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Weshalb verkleidete sich Frauenverehrer Giacomo Casanova 1760 in Zürich als Kellner? Warum wurde Brunnen zum Sehnsuchtsort für Mary Shelley? Aus welchem Anlass musizierte Felix Mendelssohn-Bartholdy mit den Mönchen von Engelberg? Wie kam es, dass Kafka zum Vordenker von "Lonely Planet" wurde? Und wie wurde Sir Winston Churchill 1946 beim Spätsommerurlaub am Genfersee vor neugierigen Blicken geschützt? Barbara Piattis Anthologie versammelt unterhaltsame, tiefsinnige und inspirierende Aufzeichnungen von 35 Persönlichkeiten, die in den Jahren 1760 bis 1946 durch die Schweiz reisten. Ergänzt werden die Originaltexte und Illustrationen durch kommentierende Einführungen, die einen Einblick in individuelle sowie zeitspezifische Aspekte des Reisens geben. In dieser Kombination wird das Buch zu einem einzigartigen Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 709
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für Derek, Valentin und Fabian
Einleitung
Giacomo Girolamo Casanova, 1760
Auszüge aus Casanovas «Geschichte meines Lebens», 1785–1798
Jens Immanuel Baggesen, 1789
Auszüge aus Jens Immanuel Baggesens «Rousseau’s Insel oder St. Peter im Bielersee», 1795
Heinrich von Kleist, 1802
Heinrich von Kleists Brief an die Schwester Ulrike, 1802
Mary Godwin & Percy Bysshe Shelley, 1814
Auszüge aus Mary Shelleys «Six Weeks’ Tour», 1817
Lord Byron, 1816
Auszüge aus Lord Byrons Tagebuch an Augusta, 1816
Karl Friedrich Schinkel, 1824
Auszüge aus Karl Friedrich Schinkels Reisetagebuch, 1824
James Fenimore Cooper, 1828
Auszüge aus James Fenimore Coopers «Streifzügen durch die Schweiz», 1836
Felix Mendelssohn Bartholdy, 1831
Auszüge aus den Briefen von Felix Mendelssohn Bartholdy, 1831
Hans Christian Andersen, 1833
Auszug aus Hans Christian Andersens Tagebuch, 1833
Franz Liszt & Marie d’Agoult, 1835
Auszüge aus Marie d’Agoults Memoiren, 1927
Friedrich Engels, 1841
Auszüge aus Friedrich Engels’ «Lombardischen Streifzügen», 1841
John Ruskin, 1845
Auszug aus John Ruskins Kapitel «Die Schönheit der Berge», 1856
Richard Wagner, 1852
Auszüge aus Richard Wagners Briefen, 1852
Leo Tolstoi, 1857
Auszüge aus Leo Tolstois Tagebuch, 1857
Jemima Morrell, 1863
Auszüge aus Jemima Morrells Reisetagebuch, 1863
Fjodor M. Dostojewski & Anna G. Dostojewskaja, 1867
Auszüge aus dem Tagebuch der Anna G. Dostojewskaja, 1867
Gustave Flaubert, 1874
Brief von Gustave Flaubert an Ivan Turgenev, 1874
Theodor Fontane, 1875
Auszüge aus Theodor Fontanes Ehebriefen an Emilie, 1875
Elizabeth Main, 1883
Auszüge aus Elizabeth Mains Bergsteigerbuch «The High Alps in Winter», 1884
August Strindberg, 1884
Ein Brief August Strindbergs, 1884
John Muir, 1893
Auszüge aus John Muirs Reisetagebuch, 1893
Richard Strauss, 1893
Richard Strauss’ Briefe an seine Eltern, 1893
Arthur Conan Doyle, 1893
Arthur Conan Doyles Ski-Reportage, 1894
Elizabeth Robins Pennell & Joseph Pennell, 1898
Auszüge aus Elizabeth Robins Pennells Reisebericht «Over the Alps on a Bicycle», 1898
Elisabeth von Österreich & Irma Sztáray, 1898
Auszüge aus Irma Sztárays Erinnerungsbuch «Aus den letzten Jahren einer Kaiserin», 1909
Otto Julius Bierbaum, 1902
Auszüge aus Otto Julius Bierbaums Reisebuch «Eine empfindsame Reise im Automobil», 1903
J. R. R. Tolkien, 1911
Auszug aus J. R. R. Tolkiens Brief an seinen Sohn Christopher, 1967
Walter Benjamin, 1911
Aus Walter Benjamins «Von der Sommerreise», 1911
Franz Kafka & Max Brod, 1911
Aus Franz Kafkas Reisetagebuch, 1911
Wladimir Iljitsch Lenin & Nadeschda Krupskaja, 1915
Auszüge aus den Briefen von Wladimir Iljitsch Lenin, 1915
René Schickele, 1918
Auszüge aus René Schickeles Tagebuch, 1918
Ernest Hemingway, 1922
Ernest Hemingways Reportage «Die Hotels in der Schweiz», 1922
Leni Riefenstahl, 1929
Auszug aus Leni Riefenstahls «Memoiren», 1987
Anderl Heckmair, 1938
Auszüge aus Anderl Heckmairs «Die drei letzten Probleme der Alpen», 1949
Winston Churchill, 1946
Auszüge aus Winston Churchills Briefen, 1946
Anhang
Dank
Autorin
Auswahlbibliografie
Bildnachweis
Dieses Buch führt zu berühmten Schweizer Sehenswürdigkeiten: auf die Rigi, nach Bad Pfäfers, in die Via Mala, über den Gotthard, zur Eigernordwand, auf die St. Petersinsel, an die Genferseeufer. Es führt aber auch zu Orten und in Gegenden, die immer noch (oder wieder) eher abseits der touristischen Hauptrouten liegen: in die Uhrmacherstadt Le Locle, über den Splügenpass, nach Chamby im Waadtland, in die ärmlicheren Viertel von Genf, über den Griesgletscher, an den Badestrand von Gandria. Die Begleitung auf diesen Reisen könnte exquisiter nicht sein: 35 ausgewählte Persönlichkeiten führen uns kreuz und quer durch die Schweiz. Ihnen gemeinsam sind zwei Dinge: Sie sind (oder waren zu ihrer Zeit) Berühmtheiten, gefeiert in ihren jeweiligen Bereichen – Literatur, Musik, Malerei, Architektur, Philosophie, Fotografie, Film, Sport und Politik. Und sie sind keine gebürtigen Schweizer, Schweizerinnen, sondern kamen aus dem nahen oder fernen Ausland. Diese Reisenden haben sich die Schweiz ganz genau angesehen, wobei das Spektrum der Reaktionen von Verzückung bis Hass so ziemlich alle denkbaren Gefühle umfasst.
Kometenbahnen
«In der Schweiz», schreibt der russische Autor Michail Schischkin in seinem Lese- und Wanderbuch Auf den Spuren von Byron und Tolstoi (2012), «haben sich auf den seltsamsten Wegen Schicksale und Bücher, Gedanken und Welten gekreuzt. Was könnte also den dämonischen Romantiker Byron und den grossen Lehrmeister Tolstoi verbinden? Beide waren sie 28 Jahre alt, als sie an den Genfersee kamen. Und beide gingen sie in die Berge wandern, liefen die genau gleiche Strecke von Montreux über den Col de Jaman ins Simmental, von dort nach Interlaken und Grindelwald. Sie liessen ihren Blick über dieselben Berggipfel schweifen, traten vielleicht auf dieselben Steine, übernachteten vermutlich in denselben Häusern, ruhten sich im Schatten derselben Bäume aus. Und beide schrieben ein Tagebuch, von deren Eintragungen ein direkter Weg zu ihren späteren Texten führt.»
Fährten aufnehmen, Verbindungslinien suchen im Raum – die Theoretikerin Doreen Massey drückt dieselbe Idee mit anderen Worten aus: «Perhaps we could imagine space as a simultaneity of stories-so-far», vielleicht können wir uns Raum vorstellen als eine Gleichzeitigkeit von (allen) bisherigen Geschichten, schlägt sie vor. Durch die Bewegungen von Menschen, Ideen und Objekten wird ein Raum – zum Beispiel ein Land – immer neu geschaffen. Diese ziehen ihre Bahnen («trajectories» nennt Massey das), und dabei entstehen Überschneidungen und Knotenpunkte und immer wieder neue, überraschende Situationen.
Die hier vorgelegten 35 Porträts berühmter Reisender (Lord Byron und Leo Tolstoi sind auch darunter) ergeben zusammen eine Art mehrdimensionalen helvetischen Raum-Zeit-Würfel. In ihm kreuzen sich – Kometenbahnen vergleichbar – Lebenswege und Schicksale, in ihm sind Träume, Pläne, Ängste und Ärgernisse, Entdeckungen und Inspirationen an bestimmte geografische Punkte gebunden. Und manche der Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, von Casanova bis Churchill, von 1760 bis 1946, sind durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft.
Knotenpunkte, Kreuzungen, imaginäre Begegnungen
Ein paar Beispiele: Arthur Conan Doyle und René Schickele versuchen sich beide auf Skiern, 1893 in Davos und 1918 im Diavolezza-Gebiet, beide erzählen von Stürzen im Schnee, beide sind grosse Schriftsteller und schildern dementsprechend diese Vorgänge auf hinreissende Weise, durchaus mit einer Prise Selbstironie. Conan Doyle beschreibt seine Versuche so: «Aber du ziehst sie [die Skier] an und wendest dich mit einem Lächeln nach deinen Freunden um, um zu sehen, ob sie dir auch zuschauen – und dann bohrst du im nächsten Augenblick deinen Kopf wie verrückt in einen Schneehaufen hinein und strampelst wahnsinnig mit beiden Füssen, um, halb aufgestanden, von neuem wieder im gleichen Schneewall unrettbar zu ertrinken; so gibst du deinen Freunden ein Schauspiel, dessen sie dich niemals für fähig gehalten hätten.» – «Ich bin, Kopf voraus, in den Schnee geflogen und lag, mit verquerten Skiern, das Gesicht nach unten, seltsam gekreuzigt auf dem Schnee, ohne mich rühren zu können […]», scheint Schickele zu antworten.
