte

Anmerkungen

Einleitung

Vorüberlegungen

Die Notwendigkeit der kritischen Perspektive auf Männlichkeiten

Warum setzen sich eigentlich so wenige Männer[1] für die Gleichberechtigung aller Geschlechter ein, wenn doch die Ungerechtigkeiten so offensichtlich sind? Die derzeitigen Ausformungen der Männlichkeiten[2] spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung wie auch der Beständigkeit von Patriarchat, →Sexismus[3] und geschlechtlichen Ungleichheiten auf strukturellen Ebenen. Aber ebenso üben sie Einfluss auf der individuellen Ebene aus: Ein Großteil der alltäglichen Gewalt gegenüber Frauen, Lesben, →inter*, nicht-binären, →trans* und agender Personen (→FLINTA*) geht von cis Männern aus, und die individuellen Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten von allen Geschlechtern werden durch Männlichkeiten eingeschränkt. Die Aufzählung der negativen Auswirkungen auf den verschiedenen Ebenen ließe sich beliebig fortführen.

In der Öffentlichkeit ist das Thema Männlichkeiten aktueller denn je und es findet wieder eine (kritische)[4] Beschäftigung damit statt. In journalistischen und wissenschaftlichen Artikeln oder in politischen Kampagnen wie #Aufschrei oder #metoo wird diskutiert, was Männlichkeiten mit Sexismus, Rechtsruck oder dem Klimawandel zu tun haben (könnten). Zudem wird das Thema Männlichkeiten immer wieder mit den Begriffen ›fragil‹ oder ›toxisch‹[5] in Verbindung gebracht. Es wird von der ›Verunsicherung des Mannes‹ oder der Männlichkeit geschrieben und sich nach ›Traditionellem‹ und ›Stabilität‹ gesehnt. Gleichzeitig nehmen die vielfältigen Darstellungen und Lebensweisen von Männlichkeiten, die durch →feministische, queere, antirassistische und andere emanzipative Bewegungen und Errungenschaften erst möglich geworden sind, zu. Es kommt zum gleichzeitigen Zerren und Streben – vor- und rückwärts. Die öffentliche Beschäftigung ist dabei mal mehr meist jedoch weniger kritisch, weil sie in der Regel die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und -strukturen nicht mitbetrachtet.

Unserer Einschätzung nach, ist die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten in linken, männlichkeitskritischen Kreisen meist entweder von einer individuellen Betroffenheit oder von einem theoretischen Zugang geprägt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung als auch ihre Herausforderungen. Bei der individuell-biografischen Herangehensweise besteht die Gefahr der Resouveränisierung von Männlichkeiten, also der Selbstbestätigung und Verstärkung von männerbündischem und patriarchalem Verhalten, sowie der Selbstreferenzialität. Diese zeigt sich im Außerachtlassen des wechselseitigen Produktionsprozesses von Geschlecht, Männlichkeiten beziehen sich immer auf andere Geschlechter und das meist hierarchisch, und den Menschen, die von Männlichkeiten vor allem betroffen sind: FLINTA*. Bei der biografischen Herangehensweise werden oft gesellschaftliche Machtverhältnisse außer Acht gelassen. Die vornehmlich theoretische Auseinandersetzung mit Männlichkeiten birgt die Chance, diese gesellschaftlichen Verstrickungen zu berücksichtigen. Die theoretische Reflexion von Männlichkeiten hat gleichzeitig meist den Fallstrick, dass die Ebene der eigenen Betroffenheit und Reproduktion ›vergessen‹ werden kann und es zu keinen Veränderungen auf der individuellen Handlungsebene kommt. Gerade die Wechselbeziehungen zwischen dem individuellen Erleben und Leben von Männlichkeiten sowie der theoretischen Verstrickung ist für die kritische Reflexion von Männlichkeiten zentral. Daher haben wir uns für die Kombination der beiden Herangehensweisen entschieden, sowohl die individuelle-biografische Ebene zu berücksichtigen als auch die theoretisch gesellschaftliche Kontextualisierung. Inspiration für diese Herangehensweisen waren die Diskussionen mit Bilke Schnibbe und Andreas Hechlers sowie sein Artikel »Den Zweifel nähren – Meine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit«[6].

Grundlage für den Sammelband war die Anfrage des Unrast-Verlages an Andreas Hechler, ein Buch zum Thema Männlichkeiten zu schreiben. Vor diesem Hintergrund starteten wir als vier Herausgeber*innen: Andreas Hechler, Bilke Schnibbe, Blu Doppe und Daniel Holtermann. Hechler und Schnibbe stiegen im Laufe des Schreibprozesses aus Kapazitätsgründen aus.

Privilegien und Nachteile

Dass sich cis Männer mit Männlichkeiten in Praxis oder in Textform beschäftigen, ist ein Phänomen, welches über die Zeit immer wieder auftaucht und verschwindet. Für cis Männer scheint oft keine intrinsische Motivation vorzuliegen, sich kritisch mit Männlichkeiten auseinanderzusetzen. Die Verwunderung über die eigene Motivationslosigkeit hält sich jedoch in Grenzen, müssten sich die cis Männer doch ansonsten zwangsläufig mit der eigenen Privilegierung und der von ihnen ausgehenden (strukturellen) Gewalt und Macht beschäftigen.

Sich als cis Mann mit den eigenen Privilegien zu beschäftigen, ist eine Ausnahme, allerdings essenziell für Veränderungen und Emanzipation. Mit Privilegien geht meistens eine aus der ansozialisierten Position entspringende Ignoranz und entsprechende Wahrnehmungsschwierigkeiten für die Nachteile anderer und die eigenen Vorteile, welche aus den gesellschaftlichen Machtstrukturen entstehen, einher. Positiver formuliert mangelt es in der höchstprivilegierten Position[7] an Reflexionsressourcen: Es fehlt ein Bewusstsein dafür, an welcher Stelle →Männlichkeitsanforderungen Männer und andere Geschlechter einschränken und ihnen schaden. Sich aus einer privilegierten, männlichen Position in die Situation und Position von deprivilegierten Personen zu versetzen, ermöglicht es, zu verstehen, welches Leid durch Männlichkeiten ausgelöst wird. Ein größeres Verständnis, vor allem auf der emotionalen Ebene, für die unterschiedlichen Situationen, in denen Menschen leben, hat ein großes emanzipatives Potenzial.

Für uns ist es von großer Bedeutung, Privilegien und Nachteile dabei zu differenzieren: So haben höchstprivilegierte cis Männer Nachteile in dieser Gesellschaft. Diese entspringen aus den Geschlechtsanforderungen: Männer leiden z.B. unter den Männlichkeitsanforderungen (körperliche Stärke zeigen müssen, keine Gefühle zeigen dürfen …), die an sie gestellt werden, weil sie diese nicht erfüllen können und bei Nichterfüllung abgewertet werden. Die Angst, aus der Gruppe ausgeschlossen oder abgewertet zu werden, ist real und schmerzhaft. Diese Männlichkeitsanforderungen werden allerdings von den Beteiligten, meistens Männer, aufrechterhalten. Sie leiden damit quasi unter sich selbst. Es handelt sich dabei nicht um ein Diskriminierungsverhältnis, denn Männer sind strukturell privilegiert, sondern um Machtkämpfe unter Männlichkeiten, um hegemoniale Positionen.

Sich aus einer privilegierten Position heraus mit Menschen und deren emanzipativen Kämpfen verbünden zu wollen, hält einige Fallstricke parat. Sie scheint unserer Ansicht nach oft in Paternalismus oder zur Passivität verdammten Selbstgeißelung zu verfallen. Auch kann die eigene Position des Verbündeten als Abwehrstrategie gegen berechtigte Kritik genutzt werden oder darin münden, dass sich immer wieder in Konkurrenzspielen mit anderen Privilegierten verloren wird, die um die Frage »Wer ist die beste privilegierte Person?« kreisen. Diese Mechanismen können dazu führen, dass die gemeinsamen Ressourcen, Verstrickungen, Widersprüche und eigentlichen Ziele aus den Augen verloren werden. Zudem zeigen sie die widersprüchliche Komplexität bei der kritischen Reflexion von Männlichkeiten auf.

