Von den letzten Dingen -  - E-Book

Von den letzten Dingen E-Book

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Beschreibung

Prof. Dr. med. Hans Anton Adams ist ein weit über seine niedersächsische Wirkungsstätte hinaus bekannter und profilierter Notarzt und Intensivmediziner. Bisher als Autor medizinischer Fachbücher und Beiträge hervorgetreten, ist dieses Buch ganz und gar singulär. Im Mittelpunkt steht das ethische wie religiöse Credo des Arztes angesichts von Leid und Tod. Der Autor widmet sich zunächst aus medizinischer Sicht den „letzten Dingen“ des Menschen: dem Sterben. Unsentimental, eindringlich – und nicht ohne Humor – schildert er dabei seinen ganz persönlichen Kraftquell: seinen Glauben und sein ärztliches Ethos. Diese Fragen werden in der Folge von renommierten Theologen aus katholischer, evangelischer, jüdischer und muslimischer Sicht beleuchtet und damit in einen großen Rahmen gestellt. Das Buch ist zugleich eine ganz persönliche Reverenz von Professor Adams nicht nur gegenüber den Ärzten und Pastoren, sondern gegenüber allen Menschen, die Sterbende auf ihrem letzten Weg begleiten. Nicht zuletzt wendet sich das Buch an alle, die sich mit diesen ihren letzten Dingen einmal bewusst auseinandersetzen wollen.

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Von den letzten Dingen

Leid, Sterben und Leben aus medizinischer und theologischer Sicht

Hans Anton Adams

mit Geleitworten von Joachim Meisner und Eckhard Frick und Beiträgen von Eberhard Schockenhoff, D. Horst Hirschler, Jonah Sievers, Ilhan Ilkilic und Mahide Bolahatoglu

Zur besseren Lesbarkeit wird auf geschlechtsneutrale Benennungen (Patientinnen und Patienten) verzichtet und die männliche Geschlechtsform gewählt. Bei den Gedichten, Liedern und historischen Zitaten wurden Schreibweise und Zeichensetzung ggf. behutsam angepasst.

Das Umschlagbild – nach einem Ölbild des Trierer Malers Ernst Brand-Pagés (1898 - 1983) aus dem Jahr 1980 im Besitz des Autors – zeigt die Heidekapelle in Ehrang. Die Kapelle wurde im Jahr 1375 erbaut und im Jahr 1632 erneuert. Links von der Kapelle ist die 14. Station des Kreuzwegs (Jesus wird ins Grab gelegt) zu erkennen; der Kreuzweg führt von der Pfarrkirche „St. Peter“ den Heideberg hinauf zur Kapelle.

© Lehmanns Media • Berlin 2015

Helmholtzstraße 2-9

10587 Berlin

Druck und Bindung: Drukarnia Dimograf • Bielsko-Biała

ISBN 978-3-86541-742-8

www.lehmanns.de

Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu.

Georg Thurmair 1935

Geleitwort - Joachim Kardinal Meisner

„Denn ich bin der Herr, dein Arzt“ (Exodus 15,26 [1]). Schon das Alte Testament verknüpft Fluch oder Segen, die sich der Mensch durch seine Entscheidung gegen oder für Gott zuzieht, mit Gesundheit und Krankheit. Christus führt diese Linie zumindest in übertragenem Sinne fort, wenn er den Pharisäern, die ihn wegen seines Kontakts mit Sündern kritisieren, entgegenhält [1]: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mt 9,12). Und durch seine Heilungswunder macht der Herr den Anbruch des Gottesreichs auf besondere Weise geradezu augenfällig.

Theologen sind es gewohnt, in Katechese und Predigt auf solche Zusammenhänge einzugehen. Hier aber wendet sich ein gestandener, hocherfahrener Arzt sozusagen von der anderen Seite aus diesem Thema zu – das ist wesentlich weniger üblich und entsprechend spannend. Ein Fachmann der Medizin kommt zu Wort, der zugleich als Christ sein Leben ganz aus seinem Glauben heraus gestaltet und dabei eben gerade auch seinen Berufsalltag nicht ausspart. So ist weniger ein Lehrwerk der Intensiv- und Katastrophenmedizin entstanden, auch wenn immer wieder diagnostische und therapeutische Details zur Sprache kommen. Wohl liegt hier ein Buch vor, das man jedem jungen Arzt, jeder jungen Ärztin in die Hand geben möchte. Mehr noch: Alle, die mit den Themen „Sterben“ und „Tod“ konfrontiert werden – und wer würde das nicht über kurz oder lang? –, können aus Adams‘ Erfahrungen Nutzen für ihr persönliches Leben und das ihrer Angehörigen ziehen.

Entscheidend erleichtert wird das durch den Schreibstil des Autors. Hier erzählt ein Arzt authentisch und ohne Schnörkel aus seinem Leben und Arbeiten. Die Tendenz, sich dabei als unfehlbaren „Halbgott in Weiß“ darzustellen, sucht man vergebens. Es ist vielleicht einer der sympathischsten Züge dieses Buchs, dass sein Verfasser eigene Fehler und Unzulänglichkeiten nicht verschweigt. Er erliegt auch nicht der Versuchung, sich durch eine übertriebene Fachsprache von der Leserschaft abzugrenzen. So macht Lesen (und Nachdenken) Freude! Ich wollte das Buch ursprünglich nur stichprobenartig durchsehen – und habe es dann erst weggelegt, als ich es ausgelesen hatte.