In Genf bekamen zwei Musen grosser Männer ihre Kinder: Marie d’Agoult, die Geliebte von Franz Liszt, brachte 1835 eine Blandine zur Welt, 1867 schenkte Anna Dostojewskaja ihrer Tochter Sonja das Leben – Blandine sollte nur 27 Jahre alt werden, Sonja starb schon als zehn Wochen altes Baby. Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagner hätten sich auf dem Faulhorn begegnen können, in einer anderen Raum-Zeit-Dimension. Als Mendelssohn die Wanderung im Jahr 1831 unternahm, war das Gasthaus auf dem Gipfel noch im Bau, und er musste auf Stroh in einer Nebenhütte übernachten. Wagner hingegen fand 1853 den vollen Komfort eines Hotels auf fast 2700 Metern vor, mitsamt weiss eingedeckten Tischen und Silberbesteck. Und beinahe wäre ihnen 1918 Walter Benjamin gefolgt – in Begleitung seines Freundes Gershom Scholem. Aus unbekannten Gründen ist diese Wanderung zwar brieflich genau geplant, dann aber doch nicht durchgeführt worden.
Leo Tolstoi und Gustave Flaubert wären sich in ihrem Desinteresse für die Rigi und überhaupt für Aussichtspunkte einig gewesen. Franz Liszt und Theodor Fontane stiegen beide im Hotel Storchen in Basel ab – mit vierzig Jahren Abstand, 1835 und 1875. Liszt reiste mit Marie d’Agoult über den Walensee, in einem Ruderboot, denn das erste Dampfschiff wurde auf diesem Gewässer erst zwei Jahre später eingesetzt. 1841 reiste dann aber prompt Friedrich Engels mit dem Dampfboot auf exakt derselben Route. Giacomo Casanova, Karl Friedrich Schinkel und James Fenimore Cooper, alle drei vergnügten und reinigten sich im Berner Bad im Mattequartier an der Aare. Casanova leistete sich ein Upgrade, Baden plus käufliche Liebesdienste, Schinkel war über ein eben solches Angebot masslos empört («Entsetzlich war es aber, dass wir beim Eintritt ins Bad gefragt wurden, ob wir ein bain garni, das heisst mit einem Frauenzimmer, verlangten […]»), Cooper hingegen berichtet ganz erfreut davon: «Ich zahlte zwanzig Cents für ein warmes Bad unter einer Leinwandbedachung, mit Seife, warmen Tüchern, warmem Badeanzug, alles nach Wunsch. […] Das ist die wohlfeilste Art zu baden, die mir jemals vorgekommen ist.» Nur zehn Jahre trennen August Strindberg und Winston Churchill voneinander – der Schwede bezog mit seiner Familie 1884 eine Wohnung in Ouchy, der Brite wäre als Neunzehnjähriger, 1894, beinahe bei einer Bootstour ertrunken, die ebendort startete.
Im glutheissen Jahrhundertsommer 1911, in dem es zwischen April und Oktober kaum regnete, waren J. R. R. Tolkien, Franz Kafka und Walter Benjamin gleichzeitig in der Schweiz unterwegs. Es ist nicht anzunehmen, dass sie sich irgendwo begegnet sind, obwohl ihre Routen sich teilweise kreuzten.
Es gibt sogar Verknüpfungen ausserhalb der Schweiz: Die US-amerikanische Journalistin und Kunstkritikerin Elizabeth Robins Pennell, die die Schweiz 1898 durchquerte, schrieb eine Biografie über Mary Wollstonecraft, Mutter von Mary Godwin, der Reisenden aus dem Jahr 1814. Und Leni Riefenstahl, deren Schweizer Episode aufs Engste mit dem Piz Palü verbunden ist, war ebenso wie Richard Strauss (seine Reise führte ihn 1893 auf den Gornergrat beim Matterhorn) präsent bei den Olympischen Spiele 1936 in Berlin – sie als Hitlers Regisseurin, er als Komponist und Dirigent der Eröffnungshymne.
Die Reihe der Beispiele liesse sich noch lange fortsetzen. Überraschend sind auch diese Trios: Was verbindet John Ruskin, Leo Tolstoi und August Strindberg? Die Verehrung für die Sprache und die Erzählkunst von Jeremias Gotthelf. Was Elizabeth Main, Walter Benjamin und Leni Riefenstahl? Die Begeisterung für Giovanni Segantini. Was Heinrich von Kleist, Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi? Der Ekel vor der Grossstadt Paris, das Gefühl, dort unterzugehen – und die Idee, dem Moloch den Rücken zu kehren und in die nahe Schweiz zu reisen. Tolstoi hatte zudem eine öffentliche Hinrichtung mit der Guillotine erlebt, die ihn bis ins Mark erschütterte. «Ich lebte 1 ½ Monate in Sodom, und in meiner Seele hat sich schon viel Unrat gesammelt, sowohl zwei Strassenmädchen wie die Guillotine und der Müssiggang und die Gemeinheit.» Auch für Franz Liszt und Marie d’Agoult beginnt die Reise in die Schweiz mit der Flucht aus Paris. Bei ihnen hat das aber andere Gründe, es ist eine Flucht aus Verhältnissen und Konventionen, die ihnen nicht erlaubt hätten, in wilder Ehe zusammenzuleben. Auf einer Reise durch die Schweiz und später in Genf konnten sie es.
Dieses Schweizer-Reisen-Panorama spannt sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert auf. Tourismusgeschichtlich ergibt das absolut Sinn: Casanova hatte noch kein Auge für die Landschaft, er steht ganz am Anfang der Epoche, die Landschaft, vor allem die alpine und voralpine, erst im grossen Stil als visuellen Genuss entdecken wird; Winston Churchills Landschaftsmalerei basiert hingegen auf exakt dieser kulturgeschichtlichen Ära, ja wäre ohne sie nicht denkbar.
Was sich am Anfang der Recherchen noch nicht hat erahnen lassen: Ein wundersames Band verknüpft Anfangs- und Endpunkt, Casanova und Churchill sind durch die Jahrhunderte auch ganz direkt verbunden, eben durch jene eingangs erwähnten Flugbahnen, «trajectories». Diese kreuzen sich in Leipzig. Das Manuskript von Casanovas Memoiren befand sich im Besitz der Verlegerfamilie Brockhaus in Leipzig und überstand die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg unbeschadet; der damalige Verlagsinhaber brachte die kostbaren Schachteln mit den eng beschriebenen Blättern mit der Hilfe seiner Sekretärin auf einem Dreirad in einen Banktresor. Später wurde es in einen Luftschutzbunker verlagert, wo es der Hitze eines Brandes und dann dem Wasser ausgesetzt war. Gemäss einer Anekdote, die in den Casanova-Recherchen von Tony Perrottet auftaucht, erkundigte sich Winston Churchill in Leipzig persönlich nach dem Verbleib der Handschrift. Am 12. Juni 1945 stellten die Amerikaner bei ihrem Abzug aus Leipzig, als sie die Stadt den Russen übergaben, dem Verlag Brockhaus einen Lastkraftwagen zur Verfügung. Dr. Brockhaus verpackte den Casanova-Nachlass in eine Kiste. So kam er nach Wiesbaden, in die neue West-Niederlassung des Verlags.
Aspekte des Reisens
Weshalb haben diese Berühmtheiten die Schweiz besucht, was haben sie hier gesucht, was haben sie gefunden, welche unmittelbaren Wirkungen oder Nachwirkungen hatte der Aufenthalt – künstlerisch, biografisch? Die Fragen scheinen einfach, die Antworten darauf sind es oft nicht.
Immer wieder treten uns neue Aspekte des Reisens entgegen: Was heisst es, durch ein Gemälde zu reisen statt durch eine reale Landschaft (Theodor Fontane), eine literarische Pilgerfahrt zu unternehmen (Jens Immanuel Baggesen), in der Schweiz Inspiration pur zu finden (Richard Wagner, Arthur Conan Doyle, Ernest Hemingway und viele andere), ein berufliches Projekt zu verfolgen, das mit Urlaub nicht viel zu tun hat (Leni Riefenstahl, Anderl Heckmair), inkognito zu reisen (Kaiserin Elisabeth von Österreich)?
Manchmal kommt sehr konventionelles Vokabular zum Einsatz (Karl Friedrich Schinkel), dann wieder verblüffende Bilder, Formulierungen, die einen die (Schweizer) Welt mit neuen Augen sehen lassen (Franz Kafka). Manche Reisenden inszenieren sich in allererster Linie selber, anderen ist die Landschaft das Wichtigste. Das ist zum Teil der Epoche geschuldet, zum Teil aber auch individuell bedingt.
En passant lässt sich ablesen, wie sich die Infrastruktur, die Reisemöglichkeiten rasant veränderten. Mitte des 18. Jahrhunderts prägten schlechte Strassen, oft über sumpfiges Gelände gelegt oder voller Steine, mit tiefen Gräben, die Reisen; in manchen Gebieten war, um die Strassen nicht zu verschlechtern, eine Gewichtsobergrenze für Fahrzeuge vorgesehen, nicht mehr als zwei Tonnen, und um diese Vorschrift durchzusetzen, fanden sich entlang der Hauptrouten Messstationen. Es gab schon erste Postkutschen, aber die geläufigste Art zu reisen war, sich selber eine Kutsche, Pferde und einen Fuhrmann zu mieten. Casanova mietete sich ein Gefährt ab Schaffhausen und holperte damit über miserable Strassen. 286 Jahre später, im Jahr 1946, steuerte Churchills Swissair-Sondermaschine den Flughafen Genf-Cointrin an. Dazwischen: Fusswanderungen, Postkutschen, Flussfahrten, Dampfboot, Dampfschiff, Eisenbahn, Zahnradbahn, Automobil – das ganze Spektrum eben.