So geht es im Kampf gegen das Patriarchat nicht darum, dass FLINTA* Macht über Männer erlangen, sondern um eine Infragestellung, Verflachung und schlussendliche Aufhebung der bestehenden Hierarchie. Dieser Umstand wird in antifeministischen und maskulinistischen Kreisen immer wieder absichtlich falsch dargestellt. Es ist also immer wieder eine Gratwanderung, Nachteile und Betroffenheiten von höchstprivilegierten cis Männern zu thematisieren, ohne ins Sexistische und Antifeministische abzugleiten.

Rahmenbedingungen für eine kritische Auseinandersetzung

Scheitern, Zweifeln und Ändern sind im Normalfall nicht die ersten Assoziationen, die mit Männlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Für eine konstante Reflexion von Männlichkeiten sind sie jedoch notwendige Bestandteile, sowohl auf der subjektiven als auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Sie fördern die Verantwortungsübernahme von cis Männern für die Arten und Weisen, wie Männlichkeiten und die damit verbundenen Machtverhältnisse konstruiert und reproduziert werden sowie für die Handlungen, die daraus entstehen. In der eigenen Beschäftigung mit Männlichkeiten stoßen wir immer wieder an Grenzen, aus der sich die folgenden Fragen ableiten:

Wie sieht ein guter Rahmen aus, in dem vor allem cis Männer →Geschlechtsanforderungen reflektieren können?

Wie lässt sich Platz schaffen für wohlwollende, kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen Verhalten, Leid, Schmerz und der eigenen Trauer.

Wie kann dabei sowohl mit den eigenen Privilegien und der Kritik an ihnen umgegangen, als auch Verunsicherung zugelassen werden, während die eigene Handlungsfähigkeit bestehen bleibt?

Wie kann die Beschäftigung zu nachhaltigen Veränderungen führen, die zur eigenen Emanzipation und den emanzipativen Kämpfen anderer gegen Marginalisierung und Diskriminierung beitragen und diese unterstützen?

Wie kann sich der Vision der Entgeschlechtlichung von menschlichen Eigenschaften genähert werden, in der Vielfältigkeit gelebt werden kann, ohne dafür sanktioniert zu werden, und gleichzeitig die Grenzen anderer gewahrt werden?

Als Herausgebende haben wir nach Antworten auf diese Fragen gesucht und diesen Sammelband zusammengestellt. Dabei wollen wir aufzeigen, welche Möglichkeiten und Fallstricke es geben kann, wenn sich (cis) Männer, alleine oder kollektiv, mehr oder weniger kritisch mit Männlichkeiten beschäftigen.[8]

Zum Sammelband

Erweiterung der Perspektiven

Die Beiträge in diesem Sammelband zielen darauf ab, vor allem (cis) Männern (aber auch allen anderen), Anregungen, Fragen, Zweifel, Hilfestellungen, Unterstützungen, neue Perspektiven und Herangehensweisen für eine persönliche Auseinandersetzung an die Hand zu geben. Dabei wollen wir gegensätzliche Herangehensweisen und Perspektiven zu den Mainstreammedien und konservativen, maskulinistischen und antifeministischen Kreisen aufzeigen, da deren Beschäftigungen mit dem Thema immer wieder auf eine Zementierung traditioneller Geschlechterrollen abzielen.

Wir wollen mit unserem Buch dazu beitragen, Reflexionen und Perspektivverschiebungen anzustoßen. Unsere Absicht ist, aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema zu beleuchten, weg von einer ausschließlich binären, cis-männlich, → weißen Herangehensweise hin zu multidimensionalen und →intersektionalen Diskussions-, Dialogs- und Veränderungsperspektiven. Wir nähern uns dem Thema aus verschiedenen Richtungen, mit verschiedenen Foki und einer möglichst großen Perspektivenvielfalt. Wir haben Geschlecht als eine der vielen und hier nahliegenden Differenzlinien aufgegriffen und nach dieser Autor*innen ausgewählt: Die eine Hälfte unserer Beiträge ist von Menschen geschrieben, die sich zurzeit als cis-männlich identifizieren, während die andere Hälfte von Personen verfasst wurde, die sich zurzeit als FLINTA* identifizieren.

Auf diese Weise kommen verschiedene Perspektiven zusammen und ihre Widersprüchlichkeiten, Tragiken und Spannungsfelder werden in der Auseinandersetzung mit Männlichkeiten betrachtet. Es ist uns dabei wichtig, Widersprüchlichkeiten nicht einseitig aufzulösen. Vielmehr soll deutlich werden, dass die kollektive wie individuelle Beschäftigung mit Männlichkeiten vom Aushalten und Aushandeln dieser Ambivalenzen lebt. Der Ton der Beiträge ist aus diesem Grund einerseits einfühlsam fragend und neugierig forschend, während andererseits eine klare, kritische, →pro-feministische Haltung eingenommen wird.

Der Sammelband hat neben der gesellschaftlichen Kontextualisierung vor allem das subjektive und verletzliche Erleben der Autor*innen im Fokus. In der Betrachtung von Männlichkeiten ist dieser Zugang wichtig, da dieser meist durch Männlichkeitsanforderungen erschwert und somit nicht gewählt wird. Männlichkeitsanforderungen und (cis-) männliche Sozialisation führen meist zu einem kognitiven und rationalen Zugang zum eigenen Selbst und anderen Personen, während die emotionale Dimension keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Die Herangehensweise des Sammelbandes wollen wir anhand eins Beispiels aus einer cis-männlichen Position verdeutlichen: In der Sekundarstufe I gab es einen Mitschüler mit androgynen Zügen. Er war schmächtig, eher introvertiert und nicht auf Streit aus. Eines seiner liebsten Hobbys war Voltigieren – die Akrobatik auf Pferden. Für seine Eigenschaften und Hobbys geriet er insbesondere in den Fokus der anderen Jungen in der Klasse, meist im negativen Sinne. Er wurde des Öfteren gemobbt: Auf der Klassenfahrt wurde in seinem Bett Kekse zerkrümelt oder in der Pause sein Stifte-Etui geklaut. Das Etui wurde zwischen den im Kreis stehenden Jungs hin- und hergeworfen und der betreffende Junge konnte diese nicht wiederbekommen. Dies dauerte solange, bis die Pause zu Ende war oder ich mit einem Freund eingeschritten bin. Das Spielchen war mir zu blöd. Da ich nicht alleine war, genoss ich genug Respekt für diese Intervention. Für einen kurzen Moment hörte das Mobbing dann auf.

Aus dieser kleinen Situation können wir auf die theoretische Ebene wechseln und Männlichkeitsanforderungen nachvollziehen und wie diese schon früh (re-)produziert wird. Es gab Jungen, die im Zentrum standen und andere die aus der Gruppe herausfielen bzw. gemobbt wurden, weil sie den Normen nicht entsprachen. Das Mobbing der Jungen war akzeptiert solange niemand etwas dazu sagte, der mindestens auf derselben oder einer höheren Hierarchieebene war. Durch diese Verhaltensweisen wurden hierarchische Beziehungen zwischen den Jungen eingeübt und insbesondere Jungen mussten bei diesen ›ernsten‹ Spielen des Wettbewerbs mitspielen ob sie wollten oder nicht.