Eine wertvolle Ergänzung sind die fachtheologischen Beiträge aus katholischer, evangelisch-lutherischer, jüdischer und muslimischer Sicht. Eberhard Schockenhoff legt den aktuellen Stand katholischer Moraltheologie vor; dafür bin ich ihm dankbar, wenn ich auch ein wenig bedrückt feststelle, dass das heute möglich ist, ohne den Namen „Gott“ dabei auch nur ein einziges Mal zu nennen. Im Vordergrund steht gegenwärtig – so Schockenhoff selbst – die menschliche Autonomie. Gewünscht hätte ich mir den Hinweis darauf, dass diese legitime Eigenständigkeit des Menschen umfasst wird von Gottes Wille und Gnade, die sie tragen, ihr aber auch Grenzen setzen. Dieser Gedanke findet sich dann aber bei Horst Hirschler und vor allem bei Jonah Sievers sowie bei Ilhan Ilkilic und Mahide Bolahatoglu. Kurz und prägnant formuliert: Der Mensch ist nicht Eigentümer seines Körpers und Lebens, sondern bestenfalls Besitzer desselben (S. 199 und S. 220). So stelle ich mir einen fruchtbaren ökumenischen und interreligiösen Austausch vor!

Ich wünsche dem hier vorgelegten Buch eine breite und interessierte Leserschaft, die dazu bereit ist, nicht nur ihren Intellekt, sondern auch ihr Herz ansprechen zu lassen – denn beides macht den Menschen aus.

Köln, den 28. Mai 2015

+ Joachim Kardinal Meisner Erzbischof em. von Köln

Geleitwort - Prof. Eckhard Frick SJ

Es ist nicht leicht, den roten Faden in den vielgestaltigen Texten dieses Buches zu benennen. Und doch ist er von der ersten bis zur letzten Zeile spürbar. Es finden sich darin spannende berufliche Erfahrungen aus der notärztlichen und intensivmedizinischen Lebenserfahrung von Hans Anton Adams – nicht selten mit dem Eingeständnis eigener Fehler, mit dem Bekennen „nicht druckreifer“ Äußerungen wie im Abschnitt über die Sichtung in Großschadenslagen: „Herr D…, lassen Sie die Oma sausen und kümmern Sie sich um das Kind. Intubieren, in den RTW (Rettungswagen) und sofort zu uns!“ (S. 125). Gerade in dem, was nicht ideal oder geschönt erscheint, sondern nah am einzelnen Schicksal, wird die Suche nach dem Vorbild deutlich und das Bemühen, in aller Begrenztheit selbst ein Vorbild zu sein, als klinischer Lehrer, aber auch handwerklich, als einer, der vor dem ärztlichen Handwerk das Fleischerhandwerk erlernt hat. Daneben lese ich tiefgründige Reflexionen über die Frage der Autonomie des Sterbenden aus jüdischer, islamischer, christlicher Sicht. Die eigene römisch-katholische Verwurzelung wird aus vielen biblischen, Katechismus- und Gebetstexten deutlich, die Hans Anton Adams mit dem (nach eigenem Bekunden) kindlichen Glauben einstreut. So begegnet dem Leser eine alltäglich-diesseitige Transzendenzerfahrung, das Rechnen mit der Spiritualität mitten in der kruden Materialität von Unfallort, Operationssaal oder Intensivstation. So geht es (dem Buchtitel entsprechend) nicht nur um den Tod als die definitive Grenze des Menschen, sondern viel breiter um „die letzten Dinge“ während eines langen Lebens, um die Belastungen und Kraftquellen des ärztlichen Berufes und überhaupt aller Gesundheitsberufe. Die Resilienz dieser Berufe angesichts vieler Grenzerfahrungen zu fördern [2], ist auch eine Frage der Spiritualität der Heilberufe, die in einem umfassenden Sinne eine „seelsorgende“ Aufgabe haben – nicht in Konkurrenz zu Fachtheologen und ‚amtlichen‘ Seelsorgenden, sondern als Teil der therapeutischen Begegnung mit kranken Menschen. Spiritual Care als Teil der Berufung zum Arztsein speist sich für Hans Anton Adams aus einer bodenständigen Trierer Frömmigkeit, die „katholisch“ in einem doppelten Sinne ist: einerseits durch Orientierung an Kreuz und Auferstehung Jesu, Praxis der Sakramente, Eingebundensein in die Kirche, fröhlich-selbstverständliche Hochschätzung Marias und der Heiligen, andererseits „allumfassend“ durch den Respekt vor der Vielfalt spiritueller Deutungen der Grenzerfahrungen angesichts von Krankheit und Tod – in den christlichen Konfessionen, in anderen Religionen und in den unterschiedlichen spirituellen Suchbewegungen heutiger Menschen.

Vorwort

Die letzten Dinge aus medizinischer und theologischer Sicht zu betrachten, ist ein schwieriges Unterfangen. In diesem Büchlein wird dennoch versucht, die Perspektiven eines Arztes und die von Theologen der großen monotheistischen Religionen auf Leid und Sterben, zu dem auch „Un-Heil“ gehört, zusammenzuführen und dabei den Blick auf das Leben zu richten – ein Leben in der festen Hoffnung auf das Heil und die Seligkeit bei Gott. Die Autoren wenden sich nicht nur an Ärzte und Seelsorger, sondern an alle Menschen, die mit dieser Thematik beruflich konfrontiert sind – dazu zählen vor allem die im Rettungs- und Sanitätsdienst, in den Hilfsorganisationen und Feuerwehren sowie in den Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen tätigen Menschen, aber auch die Polizisten und Soldaten. Darüber hinaus wendet sich das Büchlein an alle Menschen, die sich mit diesen – besser doch ihren – letzten Dingen einmal bewusst auseinandersetzen wollen.

