Vom Wandern - H. D. Thoreau - E-Book

Vom Wandern E-Book

H. D. Thoreau

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Beschreibung

Für Thoreau ist Wandern immer auch ein Weg zu sich selbst: »Wenn du dir tatsächlich Bewegung beschaffen willst, dann suche nach den Quellen des Lebens.« Über seinen Essay Vom Wandern sagte Thoreau, er sei das Fundament für alles, was er danach schrieb. Ein unsterbliches Plädoyer, ausgetretene Pfade zu verlassen und den ersten Schritt zu machen in ein selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der Natur.

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Henry David Thoreau

Vom Wandern

Aus dem amerikanischen Englisch von Heiner Feldhoff

Kampa

Ich möchte meine Stimme für die Natur erheben, für absolute Freiheit und Wildheit, im Gegensatz zu den Freiheiten, wie sie uns die bürgerliche Kultur zubilligt. Für mich ist der Mensch Bewohner und Teil der Natur und nicht bloßes Mitglied der Gesellschaft. Ich möchte eine radikal andere Sicht der Dinge darlegen, und dies so emphatisch wie mir möglich, denn an Befürwortern mangelt es der Zivilisation ja nicht: Darum kümmern sich schon der Pfarrer, das Schulkomitee und ein jeder von euch.

 

Im Laufe meines Lebens habe ich nur ein oder zwei Personen getroffen, die die Kunst zu gehen, zu wandern wirklich beherrschten, die sozusagen eine Begabung zum sauntering, zum Schlendern, besaßen, ein Wort, das wunderbar abgeleitet ist von »müßigen Menschen, die im Mittelalter übers Land zogen und um Almosen baten unter dem Vorwand, sie gingen à la Sainte Terre«, zum Heiligen Land, bis die Kinder riefen: »Da geht ein Sainte-Terrer«; ein Saunterer, ein Heiligländer. Wer, entgegen eigener Behauptung, niemals zum Heiligen Land unterwegs ist, muss tatsächlich als bloßer Müßiggänger und Vagabund gelten; nur wer ernsthaft dorthinzuwandern gedenkt, ist ein »Schlenderer« im guten Sinne des Wortes, wie ich es verstehe. Es gibt auch Leute, die das Wort von sans terre, ohne Land oder Zuhause, ableiten, was (wiederum im guten Sinne) bedeutet: kein bestimmtes Zuhause zu haben, überall zu Hause zu sein. Denn darin liegt ja das Geheimnis des Wanderns. Wer die ganze Zeit in der Stube hockt, kann der größte Vagabund sein; der schlendernde Wanderer aber treibt sich nicht mehr herum als ein munterer Fluss, der mäandernd den kürzesten Weg zum Meer sucht. Mir persönlich scheint die erste Erklärung die richtigere zu sein. Jede Wanderung ist ja eine Art von Kreuzzug, zu dem uns irgendein innerer Peter der Einsiedler aufruft, nämlich: loszugehen und dieses Heilige Land von den Ungläubigen zurückzuerobern.

Ja, Kreuzfahrer sind auch wir, aber ach: wie kleinmütig und zaghaft! Wer nimmt denn noch Risiken auf sich, wer beginnt eine Wanderung, ohne zu wissen, wann sie endet? Wir muten uns doch höchstens kleine Ausflüge zu, die am Abend dort enden, wo wir losgegangen sind: am häuslichen Herd. Mithin besteht schon eine Hälfte der Wanderung darin, unsere Schritte zurückzulenken. Stattdessen sollten wir immer weiter gehen, selbst auf der kürzesten Wanderung, mit der Einstellung, vielleicht niemals zurückzukehren; wir sollten bereit sein, uns in ein unsterbliches Abenteuer zu verlieren, aus dem lediglich unsere einbalsamierten Herzen als Reliquien in unsere verlassenen Königreiche zurückgesandt werden. Wenn du bereit bist, Vater und Mutter zu verlassen, Bruder und Schwester, Frau und Kind und deine Freunde, sie niemals wiederzusehen – wenn du deine Schulden bezahlt, dein Testament gemacht, alle deine Angelegenheiten geregelt hast und ein freier Mensch bist – dann bist du bereit zu wandern.