Die subjektiven Sichtweisen der Autor*innen haben selbstverständlich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern sind vor dem Hintergrund ihrer individuellen Erfahrungen und gesellschaftlichen Positionierungen zu lesen. Die Blickrichtungen und Positionierungen der Autor*innen und unsere Auswahl der Texte ermöglichen viele Perspektiven auf das Thema, jedoch zeigt sich auch, dass bestimmte Themenfelder nicht oder nur wenig betrachtet werden konnten: So gibt es keine Artikel, die sich explizit mit rechten bzw. rechtsextremen Männern oder Strukturen sowie mit den Themen Be_Hinderung[9], Religion, materialistischer Feminismus, Alter, Täterschaft aus einer cis-männlichen Perspektive und der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt beschäftigen.

Der Aufbau des Buches

Das Buch ist in die drei Rubriken Scheitern, Zweifeln und Ändern gegliedert. Wir sehen Scheitern, Zweifeln und Ändern als stetige Prozesse, die sich immer wieder wiederholen und von Neuem beginnen in der kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeiten. Ein stetiges Entwerfen und Verwerfen. Wie in vielen Artikeln beschrieben wird, scheitern Menschen stetig an (männlichen) Geschlechtsanforderungen und anderen gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden. Das geschieht manchmal bewusst, aber oft auch unbewusst. Das Scheitern ist daher ein zentraler Bestandteil in der Reflexion von Männlichkeiten. Das Nichterfüllen der Anforderungen verdeutlicht diese und kann zum Verständnis ihrer Funktions- und Konstruktionsweise beitragen. Dieses Verständnis ermöglicht neue Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven im Umgang mit diesen Anforderungen.

Ein zweiter Teil der Auseinandersetzung sollte stets das Zweifeln sein. Die Bewusstheit über Männlichkeitsanforderungen reicht alleine nicht aus. Für Veränderungen bedarf es einer kritischen Position bzw. eines ›Erschreckens‹ über die Geschlechtsanforderungen und deren individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Kern des Zweifelns ist das Hinterfragen von ›Gegebenem‹ oder ›Selbstverständlichem‹. Dieser kritische Blick unterstützt eine konstante Reflexion, die nicht nur einmal geführt und damit abgeschlossen wird, sondern sich in jedem Moment die Frage stellt, ob und wie das eigene Verhalten Männlichkeiten reproduziert.

Den dritten Teil bilden Artikel, die auf Veränderungen und Veränderungspotenziale von Männlichkeiten zusteuern. Welche Veränderungen sind vor dem Hintergrund des Scheiterns und Zweifelns an Männlichkeiten möglich? Wie können sie aussehen und für alle Beteiligten bereichernd und zufriedenstellend umgesetzt werden? In den meisten Beiträgen kommen sowohl Scheitern als auch Zweifeln und Ändern als Themen vor. Die Einordnung in eine dieser drei Rubriken erfolgt anhand der Gewichtung innerhalb der Artikel.

Teil eins: Scheitern

In dem Beitrag »Herumreflektieren reicht nicht« interviewt Daniel Holtermann Kim Posster und Blu Doppe, die die Schwierigkeiten und das Für und Wider pro_feministischer Praxis am Beispiel der Pro_feministischen Akademie betrachten. Weitere Themen des Gesprächs sind die immer wieder aufkommenden Leerstellen pro_feministischer Politiken, wie z.B. die Auseinandersetzung um sexualisierte/sexuelle Gewalt und die Frage: »Wo soll es eigentlich (gemeinsam) hingehen und wo stehen ›wir‹ mit der männlichkeitskritischen Praxis gerade?«.

Gabriel_Nox Koenig beschreibt im Beitrag »Vom Versuch, sich verbündet zu zeigen und eigene männliche Performance und männliche Privilegien zu sabotieren«, wie sich durch Geschlechternormen Macht im Leben von Menschen manifestiert. Gabriel_Nox gibt aber auch konkrete Hinweise für den Alltag, wie Männlichkeitsnormen gezielt sabotiert werden können.

Sebastian Schädler veranschaulicht in »n(ich)t … oder auch zu den Versuchen, sich als ›Mann‹ nicht ›vermännlichen‹ zu lassen« die jahrzehntelange Auseinandersetzung seines widersprüchlichen Strebens nach der (Nicht-)Existenz als männliches Subjekt. Dabei berücksichtigt er die persönliche, politische und pädagogische Dimension.

In »1001 Annahmen, die nicht meine waren« reflektiert Fikri Anıl Altıntaş aus einer biografischen cis-hetero Perspektive über die Anforderungen an Männlichkeit und das Zusammenspiel orientalistisch-rassistischer Erwartungshaltungen der weißen Mehrheitsgesellschaft sowie patriarchaler Gesellschaftsmuster, Vorstellungen von Intimität, Sexualität und Körperwahrnehmungen. Anhand persönlicher Erlebnisse zeigt er exemplarisch auf, durch welche Faktoren (Familie, Umfeld, Lebensabschnitt) Ansprüche an Sexualität einerseits und die Art und Weise, als Mann Frauen anzusprechen andererseits, verändert und reflektiert werden.

Kim Möhrs beschreibt in dem autobiografischen Beitrag »Geboren als ein Mensch, der zum Mann wird? Sexualität und Männlichkeit(en)* aus einer nicht-binären Perspektive« die Zusammenhänge zwischen Männlichkeitsanforderungen, Sexualität und eigenen sexualisierten Gewalterfahrungen. Der Artikel zeigt die Gewaltförmigkeit von Männlichkeitsanforderungen auf, Kims individuellen Umgang damit sowie gesellschaftliche Veränderungsbedarfe, um dieser Gewalt zu begegnen.

Teil zwei: Zweifeln

Der Beitrag von Blu Doppe »Wie, du trinkst nicht? Der Alkohol-(Nicht-) Konsum meines Lebens« fokussiert die Betrachtung von Alkohol als gesellschaftlich-kulturell-prägendem Bestandteil von Blus Leben und nimmt die Leser*innenschaft mit zu wichtigen Lebensstationen, die immer wieder verschränkt sind mit Alkohol und Männlichkeit(-sanforderungen).

In ihrem Artikel »Depression, who cares? Oder wie ich anfing meine Depression und Männlichkeit zusammenzudenken« spürt Ricci Eggemann den Zusammenhängen von Depression und Männlichkeitsanforderungen nach. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen, analysiert sie Depression im Geflecht von neoliberalen Selbstoptimierungsverhältnissen und ihre Verschränkung mit gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen. Im Vordergrund steht die Frage nach einem kollektiven, ent-individuali- sierten und ent-stigmatisierten[10] Umgang mit Depression.

Gustavo Hernández beschreibt in seinem Beitrag »Im Stuttgarter Schlossgarten: Schnittstelle von zwei Marginalisierungen« die Gleichzeitigkeit von zwei Diskriminierungsformen: Rassismus und →Homofeindlichkeit. Am eigenen und dem Beispiel Aládars verdeutlicht er, welchen Einfluss die doppelte Marginalisierung auf das Leben der beiden hat, und entwickelt Vorschläge zur Unterstützung von mehrfachdiskriminierten Menschen.

Das Thema von Hubert Gotz’s Beitrag »Gewaltbetroffenheit und Privilegien: (Un)mögliche Gleichzeitigkeiten?« sind männliche Privilegien und die gleichzeitige Betroffenheit von partnerschaftlicher Gewalt. Der Artikel zeichnet auf persönlicher Ebene den Aufarbeitungsprozess nach und beschreibt dabei die Herausforderungen sowie Lösungsansätze, die sich aufgrund einer kritischen Reflexion von Männlichkeiten gezeigt haben.