In den folgenden Kapiteln wird neben meiner ärztlichen Perspektive auch meine römisch-katholische Laiensicht deutlich werden (siehe dazu die Tafeln 1 - 3). Namhafte Theologen werden meine Beiträge dann aus ihrer jeweiligen Perspektive wesentlich ergänzen und unterbauen, wofür ich ihnen nochmals herzlich danke. Wer sich in einer Situation wiedererkennt oder unverstanden fühlt, dem sei versichert, dass es mir und allen Autoren fern liegt, irgendjemand bloßstellen oder verletzen zu wollen. Im Namen aller Autoren wünsche ich den Lesern grundsätzliches Wohlwollen und ein offenes Herz – und es wäre schön, wenn diese Büchlein einen kleinen Beitrag zur Besinnung und auch zur Erbauung leisten könnte.

H. A. Adams

Die Frage nach dem wichtigsten Gebot

Ein Schriftgelehrter… fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.

Tafel 1: Die zeitlose Frage nach dem wichtigsten Gebot – und die zeitlos gültige Antwort in Mk 12,28-31 [1].

Tafel 2: Die Heiligen Cosmas und Damian, Schutzpatrone der Ärzte und Apotheker.

Confiteor

Confiteor Deo omnipotenti

et vobis, fratres,

quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione:

mea culpa, mea culpa,

mea maxima culpa.

Ideo precor

beatam Mariam semper Virginem,

omnes Angelos et Sanctos,

et vos, fratres,

orare pro me ad Dominum Deum nostrum.

Das Schuldbekenntnis

Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen,

und allen Brüdern und Schwestern,

dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.

Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken

durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.

Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria,

alle Engel und Heiligen,

und Euch, Brüder und Schwestern,

für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.

Tafel 3: Das Confiteor oder Schuldbekenntnis [3] – niemand ist frei von Schuld und jeder bedarf der Vergebung.

Der Arzt im Spannungsfeld von Leid, Sterben und Leben

Arzt, Notarzt, Intensivmediziner – einleitende Gedanken

Was unterscheidet den Arzt vom Mediziner, wenn beide Begriffe doch oft synonym gebraucht werden? – ebenso wäre zu fragen, was den Seelsorger vom bloßen Theologen und den Lehrer vom abstrakten Pädagogen unterscheidet.

Die klassische Universität kannte vier Fakultäten: Theologie, Philosophie, Medizin und Jurisprudenz. Während die Jurisprudenz primär gesellschaftlich-ordnende Funktionen hat, sind die anderen Fächer Wissenschaften vom Menschen, deren Vertreter – ihre fachliche Kompetenz ohne weiteres vorausgesetzt – erst durch innere Zuwendung (Empathie) zum Helfer und Freund der ihnen anvertrauten Menschen werden. Die dazu erforderlichen menschlichen Qualitäten hat schon der Apostel Paulus in Römer 12,15 beschrieben [1]:

„Freut euch mit den Fröhlichen, und weint mit den Weinenden.“

Ein wahrer Arzt wendet sich dem Patienten – vom Lateinischen patiens, patientis; für erduldend, erleidend [4] – ganzheitlich zu und wächst damit über den bloßen Mediziner hinaus. In der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte [5] finden sich einschlägige Vorgaben, die es nicht an der gebotenen Klarheit fehlen lassen:

„Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte ist es, das Leben zu erhalten..., Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten…

Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus…

Sie haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten…“

Der (Muster-)Berufsordnung ist darüber hinaus ein – alle Ärzte verpflichtendes – Gelöbnis vorangestellt (Tafel 4), das seinen Ursprung im Hippokratischen Eid hat. Hier sind zwei Sätze besonders beachtenswert:

„…gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen“

– es heißt nicht „meine Arbeitszeit“, was den ganzheitlichen Charakter des Arztberufs betont.

„Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein“ – was nicht immer gelingen kann und Fragen aufwirft, die in diesem Büchlein zur Sprache kommen.

Gelöbnis

Für jede Ärztin und jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis:

„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.

Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.

Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.

Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.

Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder aufgrund einer etwaigen Behinderung noch nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung.

Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.

Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern sowie Kolleginnen und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich auf meine Ehre.“

Tafel 4: Das der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte [5] vorangestellte Gelöbnis.

Der Begriff Arzt findet sich auch im Notarzt, während der intensivmedizinisch tätige Arzt sich diesen Ehrentitel nicht erhalten konnte – mit dem Intensivmediziner hat sich hier leider kein eindeutig arztverwandter Begriff etabliert. Es wird noch darzustellen sein, wie sehr gerade der Patient auf der Intensivstation des Arztes und nicht nur des Mediziners bedarf.

Für die Entscheidung, den Arztberuf zu ergreifen, kommen vielerlei Gründe in Betracht. Ein guter Arzt wird seinen Beruf aber stets als Berufung begreifen und Aspekte wie die soziale Stellung oder das Einkommen dahinter zurückstellen.

Mich haben ein konkretes Schlüsselerlebnis und die ersten Einsätze im Rettungsdienst für den Arztberuf begeistert. Während meiner Fleischerlehre hatte sich ein Finger stark entzündet, und der Lehrmeister hatte mich zum Hausarzt – Dr. med. Paul Bauknecht, einem würdigen Vertreter seines Faches – geschickt, der den vereiterten Finger „vereiste“, die Eiteransammlung mit einem Schnitt entleerte und mich mit einem Verband wieder zur Arbeit entließ. Ich war heilfroh, das Klopfen und den Schmerz nicht mehr zu spüren; „was für ein schöner Beruf“ ging mir durch den Sinn. Das Übrige hat der ehrenamtliche Dienst im Deutschen Roten Kreuz, Ortsverein Ehrang, getan, wo ich am 1. Mai 1967 meine ersten Einsätze als Ersthelfer und Beifahrer im Rettungsdienst absolvierte und später zum Transportsanitäter ausgebildet wurde – Bezeichnungen wie Rettungssanitäter, Rettungsassistent oder Notfallsanitäter waren noch unbekannt.