Die 35 Porträts verstehen sich also als Schaufenster, Gucklöcher auf vergangene Zeiten, «en miniature» vermitteln sie eine andere Geschichte der Schweiz, voller erheiternder, inspirierender, verstörender oder trauriger Momente. Natürlich liesse sich das alles viel ausführlicher erzählen, auch stehen hinter jedem Porträt ganze Epochen. Genauer: Ausgehend von diesen «fremden Blicken», dem Prisma der Reisenden, liesse sich leicht eine fast komplette Geschichte der Schweiz rekonstruieren: wirtschaftliche Entwicklung, Tourismus und Infrastruktur, politische Vernetzung, internationale Beziehungen.
Unerzählte Geschichten
«Ich erinnere mich, wir standen an einem Steilhang: was war das für ein Nebel dort unten. Je tiefer, desto dunkler. Man konnte meinen, unten sei ein Meer von Sepia. Und die Tannen wurden immer seltener und dünner im Stamm. Ich erinnerte mich an Russland, den Norden. Und endlich: Rigi-Kulm, mehr als 2000 Meter hoch. Alle drei Riesenhotels auf diesem Gipfel sind leer, von Schnee verweht und im Nebel kaum zu sehen. Im Haupthotel fanden wir ein Zimmer, unten in der Stube für die Angestellten ist ein Ofen, drei Schweizerinnen mit hochroten Gesichtern. Wir trockneten uns, assen etwas. Und verbrachten den langen Winterabend in dieser Höhe, in absoluter Verlassenheit. Wir gehen schlafen.
[…] Wir gingen durch das leere Hotel, durch die leeren Hallen, Salons und Restaurants. Überall ist es kalt, die Stühle sind aufeinandergestellt, die Beine nach oben, die Schritte hallen wider. Es ist Winter! In einer Woche verlassen alle das Hotel bis zum Frühling.»
So hat der russische Dichter Iwan Bunin im November 1900 die sonst überfüllte Rigi erlebt – einer der zahlreichen Texte, die – leider – nicht auch noch aufgenommen werden konnten.
Es fehlen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen: Johann Wolfgang von Goethe, Mme de Staël, Mark Twain, Vladimir Nabokov, Alexandre Dumas, Jules Verne, William Turner, Thomas Alva Edison, Marcel Proust. Es fehlt Hölderlins genialische Fussreise durch den Kanton Schwyz, es fehlt der junge Borges, auf Klettertour im Mont Salève, es fehlt Karl Kraus unterwegs mit seiner Geliebten Sidonie Nadhérny, im Automobilrausch, es fehlen Zelda und Francis Scott Fitzgerald auf ihrer traurigen Route zwischen psychiatrischen Anstalten und Luxushotels – und noch so viele mehr.
Ausklang
Die Porträtserie endet mit Churchill im Jahr 1946. Dabei kann die Reise des britischen Staatsmannes bereits als eine anachronistische Erscheinung gesehen werden – Reisen wie die seine gab es schon nicht mehr, ein wochenlanger Aufenthalt mit Musse zum Malen, Schreiben, für Gespräche. Als der Tourismus in den 1950er-Jahren so allmählich wieder angekurbelt wurde, als mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wieder zahlende Gäste in die Schweiz kamen, da hat sich das Bild von Grund auf geändert. An die Blütezeit des Schweizer Tourismus in der Belle Époque liess sich nie mehr anknüpfen. Sport, vor allem im Winter, stand im Vordergrund, aus den wochenlangen Reisen durch die Schweiz oder Kuraufenthalten in der Schweiz wurden Tagesausflüge. Pauschalangebote, wie sie schon Thomas Cook zusammenstellte, gewannen an Beliebtheit. Und die prunkvollen Hotelpaläste sahen schweren Zeiten entgegen. Zum einen war ihr Fassadenschmuck, überhaupt der ganze Glanz und Schimmer einer untergegangenen Epoche, den puritanischen 1950er-Jahren ein Dorn im Auge – viele der alten Hotelpaläste, die sich gar nicht mehr rentabel füllen und betreiben liessen, wurden damals abgerissen.
Wie aber sieht es mit den Reisenden aus? Gibt es noch Intellektuelle, Literaten, Kunstschaffende, die eine Schweizer Reise alten Stils unternehmen im 20. Jahrhundert, im 21. Jahrhundert? Die Antwort lautet ganz klar: Nein, dieser Typus kehrt wohl nicht wieder. Was es als Phänomen jedoch gibt: die sogenannten Footstep Travellers, die Reisenden in den Fussspuren berühmter Vorgänger – ein Verfahren, das sich im 19. Jahrhundert schon etabliert hatte. Die russische Journalistin Natalia Popowa reiste 1981, mitten im Kalten Krieg, auf den Spuren von Karamsin und Tolstoi durch die Schweiz, W. G. Sebald reiste auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau (1996), Michail Schischkin trat, wie schon erwähnt, in die Fussstapfen von Tolstoi und Byron (2013), Diccon Bewes in jene der Jemima Morrell (2013), Antoine Wagner erleben wir – fotografisch, filmisch – auf den Spuren seines Ururgrossvaters Richard (2015). Solche Touren, die gibt es immer wieder. Wenn sie gut und geistreich gemacht sind, dann verbinden sie auf charmante Weise längst vergangene touristische Epochen mit unserer Zeit. «Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in die vergangene Zeit, eine Illusion, auf die ich umso leichter mich einlassen konnte, als auf der Insel dieselbe, von keinem noch so fernen Motorgeräusch gestörte Stille herrschte wie überall auf der Welt vor hundert oder zweihundert Jahren», schildert W. G. Sebald in seinem unnachahmlichen Tonfall seine Erfahrungen auf der St. Petersinsel.
Die Porträts in diesem Lesebuch sind dagegen mit Absicht nicht als nostalgische Zeitreisen verfasst. Die vorgestellten Persönlichkeiten lebten am Puls ihrer Zeit, oft mitten im Strudel des politischen Geschehens, und sie waren Vorreiter und Vorreiterinnen auf ihren Gebieten, sie waren die Avantgarde. Sie kamen, blieben einige Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre in der Schweiz, dann gingen sie wieder. Diese illustren Gäste machen einen Teil der Schweizer Kulturgeschichte aus – und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: einen bewegenden.
Zum Aufbau der Kapitel Bildauswahl:
Sowohl bei den Landschaftsbildern wie auch bei den Autorenporträts soll die grösstmögliche Nähe zur Zeit des Aufenthalts hergestellt werden. In manchen Fällen stammen die Impressionen von Ortschaften, Landschaften oder Innenräumen, die den Auftakt zum jeweiligen Kapitel bilden, von den Reisenden selbst, etwa im Fall von Karl Friedrich Schinkel, Felix Mendelssohn Bartholdy, John Ruskin und Elizabeth Main, die fleissig gezeichnet respektive fotografiert haben. Wenn nicht, dann sind es Motive aus der Zeit, nach dem Motto «ein solches Bild hätten sie sehen können». Bei den Porträts gibt es einige eindrückliche Beispiele von Schnappschüssen vor Ort (Arthur Conan Doyle, Anderl Heckmair, Winston Churchill). In anderen Fällen war es leider nicht möglich, solche Zeitdokumente zu finden (beziehungsweise: es gab erst gemalte Porträts). Von Franz Kafka etwa existiert kein einziges Foto von seiner Schweizer Sommerreise im Jahr 1911, weswegen ein offizielles Passbild von 1915 gewählt worden ist, das zumindest das Reisethema aufnimmt. Bei manchen Porträts ist man ganz dicht an der Person dran, bei anderen schieben sich die Konventionen dazwischen, eine repräsentative Pose oder die Gepflogenheiten eines Fotostudios.
Routenverlauf:
Die Auflistung der Stationen erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sie deutet nur stichwortartig an, in welcher Richtung und mit welchen wichtigsten Stationen die Reisenden die Schweiz durchquert haben – und woher sie kamen, wohin sie gingen.
Jahreszahl:
Genannt wird immer das Jahr, in dem die Reise stattgefunden hat, obwohl im Kommentar fast immer auch Geschehnisse davor und danach einbezogen werden.
Texte:
Bewusst ist autobiografisches Material ausgewählt worden, nicht Fiktionen. Die Grenzen verlaufen da selbstredend fliessend. Viele der hier Porträtierten haben ihre Schweizer Erlebnisse in Romanen, Erzählungen, Gedichten und Dramen umgesetzt, oft waren Briefe und Tagebücher Vorstufen zu diesen literarischen Ausarbeitungen. Von Lord Byron wird aber zum Beispiel kein Auszug aus seinem Drama Manfred abgedruckt, sondern einer aus dem Tagebuch.
Forschungsliteratur und Quellen:
Auf aufwendige Grundlagenstudien konnte grösstenteils verzichtet werden; zumeist konnte ich – dankbar – auf bestehende ausführliche Darstellungen zurückgreifen, von zeitgenössischem Material bis zu aktuellen Aufsätzen, Monografien, Zeitungsartikeln, Dokumentarfilmen (siehe Auswahlbibliografie, Seite 500).
Stuttgart —
Tübingen —
Schaffhausen —
Zürich —
Einsiedeln —
Zürich —
Baden —
Solothurn —
Lausanne —
Aix-les-Bains
Zürich, Weinplatz mit Haus zum Schwert (in der Bildmitte). Hier schlüpfte Casanova in die Rolle eines Kellners. Tuschzeichnung von Johann Jakob Uehlinger (um 1750/1760).