Bilke Schnibbe schreibt in dem Beitrag »Sprachlosigkeit – vom Streiten und Nicht-Streiten mit Männern, die gute Verbündete sein wollen« über die ambivalenten Auseinandersetzungen mit dem besten Freund und anderen Männern, die versuchen, das ›Richtige‹ zu machen, dabei aber immer wieder in die gleichen (schmerzhaften) Dynamiken verfallen und an ihren eigenen Ansprüchen scheitern.

Teil drei: Ändern

Ulla Wittenzellner nähert sich in ihrem Beitrag »Boy meets Girl – kritisches Vorwärtsstolpern in Heterobeziehungen« der Frage, welche Rolle (moderne) Männlichkeit und Weiblichkeit in Liebesbeziehungen spielen. Welche (neuen und gar nicht so neuen) Probleme und Spannungsverhältnisse ergeben sich aus ihnen? Und wie geht sie nun, die moderne, gleichberechtigte Beziehung?

In »Keine Sondertörtchen für Männlichkeit – Gedanken zu unseren Erfahrungen aus der transformativen Arbeit mit sexualisierter Gewalt ausübenden cis Männern« schreibt die Gruppe besser als nix über ihre Erfahrungen, die sie in drei Jahren transformativer Arbeit mit einem sexuell übergriffigen Mann gemacht hat. Besser als nix bezieht sich auf die Konzepte Community Accountability und Transformative Justice, beschreibt die Ebenen transformativer Arbeit, wertet ihren Prozess aus und versucht, diesen gesellschaftspolitisch einzuordnen, insbesondere in Bezug auf Männlichkeiten.

In dem Beitrag »Anti-patriarchale Lockerungsübungen – Ein Dialog zwischen zwei Aktiven der Theatergruppe Masculinities Lab (Berlin)« sprechen Till Baumann und Andreas Spading über ihre Erfahrungen in der patriarchatskritischen Forumtheatergruppe Masculinities Lab aus Berlin. Dabei beleuchten sie eigene Lernprozesse, schauen auf Dynamiken im Gruppenprozess und berichten von Ambivalenzen und Fragen, die ihnen bei der Arbeit auf der Bühne und in der Diskussion mit dem Publikum begegnet sind.

Sascha Verlan zeigt in »Ich sorge, also bin ich! – Care-Biografien fördern und wertschätzen, für alle Geschlechter« aus einer sehr persönlichen Perspektive die Ursachen für die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit auf. Dieser Prozess beginnt bereits in der Kindheit. Er zeigt, dass es für eine Veränderung vor allem Männer braucht, die bereit sind, ihren Teil der Sorgeverantwortung zu übernehmen.

In »Wenn man sich gegen herrschende Normen verändern will, braucht man Unterstützung« interviewt Inga Zimprich Andreas Hechler. Dabei geht es um seine Auseinandersetzung mit Männlichkeitsanforderungen sowie seine Erfahrungen mit Männer Radikale Therapie, Männerbewegung, den Männerrundbriefen und vielem mehr.

Den Abschluss des Sammelbandes bilden das Glossar und ein Verzeichnis der Autor*innen und Beteiligten.

Für die Unterstützungen, Anregungen, Diskussionen, Hinweise und Inspirationen während des Entstehungsprozesses des Sammelbandes möchten wir uns bei Jana Haskamp, Andreas Hechler, Yannik Markhof, Arvid Peschel, Bilke Schnibbe und Olaf Stuve von Herzen bedanken.

Wir wünschen euch viel Spaß bei der Lektüre und freuen uns auf Kritik, Reflexionen und anregende Diskussionen.

Blu Doppe und Daniel Holtermann (Berlin, Januar 2021)

Teil eins: Scheitern

Daniel Holtermann

»Herumreflektieren reicht nicht«

Gespräch mit Blu Doppe und Kim Posster über das Scheitern pro_feministischer Praxis

Blu Doppe beschäftigt sich seit neun Jahren mit dem Thema kritische Männlichkeiten und der Geschichte der → pro_feministischen[11] Männerbewegung, war Teil einer ›Kritischen Männlichkeiten‹ Gruppe, die sich fünf Jahre traf, und verdient den Lebensunterhalt u.a. mit (Online-)Workshops zu diesem Thema.

Kim Posster publiziert seit drei Jahren zur Notwendigkeit und den Fallstricken von pro_feministischer Politik, war an mehreren Versuchen der organisierten (Selbst-)Reflexion von Männlichkeiten beteiligt, die er mittlerweile als gescheitert bewertet, und unterhält mit anderen zusammen einen Blog zu »organisierter Männlichkeitskritik«.[12]

Beide trafen sich 2017 auf den selbstorganisierten Bildungstagen Pro_feministische Akademie und waren die folgenden Jahre Teil der Vorbereitungs-Gruppe.[13] Wegen inhaltlicher Differenzen stieg Kim 2019 aus der Organisation aus. Das Gespräch dreht sich um das Scheitern pro_feministischer Praxis am Beispiel der Pro_feministischen Akademie und wurde im April 2020 geführt und von Daniel Holtermann begleitet.

Daniel: Blu und Kim, ihr habt lange bei der Vorbereitung und Durchführung der Pro_feministischen Akademie mitgewirkt. Bevor wir zu der kritischen Auseinandersetzung mit der pro_feministischen Praxis dort kommen, brauchen wir noch ein paar Informationen über die Akademie. Blu kannst du das Konzept der Pro_feministischen Akademie umreißen?

Blu: Das Konzept der Pro_feministischen Akademie beinhaltet, dass Menschen sich ein paar Tage lang treffen und miteinander arbeiten. Dies findet meistens an Orten statt, die ein bisschen außerhalb liegen, also nicht in irgendwelchen Großstädten. Die Teilnehmenden verbringen die gesamte Zeit, meistens fünf Tage, zusammen und setzen sich mit feministischen und pro_feministischen Themen auseinander. Ursprünglich ist die Akademie aus einem gescheiterten Versuch einer Männergruppen-Gründung in Leipzig entstanden. Die Idee für so eine Form der Akademie ist angelehnt an Bildungsakademien aus der kurdischen Befreiungsbewegung. Es wird sehr viel in Kleingruppen miteinander gearbeitet und dann werden sogenannte Puzzleteile durchgeführt. Klassischerweise heißt das, dass ein Text zusammen gelesen und darüber anhand von Fragen diskutiert wird. Es gibt auch andere Auseinandersetzungsformen, wie zum Beispiel Körperarbeit, Open Spaces oder Großgruppendiskussionen. Es sind also selbstorganisierte Bildungstage. Das Besondere an dieser Akademie, die sich mit pro_feministischen Themen auseinandersetzt, ist, dass der Großteil der Teilnehmer*innen → cis-männlich ist.

Daniel: Welche Themen spielen in der Pro_feministischen Akademie eine Rolle?

Blu: Es gibt Puzzleteile zu verschiedensten Themen. Das Spektrum ist recht breit, damit die Teilnehmenden eine gute Auswahl haben und das machen können, was sie interessiert. Viele dieser Themen drehen sich explizit um Männlichkeiten. Es gibt Puzzleteile zu Emotionen und Maskulinität, zu Alkohol und Drogenkonsum, zur Auseinandersetzung um intime und sexuelle Gewalt[14], zu Trans*-Verbündetenschaft, zu verschiedenen Konzepten von Geschlecht, zu Sexualität, zu Beziehungsarbeit, zur Oberkörperfrei-Debatte, zu Elternschaft, auch ein Puzzleteil zu pro_feministischen Männergruppen. Am Anfang gibt es Einführungspuzzleteile, in denen die Teilnehmenden sich kennenlernen, ihre Arbeitsweise festlegen und sich politisch und gesellschaftlich positionieren.

Daniel: Sind die Themen der Pro_feministischen Akademie vorher festgelegt?