Aus dieser Zeit steht mir der langjährige und hoch verdiente Chefarzt der Chirurgie des Marienkrankenhauses Trier-Ehrang, Dr. med. Paul Ganz, in fester Erinnerung. Ich entsinne mich, dass ich einmal aus dem elterlichen Fleischerbetrieb heraus als Beifahrer zu einem Rettungseinsatz mitgenommen wurde. Wir lieferten den Patienten in der chirurgischen Ambulanz ab. Wegen meiner doch recht verschmutzten Berufskleidung („Frischer Schmutz ziert den Soldaten“ – die Betonung liegt auf frisch) hatte ich kein gutes Gefühl und stellte mich nach der Übergabe vor der Ambulanz an die Seite. Dr. Ganz kam aus der Ambulanz, sah mich stehen und sagte: „Es ist ja schön, dass du mithilfst, aber du musst dich umziehen – so geht es doch nicht.“

Neben diesem menschlichen Takt im Umgang ist mir Dr. Ganz mit seinem Partner, dem Chefarzt der Anästhesie Dr. med. Paul Pilot, bis heute ein Vorbild reibungsloser Zusammenarbeit in der Notfallversorgung geblieben. Ich hatte nach der Schule – es muss nach meiner Gesellenzeit gewesen sein, als ich auf dem Weg zum Abitur war – Dienst mit dem Krankenwagen (so hieß es damals) und wurde zu einem Einsatz in ein Nachbardorf geschickt. Ein Kind war mit dem Fahrrad schwer gestürzt, es lag zuhause auf dem Bett, fast bewusstlos, blass, kaltschweißig, tief und schnell atmend (hyperventilierend), im schwersten Schock – der zu Hilfe gerufene Hausarzt hatte das Rote Kreuz alarmiert. Aufladen, schnellster Transport und Anmeldung im Krankenhaus über Funk waren ein Tun – das ist in diesem Fall heute noch richtig. Das Ganze aber allein, ohne zweiten Mann; daher wurde der Patient mit den Beinen nach vorn eingeladen und der Innenspiegel zur Beobachtung eingestellt, was zum Begriff Spiegelrettung geführt hat. Nach wenigen Minuten in schnellster Fahrt im Marienkrankenhaus angekommen versuchten zwei Assistenzärzte und ich, eine Vene zu punktieren, bis Dr. Ganz durch die Tür blickte. Er fragte nach dem Hämoglobin-Wert (der Konzentration des für den Sauerstofftransport erforderlichen Blutfarbstoffs als Maß des Blutverlustes), wir kannten ihn noch nicht, und er sagte nur: „Egal, sofort in den OP“ – keine Frage nach irgendeiner weiteren Diagnostik (Ultraschall war noch unbekannt). Ich geriet in meiner Rotkreuzkleidung (der Dienst wurde in Uniform versehen) mit in den OP und sehe es noch lebendig vor mir: Es fiel kein Wort, nur das Geklirr der Instrumente, man hielt dem kräftig gebauten Dr. Ganz den Operationskittel und die Handschuhe hin, er ruckte förmlich hinein; derweil hatte jemand schon ein Desinfektionsmittel auf das Abdomen des Kindes geschüttet, ein großes Schlitztuch wurde darüber geworfen – und mir ging blitzartig durch den Sinn: „Das Kind hat doch gar keine Narkose.“ Weit gefehlt: Ein Blick von Dr. Ganz zum Kopfende, hinter dem Narkosebügel tauchte kurz der Kopf von Dr. Pilot auf, ein zustimmendes Nicken – und Hautschnitt. Mit der Eröffnung des Bauchraums trat rasch der Tod ein, die Bauchaorta (eine Hauptschlagader) war oberhalb der Nierenarterien durch Überdehnung gerissen; dafür gab es trotz allen Bemühens und so beispielhafter Zusammenarbeit keine Hilfe mehr.

Auf dem Weg zum Abitur war mir dann bewusst, dass für ein Medizinstudium gute Noten erforderlich sind – das war damals schon so. Wenn ich als Hochschullehrer bei den Auswahlgesprächen die Studienbewerber – mit meist besseren Noten als den meinen zu dieser Zeit – nach ihrer Motivation zum Studium frage, geben die jungen Menschen nur selten ein Schlüsselerlebnis an. Häufiger ist von „Interesse an der Funktion des Körpers und der Wissenschaft“ oder auch der „sozialen Dimension der Medizin“ die Rede, was aber wohl über die sozialen Netzwerke verteilt und zielgerichtet dargeboten wird. Die Aussage, dass ein bestimmtes ärztliches Vorbild den Ausschlag gegeben hat, ist die große Ausnahme. Im Studium mit seinen vielfältigen Zwängen und der unübersehbaren Verschulung ist es dann schwer, ein ärztliches Vorbild zu finden – zu rasch sind die Wechsel und zu gering die Kontaktzeiten mit konkreten Personen. Hier hat sich im Verlauf nur einer Generation ein tiefgreifender Wandel vollzogen; es bleibt die Hoffnung, dass auch die heutige Generation auf Ärzte stößt, die ihnen Vorbild sein können.