Um von meinen eigenen Erfahrungen zu sprechen, so haben wir, mein Weggefährte und ich (denn manchmal habe ich einen Begleiter), Freude daran, uns vorzustellen, wir seien Ritter eines neuen, oder besser: eines sehr alten Ordens. Natürlich denken wir dabei nicht an Equites oder Chevaliers, nicht an Ritter oder Riders, sondern an Wanderer, eine noch ältere und ehrwürdigere Klasse, wie ich glaube. Das Ritterliche und Heldenhafte, das den früheren Rittern eigen war, scheint nunmehr dem Wanderer zugefallen zu sein; gab es vormals den fahrenden Ritter, so haben wir es heute mit dem fahrenden Wanderer zu tun, der so etwas wie ein vierter Stand ist, außerhalb von Kirche, Staat und Volk.

Wir haben den Eindruck gewonnen, dass wir in dieser Gegend die Einzigen sind, die diese edle Kunst ausüben; dennoch würden, um die Wahrheit zu sagen, die meisten unserer Stadtbewohner, soweit man ihren Worten Glauben schenken darf, gern von Zeit zu Zeit wandern, so wie ich es tue – aber sie können es nicht. Alles Geld dieser Welt reicht nicht aus, um die unverzichtbare Muße, Freiheit und Unabhängigkeit zu erwerben, die das Kapital für diese Tätigkeit sind. Allein die Gnade Gottes kann es uns schenken. Es bedarf einer unmittelbaren Fügung des Himmels, ein Wanderer zu werden. Du musst in die Familie der Wanderer hineingeboren werden. Ambulator nascitur, non fit [Als Spaziergänger wird man geboren, werden kann man es nicht]. Einige meiner Mitbürger können sich zwar noch lebhaft an Wanderungen erinnern, die sie vor zehn Jahren gemacht haben. Aus ihren Beschreibungen spüre ich, wie selig sie waren, sich für nur eine halbe Stunde in den Wäldern zu verlieren; seither freilich, das weiß ich genau, haben sie doch lieber die Landstraße genommen, auch wenn sie immer noch behaupten, zu jenen Auserwählten zu gehören. Zweifellos waren sie für einen Augenblick herausgehoben, indem sie sich an ein früheres Stadium ihres Seins erinnerten, als sie selbst Waldmenschen und Gesetzlose waren.

»Als er kam zum grünen Wald

Eines frohen Morgens,

Hörte er die Stimmen zart

Froher Vögel singen.

 

Lange bin, so sagte Robyn,

Ich nicht hier gewesen.

Jetzt hätt ich nicht übel Lust, ein

Braunes Reh zu schießen.«

[A Lytell Geste of Robyn Hode]

Ich bin davon überzeugt, dass ich meine Gesundheit und meine Lebensgeister nicht erhalten kann, wenn ich nicht wenigstens vier Stunden am Tag – für gewöhnlich sind es mehr – durch die Wälder und über die Hügel und Felder streife, vollkommen frei von allen weltlichen Verpflichtungen. Man wird mir sicher sagen: Einen Penny für deine Gedanken oder tausend Pfund. Wenn ich manchmal daran erinnert werde, wie viele Handwerker und Geschäftsleute nicht nur den ganzen Morgen, sondern auch den ganzen Nachmittag in ihren Läden hocken – mit überkreuzten Beinen, als ob sie damit nur sitzen und nicht stehen oder wandern könnten –, so denke ich, dass sie alle Hochachtung verdienen, nicht längst Selbstmord begangen zu haben.

Ich selbst kann nicht einen einzigen Tag in meinem Zimmer bleiben, ohne Rost anzusetzen, und wenn ich mich manchmal erst in der elften Stunde oder um vier Uhr nachmittags zu einer Wanderung fortstahl – zu spät, um den Tag zurückzugewinnen, da die Schatten der Nacht sich bereits mit dem Tageslicht zu vermischen begannen –, dann fühlte ich mich, als hätte ich eine Sünde begangen, für die ich büßen müsste. Meine Nachbarn besitzen eine so gewaltige Ausdauer und seelische Stumpfheit, sich über Tage, Wochen, Monate, selbst Jahre an ihre Läden und Büros zu ketten, dass ich nur staunen kann. Ich weiß nicht, aus welcher Substanz sie geschaffen sind, dass sie es fertigbringen, um drei Uhr nachmittags genauso dazusitzen wie um drei Uhr früh. Napoleon mag von der Drei-Uhr-früh-Tapferkeit sprechen, aber die ist nichts im Vergleich zu der Tapferkeit, die man braucht, um sich zu dieser Nachmittagsstunde heiter hinzusetzen und dem eigenen Ich zuzugesellen, mit dem man es doch schon den ganzen Morgen zu tun gehabt hat, um eine Garnison auszuhungern, mit der man doch in enger Zuneigung verbunden ist. Es wundert mich, dass um diese Zeit – gegen vier oder fünf Uhr nachmittags, wenn es zu spät ist für die Morgenzeitung und noch zu früh für das Abendblatt – auf den Straßen keine große Explosion zu hören ist, die eine Unzahl altmodischer und verschrobener Ideen in alle vier Winde verstreut, damit das Übel an der frischen Luft sich selbst kuriere.

Wie die Frauen, die ja noch mehr ans Haus gebunden sind als die Männer, dies überstehen, weiß ich nicht. Aber ich habe Grund zu der Annahme, dass die meisten von ihnen es eigentlich gar nicht überstehen. Wenn wir an einem frühen Sommernachmittag den Staub des Ortes aus unserer Kleidung geschüttelt haben und an den Häusern vorbeieilen, die mit ihren rein dorischen oder gotischen Fassaden so viel Ruhe ausstrahlen, dann flüstert mir mein Weggefährte zu, dass die Bewohner dieser Häuser wahrscheinlich schon zu Bett gegangen sind, und ich genieße die Schönheit und Pracht der Architektur, die sich selbst niemals ins Innere zurückzieht, sondern immerdar draußen aufrecht steht und über die Schlummernden wacht.

Kein Zweifel: Temperament und vor allem das Alter haben viel damit zu tun. Wenn ein Mann älter wird, wächst seine Fähigkeit, still zu sitzen und einer Tätigkeit innerhalb des Hauses nachzugehen. Da sich der Lebensabend nähert, wird er in seinen Gewohnheiten zu einem Abendmenschen, bis er schließlich nur noch vor Sonnenuntergang das Haus verlässt und die nötigsten Gänge in einer halben Stunde erledigt.

Das Wandern jedoch, von dem ich spreche, hat nichts gemein mit einem Sich-Bewegung-Verschaffen, wie es genannt wird – so wie Kranke ihre Medizin zu festgesetzten Zeiten nehmen, wie das Schwingen von Hanteln oder Stühlen –; es ist vielmehr das Wagnis und Abenteuer eines jeden Tages. Wenn du dir tatsächlich Bewegung verschaffen willst, dann suche nach den Quellen des Lebens. Man stelle sich nur einen Mann vor, der um seiner Gesundheit willen Hanteln schwingt und niemals auf die Idee kommt, sich aufzumachen zu dem weit entfernten Weideland, wo jene Quellen sprudeln.

Ferner musst du gehen wie ein Kamel, von dem es heißt, es sei das einzige Tier, das beim Gehen alles noch einmal durchkaut. Als ein Reisender Wordsworths Haushälterin bat, ihm das Arbeitszimmer ihres Herrn zu zeigen, antwortete sie: »Hier ist seine Bibliothek, sein Arbeitszimmer liegt draußen vor der Tür.«