Blu: Die Themen sind eigentlich fest. Es gibt außerdem Open Spaces, in denen die Teilnehmenden natürlich ihre eigenen Themen einbringen können, was aber auch in der Freizeit zwischendurch passiert. Die Kleingruppen werden am Anfang anhand bestimmter Kriterien zusammengestellt und diese können auch die Themen sein, die sie bearbeiten wollen.

Daniel: Wie lange gibt es die Pro_feministischen Akademie?

Blu: Letztes Mal war es die sechste Akademie. 2015 wurde die erste durchgeführt. 2020 wäre also die siebte gewesen, die haben wir aber um ein Jahr wegen der Corona-Pandemie verschoben.

Daniel: Blu, auf der Akademie hast du Kim kennengelernt?

Blu: Ja. Bei meiner ersten Akademie 2017. Damals gab es unter anderem ein Workshop-Angebot von mir zum Zustimmungsprinzip. Ich gebe Workshops zu verschiedenen queer_feministischen Themen und ich habe dort einen zum Zustimmungsprinzip gegeben. Danach habe ich in einer Kleingruppe mitgemacht und Kim kennengelernt, was sehr sehr schön war. Die Erfahrungen in der Kleingruppe waren sehr intensiv, bereichernd, aber auch herausfordernd für mich. Als queere, nicht-binäre trans* Person war es für mich recht schwierig auf der Akademie, weil z.B. auf Pronomen nicht so viel wert gelegt und ich immer wieder in die Gruppe der Männer eingemeindet wurde. Ich mochte das Konzept, allerdings wollte ich auch gerne Dinge daran verändern. Kim hatte ebenso einige neue und spannende Ideen. So haben wir uns schon während der Akademie dazu entschieden, bei der nächsten Vorbereitung mitzuwirken.

Daniel: Kim wie bist du zur Pro_feministischen Akademie gekommen?

Kim: Ich hatte 2017 angefangen, mich intensiver mit Männerpolitik zu beschäftigen, und bin von einer Genossin angehauen worden, was darüber zu schreiben. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits einiges gelesen und mit anderen diskutiert, wie man an die Selbsterfahrungspraxis der zweiten Frauenbewegung aus männlicher Perspektive anschließen könnte und wo genau da Widersprüche lauern. Von der Pro_feministischen Akademie haben mir Genossinnen also Frauen, mit denen ich in einer politischen Gruppe war, erzählt.

Als ich Blu dort kennengelernt habe, war das für mich ein sehr aufregendes und schönes Erlebnis, weil ich damals das Gefühl hatte, dass es nur sehr wenige Leute gibt, die sich mit Pro_Feminismus tiefer beschäftigen, vor allem mit seiner Bewegungsgeschichte. Mit Blu hatte ich eine Person gefunden, die sich genau wie ich nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch die mögliche Zukunft von dieser Art Politik interessiert.

Daniel: Wann bist du bei der Pro_feministischen Akademie ausgestiegen?

Kim: Ich hab die letzte noch mit vorbereitet und bin danach raus.

Daniel: Was hat dich dazu bewegt?

Kim: Es geht für mich eher nicht darum, dass die Pro_feministischen Akademie als Einzelaktion alles falsch macht, sondern eher allgemeiner darum, die problematischen Tendenzen in dem ganzen Feld zu kritisieren, die die Akademie entweder reproduziert oder denen sie nicht viel entgegensetzen kann.

Ich beschäftige mich jetzt seit zweieinhalb bis drei Jahren ganz spezifisch mit pro_feministischer Politik und hab auch versucht, sie zu betreiben. Ich hatte z.B. zweieinhalb Jahre eine Gruppe in Leipzig mit ausschließlich Männern, am Anfang nur cis später dann auch trans* Männer, die auch mit Selbsterfahrungsbezug zum Thema Männlichkeit gearbeitet haben. Und in dieser Zeit habe ich nicht nur viele Erfahrungen der Frustration und des Scheiterns gemacht, sondern mich auch theoretisch weiter mit dem Thema auseinandergesetzt. Dabei sind die enormen Leerstellen und Probleme beim Thema Männlichkeit und Feminismus für mich schmerzhaft offensichtlich geworden und die sehe ich eben auch auf der Akademie.

Daniel: Welche Leerstellen bzw. problematischen Tendenzen sind das?

Kim: Mit das größte Problem bei pro_feministischer Politik ist, dass sie in der Form identitär und im Effekt männlichkeitsstabilisierend wirkt. Das heißt, dass Männer sich meistens eher für die Frage interessieren, wie sie noch Männer sein können, obwohl es feministische Kritik an Männlichkeit gibt, und nicht für die eigentliche Frage, wie sie an feministischer Kritik und Bewegung teilhaben und diese unterstützen können, obwohl sie Männer sind. Ich meine, wie sonst kommt man auf so einen Unfug wie das Label ›Kritische Männlichkeit‹ für die eigenen Ansätze?! In der Regel kreisen Männer im schlechten Sinne um sich selbst und versuchen eher, an ihrer alternativ-männlichen Identität herumzubasteln, als die eigene Gewordenheit in ihre politische Auseinandersetzung miteinzubeziehen und männliche Vergeschlechtlichung mit ihrer Analyse und Praxis zu vermitteln. So bleibt alles erstens individualistisch und läuft zweitens eher auf Reformismus oder sogar männliche Resouveränisierung als radikale Kritik raus. Das ist mir alles auch an mir und meiner eigenen Praxis in Leipzig aufgefallen. In meiner Gruppe z.B. haben wir unfassbar lange in uns und ›der Auseinandersetzung an sich‹ herumgestochert und sind meistens sehr unkonkret geblieben. Wir haben uns viel zu lang keine Rechenschaft darüber ablegt, warum wir überhaupt was, wie machen und haben nie kritisch genug gefragt, was uns da eigentlich so ins Schwimmen bringt.

Für all diese Tendenzen bietet die Pro_feministische Akademie viel zu viele Einfallstore. Konkreter: Männer können durchaus auf die Akademie kommen und diese so als Selbsterfahrungs- und Reflexionsurlaub nutzen, wo sie relativ konsequenzlos und breit in sich und verschiedenen Themen rumstochern. Und im schlimmsten Fall gehen sie am Ende mit dem Gefühl raus, dass sie zu ›den Guten‹ gehören und immunisieren sich so gegen wirkliche Kritik.

Daniel: Welche Rolle spielt denn dann männliche Identität für die Auseinandersetzung und siehst du da Unterschiede, z.B. zwischen trans* und cis Männern?

Kim: Ich werfe niemandem vor, ein Mann geworden zu sein. Trans* Männer haben sich das genauso wenig ausgesucht wie ich und andere cis Typen. Trotzdem ist das Begehren, ein Mann zu sein, unhintergehbar patriarchal. Die Differenzen zwischen Männern anzuerkennen und sich mit Männern zu solidarisieren, die als z.B. schwul und/oder trans* diskriminiert werden, steht in keinem Widerspruch zu dieser Erkenntnis. Männer sind trotz aller Unterschiede zwischen ihnen auch einfach Männer und müssen auch als solche zur Kritik stehen. Für Pro_Feminismus, wie ich ihn verstehe, heißt das: wenn Männer sich nur darauf einlassen, wenn ihre männliche Identität darin erhalten oder sogar gestärkt wird, kann das nichts werden.

Männliche Identität als nicht nur biografischer, sondern auch gesellschaftlicher Skandal – sollte stattdessen kritisch zum Anstoß für eine Auseinandersetzung genommen werden, statt damit seinen Frieden zu schließen. Dieses individualistische ›Ich und meine Männlichkeit‹ hat ja auch was mit einem spätkapitalistischen Herrschaftsmodus zu tun, der ebenfalls kritisiert gehört. Dass die Subjekte tief in sich drin nach sich selbst suchen sollen, um sich zu verwirklichen, betrifft mittlerweile auch Männer. Jeder soll seine eigene Version von Männlichkeit entwickeln. Linke machen das dann halt vermeintlich diskriminierungssensibel hin zu einer ›kritischen‹ oder ›nicht-toxischen‹ Männlichkeit. Das hat bestimmt nicht immer nur schlechte Effekte, aber mit radikaler Kritik am Patriarchat und seiner Männlichkeit hat das wenig zu tun.