Giacomo Girolamo Casanova(geschrieben zwischen 1785 und 1798)
Man darf sich das so vorstellen: In den Morgenstunden eines Apriltages im Jahre 1760 ist auf der Landstrasse, entlang dem westlichen Zürichsee-Ufer in Richtung Kanton Schwyz, ein Mann unterwegs, zu Fuss, vermutlich in Stiefeln, denn Halbschuhe hätten sich bei den damaligen Strassenverhältnissen nicht empfohlen. Es handelt sich um eine auffällige Erscheinung: gross (die Angaben variieren zwischen 1,87 und 1,93 Meter), gut gebaut, scharfes Profil, der Teint südländisch, elegant, um nicht zu sagen extravagant gekleidet, in Brokatweste, feinsten Spitzen, samtenem Gehrock. «Wissen Sie», so soll Friedrich der Grosse im Park von Sanssouci einmal anerkennend zu ihm gesagt haben, «Sie sind ein sehr schöner Mann.» Sein Name ist Legende: Giacomo Girolamo Casanova.
«Ich habe die Frauen bis zum Wahnsinn geliebt, aber ich habe ihnen stets meine Freiheit vorgezogen», verkündet der Venezianer selbstbewusst in seiner Histoire de ma Vie, seinen Lebenserinnerungen. Zu seinen zahlreichen Eroberungen quer durch Europa gehören laut Memoiren Gräfinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Zimmermädchen, eine griechische Sklavin, die Nichte eines Priesters, eine Bauerstochter, fünf Schwestern mitsamt ihrer Mutter, ein Transvestit, eine Bucklige, eine Nymphomanin und natürlich Nonnen.
Ob er der grösste Verführer aller Zeiten war? Darüber lässt sich quantitativ, hinsichtlich der Anzahl seiner Eroberungen, streiten. 132 Affären sollen es gewesen sein, haben fleissige Forscher anhand der Quellen errechnet. Fast ist man versucht zu sagen: Das hält sich ja durchaus in Grenzen, verteilt auf eine «aktive Zeit» von einigen Jahrzehnten … Aber qualitativ steht er zweifellos ganz oben: Casanova hatte einfach Stil, und das in jeder Lebenslage. Seine Memoiren sind durchsetzt von grandiosen Schilderungen von Essen, Musik, Parfums, Mode, Kunst und natürlich Sex. In seinen Schriften wird das 18. Jahrhundert lebendig. Der Chevalier de Seingalt, wie er sich mit einem selbst verliehenen Adelstitel nannte, war ein Mann, der alle Sinne kultivierte.
Nun war er also in der Schweiz und gerade nicht mit einer Frau beschäftigt, sondern alleine und erstaunlich sportlich unterwegs. Für die Strecke von Zürich, Weinplatz, wo er an der feinen Adresse des Gasthofs Zum Schwert einquartiert war (siehe Abbildung Seite 16), bis Einsiedeln, wo er zufällig landete und mit Interesse das Koster und die Pilgerkirche besichtigte, brauchte er nach eigener Aussage rund sechs Stunden (siehe Originaltext). Misst man die Strecke nach, kommt man allerdings auf gut 70 Kilometer. Flunkereien also bereits bei den Längen- und Zeitangaben. Lassen wir ihn einen Augenblick weiterwandern. Zunächst wären ja zwei Fragen zu klären: Weshalb kam Casanova in die Schweiz, was wollte er in Zürich? Und weshalb wissen wir davon? Die Antwort auf beide Fragen hängt neben Verführung und Erotik mit einem zweiten Leitmotiv in Casanovas Leben zusammen – mit seinen grossen und kleinen Fluchten.
Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798),porträtiert von Alessandro Longhi (undatiert).
Geboren als Sohn eines mittellosen Schauspielerpaares, musste sich Casanova seinen gesellschaftlichen Aufstieg selbst organisieren. «Die Fähigkeit, auf den ersten Blick zu gefallen», die er sich selber (und sicher zu Recht) zuschreibt, öffnete viele Türen. Entscheidend war dann aber ein Zufall: In einer Kutsche stand er einem von einem Schlaganfall getroffenen Senator bei und pflegte ihn über Nacht; dieser Don Matteo Bragadin nahm ihn nach seiner Genesung aus Dankbarkeit in sein Haus auf «und überhäufte ihn mit Geschenken. Nun konnte er wie ein aristokratischer Playboy leben, sich kostbar kleiden, Spielsalons besuchen und sich in vornehmsten Kreisen bewegen», schreibt Tony Perrottet, einer der derzeit besten Casanova-Kenner (ein anderer behauptet, Casanova sei ganz einfach der toy boy des alten Mannes gewesen). Doch Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Von Spionen der Inquisition wurde er als Betrüger, Freimaurer, Astrologe, Kabbalist und Gotteslästerer denunziert und eingekerkert, in den berüchtigten venezianischen Bleikammern. Fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach zu entkommen – und tadellos gekleidet durch das Hauptportal hinauszuspazieren.
Die Tollkühnheit dieser Flucht verschaffte ihm europaweite Berühmtheit, bedeutete aber auch den Beginn eines Exils, das achtzehn Jahre dauern sollte. Im Laufe seines unsteten Daseins, praktisch immer auf Reisen, hat Casanova insgesamt fast 60000 Kilometer zurückgelegt, zumeist in der Kutsche, über die schlechten Strassen zwischen Madrid und St. Petersburg, London und Konstantinopel rumpelnd und holpernd. Die grosse Flucht flankierend, waren zahlreiche kleine Fluchten zu verzeichnen, jene nämlich aus Betten und Schlafzimmern verheirateter Gespielinnen in verschiedenen Ländern. Oder jene aufgrund von Geldschulden, denn Casanova war ein notorischer Glücksspieler. So musste er unmittelbar vor seinem Schweiz-Aufenthalt Stuttgart Hals über Kopf verlassen aufgrund eines üblen Ausgangs bei einem Kartenspiel in einem «verrufenen Haus». «Meine Lage war nicht eben erfreulich: durch ein Glas Wein vergiftet, betrogen, bestohlen, beschimpft, sah ich mich meiner Freiheit beraubt und von der Notwendigkeit bedroht, hunderttausend Francs zu bezahlen, zu deren Deckung ich mich bis aufs Hemd hätte ausplündern lassen müssen […].» Es kam aber noch wilder: Inzwischen hatte sich die örtliche Justiz eingeschaltet und angekündigt, sämtliche Besitztümer Casanovas zu beschlagnahmen und, falls sich damit die Schuld nicht tilgen liesse, ihn «als gemeinen Soldaten in die Truppen Seiner allerdurchlauchtigsten Hoheit einzureihen». Es blieb nur die Flucht, eine schwierige Aufgabe, aber, so tröstete sich Casanova selber, «ich war nicht unter den Bleidächern, und die Erinnerung an meine grosse Flucht erhöhte meinen Mut». Eine Perücke auf dem Kissen täuschte den ruhig schlafenden Casanova vor, seine Habseligkeiten wurden etappenweise unbemerkt aus dem Zimmer geschafft, er selber seilte sich über eine Mauer ab, watete durch den Schlamm und erreichte endlich die rettende Postkutsche, die ihn nach Tübingen brachte. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber, sein Diener holte ihn ein und warnte: «Monsieur, in Stuttgart weiss jedermann, dass Sie hier sind, und es steht zu befürchten, dass die drei Offiziere, die zu feige sind, um ein Duell aufzunehmen, Sie ermorden lassen. Wenn Sie vernünftig sind, reisen Sie sofort nach der Schweiz ab.» Und so geschah es auch, Casanova reiste mit der Post nach Schaffhausen, von dort mit einem Mietfuhrwerk weiter nach Zürich.
Die letzte Flucht, jene, die uns all diese detaillierten Auskünfte zu Casanovas Leben und eben auch zu seinem Aufenthalt in der Schweiz beschert hat (wobei, unnötig zu betonen, nicht immer so ganz klar ist, wo die Wahrheit endet und die Erfindung anfängt), ist eine, die nur im Kopf stattfand; eine Flucht in Gedanken. 1785 begannen die dreizehn letzten traurigen Jahre Casanovas, ohne Frauen, ohne Reisen, ohne alles, was ihn ausgemacht hatte, er war ein kranker und für damalige Verhältnisse sehr alter Mann. Der Lebenskünstler und Bonvivant sass auf Schloss Dux in Böhmen, angestellt als Bibliothekar. Eine Art Gnadenbrot, das ihm der junge Graf Josef Waldstein gewährte. Auf Anraten seines irischen Arztes befasste er sich mit der Niederschrift seiner Memoiren, täglich bis zu dreizehn Stunden über die Blätter gebeugt. Und tatsächlich, das erneute Durchleben seiner Abenteuer, amouröser und anderer, liess noch einmal das Blut in seinen Adern schneller fliessen. 1791 schrieb er seinem Freund Johann Ferdinand Opitz, dass er täglich arbeite und guter Dinge sei. «Welche Freude, sich an vergangene Freuden zu erinnern! Es amüsiert mich, weil ich nichts erfinde.»