Mir steht aus meinem Medizinstudium an der Universität zu Köln eine ganze Reihe vorbildlicher akademischer Lehrer vor Augen – es seien nur die Professoren Friedrich Tischendorf (Anatomie), Robert Fischer (Pathologie), Rudolf Gross (Innere Medizin), Wilhelm Schink und Heinz Pichlmaier (Chirurgie), Günter Imhäuser (Orthopädie), Gerd Klaus Steigleder (Haut- und Geschlechtskrankheiten), Hellmut Friedrich Neubauer (Augenheilkunde), Fritz Wustrow (Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten) und Werner Scheid (Neurologie) genannt. Sie haben ihre Vorlesungen nach Kräften persönlich gehalten und ließen sich kaum jemals vertreten – und damit nicht nur ihr Fachgebiet glaubwürdig dargestellt, sondern ihre Studenten ärztlich geprägt.

Promoviert habe ich bei Prof. Dr. med. Dieter Jetter, der den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der Universität zu Köln innehatte, über das Thema „Deutsche Marinelazarette von den Anfängen bis heute. Zur Typologie eines Sonderkrankenhauses im Spannungsfeld medizinischer und politischer Entwicklung.“ Prof. Jetter verdanke ich die Suche nach sprachlicher Exaktheit und den Kontakt mit der Welt der Hospitalgeschichte. Dabei erfuhr ich gleichzeitig von dem hohen Anspruch, der auch im militärischen Bereich hinter diesen Bauten und den darin tätigen Menschen stand (Tafel 5).

Nichts, was die Kranken betrifft, muß der Gehülfe für gering achten. Jede Dienstleistung, mag sie noch so niedrig erscheinen und dafür gehalten werden, ist ehrenwerth und deshalb willig zu übernehmen, sobald sie einem kranken Kameraden erwiesen wird.

Tafel 5: Das Motto meiner Dissertation aus dem Jahr 1978 – aus dem „Leitfaden zum Unterricht der in der Königlich Preußischen Armee auszubildenden Lazareth-Gehülfen“ [6].

Unter meinen klinischen Lehrern habe ich vor allem Oberfeldarzt Dr. med. Jochen Heil, Oberfeldarzt Dr. med. Georg Overbeck und Oberstarzt Dr. med. Klaus-Dieter Lange zu danken, die mir im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz die ersten Schritte in der Anästhesie beigebracht haben. Der weitere Berufsweg wurde dann durch Prof. Dr. med. Gunter Hempelmann geprägt, der mir – gegen alle absehbare Wahrscheinlichkeit – nicht nur die Habilitation ermöglicht hat, sondern mir darüber hinaus zum Vorbild in klinischer und wissenschaftlicher Exaktheit, Organisation und Leistungsbereitschaft geworden ist. Seine hohe persönliche Leistungsbereitschaft war mit einem ebenso hohen Anspruch an seine Mitarbeiter verbunden, wobei die Übertragung einer Aufgabe stets auch ein Zeichen von Vertrauen und persönlicher Wertschätzung war. Für meine Habilitationsschrift habe ich ihm – nicht ohne Absicht – zwei Versionen für das Motto vorgelegt; mit dem gewählten bin ich heute noch zufrieden (Tafel 6).

Gib, dass ich tu’ mit Fleiß, was mir zu tun gebühret,

wozu mich Dein Befehl in meinem Stande führet.

Gib, dass ich’s tue bald, zu der Zeit, da ich soll,

und wenn ich’s tu, so gib, daß es gerate wohl.

Was du immer kannst, zu werden,

Arbeit scheue nicht und Wachen;

aber hüte deine Seele

vor dem Karrieremachen.

Tafel 6: Oben das Motto meiner Habilitationsschrift aus dem Lied „O Gott, Du frommer Gott“ [7] von Johann Heermann (1585 - 1647) – darunter die Alternativversion aus dem Gedicht „Für meine Söhne“ [8] von Theodor Storm (1817 - 1888).

Ein kleiner Exkurs zur Ethik

In diesem Büchlein ist vielfach von Ethik – griechisch éthos; Sitte, Brauch [4] – die Rede, die philosophische Wissenschaft vom (richtigen) sittlichen Wollen und Handeln des Menschen. In unserem abendländisch-europäischen Kulturkreis reichen die Anfänge auf Sokrates von Athen zurück, der um 400 v. Chr. lebte und als erster Tugendethiker gilt – im arabischen, persischen, chinesischen und japanischen Kulturraum usw. wird das sicher anders gesehen. Sokrates war ein Zeitgenosse des ebenfalls griechischen Arztes Hippokrates von Kos, dem Stammvater der abendländischen Medizin, so dass Medizin und Ethik – obwohl die beiden Stammväter sich nicht kannten – in derselben Periode wurzeln.

Zu den ethischen Aspekten der Notfall- und Intensivmedizin biete ich seit über 15 Jahren ein Seminar für Studenten und Ärzte an, in dem oft heiß diskutiert wird und kaum jemand kalt bleibt. In diesem Seminar geht es explizit nicht um abstrakte ethische Diskussionen von Begriffen wie Gleichheit und Gerechtigkeit, zu dieser Höhe kann ich mich nicht aufschwingen, und es geht auch nicht um werbewirksame Botschaften im Stil eines Fernlehrgangs („Sie organisieren »Ethik« in Ihrer Institution“) – es geht hier nur um das (möglichst) richtige Handeln in konkreten Situationen.

Ethik – als Sitte und Brauch – besitzt offensichtlich eine zeitliche und ethnische Dimension, was jedoch häufig vergessen wird oder unbeachtet bleibt.

Wie oft werden geschichtliche Persönlichkeiten und Vorgänge aus heutiger Sicht bewertet, Straßen und Plätze umbenannt oder schriftliche Äußerungen moralinsauer kommentiert bis dahin, dass früher übliche Begriffe nur noch in Anführungszeichen genannt werden „dürfen“ und Kinderbücher umgeschrieben werden, um der politischen Korrektheit zu genügen. Da ist dann die zeitliche Dimension der Ethik verloren gegangen. Der Verlust der ethnischen Dimension zeigt sich, wenn letztlich fundamentalistische Vorstellungen – auch des so „aufgeklärten“ Westens – in anderen Kulturräumen notfalls mit Terror und im Gegenzug mit Waffengewalt durchgesetzt werden sollen.

Die viel wichtigere Frage aber ist: Wer oder was sagt uns, wie wir handeln sollen?

Rasch wird hier das Gewissen bemüht, eine individuelle Urteils- und Verpflichtungsinstanz, die aber eben individuell ist und daher grenzenlos manipuliert werden kann. Es ist davon auszugehen, dass so furchtbare Menschen wie Adolf Hitler, Josef Stalin, Pol Pot oder Ratko Mladić bei ihren Gräueltaten kein schlechtes Gewissen hatten; ihr „gutes Gewissen“ ist vielfach belegt – damit stellt sich die Frage nach dem Maßstab, dem sicheren Gewissensanker. Danach frage ich im Seminar, ich frage nach Humanismus, allgemeiner Religiosität, nach monotheistischer Religion, was Juden, Christen und Muslime doch verbindet – und dann weise ich durchaus locker, aber bestimmt darauf hin, dass ich als römisch-katholischer Christ den Vorteil habe, im Zweifel nach Rom schauen zu können, um zu sehen, was Kirche und Papst lehren (Tafel 7).

Glaube

Fest soll mein Taufbund immer stehn, ich will die Kirche hören.

Sie soll mich allzeit gläubig sehn, und folgsam ihren Lehren.

Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad in seine Kirch berufen hat; nie will ich von ihr weichen!

Tafel 7: Die alte Textversion des bekannten Liedes, die ich mit Andacht und Bedacht singe [9].

Es wird den jungen Menschen heute nicht leicht gemacht, sich Vorbilder und einen Maßstab für ihr persönliches Handeln zu suchen. Nach meiner Auffassung können Religion, Familie, Beruf und Staat – freilich in abfallender Reihenfolge – dem Menschen Halt geben. Diese Faktoren werden aber zusehends relativiert, relativieren sich selbst oder werden bewusst und überhaupt in Frage gestellt. Der kirchliche Einfluss in der Gesellschaft und damit die Versuchung zum Guten schwinden, von alltäglichen Anfeindungen der Kirche ganz zu schweigen – die intakte Familie droht zur Ausnahme zu werden, vor allem die Kinder müssen mit den Brüchen leben – der Beruf wird vielfach nicht mehr als Berufung, sondern als Mittel zum Zweck verstanden – der Staat hat sich aus seiner erzieherischen Vorbild- und Leitfunktion weit zurückgezogen. Vorbei die Zeit, als der heute so gescholtene „Obrigkeitsstaat“ – in Preußen tief protestantisch geprägt – die Richtung vorgab: „Semper idem“ (Immer das Gleiche, im Sinne der Gerechtigkeit); „Suum cuique“ (Jedem das Seine, so steht es immer noch auf dem Barettabzeichen der Feldjägertruppe der Bundeswehr); „Üb immer Treu und Redlichkeit“ (Tafel 8), wie es vom Turm der Potsdamer Garnisonskirche klang; „Charakter geht vor Leistung“ (ein Leitsatz der Reichsmarine, der heute eher ins Gegenteil verkehrt wird) und „Mehr sein als scheinen“ – Zeugen einer fast schon untergegangenen Zeit.

Der alte Landmann an seinen Sohn

Üb immer Treu’ und Redlichkeit

bis an dein kühles Grab,

und weiche keinen Finger breit

von Gottes Wegen ab!

Dann wirst du wie auf grünen Au’n

durch’s Pilgerleben gehn;

dann kannst du sonder Furcht und Graun

dem Tod’ ins Auge sehn.

Dann wird die Sichel und der Pflug

in deiner Hand so leicht;

dann singest du beim Wasserkrug’

als wär’ dir Wein gereicht.

Dann suchen Enkel deine Gruft,

und weinen Tränen drauf,

und Sommerblumen, voll von Duft,

blühn aus den Tränen auf.

Tafel 8: „Üb immer Treu und Redlichkeit“ von Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748 - 1776) – nach [10].

Auch wenn in der Folge dieser Entwicklung vielfach das Ich und die persönliche Autonomie – teils bis zur Vergötzung („Mein Bauch gehört mir“) – in den Vordergrund treten und der Hedonismus, das Streben nach Lust [4], die Gesellschaft zu beherrschen scheint, ist doch kein allgemeiner Kulturpessimismus angezeigt. Das habe ich in so mancher Notsituation erlebt, exemplarisch bei zwei Gelegenheiten, die ich kurz schildern will:

Ich war in Frankfurt am Main, gut gekleidet mit neuem Mantel, auf dem Weg vom Hauptbahnhof zu einem Termin, als ich eine Gruppe verwahrloster Gestalten bemerkte, die sich um einen am Boden liegenden jungen Mann kümmerte – offensichtlich waren es Drogenabhängige. Vor dem Weitergehen hat mich das Beispiel vom barmherzigen Samariter bewahrt (Tafel 9); es ging mir durch den Sinn: „Er sah ihn und ging vorüber – das kannst du nicht machen.“ Ich blieb also stehen, legte den Mantel über den Koffer und sagte: „Ich bin Arzt und helfe euch, aber wenn meine Klamotten geklaut werden, bleibe ich nie wieder stehen.“ Gemeinsam brachten wir den Patienten in die stabile Seitenlage, ein orientalischer Gemüsehändler schob zum Schutz etwas Pappe unter den Kopf, unter sachkundiger Assistenz eines erfahrenen Drogenabhängigen punktierte ich nach Eintreffen des Rettungswagens eine schon stark strapazierte Vene, injizierte ein Gegenmittel (Naloxon) und übergab den Patienten an den nachrückenden Notarzt – das alles in der Hocke oder kniend. Als ich aufstand und meinen Koffer nehmen wollte, griff eine Hand von unten energisch nach Koffer und Mantel: „Das bleibt stehen, das gehört dem Doktor.“

Ein ähnlich schönes Bespiel habe ich auch mit zwei „Glatzen“ in Bomberjacke und Kampfstiefeln erlebt, mit denen ich in Dresden in aller Ruhe – zusammen mit der Polizei – einen Mann versorgen konnte, der bei einem innerstädtischen Autounfall durch die Frontscheibe geschleudert worden war und eine Schädelverletzung mit Gehirnblutung (ein epidurales Hämatom) erlitten hatte.

Das Beispiel vom barmherzigen Samariter

Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?

Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter…

Tafel 9: In Lk 10,25-31 [1] geht es um tätige Nächstenliebe, nicht um überspannte Übernächstenliebe. Aus meiner Kindheit habe ich im Ohr: „Er fiel unter die Räuber… Er sah ihn und ging vorüber“ – ungleich plastischer, vom Volksmund sprichwörtlich übernommen und gern zitiert.

Es darf wohl gesagt werden und wird durch viele ähnliche Ereignisse bestätigt: Wenn es darauf ankommt, dann klappt es doch ganz gut – das Weltenende steht also nicht unmittelbar bevor. Für die heutige Generation, der – von persönlichen Schicksalen abgesehen – Krieg, Elend und allgemeine gesellschaftliche Not erspart geblieben sind, kann ein Blick in die Vergangenheit jedoch nur nützlich sein, dies auch eingedenk der Mahnung im Buch Kohelet (1,9) des Alten Testaments [1]:

„Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“

Die Begriffe Menschlichkeit und menschlich sind gemeinhin positiv besetzt und werden auch in diesem Büchlein in diesem Sinne benutzt; letztlich stellt dies aber eine Verkürzung dar. Es gibt eine Unzahl von geschichtlichen und literarischen Dokumenten über größte (Un)menschlichkeit im niedrigsten Sinne mit allem Schrecken und aller Niedertracht – auch das ist unbestreitbar eine Ausprägungsform des Menschlichen. Dazu ist mir eine Szene aus der Folge „In Schmerzen geboren“ der Fernsehserie „Tatort“ vom Oktober 2014 in Erinnerung, in der es sinngemäß hieß: „Der Mensch sinkt nicht etwa nur auf die Stufe des Tieres hinab, nein, er sinkt im Fall des Falles noch unter diese Stufe.“ Furchtbare Namen wie Auschwitz-Birkenau, Lidice, Oradour, My Lai und Srebrenica müssen im Bewusstsein bleiben, sind aber bei vielen jüngeren Menschen bereits ganz oder teilweise in Vergessenheit geraten – bei Nachfragen im Hörsaal ist allenfalls noch Auschwitz bekannt. Es ist aber auch größte Menschlichkeit im besten Sinne dokumentiert, die ahnen lässt, wie groß Gottes Liebe, Güte, Barmherzigkeit und Herrlichkeit sein müssen, wenn sie so in das menschliche Leid hineinleuchten können – und das Reich Gottes gerade im Elend aufscheint und aufblitzt, wo Menschen ihr Leben nicht einfach verlieren, sondern (her)geben oder lassen.

Der Mensch kann in Extremsituationen in besonderem Maß über sich hinauswachsen, ohne dass dies herbeigesehnt werden darf.

So soll die Bordkapelle der „Titanic“ beim Untergang des Schiffes am 15. April 1912 bis zuletzt gespielt haben, am Ende den Choral „Näher mein Gott zu Dir“ – eine Legende vielleicht, aber doch herzerwärmend und ein Hinweis darauf, dass die Musiker vorbildlich ausgehalten und ihre Pflicht getan haben. Andere Episoden sind besser belegt und zeigen, dass auch in letzten und verzweifelten Situationen das Gute im Menschen siegen kann – so auch im Kessel von Stalingrad im Januar 1943; hier hat Pfarrer Josef Kayser über die Übergabe des Hauptverbandplatzes der 76. Infanteriedivision berichtet [11]:

„Ich blieb zurück im ‚Nachtigallental’ Rossoschka bei den Sterbenden… Mitte Januar kam plötzlich der Schreckensruf: ‚Die Russen kommen!’ Alles, was noch irgend konnte, flüchtete in Richtung Pitomnik. Ich konnte meine Kameraden nicht im Stich lassen. Ich dachte natürlich, jetzt ist es vorbei. Ich ging nicht weg, sondern auf die Russen zu. Die 5 Jungen legten auf mich an. Ich machte eine großes Kreuzzeichen und schrie ihnen auf russisch zu: ‚Ich bin Priester, Christus ist auch im Kriege auferstanden!’ Da schmissen sie ihre Maschinenpistolen weg. Immer noch erwartete ich einen Schuß. Da fielen sie mir um den Hals und küssten mich, rechte Backe, linke Backe und den Mund und sagten: ‚Er ist wahrhaftig auferstanden!’ Und alles, was floh, kriegte einen Rückenschuß. Und dann ging ich zu den Kameraden hin und gab ihnen die Krankenölung, und wenn ich ein Kreuzzeichen machte, machten es die Russen auch. Dann führten sie mich weg.“

Der russische Ostergruß Christos woskres und die Antwort Woistinu woskres („Christus ist auferstanden“ – „Er ist wahrhaftig auferstanden“) waren auch im Dunkel des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen.

Ein ähnliches Zeichen menschlicher Größe wird aus dem Feldzug Napoleons in Russland im Jahr 1812 berichtet (zitiert nach [12]):

„In Wjamsa begegnete Leutnant Radoschizkij, der den zurückweichenden Franzosen folgte, einer russischen Frau, die von einem französischen Oberst und seiner Frau für ihr Baby als Amme angestellt worden war. Beide Eltern waren dann in den Gefechten umgekommen, sie aber hatte sich und das Kind retten können. «Er ist ja nur ein kleiner Franzose, wozu die Mühe?» fragte der Leutnant. «Oh, wenn Sie wüßten, wie gut und freundlich diese Herrschaft zu mir war», antwortete sie. «Ich lebte bei ihnen, als seien sie meine eigene Familie. Wie soll ich ihr armes Waisenkind nicht lieben? Ich werde es nicht im Stich lassen, und nur der Tod kann uns trennen!».“

In meinen Ethikseminaren benutze ich regelmäßig solche Beispiele, um junge Ärzte auf die Gelegenheit zum Guten hinzuweisen. Auf der letzten Folie des Seminars zitiere ich aus dem „Hauptmann von Köpenick“ [13] von Carl Zuckmayer (1896 - 1977):

„De innere Stimme. Da hatse jesprochen... Und denn, denn stehste vor Gott, dem Vater… der allens jeweckt hat… und der fragt dir ins Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben? Und da muß ick sagen – Fußmatte... Die hab ich jeflochten im Jefängnis, und denn sind se alle druff rumjetrampelt... Det sagste vor Gott… Aber der sagt zu dir: Jeh wech! sagt er! Ausweisung! sagt er! Dafür hab ich dir det Leben nich jeschenkt, sagt er!... und denn ist wieder nischt mit de Aufenthaltserlaubnis... Aber so knickerisch... möcht ich mal nicht vor mein Schöpfer stehn.“

Die Kernfrage „wat haste jemacht mit dein Leben?“ trifft jeden von uns. Dann fällt es nicht schwer, den Übergang zum Evangelisten Matthäus (Mt 6,19) zu finden und deutlich zu machen, wie leicht unvergängliche Schätze doch gerade im Beruf des Arztes und allen den Menschen zugewandten Berufen zu erwerben sind [1]:

„Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen.“

Schöner und eingängiger habe ich die Version meiner Kindheit im Ohr: „Sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Rost noch Motten sie zerfressen.“

Charakteristika der Notfallmedizin und Intensivmedizin

Die Notfallmedizin und die Intensivmedizin bilden gesonderte ärztliche Arbeitsfelder, auch wenn sie aus guten Gründen keine eigenen Fachgebiete sind. Sie sind aber eng miteinander verbunden, weil im Zentrum beider Bereiche die Behandlung von Notfällen steht. Ein Notfall im medizinischen Sinne ist ein plötzliches einsetzendes Ereignis, das zu einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens (vital bedrohlicher Notfall) oder der Gesundheit des Patienten führt und daher sofortiges zielgerichtetes Eingreifen erfordert. Trotz dieser Gemeinsamkeit gibt es einen wichtigen Unterschied:

Bei

innerklinischen Notfallsituationen

, insbesondere auf der

Intensivstation

, herrscht zur Verhütung von bedrohlichen Folgeschäden zwar der gleiche Zeitdruck wie bei außerklinischen Notfallsituationen, die Maßnahmen erfolgen aber regelmäßig in einem überschaubaren und beschützten Rahmen. Eine wichtige Konsequenz ist die rechtzeitige Auseinandersetzung mit dem Willen des Patienten und den therapeutischen Optionen sowie mit den daraus folgenden vorsorglichen Entscheidungen – darauf wird im Kapitel „Intensivmedizin“ eingegangen.

In der

Notfallmedizin

und insbesondere im

Rettungsdienst

stellt sich die Situation dagegen häufig anders dar, und es werden zusätzliche Anforderungen gestellt. Außerklinische Notfallsituationen sind durch die Unvorhersehbarkeit und Einmaligkeit des Ereignisses und damit durch den Zwang zum raschen Handeln in einer immer neuen Situation gekennzeichnet, was zusätzliche Anforderungen an die Helfer stellt – diese Problematik wird im Kapitel „Notfallmedizin“ aufgezeigt.

Das allgemeine Ziel und die Grenzen der Notfall- und Intensivmedizin

Die Option für das Leben ist das ethische Leitprinzip der Notfall- und Intensivmedizin.

Der Arzt soll Leben erhalten und Leiden lindern – und, wo es geboten ist, den Sterbenden Beistand leisten [5]. Das Wohl des Patienten ist die allgemeine Leitlinie, die in den Grenzbereichen von Leben und Tod jedoch nicht immer klar zu erkennen ist. Zu den schwierigsten ethischen Fragen zählt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem eigentlichen Ziel der Wiederbelebung (Reanimation) und der anderer lebenserhaltender Maßnahmen. Dazu vertrete ich die Auffassung [14]:

Das Ziel der Reanimation und aller notfall- und intensivmedizinischen Maßnahmen ist das selbstbewusste und möglichst auch selbstbestimmte Leben des Patienten.