Selbsterfahrungsprozesse z.B. werden dann nicht mehr wie in der zweiten Frauenbewegung als Teil von Theoriebildung gesehen, wo es einerseits zwar darum geht, eigene Erfahrungen zu betrachten und diese als Besonderes ernst zu nehmen, was Typen eher selten tun, aber andererseits auch darum, von der Erfahrung auch zu abstrahieren und sie mit Gesellschaftskritik zu vermitteln. Beides passiert nicht, wenn Theorie ausschließlich als biographisches Deutungsmuster für das eigene Verhalten gebraucht wird. Wenn das so unvermittelt bleibt, wird es furchtbar innerlicher Selbstverwirklichungsquatsch, der praktisch oft konsequenzlos bleibt und Männlichkeit nicht kritisiert, sondern sogar stabilisieren kann.

Daniel: Blu, kannst du die Kritik teilen oder hast du eine andere Position dazu?

Blu: Ich kann die Kritik nachvollziehen und ich kenne sie ja bereits. Die Kritik ist für mich quasi ein alter Hut. Ich ziehe daraus aber andere Schlüsse. Und das ist dann das, woran Kim und ich uns so reiben. Wir haben uns länger sowohl in vielen Gesprächen zu zweit aber auch in der Vorbereitungsgruppe damit auseinandergesetzt. Für mich überwiegen trotz der Kritik die positiven Aspekte der Akademie, weshalb ich weiter an der Vorbereitung mitwirke. Ich sehe, dass dort viele verschiedene Menschen hinkommen, die sich erstmal sehr individuell in diesen Kleingruppen auseinandersetzen. Das gibt das Konzept so vor. Diese Auseinandersetzung findet allerdings nicht alleine statt, sondern im Kollektiv. Die Akademie sticht für mich in den Angeboten der linken Szene als etwas heraus, was ich erhalten möchte, weil sich Menschen hier nicht nur zwei Stunden während eines Vortrags oder Ähnlichem mit diesen Themen auseinandersetzen, sondern fünf Tage lang am Stück. Für mich stellt das eine nachhaltige, intensive Auseinandersetzung dar, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Teilnehmenden haben kann, wenn sie wieder in ihren Alltag zurückkehren. Wir haben beispielsweise Kritik-Runden und eine Emo-Care-Gruppe etabliert, weil wir diese Aspekte neben anderen als sehr wichtig erachten. Und wir probieren, den verschiedenen individualistischen Tendenzen, die wir beobachtet haben, entgegenzutreten und sie anzusprechen. Ich sehe es so: Auch wenn da Männer hinkommen und nur an ihrer Identität arbeiten, sich reflektieren und dadurch ein bisschen weniger Scheiß passiert, sehe ich es als einen guten Schritt an.

Wir sind immer wieder daran gescheitert, dass sich die Teilnehmenden vernetzen. Vielleicht ist es auch das falsche Konzept, wenn Menschen aus ganz Deutschland zusammenkommen. Ich sehe allerdings, dass daraus lokale Strukturen, die sich vielleicht ebenfalls wieder kritisieren lassen, entstanden sind. Viele Männer sind sonst mit diesen Themen oft vereinzelt und finden hier dann andere Vereinzelte. Wir werden in der nächsten Akademie bestimmte Kritikpunkte aufgreifen, die in der Auseinandersetzung immer wieder aufgekommen sind. Es soll zum Beispiel einen Vortrag von Kim geben, der gerade diese individualistischen Tendenzen und Konstruktionen von alternativen Männlichkeiten kritisiert. Wir versuchen also, aus der Kritik zu lernen.

Daniel: Blu, würdest du sagen, dass durch die Pro_feministische Akademie männliche Identität verstärkt wird?

Blu: Hmm. Teilweise. Es gibt oft ein Suchen unter Männern nach alternativen Formen oder Identitäten von Männlichkeiten. Das ist etwas Spannendes bei der kritischen Auseinandersetzung um Männlichkeiten. Diese Suchbewegung gibt es bei allen möglichen Privilegierten, wenn sie sich mit Diskriminierungs- und Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzen. Die Suche nach der ›guten‹, privilegierten Position. Diese verschiedene alternative Männlichkeiten gibt es zuhauf und die werden auch in der Linken aufgerufen. Wobei es dort um andere Idealtypen und Erwartungen geht, und um die Konkurrenz welche besser oder schlechter sind. Das beobachten wir auch auf der Akademie. Meines Erachtens lässt es sich nicht verhindern. Das ist durchaus schon kritisiert worden. Wir arbeiten daran und kritisieren es kontinuierlich. Die Fragen sind doch: Warum versammeln wir uns hier eigentlich? Warum liegt dabei wieder der Fokus auf der positiven männlichen Identität? Womit wird sich aber gerade nicht auseinandergesetzt? Welche Themen werden umgegangen? Und wie gehen wir damit um, dass das durch die Themenwahl möglich ist?

Kim: Ich sehe natürlich, dass versucht wurde, die Kritik und die Diskussionen aufzunehmen. Aber ich glaube, es ist Selbstbetrug, zu hoffen, dass diese Art von Selbstkritik an der eigenen Form in der Pro_feministischen Akademie so aufgenommen werden kann, dass die genannten Tendenzen sich nicht trotzdem durchsetzen. Ich würde dann eher das ganze Konzept ändern.

Außerdem bin ich nicht einverstanden mit dieser ›Politik des Immerhin‹ von dir, Blu. Ich sehe auf jeden Fall, dass es sinnvoll sein kann, die Priorität darauf zu setzen, dass Männer sich anders verhalten, auch wenn sie das vielleicht aus ›falschen‹ Gründen tun. Gerade für die Betroffenen von männlicher Gewalt ist es total legitim, diese Strategie zu verfolgen. Aber für mich aus einer männlichkeitskritischen Perspektive darf es nicht darum gehen, Männer zu überzeugen, indem man ihnen z.B. vorrechnet, was ihnen der → Feminismus persönlich alles so bringt. Damit wird immer stillschweigend akzeptiert, dass feministische Politik und männlichkeitskritische Auseinandersetzung für die meisten Männer eine Geschmacksfrage ist. Vor allem in der Szene gibt es zwar einen gewissen feministischen Common Sense, den Männer erfüllen müssen, um nicht zu sehr unter Druck zu geraten, aber mehr passiert meistens nicht. Das müsste man eigentlich skandalisieren, statt sich so viel Gedanken darüber zu machen, wie man Typen möglichst gute Angebote macht.

Ich halte es mittlerweile für weit sinnvoller, konfrontativer zu werden und Auseinandersetzungen einzufordern, weil, das hatte Blu ja auch schon erwähnt, man bei bestimmten Themen Männer immer wieder bitten und einladen kann, aber einfach nichts von alleine passiert. Beim Thema sexuelle Gewalt ist das, meiner Erfahrung nach, ganz extrem so. Meine Gruppe in Leipzig ist dieses Thema auch nicht von sich aus angegangen, obwohl an einer Stelle klar wurde, dass wir mindestens einen Mann in der Gruppe haben, der sehr konkrete Erfahrungen mit Täterschaft hatte, die er sogar selbst als ungeklärt empfunden hat. Auf der Pro_feministischen Akademie sind die Puzzleteile, die wir letztes Jahr zu dem Thema neu erstellt haben, nicht genutzt worden. Und im Puzzleteil zu Sexualität, das ich mit erstellt habe, ging es fast nur um recht offene Selbsterfahrungsfragen, die höchstens Andeutungen in Richtung gewaltvolle Sexualität und sexuelle Gewalt beinhalteten, aber ›irgendwie‹ ist das Thema Gewalt dabei völlig unter den Tisch gefallen. Und das ist kein Zufall.