Von Dux aus liess er auch die Schweizer Episoden noch einmal in seiner Vorstellung aufsteigen, mit erstaunlich vielen Details. Die Schweizer Städte waren nicht Venedig und auch nicht Paris. Aber Casanova fand auch hier seine Bühne – beziehungsweise richtete sich geschickt eine her. Nachdem er sich in Einsiedeln für kurze Zeit mit dem (nicht ganz ernst zu nehmenden) Gedanken trug, Mönch zu werden, gab er sich in Zürich schon wieder ganz anderen Fantasien hin. Ziel seines Begehrens war diesmal eine geheimnisvolle «Amazone» – in Begleitung dreier weit weniger attraktiver Freundinnen, wie Casanova unwillig bemerkte. Die Amazone, mit bürgerlichem Namen Maria Anna Ludovica von Roll, 24 Jahre alt, entflammte ihn dermassen, dass er sich einen Schauspielertrick ausdachte, um in ihre Nähe zu gelangen (wie der genau funktionierte, das soll er selber erzählen, siehe Originaltext). Die bühnenreife Szene im Gasthof Zum Schwert gehört zweifellos zu den witzigsten und schönsten Passagen in den Memoiren. Doch da auch der passionierte schauspielerische Auftritt nicht dazu führte, dass Casanova im Bett der Amazone landete oder sie in seinem, musste er sich noch etwas anderes einfallen lassen. Er folgte dem Objekt der Begierde bis nach Solothurn, mietete dort extra ein Landhaus für stille Stundendoch es wollte und wollte nicht klappen diesmal, es ergab sich keine günstige Gelegenheit, um die Amazone zu verführen.
Trost aber war, wie immer bei Casanova, nicht weit: Da war zum Beispiel seine «Haushälterin» Madame Dubois, für die er ungewohnt tief empfand («Ich betrachtete sie als meine Frau; wir liebten uns und konnten uns nicht vorstellen, dass wir uns eines Tages trennen würden»), später zwei Bernerinnen in der berüchtigten Badeanstalt im Matte-Quartier unten an der Aare, dann drei Genferinnen, die er hintereinander und gleich mehrfach beglückt, und so weiter. Die Szenen in der Schweiz sind recht explizit, am Schauplatz Genf wird etwa ein Liebesspiel mit Metallkugeln, eingelegt in eine alkalische Lösung, beschrieben, die Casanova zur Verhütung einsetzte statt der von ihm verabscheuten Präservative («[…] aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich in ein Stück toter Haut einzwängen werde, um Ihnen zu beweisen, dass ich völlig lebendig bin»). In Zürich versorgte ihn eine Kupplerin mit wechselnden Gespielinnen, er vergnügte sich «aber nur sehr schlecht», denn die unverständliche einheimische Sprache, das «grobe Schweizerdeutsch», machte ihm zu schaffen. «Und ohne die Sprache vermindert sich das Vergnügen an der Liebe gleich um wenigstens zwei Drittel.»
Es wäre aber, das muss man immer wieder betonen, ganz und gar verfehlt, Casanova auf die Rolle des Verführers zu reduzieren. Er war ein kluger Kopf, ein Universalgelehrter, sprach fünf Sprachen fliessend, war befreundet mit Voltaire, mit Katharina der Grossen und mit Benjamin Franklin, er erfasste den Wert einer Bibliothek auf einen Blick (siehe seine Einschätzung der Bibliothek von Einsiedeln, Originaltext), war Experte im zeitgenössischen Musikgeschehen, ein grosser Menschenkenner und ein noch grösserer Schriftsteller. Der amerikanische Casanovist Tom Vitelli sagt sogar: «Geschichte meines Lebens ist grosse Literatur. Wahrscheinlich ist es die grösste Autobiografie aller Zeiten – in Thematik, Umfang, Stil und Sprache.»
Vor diesem Hintergrund kann man Casanovas Reise durch die Schweiz auch noch anders lesen. Seine Schilderungen enthalten zahlreiche aufschlussreiche kulturhistorische Details und Einschätzungen. Dabei kristallisiert sich das Bild des kultivierten Reisenden heraus, der kein Auge hat für die Naturschönheiten; dafür ist es – historisch gesehen – gerade noch zu früh: Die Landschaft war, überspitzt gesagt, noch gar nicht erfunden. «La nature le laisse complètement indifférent», die Natur lässt ihn vollkommen gleichgültig, heisst es bei Pierre Grellet im schönen Band Les Aventures de Casanova en Suisse (1919), oder noch pointierter: «Casanova va passer cinq ou six mois en Suisse sans la voir», er wird fünf oder sechs Monate in der Schweiz verbringen, ohne sie zu sehen. In der lieblichen Gegend rund um den Murtensee interessieren ihn der Geschmack der Fische und das Beinhaus aus der Zeit der Burgunderkriege, nicht die Landschaft; die Alpen werden ohnehin mit keinem Wort erwähnt. Einen Reisenden wie Casanova (sein Desinteresse an der Natur ist nicht individuell, sondern epochal bedingt) faszinierten Architektur, Bibliotheken, Kunstsammlungen, Kunstsalons, Musik, Sitten und Gebräuche, der Ideenaustausch mit gelehrten Gesprächspartnern. Er hatte Rousseau gelesen, er besuchte Voltaire in Genf und Haller in Zürich und debattierte mit ihnen auf Augenhöhe.
Am besten allerdings blieb ihm Bern in Erinnerung. Hier verlebte er einige innige Tage mit seiner Freundin Dubois (Identität ungeklärt), die ihn über den Misserfolg bei der Amazone mehr als hinwegtröstete. «Seine Freundin» schien er so aufrichtig zu lieben, dass sogar Pläne zu einer gemeinsamen Zukunft geschmiedet wurden. Aber Casanova wäre nicht Casanova, wenn dann nicht doch alles ganz anders gekommen wäre. Er verliess die Schweiz nach zahlreichen Abenteuern und war wieder auf den Strassen Europas unterwegs, frei und ungebunden (pikanterweise erblickte möglicherweise ein Sprössling Casanovas einige Monate später das Licht der Welt – als Schweizer Bürger oder Bürgerin. Die Dubois gibt ihrem Casanova beim Abschied zu verstehen, dass sie im zweiten Monat schwanger sei, für sein Kind aber gut sorgen wolle …). In Dux notierte er Jahrzehnte später: «Ich verliess Bern in einer sehr natürlichen Trauer. Ich war in dieser Stadt glücklich gewesen und denke noch jetzt niemals ohne Vergnügen an sie.»
Drei Stunden nach Leducs Ankunft nahm ich die Post und fuhr nach Schaffhausen und von dort mit einem Mietfuhrwerk nach Zürich, weil es in der Schweiz keine Poststationen gibt. Ich stieg in dem ausgezeichneten Gasthof «Zum Schwert» ab.
Als ich nach dem Abendessen allein in dem Speisesaal der reichsten Stadt der Schweiz sass, wohin ich gleichsam wie aus den Wolken gefallen war – denn ich hatte vorher nicht die geringste Absicht gehabt, nach Zürich zu gehen – überliess ich mich tausend Betrachtungen über meine augenblickliche Lage und mein vergangenes Leben. Ich rief mir meine Unglücksfälle ins Gedächtnis zurück und prüfte mein Verhalten. Ich erkannte gar bald, dass alle Unannehmlichkeiten mir durch meine eigene Schuld zugestossen waren und dass ich fast immer mit meinem Glück Scherz getrieben hatte, wenn es mich mit seinen Gaben überschüttete. Ich hatte mich soeben aus einer Schlinge gezogen, in der ich trotz meiner Unschuld Tod und Schande finden konnte, und ich erzitterte bei diesem Gedanken. Ich fasste den Entschluss, in Zukunft nicht mehr ein Spielball des Glücks zu sein und mich vom Zufall gänzlich unabhängig zu machen. Ich stellte ein Verzeichnis meines Vermögens auf und fand, dass ich hunderttausend Taler besass. Dies genügt, sagte ich zu mir selber, um, vor allen Wechselfällen geschützt, eine sichere Existenz zu führen, und ich werde in einem vollkommenen Frieden das wahre Glück finden! Voll von diesen Gedanken ging ich zu Bett und verbrachte eine köstliche Nacht in wundervollen Träumen. Ich sah mich in einer friedlichen Einsamkeit in Überfluss und Ruhe; mir war’s, als wenn ich mich inmitten einer schönen Landschaft befände, deren Herr ich wäre und wo ich eine Freiheit genösse, die der Mensch vergeblich in der Welt sucht. Natürlich träumte ich; aber in meinem Traum kam es mir vor, als ob ich nicht träumte. Es war für mich eine schmerzliche Enttäuschung, als ich bei Tagesanbruch plötzlich erwachte. Ich war von meinem eingebildeten Glück zu angenehm geweckt, als dass ich nicht hätte suchen sollen, es zu verwirklichen. Ich stand auf, zog mich in aller Eile an und ging ohne Frühstück aus dem Hause, ohne zu wissen wohin.
Eine Stunde nachdem ich die Stadt verlassen hatte, fand ich mich inmitten vieler Berge wieder, so dass ich hätte glauben können, mich verlaufen zu haben, wenn ich nicht überall Wagenspuren erspäht hätte, die mir verhiessen, dass mich jener Weg an einen gastlichen Ort bringen müsste. Alle Viertelstunden lang begegnete ich Bauern, aber ich gefiel mir darin, von ihnen keinerlei Auskunft zu erfragen. Nachdem ich sechs Stunden lang langsamen Schrittes gelaufen war, fand ich mich plötzlich auf einer grossen Ebene zwischen vier Bergen wieder. Ich hatte auf der linken Seite die schöne Aussicht auf eine grosse Kirche, die an ein Gebäude mit gleichförmiger Fassade angrenzte, welche die Wanderer einlud, sie aus der Nähe zu betrachten. Ich sah, als ich dichter herankam, dass es nur ein Kloster sein konnte, und war froh darüber, in einem katholischen Kanton zu sein.
Ich fand die Kirchentüre offen, trat ein und war verwundert über den reichen Marmorschmuck und die Schönheit der Altäre. Nachdem ich die letzte Messe gehört hatte, ging ich in die Sakristei, wo ich eine Menge Benediktiner fand.
Der Abt, den ich inmitten dieser Mönche an dem um seinen Hals hängenden Kreuz erkannte, trat auf mich zu und fragte, ob ich die Sehenswürdigkeiten des Klosters und der Kirche in Augenschein zu nehmen wünsche. Ich antwortete ihm, dies werde mir viel Vergnügen machen, und er erbot sich, nebst zwei anderen Brüdern selber mein Führer zu sein. Ich sah sehr reiche Gewänder, die mit Gold und echten Perlen überladen, Monstranzen, die mit Diamanten und anderen Edelsteinen geschmückt waren, eine reiche Balustrade und anderes mehr.
Ich verstand sehr wenig Deutsch und kein Wort von der Schweizer Mundart, die mir sehr schwer verständlich zu sein scheint und in der deutschen Sprache etwa die Stellung einnehmen dürfte wie die genuesische Mundart in der italienischen. Ich begann daher Lateinisch zu sprechen und fragte den Abt, ob die Kirche schon vor langer Zeit erbaut worden sei. Hierauf begann der Hochwürdigste eine lange Geschichte, die mich beinahe dahin gebracht hätte, meine Neugierde zu bereuen, wenn er mir nicht zum Schluss gesagt hätte, es sei die einzige Kirche auf der ganzen Welt, die Jesus Christus in eigener Person geweiht habe. Demnach musste die Gründung schon recht weit zurückliegen, und ohne Zweifel machte ich ein etwas überraschtes Gesicht dazu; denn der Abt lud mich ein, ihm in die Kirche zu folgen, um mich von der Wahrheit jener Worte zu überzeugen. Dort zeigte er mir auf dem glatten Marmor fünf Eindrücke, die von den Fingern Jesu Christi im Augenblick der Einweihung stammten, um die Zweifler zu überzeugen und dem Superior die Mühe zu ersparen, den Diözesebischof zur Weihe der Kirche herbeirufen zu lassen. Der Superior hatte dieses Wunder durch eine göttliche Offenbarung im Traum erfahren, die ihm in verständlichen Worten befahl, nicht mehr an eine Weihe zu denken, denn die Kirche sei «divinitus consecrata» [von Gott geweiht], das sei so wahr, dass man die Eindrücke an der bestimmten Stelle sehen könnte. Er ging in die Kirche, sah sie und dankte dem Herrn. […]
Die überzeugungsvolle Miene, womit der Abt mir diese Ammenmärchen vortrug, erregte in mir eine Lachlust. Ich hörte jedoch in so ehrfurchtsvollem Schweigen zu, dass der Hochwürdige Herr ganz entzückt war und mich fragte, in welchem Gasthof ich wohnte. Ich antwortete ihm: «Nirgends; denn ich bin von Zürich zu Fuss gekommen, und mein erster Besuch hat Ihrer Kirche gegolten.»
Ich weiss nicht, ob ich vielleicht diese Worte mit einem Ausdruck von Zerknirschung vorbrachte, aber der Abt faltete seine Hände und hob sie zum Himmel empor, als wenn er Gott dafür danken wollte, dass er mein Herz gerührt und mich auf meiner Pilgerschaft geleitet hätte, um in diesem Heiligtum die Last meiner Sünden abzuwerfen.
Dies erschien mir natürlich; denn ich weiss, dass ich stets wie ein grosser Sünder ausgesehen habe.
Der Abt sagte mir, es sei bald Mittag und er hoffe, ich werde ihm die Ehre antun, mit ihm zu speisen; ich nahm dies mit verbindlichem Dank an. Ich wusste nicht, wo ich war, und wollte ihn nicht fragen; denn es war mir erwünscht, ihn bei dem Glauben zu belassen, dass ich zur Abbüssung meiner Sünden eine Pilgerfahrt machte.
Unterwegs sagte der Abt mir, seine Ordensbrüder ässen an diesem Tage Fastenspeisen, wir aber würden Fleisch essen, da er von Benedikt XIV. einen Dispens erhalten hätte, der ihm erlaubte, das ganze Jahr hindurch mit drei Tischgenossen Fleisch zu essen. Ich antwortete ihm, ich würde gerne an seinem Vorrecht teilnehmen. Als wir in seinem Zimmer waren, das durchaus nicht einer Büsserzelle glich, zeigte er mir sofort den Dispensbrief, der unter Glas in einem schönen Rahmen dem Esstisch gegenüber an der Wand hing, damit die Neugierigen und Gewissenhaften Kenntnis davon nehmen könnten.
Da auf der Tafel nur für zwei Personen angerichtet war, legte ein Bedienter in reicher Livree noch ein Gedeck auf, was dem bescheidenen Abt Gelegenheit gab, mir zu sagen: «Ich speise für gewöhnlich mit meinem Kanzler; ich muss nämlich eine Staatskanzlei halten, weil ich in meiner Eigenschaft als Abt von Einsiedeln auch Fürst des Heiligen Römischen Reiches bin.»
Ich atmete auf; denn nun wusste ich endlich, wo ich mich befand, und dies war mir sehr angenehm. Von «Unserer Lieben Frau zu den Einsiedeln» hatte ich sprechen hören, dem Loreto1 nördlich der Alpen.
Bei Tisch fragte der Fürstabt mich, aus welchem Lande ich wäre, ob ich verheiratet wäre und ob ich die schönen Gegenden der Schweiz zu besuchen gedächte; zugleich bot er mir Empfehlungsbriefe an für alle Orte, die ich aufzusuchen wünschte.
Ich sagte ihm, ich wäre Venezianer, Junggeselle, und würde die mir angebotenen Briefe dankbar annehmen, nachdem ich ihm in einer Unterredung gesagt haben würde, wer ich wäre. Ich hoffte, er würde mir diese bewilligen, da ich den Wunsch hätte, ihm alles anzuvertrauen, was ich auf dem Gewissen hätte. So ging ich, ohne jeden Vorbedacht und ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, die Verpflichtung ein, diesem Abt zu beichten. Diese Plötzlichkeit der Entschlüsse war meine besondere Liebhaberei. Wenn ich einem plötzlichen Einfall folgte, wenn ich etwas tat, was ich vorher nicht überlegt hatte, so kam es mir vor, als wenn ich die Gesetze meines Schicksals befolgte und einem höchsten Willen nachgebe. […]
Als das Mahl beendet war, machte der Kanzler eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und entfernte sich. Gleich darauf führte der Abt mich im ganzen Kloster herum und zuletzt auch in die Bibliothek. […]
Über den Anblick der Bibliothek würde ich laut aufgeschrien haben, wenn ich allein gewesen wäre. Sie enthielt nur Folianten, und die neuesten waren ein Jahrhundert alt. Alle diese dicken Bücher handelten nur von Theologie und religiösen Streitfragen: Bibeln, Kommentare, Kirchenväter, mehrere Legisten2 in deutscher Sprache, Annalen und das grosse Lexikon von Hoffmann.
«Ohne Zweifel, hochwürdigster Herr», fragte ich ihn, «haben Ihre Mönche ihre Privatbüchereien, worin sich naturwissenschaftliche, geschichtliche Werke und Reisebeschreibungen befinden?» – «Nein; meine Mönche sind brave Leute, die sich nur um ihre Andachtspflichten kümmern und in süsser Unwissenheit friedlich dahinleben.»
Ich weiss nicht, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf fuhr, aber genug, mich wandelte eine unbegreifliche Laune an – nämlich Mönch zu werden. Ich sagte dem Abt zuerst nichts davon, aber ich bat ihn, mich in sein Kabinett zu führen, indem ich ihm sagte: «Ich wünsche, hochwürdigster Herr, Ihnen eine Generalbeichte aller meiner Sünden abzulegen, damit ich morgen, rein von allen Verbrechen, das heilige Abendmahl empfangen kann.»
Ohne mir zu antworten, führte er mich in ein hübsches Gartenhaus, wo er mir sagte, er sei bereit, mich anzuhören; doch litt er nicht, dass ich niederkniete.
Ihm gegenübersitzend, erzählte ich ihm drei Stunden hintereinander eine Menge anstössiger Geschichten; aber ich erzählte sie ohne Salz, denn ich war in einer asketischen Stimmung und musste in einem Stil der Zerknirschung reden, die ich in Wirklichkeit nicht empfand; denn wenn ich meine tollen Streiche wieder durchging, fand ich die Erinnerung daran durchaus nicht unangenehm. […]
Um glücklich zu sein, brauchte ich, so schien es mir, nur eine Bibliothek nach meinem Geschmack, und ich bezweifelte durchaus nicht, dass der Abt mir erlauben würde, mir nach meinem Belieben alle Bücher anzuschaffen, wenn ich ihm verspräche, sie nach meinem Tode dem Kloster zu schenken, vorausgesetzt, dass mir bei Lebzeiten die freie Benutzung zustände.
Was die Gesellschaft der Mönche anbelangte, Zwietracht, Neid und alle gegenseitigen Quälereien, die von solchen Vereinigungen unzertrennlich sind, so fühlte ich mich sicher, dass ich sie nicht zu fürchten haben würde, da ich nichts wollte und keinen Ehrgeiz hatte, der ihre Eifersucht hätte erregen können. Obgleich ich mich in einer Art von Verzauberung befand, sah ich aber doch die Möglichkeit der Reue voraus, und mir schauderte davor; aber ich hoffte dagegen ein Mittel finden zu können. Indem ich um das Kleid des heiligen Benedikt bitte, sagte ich zu mir, werde ich ein zehnjähriges Noviziat verlangen; kommt die Reue nicht während dieser zehn Jahre, so kann sie unmöglich später kommen. Übrigens wollte ich in aller Form erklären, dass ich nach keinem Amte, nach keiner geistlichen Würde strebte. Ich wollte nur Frieden mit hinlänglicher Freiheit, um nach meinen neuen Neigungen leben zu können, ohne zu irgendeinem Skandal Anlass zu geben. Die Schwierigkeit, die die erbetene lange Dauer meines Noviziats vielleicht verursachen könnte, gedachte ich dadurch zu heben, dass ich im Falle einer Sinnesänderung die vorausbezahlten zehntausend Taler preisgäbe.
Ich schrieb vor dem Schlafengehen diesen ganzen schönen Plan nieder, und da ich am nächsten Tage mich noch ebenso fest entschlossen fand, so übergab ich nach dem Abendmahl meine Schrift dem Abt, der mich in seinem Zimmer erwartete, um mit mir die Morgenschokolade zu trinken.
Er las sofort meine Eingabe und legte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch; nach dem Frühstück las er sie noch einmal, wobei er im Zimmer auf und ab ging, und sagte mir dann, er werde mir nach dem Mittagessen eine Antwort geben.
Nach dem Mittagessen sagte der liebenswürdige Abt zu mir: «Mein Wagen erwartet Sie vor der Tür, um Sie nach Zürich zurückzubringen. Reisen Sie ab, und gönnen Sie mir vierzehn Tage Zeit zur Antwort. Ich werde sie Ihnen persönlich überbringen. Einstweilen bitte ich Sie, diese beiden versiegelten Briefe selber abzugeben.»
Ich antwortete ihm, er habe zu befehlen; ich würde seinen Auftrag pünktlich ausführen und ihn im Gasthof «Zum Schwert» erwarten, in der Hoffnung, dass er meine Wünsche erfüllen würde. Ich ergriff seine Hand, die er sich küssen liess, und fuhr ab. […]
Am Tage vor dem angekündigten Besuch des Abtes stand ich gegen sechs Uhr abends an meinem Fenster, das nach der Brücke hinausging, und unterhielt mich damit, die Vorübergehenden zu betrachten, als ich plötzlich in scharfem Trabe einen vierspännigen Wagen daherkommen sah, der vor der Tür des Gasthofes hielt. Es sass kein Bedienter darauf; infolgedessen öffnete der Kellner den Schlag, und ich sah vier gutgekleidete Damen aussteigen. An den drei ersten bemerkte ich nichts Besonderes, aber die vierte, die als Amazone gekleidet war, fiel mir durch ihre Eleganz und ihre Schönheit auf. Es war eine junge Brünette mit schön geschnittenen, grossen Augen, über denen sich kühn geschwungene Brauen wölbten; sie hatte eine Haut wie Lilien und Wangen wie Rosen, trug eine Kappe aus blauem Satin mit einer Troddel, die ihr auf das Ohr herabfiel und ihr ein sieghaftes Aussehen gab, dem ich nicht zu widerstehen vermochte. Ich beugte mich soweit wie möglich mit dem Oberkörper aus dem Fenster vor, um zehn Zoll höher zu sein, da hob sie den Kopf und sah mich an, als wenn ich sie gerufen hätte. Meine gezwungene Stellung nötigte sie, mich eine halbe Minute lang anzusehen; das war länger, als sich für eine Dame schickte, und mehr als genug, um mich zu entflammen.
Ich eilte an das Fenster meines Vorzimmers, das auf die Treppe ging, und bald sah ich sie vorüberlaufen, um ihre Begleiterinnen einzuholen. Als sie mir gegenüber war, drehte sie sich zufällig um und stiess bei meinem Anblick einen Schreckensschrei aus, als wenn sie ein Gespenst gesehen hätte; sie erholte sich jedoch sofort wieder, lief mit ausgelassenem Lachen weiter und begab sich zu den drei Damen, die schon in ihrem Zimmer waren.
Sterbliche, versetzt euch an meine Stelle und widersteht, wenn ihr könnt, einer so unerwarteten Begegnung, und ihr Fanatiker beharrt, wenn ihr den Mut habt, bei dem lächerlichen Plan, euch in einem Kloster zu begraben, wenn ihr gesehen habt, was ich am 23. April in Zürich sah!
Ich war so aufgeregt, dass ich mich auf mein Bett werfen musste, um wieder ruhig zu werden. Nach einigen Minuten stand ich wieder auf, ging halb willenlos an das Flurfenster und sah den Kellner aus dem Zimmer der Damen kommen.
«Kellner, ich werde im Speisesaal essen.» – «Wenn Sie dies tun, um die Damen zu sehen, so ist es zwecklos, denn diese lassen sich das Abendessen im Zimmer auftragen. Sie wollen früh zu Bett gehen, weil sie in aller Frühe abreisen.» – «Wohin reisen sie?» – «Nach Einsiedeln, wo sie ihre Andacht verrichten wollen.» – «Woher kommen sie?» – «Aus Solothurn.» – «Wie heissen sie?» – «Das weiss ich nicht.»
Ich legte mich wieder auf mein Bett und dachte darüber nach, wie ich an die schöne Amazone herankommen könnte.
Soll ich nach Einsiedeln gehen? Ja, was soll ich aber dort tun? Die Damen wollen dort beichten, kommunizieren, mit Gott, den Heiligen und den Mönchen Zwiesprache halten, was sollte ich dabei. Und wenn ich unterwegs dem Abt begegnete – was bliebe mir anders übrig, als wieder umzukehren? Hätte ich einen treuen Freund bei mir, so könnte ich mich in einen Hinterhalt legen und die Amazone entführen; dies wäre leicht gewesen, denn es war kein Mann bei ihr, um sie zu verteidigen. Wie wäre es, wenn ich sie ganz dreist zum Abendessen einlüde? Ja, aber diese schrecklichen drei Frauenzimmer! Man würde mich zurückweisen. Mir schien, die schöne Amazone könne nur oberflächlich fromm sein; denn aus ihrem Gesicht sprach Liebe zum Vergnügen, und ich hatte mich seit langer Zeit daran gewöhnt, die Frauen nach ihrem Mienenspiel zu beurteilen.
Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte, als ich einen höchst glücklichen Einfall hatte. Ich stellte mich an das Flurfenster und blieb dort so lange, bis der Kellner vorüberkam. Ich liess ihn in mein Zimmer eintreten, drückte ihm zur Einleitung ein Goldstück in die Hand und sagte ihm, er möchte mir seine grüne Schürze leihen, denn ich wolle den Damen bei ihrem Abendessen aufwarten.
«Du lachst?» – «Ja, gnädiger Herr, über Ihre Laune, deren Zweck ich ahne.» – «Du bist ein Pfiffikus.» – «So sehr wie Sie einer. Ich werde Ihnen eine schöne, ganz neue Schürze holen. Die Hübsche hat mich gefragt, wer Sie seien.» – «Das kann sein, denn sie hat mich kurz gesehen, sicher wird sie mich nicht wiedererkennen. Was hast du ihr geantwortet?» – «Sie seien Italiener, weiter nichts.» – «Sei verschwiegen, und ich werde das Goldstück verdoppeln.» – «Ich habe Ihren Spanier gebeten, mir beim Aufwarten zu helfen, denn ich bin ganz allein und muss zugleich unten bedienen.» – «Schön; aber er darf nicht ins Zimmer kommen, denn der Bursche würde sich das Lachen nicht verhalten können. Er kann in die Küche kommen, du gibst ihm die Schüsseln, und er reicht sie mir an der Türschwelle.»
Der Kellner ging und kam gleich darauf mit einer Schürze und mit Leduc wieder, dem ich sehr ernst auseinandersetzte, was er zu tun hätte. Er lachte wie verrückt, versicherte mir jedoch, ich würde mit ihm zufrieden sein. Ich liess mir ein Vorlegemesser geben, tat mein Haar in einen Haarbeutel, schlug den Halskragen herunter und band die Schürze über meine scharlachrote goldbestickte Weste. Hierauf betrachtete ich mich im Spiegel und fand mit Befriedigung, dass ich gemein genug aussah, um die bescheidene Persönlichkeit vorzustellen, die ich spielen sollte. Ich war in freudiger Stimmung; denn ich sagte mir, da sie aus Solothurn wären, so müssten sie doch Französisch sprechen.
Leduc meldete mir, dass der Kellner gleich kommen werde. Ich ging in das Zimmer der Damen, musterte die gedeckte Tafel und sagte zu ihnen: «Man wird sofort auftragen, meine Damen.»
Die hässlichste von den vieren sagte mir: «Beeilen Sie sich nur, wir wollen schon vor Tagesanbruch aufstehen.» Ich rückte Stühle an den Tisch und sah die Schöne von der Seite an. Sie blickte mich an, als wenn sie versteinert wäre. Ich half dem Kellner die Schüsseln auf den Tisch setzen, und hierauf sagte er zu mir: «Hör mal, du, bleib hier; ich muss unten bedienen.»
Ich nahm ein Vorgericht und stellte mich meiner Amazone gegenüber hinter einen Stuhl, von wo aus ich sie unauffällig vorzüglich sehen konnte. Besser gesagt: ich hatte nur für sie Augen. Sie war erstaunt; die anderen beehrten mich nicht einmal mit einem Blick, und dies war das beste, was sie tun konnten. Nach der Suppe eilte ich zu ihr und wechselte ihren Teller; denselben Dienst verrichtete ich auch bei den anderen, worauf sie sich selber bedienten.
Während sie assen, nahm ich einen gepökelten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht.
«Dieser Kellner», sagte meine Schöne, «bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?» – «Erst seit wenigen Wochen, Madame.» – «Sie servieren ausgezeichnet.» – «Madame sind sehr gütig.»
Ich hatte meine Manschetten von prachtvoller englischer Spitze in meine Ärmel hineingesteckt; aber die Hemdenkrause sah ein wenig aus der Weste hervor, die ich nicht sorgfältig zugeknöpft hatte. Sie bemerkte diese und rief: «Warten Sie, warten Sie!»
«Was wünschen Sie, Madame?» – «Lassen Sie doch mal sehen. Da haben Sie ja prachtvolle Spitzen.» – «Ja, Madame, das hat man mir gesagt; aber sie sind alt. Ein vornehmer italienischer Herr, der hier wohnte, hat sie mir geschenkt.» – «Haben Sie auch solche Manschetten?» – «Ja, Madame.»
Mit diesen Worten streckte ich meine Hand aus und knöpfte mit der anderen den Westenärmel auf. Sie zog langsam die Manschetten hervor und schien sich absichtlich so vorzubeugen, dass meine Blicke sich an ihrem Gesicht berauschen konnten. Welch köstlicher Augenblick! Ich wusste, dass sie mich wiedererkannt hatte, und als ich sah, dass sie darüber schwieg, empfand ich eine wirkliche Qual bei dem Gedanken, dass ich mit dieser Maskerade nur bis zu einem gewissen Punkt gehen konnte.
Als sie die Spitzen ziemlich lange betrachtet hatte, sagte ihre Nachbarin zu ihr: «Aber, meine Liebe, was für eine Neugier! Man sollte meinen, du hättest in deinem Leben noch keine Spitzen gesehen.»
Meine liebenswürdige Neugierige errötete.
Nach dem Essen zogen sich alle vier in eine Ecke zurück, um sich auszukleiden, während ich den Tisch abräumte, und meine Schöne begann zu schreiben. Ich gestehe, es fehlte nicht viel daran, so hätte ich in meiner Eitelkeit mir eingebildet, dass sie an mich schriebe; ich hatte aber doch eine zu gute Meinung von ihr, um nicht diesen Gedanken sofort zu verwerfen. Als ich abgedeckt hatte, stellte ich mich neben die Tür.
«Worauf warten Sie?» fragte die Schöne mich. – «Auf Ihre Befehle, Madame.» – «Ich danke Ihnen; ich brauche nichts.» – «Sie tragen Stiefel, Madame, und wenn Sie sich nicht etwa gestiefelt zu Bett legen wollen …» – «Da haben Sie allerdings recht; aber ich möchte Ihnen nicht die Mühe machen.» – «Bin ich denn nicht dazu da, Sie zu bedienen, Madame?»
Mit diesen Worten kniete ich vor ihr nieder und schnürte langsam ihre Halbstiefel auf, während sie ruhig weiter schrieb. Ich ging aber noch weiter: ich löste die Schnalle ihres Hosenbandes, um ihre Strümpfe herunterzuziehen, und weidete mich am Anblick und noch mehr am Betasten ihrer wundervoll geformten Waden; aber zu früh für meine Wünsche hörte sie auf zu schreiben, wandte den Kopf um und sagte: «Nun ist es aber genug, ich bemerkte gar nicht, dass Sie sich zu viel Mühe gaben; gehen Sie! Morgen abend werden wir uns wiedersehen.»
«Sie werden also hier zu Abend speisen, meine Damen?» – «Ja, gewiss.»
Ich nahm ihre Stiefel mit, indem ich sie fragte, ob ich die Tür verschliessen solle. «Nein, mein Lieber», antwortete sie, «lassen Sie den Schlüssel von innen stecken.»
Als Leduc die Stiefel der Fee mir abnahm, lachte er wie ein Besessener und sagte: «Sie hat Sie angeführt.» – «Wieso?» – «Ich habe alles gesehen, Monsieur. Sie spielten Ihre Rolle wie der beste Pariser Schauspieler, und ich bin überzeugt, morgen früh wird sie Ihnen einen Louis Trinkgeld geben; aber wenn Sie den nicht mir geben, plaudere ich die ganze Geschichte aus.» – «Da, du Spitzbube, da hast du ihn schon im voraus; lass mir schnell das Abendessen auftragen.»
Dies, lieber Leser, sind Freuden, die ich mir in meinem Alter nicht mehr verschaffen kann, die ich aber noch in der Erinnerung geniessen darf. Gewisse Unmenschen predigen die Reue, und närrische Philosophen erklären unsere Freuden für nichts als Eitelkeiten.
Ein barmherziger Traum liess mich die Nacht mit meiner Amazone verbringen, ein künstlicher, aber makelloser Genuss.
Quelle: Giacomo Casanova Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens, Hrsg. und kommentiert von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. Band 6, München: Verlag C. H. Beck 1985, S. 108–116.
Editorische Notiz: Casanovas Muttersprache war Italienisch, aber seine Schriften verfasste er auf Französisch, der bevorzugten Sprache der damaligen gebildeten Schichten. Die 3700-seitige Handschrift seiner Memoiren vermachte er kurz vor seinem Tod seinem Neffen. 1821 wurden sie an den Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus verkauft. Der Text erschien im gleichen Jahr erstmals in gedruckter Form, allerdings stark zensiert und entstellt. Dennoch landete er sofort auf dem päpstlichen Index der verbotenen Bücher. Jahrzehntelang wurden nur stark bereinigte Fassungen veröffentlicht, die dann in Raubdrucken und eigenwilligen Übersetzungen erschienen. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg überstand das Manuskript unbeschadet (siehe Einleitung, Seite 12). Erst 1960 erschien die erste vollständige Ausgabe, eine erste englische Übersetzung 1966, gerade rechtzeitig im Umfeld der sexuellen Revolution.
2010 hat die Bibliothèque Nationale in Paris das Manuskript für die sagenhafte Summe von 7,5 Millionen Euro erworben – noch nie wurde ein höherer Preis für eine Handschrift bezahlt; die Lebenserinnerungen sind, wie Fachleute und Kuratoren attestieren, in einem wunderbaren und lebendigen Französisch verfasst. Und Blätter und Tinte sind so gut erhalten, dass es so aussieht, als hätte Casanova erst gestern das Löschpapier drauf gepresst. 2012 bis 2015 ist eine dreibändige kritische Gallimard-Ausgabe erschienen, die erstmals den ganzen, den unverfälschten Casanova zugänglich macht, wissenschaftlich kommentiert.
Bad Pyrmont —
Basel —
Biel —
St. Petersinsel —
Solothurn —
Aarau —
Zürich —
Schaffhausen —
Luzern —
Gotthard —
Furka —
Grimsel —
Grindelwald —
Lauterbrunnen —
Thun —
Bern
Die St. Petersinsel von Norden – Ziel literarischer Pilgerfahrten auf den Spuren Jean-Jacques Rousseaus. Gouachemalerei von Johann Jakob Hartmann (1811).
Jens Immanuel Baggesen (1789)
Wie kommt es dazu, dass ein erwachsener Mann weinend in die Knie sinkt und den Boden einer der wenigen Schweizer Inseln, namentlich der St. Petersinsel, küsst? Er ist nicht der Einzige, der dem idyllischen Eiland einen tränenreichen Besuch abstattet, vor und nach ihm sind Dutzende von Zeugnissen überliefert, von Schwindel wird berichtet, von heftigem Herzklopfen, von Umarmungen im gemeinsamen Gefühlstaumel. Das Geheimnis hinter diesem (aus heutiger Sicht) eher merkwürdigen Verhalten ist verbunden mit Jean-Jacques Rousseau. Um es kurz zu machen: Rousseau war einer der Superstars des 18. Jahrhunderts, vergleichbar mit Goethe; wer konnte, verschlang seine Schriften, die literarischen und die philosophischen, man nahm aber auch äusserst regen Anteil an seinem Schicksal, seinem Privatleben; von einigen seiner Anhänger wurde er regelrecht «gestalkt», würde man im heutigen Sprachgebrauch sagen. 1765 verbrachte er als politischer Flüchtling knapp zwei Monate auf der St. Petersinsel (verfolgt wurde er aufgrund seiner Publikationen, in denen er unter anderem unerhört neue Ideen zur Religionsfreiheit, zum Volk als oberstem Souverän, zu einer kindgerechten Erziehung formulierte). Im Rückblick schilderte er diese Herbstwochen mitten im Bielersee als die glücklichste Zeit seines Lebens, als einen Aufenthalt im Paradies, den er mit Botanisieren, Schreiben, Spazieren, Bootfahren verbrachte, nur manchmal unterbrochen durch eine Beteiligung an der Apfelernte oder einem Winzerfest oben auf der Inselkuppe: «Man hat mir einen kaum zwei Monate währenden Aufenthalt auf dieser Insel gegönnt. Ich aber hätte ohne einen Augenblick der Langeweile zwei Jahre, zwei Jahrhunderte und die ganze Ewigkeit auf ihr verbracht.»
Seine Schilderungen, in den Confessions (Bekenntnisse) und in den Rêveries d’un promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers), nach seinem Tod in den 1780er-Jahren erschienen, lösten augenblicklich einen Besucheransturm auf die St. Petersinsel aus. Und Jens Immanuel Baggesen, der Däne, der in seiner Muttersprache, aber auch auf Deutsch schrieb, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eine solche Rousseau-Pilgerfahrt ablief. Als der Dichter 1789 auf der Insel ankam, war diese noch vollkommen von Wasser umgeben (erst die Juragewässerkorrektur von 1868 bis 1891 liess den Seespiegel sinken, und aus der einstigen Insel wurde, durch neu aufgetauchtes Erdreich, eine Halbinsel mit einer natürlichen Landbrücke nach Erlach).
Fast alle Schiffe landeten damals an der sogenannten Südländte der Insel, schräg gegenüber von Lüscherz. Ein kleiner Kanal formte dort einen schützenden Hafen. Heute ist dieser Wasserweg zugeschüttet, nur die ihn einst säumenden Pappeln sind stehen geblieben und deuten den ehemaligen Verlauf an. Nicht nur Baggesen, auch viele andere Reisende berichten, dass die ersten Schritte auf diesem «heiligen Grund» sie erschütterten. In der Regel besuchte man zuerst das Rousseau-Zimmer, zwei bescheidene Kammern im Pächterhaus, zu Rousseaus Zeiten ein Bauernhof, vormals ein Benediktinerkloster. Einer der berühmtesten Schauspieler und Theatermänner der
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