Deshalb, finde ich dieses ›Immerhin‹, diesen Optimismus im Kleinen, oft falsch und verdächtig, weil er häufig eigentlich ein Zeugnis von Ohnmacht und Resignation in Bezug auf das große Ganze ist und viele Missstände gar nicht mehr gesehen oder skandalisiert werden.

Daniel: Würdest du sagen, dass sich die meisten Männer vor der Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt drücken?

Kim: Zu hundert Prozent. Das ist eine Auseinandersetzung, die auch an mich persönlich immer wieder herangetragen werden musste. Ich musste auch konfrontiert werden von Genossinnen, warum es mir so unglaublich schwerfällt, eine Haltung zu entwickeln oder überhaupt ein anderes Gefühl als Ambivalenz und Verunsicherung zu empfinden, wenn andere Männer mit Täterschaft konfrontiert werden. Ein Beispiel aus der Geschichte, das mir in letzter Zeit immer wieder einfällt, ist, dass relevante Teile der pro_feministischen Männerbewegung in der BRD, die Männerplena, daraus entstanden, dass die Typen von den Frauen aus dem Plenum bzw. dem Autonomen Zentrum geschmissen wurden. Genau wie heute war sexuelle Gewalt von Typen auch in der Szene weit verbreitet und die Frauen haben zu denen gesagt: Solange ihr kein Verhältnis und keine Praxis dazu habt, seid ihr gar nicht in der Lage, Politik mit uns zu machen. Diese Konstellation hat sich leider wieder total gedreht. Jetzt dominieren wieder Männer die ›allgemeinen‹ politischen Räume und die → FLINTA*Personen müssen sich Schutzräume suchen, um Antisexismus als Elendsverwaltung in den Nischen, die sie noch finden, zu betreiben. Mit diesem Zustand haben die meisten Typen ihren Frieden geschlossen, und dass die das überhaupt können, hat etwas mit Kräfteverhältnissen auch innerhalb der Linken zu tun.

Daniel: Blu, würdest du sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema sexualisierte Gewalt auf der Pro_feministischen Akademie nicht stattfindet?

Blu: Kim hat das ja eigentlich schon beantwortet. Es gab seit der letzten Akademie diese Puzzleteile zu dem Thema. Ich würde auch sagen, dass das Thema auf der Pro_feministischen Akademie nicht verhandelt wird und Leute sich davor scheuen. Ich empfinde es so, dass es nicht nur in der Linken eine Scheu vor dem Thema gibt, sondern es auch ein großes gesamtgesellschaftlich Tabu ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Aber in der Linken oder in der pro_feministischen Linken gibt es zumindest den Anspruch, sich damit zu beschäftigen. Auf den Akademien ist uns aufgefallen, dass bestimmte Themen immer wieder eher ausgespart werden. Auch Themen wie das Verhältnis zwischen → Geschlecht und Kapitalismus oder Alkohol und Drogenkonsum. Ich stimme da Kim zu, dass viel damit zusammenhängt, welche Angebote überhaupt gemacht werden. Aber für mich ist auch die Frage, wie in linken, basisdemokratischen Strukturen überhaupt der Druck aufgebaut werden kann, sich damit auseinanderzusetzen. Es geht dann meistens vielen pro_feministischen Männern doch wieder darum, sich gut einzurichten in den Verhältnissen, während die Kritik von FLINTA* (an ihnen) abprallt oder weggewischt wird. Sie muss wieder und wieder angebracht werden. Und da sticht der Kampf um das Thema sexualisierte Gewalt als sehr sehr mühsamer immer wieder heraus. Viele interessieren sich nicht dafür.

Daniel: Kim hat auf die Leerstellen bei der Auseinandersetzung von Männern mit sexualisierter Gewalt aufmerksam gemacht. Blu, kannst du noch andere Themen nennen, die auf der Akademie eher selten vorkommen?

Blu: Letztes Mal ist uns aufgefallen, dass ein neu erstelltes Puzzleteil über verschiedene analytische Begriffe von Geschlecht von allen Gruppen, außer einer Gruppe in der nur trans* Personen waren, nicht bearbeitet wurde. Das macht mich nachdenklich. Als wenn für die anderen Gruppen das Thema zu einfach, nicht so wichtig und schon fertig durchdacht wäre. Außerdem haben wir für den Einstieg ein Puzzleteil zu (Selbst-)Positionierungen etabliert, das obligatorisch durchgeführt werden soll, um sich kennenzulernen und mitzubekommen, mit wem die Teilnehmenden die nächsten Tage in der Gruppe reden. In den Zwiegesprächen ist uns dann aufgefallen, dass eine cis Männergruppe dieses Puzzleteil komplett übersprungen hat, weil sie Zeit sparen wollte, während eine andere Gruppe nur kurz darüber geredet hat, auf welchen Machtachsen sie diskriminiert werden, aber nicht darüber, wo sie → privilegiert sind. Dazu haben sie aber auch nicht weiter gearbeitet.

Ich beobachte das in Männergruppen oder Kritischen-Männlichkeiten-Gruppen als eine immer wiederkehrende Tendenz. Es dreht sich viel darum, wo es einem schlecht geht, wo mensch diskriminiert wird. Dabei fällt ständig weg: Wo bin ich eigentlich privilegiert? Wo habe ich Macht? Wo könnte ich handeln? Wie kann ich mich organisieren?

Die Selbstauseinandersetzung mit andern Leuten steht also häufig im Mittelpunkt, aber nicht mehr die Außenwirkung und die Vernetzungsarbeit. Wobei natürlich die Frage ist, mit wem vernetze ich mich überhaupt und warum? Wie finde ich andere Gruppen und Zusammenhänge, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen wollen?

Kim: Na ja! Es wird aber auch nicht unbedingt besser, wenn Privilegien anerkannt werden. Ich bin mittlerweile äußerst genervt von Typen, die fast schon rituell voranstellen, dass sie ›privilegierte, weiße, cis Männer‹ sind, und danach kommt genau nichts. Es bleibt oft vollkommen unklar, wie Herrschaftsverhältnisse in der Situation oder bei einem selbst konkret werden. So verlässt das Gesagte selten die Ebene eines moralischen Bekenntnisses. Und das ist dann nicht die Vorstufe, sondern der schlechte Ersatz für den Prozess, dass Männer konkret an sich heranlassen oder theoretisch durchdringen, wie sie in Herrschaftsverhältnissen handeln und diese reproduzieren.

Blu: Aber genau das machen wir auf der Akademie anders. Deine Kritik daran formuliert die Akademie genauso. Auch nochmal auf dein Anraten. Das weißt du, Kim. Diese Verhältnisse eben mit konkreten biografischen Anteilen zu vermitteln und darüber zu reden. Genauso wie die Frage, was macht das mit mir? Es soll in dem Puzzleteil nicht darum gehen, die zehn Punkte, in denen ich privilegiert oder deprivilegiert bin, abzuhaken und runterzurattern und sich von jeder Kritik freizumachen oder es nur zu sagen, weil es dazugehört. Sondern es geht uns darum, sich darüber kennenzulernen, dem ganzen Raum und Zeit zu geben und sich zu fragen, was das für das eigene Leben in dieser Gesellschaft und das politischen Handeln bedeutet.

Kim: Ich gebe gern zu, dass das auf der Akademie sehr viel besser läuft als an vielen andern Stellen. Trotzdem: Ich hätte das lieber themenbezogen und konkret verhandelt, als das ›Terrain‹ zu Beginn vorwegnehmend abzustecken.

Zu der Vernetzungsfrage wollte ich noch sagen: Es gibt zwar das Problem, dass es wenig Angebote und wenig Vernetzung gibt, aber anderseits kann ich aus Leipzig berichten, dass es nicht nur daran scheitert. Wir hatten hier z.B. versucht, an die Männlichkeitscafés aus der pro_feministischen Männerbewegung anzuschließen. Die Idee war, dass Leute, die idealerweise sowieso in anderen Gruppen organisiert sind, sich darüber unterhalten, wie man damit umgeht, dass man Männer in der Gruppe hat und/oder selbst ein Mann ist, aber einen feministischen Anspruch hat.

Zu diesen Cafés ist fast niemand gekommen. Am Anfang dachten wir, dass wir nur zu wenig Werbung gemacht haben, aber dann habe ich mit einem Genossen zusammen einen Vortrag über die Notwendigkeit von pro_feministischer Politik gehalten. Vor 150 Leuten! Und ganz viele Männer im Publikum fanden das ganz toll und wichtig, was wir gesagt haben. Zum nächsten Café kamen dann aber nur zwei Menschen: Beides cis Frauen. Danach bin ich auch ausgestiegen…

Und deshalb find ich es manchmal fast zynisch, wenn – wie zur Zeit nach den Vorfällen von Monis Rache[15] – gefühlt die Hälfte aller linken Typen auf den Beinen ist und sich plötzlich vernetzen wollen und total die Notwendigkeit sehen, ›jetzt endlich mal was zu machen‹. Mir ist schon klar, dass die meisten in ihrer Biografie so etwas wie ›Erweckungserlebnisse‹ haben, bei denen ihnen etwas wie Schuppen von den Augen fällt und sie etwas erkennen, das sie vorher nie gesehen haben. Aber mein Vertrauen, dass aus diesen Impulsen etwas Konkretes und vor allem Langfristiges wird, hält sich stark in Grenzen.

Blu: Das kann ich gut nachvollziehen. Ich beobachte das schon länger bei kritischen Männergruppen. Und frage mich dann: Wie lang ist wohl die Halbwertszeit von diesen Gruppen? Zumeist höchstens ein Jahr. Wenn sich Männer denn überhaupt mal organisieren … Denn wie viele wollen überhaupt bei so einer Gruppe mitmachen? Wer organisiert die Gruppe oder startet sie? Die Gruppen kommen deshalb oft gar nicht erst zustande. Und ich finde schon, dass es mal mehr und mal weniger Angebote gibt. Ich glaube, viele Männer fragen sich am Anfang erstmal: Wo finde ich solche Angebote oder solch eine Gruppe? Wo kann ich zu dem Thema überhaupt was machen? Oft sind sie eher vereinzelt. Da sind in den letzten Jahren aber mehr Angebote entstanden. Die Fragen aber bleiben: Wie lange halten diese Organisierungen? Und warum sind sie oft nur so kurzlebig?

Ich muss Kim in diesem Punkt zustimmen: Es gibt die beschriebenen Aufschreie oder Skandale in der Szene, sowas wie: »Oha, sowas gibt es? Krass, da müssen wir jetzt was tun!«. Aber dieser Impuls, dieser Aktionismus wird wahrscheinlich, nach meiner Erfahrung, ziemlich schnell wieder einschlafen und verpuffen. Nur die Betroffen werden weiter dranbleiben.

Ich habe das immer wieder beobachtet. Ich kenne es von vielen Leuten, die mehrmals versucht haben, Gruppen zu starten und irgendwas auf die Beine zu stellen. Kurzfristige Sachen laufen ganz gut, also z.B. einen Vortrag oder Workshop organisieren oder daran teilnehmen. Wenn es allerdings um eine längere Auseinandersetzung mit dem Thema geht, vielleicht sogar in einer eigenen Gruppe – auch wenn es daran natürlich berechtigte Kritik gibt –, bei so nachhaltigen Sachen also, sehe ich, dass Menschen ziemlich schnell nicht mehr kommen. Und die Gruppen zerfleddern ziemlich schnell wieder oder die Arbeit bleibt an bestimmten Leuten hängen, die das Ganze leiten und super viel Energie reinstecken müssen, damit die Gruppe überhaupt weiterläuft und existiert. Und dann kommen bei vielen meist ganz schnell so Sprüche wie: »Oh, ich habe doch gemerkt, dass ich ganz viel andere Themen in meinem Leben habe und das passt jetzt nicht mehr so gut rein«, was glaube ich daran liegt, dass diese Auseinandersetzung nicht so gut ›genutzt‹ werden kann. Es bringt vielleicht ein bisschen Anerkennung, wenn du sagen kannst, dass du in so einer Gruppe bist, aber es bringt nicht allzu viel ›Szene Credibility‹ und vor allem ist die Auseinandersetzung anstrengend und wird, denke ich, auch deshalb wieder sein gelassen. Das führt bei sehr vielen Menschen zu viel Frustration und Resignation.

Kim: Sehe ich auch so, aber mittlerweile würde ich schon hinterfragen, woher überhaupt das Bedürfnis kommt, Pro_Feminismus und Männlichkeitskritik immer als Extrawurst haben zu wollen? Meine Ex-Gruppe hier in Leipzig z.B. war nicht nur mit herumstochernder Nabelschau beschäftigt, sondern wir sind fast die komplette Zeit unfassbar rumgeeiert in einer ständigen Suche nach einer eigenen Position, eigener Praxis und eigenen Standpunkten. Das geht ja den meisten Typen so: Sobald Männlichkeit mal kritisch zum Thema wird, können sie plötzlich nichts mehr anfangen mit sich, Politik und allen anderen Themen, von denen sie doch angeblich immer so viel Ahnung haben. Statt diese Verunsicherung zu reflektieren, machen Typen es sich allzu oft darin gemütlich und werden so wieder unangreifbar. Deshalb bin ich mittlerweile bei der Position, dass ich eigene Gruppen nicht für sinnvoll halte, wenn diese nicht ganz konkrete Anliegen und eine darüber vermittelte Praxis haben. Meistens ist es sowieso besser, wenn Männlichkeitskritik und Pro_Feminismus in allen politischen Organisationen mitlaufen. Ich kann z.B. in jeder politischen Gruppe, in der auch Typen sind, getrennte Plena einführen, bei denen ich mit den anderen Typen über männerbündische Strukturen, Sorgearbeitsverhältnisse und natürlich Täterschaft in der eigenen Gruppe spreche.

Dafür braucht es Konzepte, Erfahrung und Vernetzung. Aber gerade weil ich da selbst so viel falsch gemacht habe, halte ich nichts mehr vom Konzept ›Wir tun uns erstmal zusammen mit anderen, die sich auch irgendwie für das Thema Männlichkeit interessieren und dann schauen wir mal, was so dabei rumkommt‹. Dafür gibt es einfach viel zu konkrete Probleme und eine sehr konkrete Praxis, die stattdessen ohne riesige Strukturarbeit gemacht werden könnte. Wenn man damit anfängt, kommt man schon in Widersprüche und in diesen Widersprüchen wird man sowieso gezwungen, eine Position und Praxis zu finden. Wenn das dann scheitert, hat das auch höchstwahrscheinlich etwas mit dem Thema zu tun und daraus kann man dann wieder lernen.

Du bist ja auch in so einer Gruppe, Blu. Wie siehst du das denn? Wenn ich ein bisschen überspitze, würde ich sagen, das Wichtigste, was ich aus meinen zweieinhalb Jahren in dieser Gruppe in Leipzig gelernt habe, ist, was alles schiefgehen kann, was ich nicht mehr so machen will und was ich bei anderen Männern und Männergruppen für problematische Tendenzen sehe.

Blu: