Von der Kunst des Schreibens - Julia Cameron - E-Book
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Von der Kunst des Schreibens E-Book

Julia Cameron

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Beschreibung

Schreiben liegt in der Natur des Menschen und ist nicht etwa eine Berufung oder ein seltenes Talent, sagt Julia Cameron. In ihrem neusten Buch zeigt die Bestsellerautorin, wie man Schreibblockaden und -hemmungen überwindet und einen spielerischen Zugang zum Akt des Schreibens findet. Anhand vieler Anekdoten über berühmte Schriftsteller und zahlreicher Übungen gelingt es ihr, dem Leser die Angst vor dem leeren Blatt Papier zu nehmen. Es kommt darauf an, mit kindlicher Freude spontan loszulegen und die Worte fließen zu lassen.

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Seitenzahl: 401

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Julia Cameron

Von der Kunst des Schreibens

… und der spielerischen Freude,die Worte fließen zu lassen

Aus dem Amerikanischenvon Diane von Weltzien

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungSchreibend die Welt erobernAller Anfang …Schreiben Sie einfachHören Sie zuDie ZeitlügeEine Spur legenSchlechtes SchreibenDieses SchriftstellerlebenDie richtige StimmungDramaEine Mauer der NiedertrachtErfahrungswerteAusdrücklichkeitDer Körper als SchreibwerkzeugDie QuelleSkizzierenEinsamkeitZeugnis ablegenWhy Don’t We Do It in the Road?VerbundenheitOffen seinIntegrierenGlaubwürdigkeitOrtFreudeEinfach loslegenAufrichtigkeitVerletzlichkeitAlltäglichkeitStimmeForm oder FormelBeinarbeitÜbenSich abschottenGeräuscheIch würde ja gern schreiben, aber …AutofahrenWurzelnAußersinnliche PhänomeneBillige TricksEinsatzZaudernHinein ins kalte WasserDas Recht zu schreibenLiteraturempfehlungenDank
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Für meine schriftstellernde Mutter

Dorothy Shea Cameron

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Schreibend die Welt erobern

Im Dezember 1967 stieß ich in der Bibliothek von Georgetown, von einem Wasserspeier hoch oben in einem Winkel unentwegt böse angestarrt, auf eine Zeile des Dichters Theodore Roethke. Er schrieb: »Ich lerne, indem ich dorthin gehe, wohin ich gehen muss.« Dieser Satz beschreibt akkurat mein Leben als Schriftstellerin.

Seit frühester Jugend schreibe ich, und je älter ich werde, desto mehr produziere ich in immer unterschiedlicheren Gattungen. Ich habe Romane und Sachbücher verfasst, Drehbücher, Theaterstücke, Gedichte, Essays, Kritiken, Reportagen und sogar Libretti für Musicals. Ich habe geschrieben für Liebe, für Geld, um zu fliehen, um mich zu erden, um mich nach außen zu wenden oder auch auf mein Inneres zu besinnen – also zu fast jedem Zweck, für den das Schreiben sich eignet.

Das Schreiben ist seit mehr als dreißig Jahren mein unentwegter Gefährte, mein Geliebter, mein Freund, meine Arbeit, meine Leidenschaft – also das, was ich mit mir in meiner Welt anfange. Mit dem Schreiben bestreite ich mein Leben, und manchmal könnte man meinen, es sei der Grund für meine Existenz.

Meine Geschichte ist schnell erzählt: Ich schreibe einfach. Im vorliegenden Buch habe ich versucht, nur über das zu schreiben, was ich wirklich kann: über meine Hilfsmittel, über meinen Weg. Das bedeutet, dass vieles in diesem Buch nicht enthalten sein wird, weil es entweder nicht Bestandteil meiner Erfahrung als Schriftstellerin ist oder weil es in anderen Titeln über das Schreiben bereits sehr gut abgehandelt wurde.

In diesem Buch bekommen Sie keine Unterweisung, wie man einen Behördenbrief schreibt, wie man das eigene Opus vermarktet oder einen Agenten findet. Es leistet keine Hilfestellung in Sachen Orthographie und Interpunktion. Anton Tschechow gab Schauspielern einmal den Rat: »Wenn Sie Ihre schauspielerische Leistung verbessern wollen, dann arbeiten Sie an sich selbst.« Das Gleiche gilt für die Arbeit an der schriftstellerischen Leistung.

Unser Leben als Schriftsteller ist nicht von unserem Leben als Ganzem zu trennen. Aus diesem Grund haben viele Kapitel und insbesondere die Initiationen und Hilfsmittel in diesem Buch auf den ersten Blick scheinbar nichts mit dem Schreiben zu tun – und doch sind sie aufs Engste damit verbunden. Betrachten Sie also jedes Kapitel als Einladung in den jeweiligen Bereich.

Wenn ich meine Arbeit gut gemacht habe, dann wird dieses Buch Ihnen etwas über das Schreiben um des Schreibens willen erzählen, von der schieren Lust, die es bedeutet, Blätter mit Wörtern zu füllen. Anders ausgedrückt: Dies ist weniger ein Ratgeber über das »Wie« als über das »Warum« des Schreibens.

Warum sollen wir schreiben?

Wir sollen schreiben, weil es zum Wesen des Menschen gehört. Mit dem Schreiben erobern wir uns die Welt. Erst das Schreiben macht sie direkt und ausdrücklich zu unserem Eigentum. Wir sollen schreiben, weil Menschen spirituelle Wesen sind und weil Schreiben eine kraftvolle Ausdrucksform des Gebets und der Meditation ist. Es verbindet uns sowohl mit unseren eigensten Erkenntnissen als auch mit einer höheren und tiefgehenderen Ebene unserer inneren Orientierung.

Wir sollen schreiben, weil das Schreiben das Leben mit Klarheit und Leidenschaft erfüllt. Schreiben ist sinnlich, beruht auf Erfahrungen und hat eine erdende Wirkung. Wir sollen schreiben, weil es gut für die Seele ist. Wir sollen schreiben, weil Schreiben uns ein greifbares Werk einbringt und uns einen Weg durch die Welt weist, in der wir leben.

Vor allem aber sollen wir schreiben, weil wir Schriftsteller sind, ob wir uns nun so bezeichnen oder auch nicht. Das Recht zu schreiben erhält jeder Mensch mit seiner Geburt. Es ist eine spirituelle Morgengabe, in der sich der Schlüssel zum Königreich verbirgt. Höhere Kräfte offenbaren sich uns durch das Schreiben. Nennen Sie sie Inspiration, die Musen, Engel, Gott, Ahnungen, Intuition, Orientierung oder einfach eine gute Geschichte – welchen Namen Sie diesen Kräften auch geben, in jedem Fall verbinden sie uns mit etwas, das größer ist als wir selbst und uns zu einer leidenschaftlicheren und optimistischeren Lebensführung befähigt.

Ich hoffe, dass es mir mit diesem Buch gelingt, einigen negativen Mythen ein Ende zu bereiten, die in unserer Kultur über das Schriftstellerleben in Umlauf sind. Ich habe für mich herausgefunden, dass das Leben als Schriftsteller positiv, belebend, spirituell verbindend und auf jeden Fall machbar ist. Deshalb wird Sie dieses Buch ohne langes Federlesen direkt ins kalte Wasser katapultieren. Wir werden uns mit weit verbreiteten Blockaden befassen und damit, wie man sie umgehen kann, mit landläufigen Problemen und ein paar einfachen Mitteln zu ihrer Lösung, mit alltäglichen inneren Hindernissen und ihrer simplen Überwindung. Meiner Erfahrung nach ist das Schriftstellerleben ein einfaches Leben, das eine eigene Triebfeder hat und Sie voranbringt.

Dieses Buch will all jenen, die sich mit dem Schreiben versuchen wollen, eine Motivationshilfe sein, den bereits Erfahrenen ein Gefährte – und auch ein Dankeschön an meine eigene Schriftstellerei für das Leben, das sie mir ermöglicht. Ich würde mich freuen, wenn es darüber hinaus gebrochene Schriftsteller heilen, Verzagte ermutigen und all jene, die am Ufer des Flusses stehen, verleiten könnte, die Zehen ins Wasser zu tauchen.

Ich habe eine Phantasie. Sie spielt sich an der Himmelspforte ab. Der heilige Petrus holt seinen Fragebogen heraus und stellt mir die eine entscheidende Frage: »Was hast du geleistet, um uns zu veranlassen, dir Zutritt zu gewähren?«

»Ich habe Menschen zum Schreiben gebracht«, antworte ich ihm. Und das Tor öffnet sich weit.

[home]

Aller Anfang …

Ich sitze an einem kleinen Kieferntisch mit Blick nach Osten auf die Ausläufer des Sangre de Cristo. Vor mir sehe ich eine Pferdetränke, die nachgefüllt werden muss, einen weißen Staketenzaun mit einem taubenblauen Tor, ein Terrakotta-Vogelbad mit abgebrochenen Figürchen, einen knallgelben Gartenschlauch, mit dem ich später die Pferdetränke und das Vogelbad auffüllen werde, ein überwuchertes Blumenbeet, einen umgekippten Eimer und meinen kleinen Hund Maxwell, der wie ein optimistischer Sonnenanbeter an einem frischen Tag am Strand die erste Frühlingssonne in sich aufnimmt. Sobald es wärmer wird und der gelbe Gartenschlauch aufgetaut ist, werde ich die Pferdetränke füllen. Sobald ich mich aufgewärmt habe, werde ich Ihnen erzählen, wie es ist, wenn man sich das Schreiben gestattet – meine persönlichen Erfahrungen.

Der erste Kunstkniff, den ich jetzt gerade zur Anwendung bringe, besteht darin, dass man genau dort anfängt, wo man sich gerade befindet. Es ist ein Luxus und ein Segen, wenn man in der richtigen Stimmung zum Schreiben ist, aber keinesfalls eine unverzichtbare Voraussetzung. Schreiben ist wie atmen, und man kann lernen, die Qualität des einen wie des anderen zu verbessern. Denn eigentlich geht es ausschließlich darum, überhaupt zu schreiben, egal wie.

Schreiben ist wie atmen. Das glaube ich tatsächlich. Ich glaube, dass wir alle als Schriftsteller geboren werden. Wir werden mit unserer Sprachbegabung geboren und wir erobern uns die Sprache innerhalb von wenigen Monaten, indem wir den Dingen in unserer Welt einen Namen geben. Sobald ein Mensch die Objekte in seiner Umgebung richtig zu bezeichnen weiß, wird er von Befriedigung und einem gewissen Gefühl von Inbesitznahme erfüllt. Wörter verleihen uns Macht.

Im Kleinkindalter strecken wir erst die Hände nach den Dingen aus, doch schon bald erreichen wir sie mit Wörtern. Jedes neu erlernte Wort ist ein Erwerb, eine Goldmünze, die uns reicher macht. Wir schnappen ein neues Wort auf und wiederholen es immer wieder, als wögen wir einen Goldklumpen in den Händen. Als Kinder horten wir Wörter und brüsten uns mit ihnen. Wörter machen uns zu Eigentümern: Wir benennen die Dinge in unserer Welt und beanspruchen sie dann für uns.

Als Kinder lernen wir neue Wörter mit einem erstaunlichen Tempo. Wörter geben uns Einfluss: »Ich mit Mama gehen!« Oder: »Mama bleib da.« Kinder drücken sich präzise aus und sind direkt. Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum. Ihre Sprache ist persönlich und kraftvoll. Sie werden von einem starken Willen und von Zielstrebigkeit beflügelt. Sie sind erfüllt von Leidenschaft und Sinn. Kinder vertrauen auf die Macht der Wörter.

Wenn Wörter uns tatsächlich Macht verleihen, wann verlieren wir dann aber unsere Macht über die Wörter? Wann kommen wir auf den Gedanken, dass ein paar von uns »gut in den Sprachen« sind und sich sogar als »Schriftsteller« hervortun, während wir Übrigen Sprache einfach nur benutzen und es nicht wagen würden, uns dem gleichen illustren Klub hinzuzurechnen?

Ich vermute, dass für die meisten von uns diese Klassifikationen in der Schule beginnen. In der Schule wird uns nämlich gesagt: »Du kannst gut mit Worten umgehen.« Dort finden wir neben der Benotung unter einer Klassenarbeit in Geographie die säuberliche, handschriftliche Bemerkung des Lehrers: »Gut formuliert.«

Gut formuliert – was soll das heißen? In der Schule verweist eine solche Bemerkung in der Regel auf klares, geordnetes Denken. Grammatisch korrekt. Wohl geordnete Fakten. Sie kann sich auch auf spezifische Lerninhalte beziehen wie Themengliederung und Übergänge. In den seltensten Fällen bezieht sie sich auf Wörter, die hervorstechen, auf einfallsreiche Wortkombinationen, auf Absätze voll von großartigen freien Assoziationen und Abschweifungen – allesamt Begabungen, über die ein junger Dichter oder Romancier möglicherweise verfügt und die ihm beim Abfassen von gelehrten akademischen Arbeiten rein gar nichts nützen.

Was geschieht, wenn sich eine derartige Schreibweise in Schulaufsätzen offenbart? Häufig verursacht sie eine Reihe von Randbemerkungen, doch diesmal negativer Natur: »Hier kommst du ein wenig vom Thema ab.« Oder: »Bleib beim Thema!« Lehrer, die Zeit und Mühe investieren, um einen individuellen Sprachstil zu loben, der sich nicht den akademischen Paradigmen beugt, sind eine Seltenheit. Fast ist es so, als befänden wir uns in der Schule auf einer strengen Diät: »Bitte nicht zu stark würzen.«

Nicht so stark würzen. Nicht zu viel Courage. Nicht zu viel Menschlichkeit, bitte. Beim akademischen Schreibstil reduzieren wir uns auf eine langweilige Prosa, bar jeglicher Persönlichkeit und Leidenschaft. Ja, wir äußern uns vielfach von oben herab, als gestatte das Schreiben nur erhabene Motive, als sei es eine Art rationalistisches Destillat, das man auf die Seiten tröpfelt.

In Ländern und Situationen, in denen das Schreiben verboten ist, hat es dann allerdings Priorität. Im Gefängnis kratzen die Insassen ihre Mitteilungen ins Gemäuer, in den Schmutz. Auf einsamen Inseln werden Botschaften in leere Flaschen geschoben und dem Meer überantwortet. Wenn die Kommunikation aktiv unterbunden wird, dann ist der Drang des Menschen, sich mitzuteilen, unbezwingbar, und wir riskieren um des Erfolgs willen Tod und Teufel.

Das ist gesund so.

In unserer gegenwärtigen Kultur ist eine viel ungesündere Entwicklung im Gange. Schreiben ist zwar nicht verboten, doch wird es unterbunden. Mit vorgedruckten Karten ist es schnell erledigt. Wir erstehen einfach die Karte, die dem, was wir zum Ausdruck bringen möchten, am nächsten kommt. In der Schule lernen wir, wie wir äußern sollen, was wir sagen wollen, und dieses Wie beinhaltet Dinge wie korrekte Rechtschreibung, Satzbau und das Vermeiden von Abschweifungen, damit die Logik die Oberhoheit behält und die Emotion in Schach hält. Das Schreiben, das wir beigebracht bekommen, wird zu einer unmenschlichen Aktivität. Wir redigieren und korrigieren unablässig und schließen Details nur deshalb aus, weil sie vielleicht nicht sachdienlich sind. Anstelle von Selbst-Ausdruck bringt man uns Selbst-Zweifel und Selbst-Prüfung bei.

Das Ergebnis ist, dass die meisten von uns beim Schreiben zu vorsichtig sind. Wir versuchen, es »richtig« zu machen. Wir versuchen, uns flott auszudrücken. Wir versuchen – Ende. Schreiben funktioniert jedoch viel leichter, wenn wir nicht ständig so hart daran arbeiten. Wenn wir es zulassen, uns einfach auf dem Blatt Papier auszubreiten. Für mich ist Schreiben wie ein bewährter alter Schlafanzug: bequem. In unserer Kultur hingegen scheint das Schreiben mehr Ähnlichkeit mit militärischem Drillichzeug zu haben. Wir wollen, dass unsere Sätze in sauberen Reihen marschieren wie wohlerzogene Kadetten.

Brennen Sie die Schule nieder. Retten Sie vielleicht die Bücher, aber bringen Sie den Lehrer dazu, sein Geheimnis zu verraten: Was liest und was schreibt er mit schuldbewusstem Vergnügen? Schuldbewusstes Vergnügen, das ist es nämlich, worum es beim Schreiben wirklich geht. Es geht um Anziehungskraft, um Wörter, denen man nicht widerstehen kann, um eine Sache zu beschreiben, eine Sache, die zu interessant ist, um sie zu übergehen. Und kümmern Sie sich nicht um erhabene Motive.

Meine Motivation zum Schreiben hat nichts mit Erhabenheit zu tun, das hatte sie noch nie. Als ich in der sechsten Klasse meine ersten (sehr) kurzen Geschichten zu Papier brachte, da tat ich das, um die Aufmerksamkeit von Peter Mundy zu erregen – Peter war neu in der St.-Josephs-Grundschule und in der Klasse von Mrs. Klopsch. Er war von Missouri in den Norden gezogen. Peter hatte einen Südstaatenakzent und braune Haare, deren Farbe mich an Waldblütenhonig denken ließ, und ein Aussehen, das so süß war wie die Südstaatenklänge, die in seiner Stimme mitschwangen. Ich wollte Peter zum Freund haben. Und so machte ich mich daran, mit meinen Geschichten um ihn zu werben.

Zwanzig Jahre später, lange nachdem er mit Peggy Conroy statt mit mir gegangen war, erzählte mir Peter einmal, dass ich mit meinem Schreiben sein Herz gewonnen hätte: »Ich habe mich halt nicht getraut, es zuzugeben, und bin lieber ausgebüxt.«

Peter war zwar ausgebüxt, aber auf meiner Jagd nach ihm mit Papier und Bleistift entdeckte ich die viel bedeutendere Jagd, den Nervenkitzel nämlich, den mir das Jagen mit Wörtern bescherte.

Schreiben ähnelt sehr dem Fahren auf einer endlosen Asphaltstraße an einem heißen Sommertag. Am Horizont sieht man einen magisch glänzenden Fleck tanzen. Auf ihn bewegt man sich zu. Man beeilt sich, um ihn zu erreichen, und kaum ist man da, ist er auch schon verschwunden. Blickt man sich suchend um, sieht man ihn neuerlich in einiger Entfernung verlockend tanzen. Man schreibt auf diesen Punkt zu. Manche Leute mögen das vielleicht als unerfüllte Liebe oder als unbefriedigend bezeichnen. Doch ich finde, es ist etwas viel Besseres.

Für mich ist es Erwartung und Genuss. Für mich ist es, als schmecke man ein großartiges Gericht durch seinen Duft mit der Nase. Ich muss frisch gebackenes Brot nicht essen, um es zu mögen. Der Duft ist fast ebenso köstlich, fast ebenso befriedigend wie eine dicke Scheibe Brot, großzügig mit Butter und selbst gemachter Aprikosenmarmelade bestrichen.

Das Gehirn hat Freude am Schreiben. Es hat Freude daran, die Dinge zu benennen, an den Prozessen des Assoziierens und Beurteilens. Wörter zu wählen ist wie Äpfel zu pflücken: Der da sieht aber köstlich aus …

Der Prozess des Schreibens, der Versuch, treffend zu formulieren, ist wunderbar aufregend und steht dem Spannen einer Bogensehne in nichts nach. Ins kreative Schwarze zu treffen und einen Satz niederzuschreiben, der genau zum Ausdruck bringt, was da am Horizont so schimmernd tanzt, lohnt die Jagd allemal. Doch auch die Jagd selbst, all das, was man aus den Augenwinkeln wahrnimmt, ist wertvoll. Ich finde es großartig, wenn mir das Schreiben gut gelingt, aber ich finde es auch großartig, überhaupt zu schreiben.

Als ich mit diesem Kapitel begann, war der Himmel blau und wolkenlos. Inzwischen, da ich es zum Abschluss bringen will, braut sich ein Unwetter zusammen. Dicke, schwarze Wolken spucken unfreundlichen Regen aus. Der Wind weht stürmisch in heftigen kleinen Böen, die nach Frühling duften. Nun brauche ich die Pferdetränke nicht mehr zu füllen. Der Regen erledigt das wunderbar für mich. Mein kleiner Maxwell hat sich ins Haus gerettet und liegt nun zusammengerollt bei meinen Füßen. Der Tag hat, wie dieses Kapitel, an einem Punkt angefangen und sich nun in eine ganz andere Richtung entwickelt.

Kabir sagt: »Wo immer du dich befindest, dort ist der Ausgangspunkt.« Und das gilt auch für das Schreiben. Wo immer Sie gerade sind, es ist der richtige Ort. Es gibt keinen Grund, etwas zu korrigieren, der Seele Sonderleistungen abzuverlangen, um auf einer höheren Ebene zu beginnen. Fangen Sie dort an, wo Sie sich jetzt gerade befinden.

Wenn man das Schreiben sich selbst überlässt, dann ist es wie das Wetter. Es verfügt über eine eigene Dramatik, eine eigene Form und über eine Kraft, die den Tag formt. So wie ein heftiger Regenguss die Luft reinigt, so reinigt gutes Schreiben die Psyche. Sich selbst das Schreiben zu gestatten hat etwas zutiefst Richtiges. Und man tut es, indem man anfängt – wo man eben gerade ist.

Aller Anfang …

Initiation

Diese Übung ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Nehmen Sie drei Blatt DIN-A4-Papier zur Hand. Fangen Sie auf der ersten Seite oben an und beschreiben Sie drei Seiten lang, was Sie im Augenblick fühlen. Fangen Sie dort an, wo Sie jetzt gerade sind – körperlich, emotional und psychisch. Schreiben Sie über alles, was Ihnen in den Sinn kommt.

Diese Übung zwingt Ihnen keine Form auf. Sie können nichts falsch machen. Schreiben Sie Belangloses oder Kritisches, jammern Sie und verleihen Sie Ihren Ängsten Ausdruck. Seien Sie aufgeregt, abenteuerlustig, besorgt, fröhlich. Seien Sie so, wie Sie jetzt im Augenblick eben gerade sind. Lassen Sie sich auf den Augenblick ein. Spüren Sie die Aktualität Ihrer Gedanken und Gefühle. Setzen Sie nicht ab, machen Sie sich vielmehr auf den Seiten breit. Brechen Sie ab, sobald Sie die drei Seiten voll geschrieben haben.

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Schreiben Sie einfach

Unsere Vorstellung von der Schriftstellerei ist mit einer Menge Ballast beladen. Wörter zu Papier zu bringen, ist für uns eine Riesenangelegenheit. Wir meinen, Schreiben sei eine Qual, und versuchen es erst gar nicht. Und wenn wir es doch probieren und es geht unerwartet leicht, dann erstarren wir und sagen uns, dass das ja wohl kaum das »echte« Schreiben sein kann.

Mit echtem Schreiben meinen wir den Akt, um den sich all die vielen Geschichten ranken. Wir meinen nicht die Darstellung eines Abends, wie ich ihn heute verbracht habe: ein Abendessen mit meiner lieben Freundin Dori, das anschließende gemeinsame Ansehen des Films Il Postino auf Video, die herzliche Verabschiedung von Dori an einem noch kaum angebrochenen Abend, und mein Hinüberwandern in mein Büro, um dort, während mein Hund Maxwell sich an meine Füße kuschelt, noch ein wenig zu schreiben.

Diese Art Schriftstellerdasein ist einfach zu alltäglich, zu mühelos, zu normal. Es ähnelt zu sehr dem Leben aller anderen Menschen – nur mit ein wenig Schreiben gewürzt. Aber wenn Schriftsteller so leben, dann stünde dieser Weg ja möglicherweise vielen offen. Wenn Qualen keine Grundvoraussetzung sind, wenn es sich beim Schreiben gar nicht um eine unsoziale Tätigkeit handelt …

Was wäre, wenn es so etwas wie Schriftsteller gar nicht gäbe? Was wäre, wenn einfach jeder schriebe? Was wäre, wenn man gar nicht danach streben könnte, ein »echter Schriftsteller« zu sein? Was wäre, wenn es bei der Schriftstellerei um nichts anderes als einfach nur ums Schreiben ginge?

Müssten wir uns keine Sorgen machen, ob wir veröffentlicht und dann der Kritik ausgesetzt werden, wie viele von uns würden dann einen Roman schreiben, einfach nur aus Spaß?

Warum sollten wir das Schreiben eines Romans als etwas empfinden, das außerhalb unserer Reichweite liegt – ein Hobbytischler wagt sich ja auch an die Herstellung einfacher Möbelstücke heran. Was wäre, wenn Schreiben gar nicht zwangsläufig mit dem Anspruch auf herausragende Qualität einherginge? Was wäre, wenn wir einfach nur aus Freude schrieben?

Wie wäre es, wenn man an das Schreiben heranginge wie an eine Wildwasserkajakfahrt? Etwas, das man ausprobiert, um es einmal gemacht zu haben – und um den Nervenkitzel zu genießen, den es bedeutet, durch die Stromschnellen des kreativen Prozesses zu steuern. Wir dürfen ruhig Amateure sein (aus dem Lateinischen von amare, »lieben«). Viele Menschen hätten Spaß am Schreiben, wenn sie nur ihren Anspruch auf Anerkennung aufgeben könnten. Die übliche Legendenbildung enthält uns solche Tatsachen meistens vor, aber Schreiben macht tatsächlich Spaß.

Wenn Leute sich ans Schreiben wagen, dann geht es selten darum, etwas zu Papier zu bringen, sondern die Zielsetzung lautet vielmehr, »Schriftsteller zu werden«. Nur liegt die eigentliche Aussage hinter dieser Formulierung vollständig unter Mythen, Geheimniskrämerei und absolutem Unsinn verschüttet.

Die eigentliche Aussage, dass nämlich der Akt des Schreibens einen Menschen zum Schriftsteller macht, kommt vielen dabei am wenigsten in den Sinn. Stattdessen haben wir so Vorstellungen wie »Richtige Schriftsteller werden veröffentlicht« oder »Richtige Schriftsteller können von ihrer Arbeit leben«. Auf gewisse Weise bringen wir damit zum Ausdruck: »Ein richtiger Schriftsteller ist man erst dann, wenn einen andere als solchen anerkannt haben.« Statt ein Visum im Ausweis erhält man ein Gütesiegel, das einen zum Schriftsteller macht. Da heißt es dann: »veröffentlicht bei X und zitiert von Y«.

Ist es bei einer derartigen Legendenbildung und bei einer so ausgeprägten Produkt- statt Prozessorientiertheit ein Wunder, dass der strebsame Schriftsteller von Angst gepackt wird? Selbst diejenigen, die mit einer goldenen Zunge begabt sind, zweifeln unter solchen Umständen, ob sie auch einen goldenen Bleistift über das Papier führen können. Die leere Seite kommt ihnen wie ein Blankoscheck vor, in den sie einen Betrag eintragen sollen, der ihnen im Hinblick auf ihr Talent dann plötzlich viel zu hoch erscheint.

»Ich wäre so gern Schriftsteller. Ich fürchte nur, es fehlt mir an der erforderlichen Begabung.« In dem Stil habe ich oft Leute reden hören, deren sprachliches Talent so unübersehbar war wie eine Neonreklame.

»Ich kann mich mündlich zwar ganz gut ausdrücken, aber schreiben könnte ich um nichts in der Welt«, ist eine weitere Selbsteinschätzung, die mir schon oft zu Ohren gekommen ist. Was bringt uns bloß auf den Gedanken, dass es eine so schwierige und gefährliche Tätigkeit ist, Worte zu Papier zu bringen?

Wer sich zum ersten Mal ans Papier heranwagt, der macht häufig eine unangenehme Erfahrung: Plötzlich ist der gewohnte Redefluss wie ausgetrocknet. Jedes einzelne Wort kommt einem vor wie eine Verpflichtung, muss aufs Genauste überprüft werden und entwickelt ein verstörendes Eigenleben. Die leere Seite scheint größte Ernsthaftigkeit einzufordern. Wörter, die gerade noch vollkommen in Ordnung waren, wirken nun auf einmal unangebracht. Wir haben den Begriff »Entwurf« vergessen und meinen, dass alles, was wir produzieren, als geschliffener und polierter Edelstein zum Vorschein kommen muss. Wir machen einfachen Fehlgriffen, umgangssprachlichen Ausdrücken und selbst charmanten Umständlichkeiten jeglichen Raum streitig. Plötzlich sitzen wir wieder in der Schulbank, und uns fallen all die Regeln ein, die wir einmal in Sachen guter Schreibstil gelernt haben: Gliederung, Themenbezug, Satzbau …

Die meisten Menschen glauben von sich, dass sie nicht schreiben können. Wir meinen, Schreiben sei etwas, das andere, das »Schriftsteller« tun. Und selbst wer die fröhliche Begabung des Anfängers und die wilde Begeisterung des Amateurs besitzt, spart den Begriff auf, um damit das Talent »echter Schriftsteller« zu bezeichnen – für Leute, die ihre Gedanken wie kleine Soldaten aufmarschieren lassen und ihre logischen Absätze in aufeinander folgenden geistsprühenden Wellen befehligen wie Armeen beim Sturm auf die Normandie.

Aber das muss nicht so sein.

Wenn wir auf das Wort »Schriftsteller« verzichten, wenn wir einfach zurückkehren zum Schreiben als Akt des Beobachtens und Benennens, dann lösen sich einige der unbequemen Regeln auf. All die Dinge, die wir beobachten, die wir hören und dann auf Papier festhalten, haben ihre ureigene organische Form. Diese Form offenbart sich uns, wenn wir aufmerksam hinhören. Es ist nicht notwendig, den Dingen eine fremde Form überzustülpen. Ihre Gestalt ist fest mit ihnen verbunden. Wenn wir uns diesen Zusammenhängen einfach öffnen, dann machen wir unsere Sache auch »richtig«.

Schreiben Sie einfach

Initiation

Mit dieser Übung entledigen Sie sich des Schutts, der sich zwischen Ihnen und Ihrem Blatt Papier auftürmt. Planen Sie für die Übung eine halbe Stunde ein. Nehmen Sie sich einen Schreibblock und setzen Sie sich damit in ein Café. Bestellen Sie sich etwas zu trinken und beschäftigen Sie sich mit der nachfolgenden Aufgabe.

 

Schritt eins: Welche verborgenen Assoziationen verbinden Sie mit dem Wort »Schriftsteller«? Schreiben Sie in rascher Folge zehn Beispiele nieder.

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schriftsteller sind …

Schritt zwei: Verwandeln Sie die negativen Assoziationen in positive Affirmationen. Zum Beispiel: »Schriftsteller sind ständig pleite« wird zu: »Schriftsteller sind zahlungskräftig«. »Schriftsteller haben einen Knall« wird zu »Schriftsteller sind vernünftige Leute«. »Schriftsteller sind einsame Wölfe« wird zu »Schriftsteller haben gute Freunde«. Nutzen Sie die nächste Woche, um täglich jede Affirmation fünfmal niederzuschreiben.

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Hören Sie zu

Wie wichtig ein guter Orientierungssinn ist, stellt eine der tiefsten und einfachsten Wahrheiten dar, die ich dank des Schreibens gelernt habe. Ziel des Schreibens ist es, etwas Vorhandenes auszudrücken, und nicht, sich etwas einfallen zu lassen. Immer wenn ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen, verwandelt sich Schreiben in eine Anstrengung. Es wird zu etwas, nach dem ich mich strecken muss, und manchmal ist es so hochfliegend, dass ich es nicht zu erreichen vermag. Wenn ich mir etwas einfallen lassen will, dann muss ich mich mühen. Konzentriere ich mich andererseits aber darauf, etwas Vorhandenes in Worte zu fassen, dann wird mir Aufmerksamkeit, nicht aber Anstrengung abverlangt.

Um es anders auszudrücken: Man könnte auch sagen, dass das Schreiben mehr dem Empfang eines Diktats als dem Diktieren ähnelt. Wenn ich auf das höre, was da ist, und es niederschreibe, dann muss ich den Ideenfluss nicht erzeugen, sondern lediglich aufzeichnen. Ringe ich jedoch mit dem Schreiben, dann liegt es daran, dass ich zu sprechen versuche, anstatt zuzuhören.

Sobald das Schreiben zu einem Akt des Zuhörens und nicht des Sprechens wird, tritt das Ego weitgehend in den Hintergrund. Anstatt selbstbewusst über den Satz nachzudenken, den »ich« niedergeschrieben habe, beobachte ich mich vielmehr dabei, wie mich die Sätze, die auf ihre Formulierung förmlich zu lauern scheinen, in Erstaunen versetzen und interessieren. Auf diese Weise verwandelt sich hochtrabendes Gerede in einen Offenbarungsakt. Diese Beobachtung trifft auf jeden Schriftsteller zu, der das Schreiben mit sich geschehen lässt. Wir als Schriftsteller können uns ebenso wie die Leser überraschen lassen, was als Nächstes kommt.

Wenn es beim Schreiben um das Wichtige geht, das wir zu sagen haben, dann belastet uns die Sorge, dass der Leser es womöglich nicht »kapiert« – nicht begreift, wie großartig wir eigentlich sind. Geht es beim Schreiben jedoch um den Prozess, einen sich entfaltenden Gedanken nach dem anderen niederzuschreiben, dann hat es weniger mit unserer Großartigkeit als vielmehr mit unserer Genauigkeit zu tun. Wie sorgsam hören wir hin? Wie viel Kontrolle sind wir bereit aufzugeben, um der Kreativität freien Lauf zu lassen, statt sie für die Ziele unseres Egos einzuspannen?

Wollen wir uns einen Handlungsablauf aus den Fingern saugen oder ihn in die Finger fließen lassen? Es steht uns frei, uns etwas einfallen zu lassen und dann darüber zu schreiben oder über das zu schreiben, was uns gerade zufällig in den Sinn kommt. Wir können uns mit dem Anspruch abquälen, gut zu schreiben, oder wir geben uns mit dem zufrieden, was offenbar gerade in uns zum Vorschein kommen will – egal ob es gut, schlecht oder unbedeutend ist.

Die meisten Menschen verlangen von sich, gut zu schreiben, und deshalb empfinden sie den Akt des Schreibens als anstrengend. Wir verlangen von uns dann nämlich nicht ein, sondern zwei Dinge: Wir wollen uns mitteilen und unsere Leser zugleich beeindrucken. Ist es dann ein Wunder, dass unsere Prosa sich angesichts dieser doppelten Aufgabe bockig zeigt?

Von allen Autoren, die sich über das Schreiben äußern und die ich gelesen habe, erscheint mir Henry Miller als der aufrichtigste und uneigennützigste und auch am wenigsten mit der eigenen Legendenbildung beschäftigt zu sein. Miller rät: »Entwickeln Sie Interesse am Leben, wie Sie es wahrnehmen; an Menschen, Dingen, Literatur, Musik – die Welt ist so reich, sie platzt geradezu vor lauter Schätzen, einzigartigen Seelen und interessanten Menschen. Lassen Sie sich selbst beiseite.«

Wenn man »sich selbst beiseite lässt«, dann fällt das Schreiben leicht. Wir stehen nicht wie Soldaten mit dem einzigen Ziel Gewehr bei Fuß, unser ganzes Ego nur ja in jedem »ich« unterzubringen. Lassen wir uns selbst außen vor und hören wir auf, gut sein zu wollen, dann erfahren wir, wie es ist, wenn das Schreiben fließt. Wir ziehen uns als selbstbewusste Schriftsteller zurück und werden zum Vehikel des Selbstausdrucks. Oft schreiben wir sehr gut, sobald wir zum Vehikel, zum Geschichtenerzähler geworden sind. Auf jeden Fall aber fällt uns das Schreiben dann leichter.

Hören Sie zu

Initiation

Diese Übung hilft Ihnen, sich selbst und das Schreiben leichter zu nehmen. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen unter einem großen Baum mit dem Rücken an den Stamm gelehnt. Auf der anderen Seite des Baumes sitzt ein Geschichtenerzähler so da wie Sie. Nehmen Sie Papier und Bleistift zur Hand und bitten Sie den Geschichtenerzähler, Ihnen Geschichten zu fünf Themen zu erzählen, die Sie interessieren.

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Die Zeitlüge

»Wenn ich ein Jahr frei hätte, dann würde ich einen Roman schreiben!«

Vielleicht würden Sie das ja. Vielleicht aber auch nicht. Nicht selten ebnet gerade ein großer, freier Zeitabschnitt verbunden mit der Aufforderung »Nun schreib aber auch!« der Schreibhemmung Tür und Tor. Wer Schreiben zur Hauptsache erhebt, macht Schreiben schwierig. Wer es nebenher betreibt, hält es im Fluss. Nirgends trifft diese Erkenntnis mehr zu als in Verbindung mit der Zeit.

Eine der am weitesten verbreiteten Legenden über das Schreiben besagt, dass man dazu große zusammenhängende Zeitblöcke benötigt. Was mich betrifft, so standen mir nie derartige endlos ergiebige, seidene Stoffballen an Zeit zur Verfügung. Mein Leben – und alles, was ich in seinem bisherigen Verlauf produziert habe – hat mehr Ähnlichkeit mit dem Herstellen einer Patchwork-Decke als mit dem Abrollen eines unendlichen Seidenballens.

Der Mythos, dass wir Zeit – mehr Zeit – brauchen, um schöpferisch tätig sein zu können, hält uns davon ab, die Zeit zu nutzen, die uns zur Verfügung steht. Wenn wir immer nur nach »mehr« verlangen, dann negieren wir das Vorhandene. Im Augenblick warte ich gerade auf das Eintreffen zweier Übernachtungsgäste von außerhalb, habe eine Mahlzeit vorzubereiten, muss die Pferde füttern, und meine Hunde würden wirklich gern einen langen Spaziergang mit mir machen. Ob aus dem langen Spaziergang etwas wird oder nicht, muss sich noch zeigen, auf jeden Fall wird jedoch etwas aus der Erledigung der übrigen Punkte – nach dem Schreiben. Mein Dasein als allein erziehende Mutter, hauptberufliche Lehrerin und hauptberufliche Schriftstellerin hat mich gelehrt, mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen, statt auf sie zu warten. Mir Zeit nehmen, genau das tue ich jetzt auch. Es klappt, wenn man die Gelegenheit beim Schopf packt.

Für die meisten vervollständigt sich der Satz »Wenn ich doch nur genug Zeit hätte« durch die verführerische und unausgesprochene Ergänzung »mich selbst denken zu hören«. Mit anderen Worten: Wir meinen, wenn wir genug Zeit hätten, dann gelänge es uns, unsere oberflächlicheren Persönlichkeitsanteile ruhig zu stellen, und dann könnten wir endlich dem tiefgründigeren Fluss der Inspiration lauschen. Auch dies ist lediglich eine Legende, die uns entlasten soll – wenn ich nur lang genug warte, wenn ich genug Zeit zum Zuhören habe, dann muss ich mich nie dem öffnen, das schon heute in mir nach oben steigt und dafür die Verantwortung übernehmen.

Als Lehrerin habe ich den Satz »Zwischen mir und einem großen amerikanischen Roman steht nichts als ein Jahr freie Zeit« häufig zu hören bekommen. Diese Obsession mit dem Zeitblock kann leicht zur Schreibhemmung ausarten. Den wenigsten Schülern – ja, den wenigsten Menschen – wird je ein Jahr Freizeit zur Verfügung gestellt. Doch ohne dieses freie Jahr können wir nicht wirklich schreiben, keine »echten« Schriftsteller sein, nicht wahr?

Vielleicht aber doch.

Die Zeitlüge ist ein bequemes Mittel, um sich der Tatsache zu verschließen, dass auch Romane Satz für Satz geschrieben werden müssen. Sätze können innerhalb von Augenblicken entstehen. Genug solcher gestohlener Augenblicke, genug gestohlene Sätze, und ein Roman ist vollendet – und zwar ganz ohne den Luxus unbegrenzter Zeit.

Der Rechtsanwalt Scott Turow verfasste seinen spannenden Roman Presumed Innocent im Pendlerzug zum Büro und nach Hause. Meine Schülerin Maureen hat es fertig gebracht, neun Theaterstücke zu schreiben, während sie zugleich ihren kleinen Sohn aufzog und als Designerin arbeitete. Michael, ein anderer meiner Schüler, brachte einen ganzen Roman zu Papier und nutzte dazu die »freien Minuten«, die ihm während des Schreibens seiner Magisterarbeit blieben. Sie alle setzten ihr Vorhaben in die Tat um, indem sie sich Freiräume schufen, anstatt auf freie Zeit zu warten.

Wenn wir Freiräume schaffen, dann können wir jederzeit und überall schreiben. Sobald wir den Kunstkniff beherrschen, »wie man sich in die Quelle fallen lässt«, den ich lehre – ich halte dazu meine Schüler an, jeden Morgen zuerst einmal drei Seiten voll zu schreiben –, können wir unsere Quelle jederzeit und überall finden: im Wartezimmer beim Zahnarzt, im Flugzeug, während wir auf jemanden warten, den wir abholen, in der Mittagspause, beim Friseur, am Küchentisch, während die Zwiebeln dünsten …

Wer aus reiner Liebe zur Schriftstellerei schreibt, der findet immer genug Zeit – so wie auch Liebende immer Zeit finden für einen Kuss zwischendurch. Eine kluge Frau hat mir einmal erklärt: »Auch der beschäftigtste und bedeutendste Mann findet immer Zeit für dich, wenn er richtig verliebt ist; findet er sie nicht, dann ist er eben nicht verliebt genug.« Wenn wir also das Schreiben lieben, dann finden wir auch Zeit dafür.

Zeit zum Schreiben finden wir somit dann, wenn wir es aus Liebe zur Schriftstellerei tun, und nicht, weil wir bereits auf das Endresultat schielen. Versuchen Sie nicht, etwas Vollkommenes zu produzieren; schreiben Sie einfach drauflos. Versuchen Sie nicht, ein ganzes Megilloth zu vollenden; machen Sie erst einmal einen Anfang. Ja, die Vorstellung ist erschreckend, wie viel Zeit man für das Schreiben eines ganzen Romans finden müsste. Viel weniger beängstigend ist es, Zeit für einen Absatz oder einen Satz zu erübrigen. Und jeder Roman setzt sich schließlich nur aus Absätzen, und diese wiederum aus Sätzen zusammen.

Die Journalistin Annie versuchte immer, Zeit zu »finden«, um zum reinen Vergnügen zu schreiben. Ihr kam Zeit wie ein Hundert-Euro-Schein vor, den sie an einem Glückstag einmal finden würde.

»Du darfst nicht warten, bis die Zeit zu dir kommt«, erklärte ich ihr. »Wo bleibt denn dein Kampfgeist? Stiehl dir die Zeit!« Zu Beginn gelang es ihr, sich jeden Tag fünfzehn Minuten Zeit zu stehlen. Dann klappte es zweimal täglich. Es dauerte nicht lange, und ihr standen plötzlich zweimal wöchentlich ganze gestohlene Stunden zur Verfügung. Wie wenn man sich unerwartet verliebt, überraschte sie die Freude, die sie am Schreiben hatte, und stahl sich sanft in ihr Herz. Plötzlich »hatte« sie genug Zeit.

Alan, ein Dozent für kreatives Schreiben, der sich nichts mehr wünschte, als seinen ersten Roman zu verfassen, tröstete sich jahrelang damit, dass er Zeit zum Schreiben hätte, sobald er ein Jahr freigestellt würde. Eines Tages machte er den Fehler, mir von seiner Sichtweise zu erzählen.

»Warum fängst du nicht jetzt gleich an?«, wollte ich wissen. »Fang jetzt mit dem Schreiben an, dann kannst du den Text während deiner Freistellung überarbeiten.«

»Dazu habe ich nicht genug Zeit«, protestierte Alan. »Ich unterrichte kreatives Schreiben. Ich muss meinen Schülern beim Schreiben zusehen.« Er hörte sich verbittert und mürrisch an.

»Dann schreib doch, während sie schreiben. Mach doch nicht so viel Wirbel darum. Halt doch in der Zeit, in der sie arbeiten, einfach ein paar Einfälle fest.«

»Ja, ich habe Einfälle, aber ich weiß nicht, wohin sie mich führen«, beklagte sich Alan.

»Dann häng dich doch an einen dran, so kannst du es herausfinden.«

»Mich an einen dranhängen! Und wenn es eine Sackgasse ist? Für Sackgassen habe ich keine Zeit.«

»Sackgassen gibt es doch gar nicht, nicht wirklich jedenfalls«, gab ich zu bedenken. Ich hatte Alan in die Enge getrieben, und er wusste es.

Alan hatte sehr wohl Zeit zum Schreiben. Wir alle haben Zeit zum Schreiben. Wir haben Zeit zum Schreiben, sobald wir uns damit zufrieden geben, schlecht zu formulieren, in einer Sackgasse zu enden, jedes Mal nur ein paar Sätze aufs Papier zu bringen und einfach nur um des Schreibens willen zu schreiben, anstatt ein vollkommenes, geschliffenes Resultat anzustreben.

Die Obsession mit dem Zeitmangel ist in Wirklichkeit nichts anderes als Perfektionismus. Wir wollen genug Zeit, um vollendet zu schreiben. Uns fehlt der Mut, ohne Sicherungsnetz zu arbeiten, und wir behaupten, dass wir doch nicht so dumm sind, um Zeit auf etwas zu verschwenden, das sich am Ende gar nicht auszahlt.

»Fang erst einmal damit an, dass du deine drei Morgenseiten schreibst«, riet ich Alan. »Verschaff dir Gelegenheit, dich auf dem Papier auszubreiten. Schreib drei Seiten über alles, was dir nur einfällt. Es wird deinen inneren Zensor lehren, dich in Zukunft machen zu lassen.«

»Da habe ich meine Zweifel, ob das funktioniert«, erklärte mir Alan.

»Das mag schon sein, aber versuch es trotzdem«, spornte ich ihn an.

Die Zweifel waren bedeutungslos. Die Morgenseiten setzten die Pumpe in Gang. Es dauerte nur wenige Wochen, da schrieb Alan mit seinen Schülern um die Wette. Er schrieb einen um den anderen Satz, eine um die andere Seite – er schrieb. Er hängte sich sogar an die Einfälle, die er für Sackgassen hielt.

»Ich glaube, ich bin jetzt auch ein besserer Lehrer«, sagte er einmal zu mir.

Das wunderte mich nicht. Nichts teilt sich deutlicher mit als Liebe, und Alans Liebe zum Schreiben ließ ihn erstrahlen wie ein Licht, das seinen Schülern den Weg wies.

Wenn wir aus Liebe schreiben, uns selbst Augenblicke des Schreibens schenken, dann wird unser Leben schöner und unser Temperament sanfter. Wir sind nicht mehr länger neidische Zuschauer, die am Rand stehen und murmeln: »Ich würde ja auch so gerne, aber …«

»Wenn ich nur auf dem Lande lebte, dann würde ich auch die Zeit finden, um zu schreiben …«

»Wenn ich doch größere Ersparnisse hätte, dann wäre es mir leichter möglich zu schreiben …«

Die Lügen, die wir uns selbst über das Schreiben und die Zeit auftischen, haben alle etwas mit Neid zu tun und mit dem Märchen, dass es die anderen leichter haben, dass sie über mehr Finanzmittel verfügen und über bessere Förderung als wir selbst.

Um Zeit zum Schreiben zu finden, müssen Sie in Ihrem jetzigen Leben Zeit dafür schaffen – das ist der Kunstkniff. Das ist Ihr Angelpunkt. Hören Sie auf, sich ein Leben als »echter« Schriftsteller auszumalen, das mit dem Ihren nichts zu tun hat. Die Stille des Landlebens bringt keinen Schriftsteller zum Schreiben. Finanzielle Unabhängigkeit ist keine Gewähr für das Fließen von Ideen. Jedes Leben ist ein Schriftstellerleben, denn wir alle können Schriftsteller sein.

Laura unterrichtet begabte Vorschulkinder. Ihre Tage sind angefüllt mit Unterrichtsplanung, dem Korrigieren und Bewerten von Arbeiten sowie mit Elterngesprächen. Trotz alledem findet Laura Zeit zum Schreiben von drei Morgenseiten und für ein paar Zeilen vor dem Abendbrot. Manchmal kommt sie auch an Sonnabenden dazu. Während der vergangenen beiden Winter hat sie außerdem an einem Kurs über kreatives Schreiben in einer nahe gelegenen Erwachsenenbildungseinrichtung teilgenommen.

»Früher habe ich mich ständig darüber beklagt, dass ich keine Zeit zum Schreiben habe«, erinnert sich Laura. »Ich wollte schreiben, ärgerte mich, dass ich es nicht tat, fühlte mich mit dem Status quo aber auch sicher. Es war ein Schritt ins Unbekannte, Zeit für das Schreiben zu schaffen, aber er hat alles verändert. Ich habe inzwischen nicht nur Zeit zum Schreiben, sondern plötzlich auch für andere Dinge. Ehrlich gesagt, ich glaube, ich war einfach depressiv, und das Schreiben hat mich von meiner Depression kuriert. Könnte das sein?«

»Gut möglich. Schreiben bringt vieles ins Lot«, erklärte ich Laura.

»Ja, das hast du immer schon behauptet, aber ich habe es bisher nie so recht geglaubt«, entgegnete sie. »Aber jetzt weiß ich es.«

Wer sich Zeit zum Schreiben nimmt, dem steht Gutes bevor. Indem wir unsere Umgebung beschreiben, wenden wir uns ihr bewusst zu und wissen sie besser zu schätzen. Selbst ein Leben, das aus nichts als Hast und Durcheinander besteht, erstrahlt plötzlich in einem ganz neuen Glanz, weil es gewürdigt wird.

Die Zeitlüge

Initiation

Wir behaupten oft: »Ich habe keine Zeit zum Schreiben.« Aber wir haben Zeit, ein wenig jedenfalls. Diese Übung hilft Ihnen, sich nicht länger als Opfer Ihres Zeitmangels zu fühlen. Kaufen Sie fünf Postkarten und fünf Briefmarken dazu. Suchen Sie die Adressen von fünf Menschen heraus, die Sie gerne mögen, mit denen Sie jedoch aus Zeitmangel keinen Kontakt halten. Setzen Sie sich eine Frist von fünfzehn Minuten. Nehmen Sie sich pro Karte zwei bis drei Minuten Zeit, um Ihren Freunden herzliche Grüße zu senden. Kleben Sie die Briefmarken auf und schicken Sie die Karten ab.

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Eine Spur legen

Bestimmt lässt sich der Sachverhalt kunstvoller zum Ausdruck bringen, ich jedenfalls bezeichne ihn als »eine Spur legen«. Als Europäer ermöglicht Ihnen das Schreiben, eine Spur kreuz und quer durch den Kontinent zu legen, auf Ihrem Weg das ganze Landesinnere zu kartographieren und dabei all die vielen Eindrücke zu genießen.

Meiner Meinung will das, worüber wir schreiben möchten, auch niedergeschrieben werden. Wie ich einen Schaffensdrang verspüre, so verspürt auch das Etwas, das ich schaffen will, den Impuls, geboren zu werden. Es ist also meine Aufgabe, mich an den Schreibtisch zu setzen und dieses Etwas durch mich hindurch auf das Papier vor mir fließen zu lassen. In gewisser Weise geht es mich gar nichts an, was dieses Etwas ist, das da aufgeschrieben werden will.

Zu Beginn meiner Schriftstellerkarriere versuchte ich, den Feinschliff schon beim Schreiben zu erledigen. Jeder Satz, jeder Absatz, jede Seite sollte sich in einem Guss aus dem Vorangegangenen entwickeln und darauf aufbauen. Ich dachte viel über all das nach. Ich arbeitete hart an meinen Texten. Ich plagte mich mit meiner Schriftstellerei ab. Für mich bedeutete mein Beruf viele Stunden am Schreibtisch, hartnäckig schreibend, umschreibend, ausstreichend und wieder einfügend. Diese Art zu schreiben war frustrierend, schwierig und entmutigend. Als versuche man, ein Drehbuch zu verfassen und gleichzeitig den Schnitt zu bewerkstelligen. Problematisch an meinem gleichzeitigen Schreiben und Redigieren war auch die Tatsache, dass das Ergebnis von meiner Stimmung abhing. War ich offen, dann war alles, was ich zu Papier brachte, großartig. Sah ich die Welt wie zwischen Scheuklappen hindurch, dann taugte gar nichts. Mein Schreiben war einer Achterbahnfahrt aus Freisprüchen und Verurteilungen unterworfen: schuldig oder unschuldig, gut oder schlecht, Kopf ab oder ungeschoren davongekommen. Ich wünschte mir eine vernünftigere, weniger extreme Vorgehensweise. Ich brauchte emotionale Nüchternheit.

Mit diesem Ziel vor Augen lernte ich, mich allein auf das Schreiben zu konzentrieren und mir die Beurteilung meiner Produkte und das »Polieren« für später aufzuheben. Diese neue, freiere Art des Schreibens bezeichne ich als »Spur legen«. Zum ersten Mal erteilte ich mir die emotionale Genehmigung, Rohentwürfe zu produzieren, die auch wirklich roh sein durften.

Nun, da ich mir Unvollkommenheit erlaubte, wurde mein Schreiben glatter. Befreit von dem Anspruch, beim ersten Entwurf brillant, vollkommen und klug zu sein, wurde mein Schreibstil zugleich auch leichter und klarer. Wenn ich mich dann ans Polieren und den Feinschliff machte, stellte ich fest, dass es gar nicht so viel zu verbessern oder zu verändern gab. Ein bemerkenswert hoher Anteil meiner ersten Rohentwürfe hielt der Überprüfung stand.

Bis zu diesem Zeitpunkt war mir entgangen, dass die ganze Dramatik, mit der das Schreiben für mich umgeben schien, selbst geschaffen und vollkommen überflüssig war. Mir war nicht klar gewesen, dass das Drama, das ich aus dem Schreiben machte, mit dem Drama, über das ich schreiben wollte, absolut nichts zu tun hatte.

Der Abbau dieses Dramas erfüllte mich mit einer Erleichterung, wie sie auch das Entladen einer Schusswaffe bewirkt hätte. Ich hörte auf, mich misstrauisch zu belauern. Ich hatte es nicht mehr nötig, meinen Schreibtisch wie ein Hund achtzehnmal zu umkreisen, um mich endlich niederlassen zu können. Wo immer ich jetzt anfing, da fing ich eben an. Mir war plötzlich wieder eingefallen, dass mir das Schreiben früher einmal Spaß gemacht hatte. Meine Aufgabe war zu schreiben und nicht, das Geschriebene ständiger Kritik zu unterziehen. Ich kam zu dem Schluss, dass das Schreiben einen eigenen inneren Plan aufzuweisen schien. Für mich ist Schreiben so, als verfolgte ich in meinem Kopf eine Melodie. Sie weiß selbst, wo sie – einen Ton nach dem anderen – hin will. Ich folge dieser Melodie und schreibe sie auf. Für das Zuschneiden, Formen, Polieren ist später noch Zeit. Im Augenblick besteht meine Aufgabe allein darin, den Gedanken festzuhalten und einzufangen, den ich auch später noch ausführen und ausschmücken kann.

Im Lauf der Jahre habe ich herausgefunden, dass sich im Unterbewusstsein des Künstlers eine Struktur oder eine Form wie ein Kristall ausbildet. Stück für Stück und ganz langsam wächst in der Dunkelheit eine prachtvolle Formation heran. Meine Aufgabe ist es, diese Stücke einzufangen – sie in freien Assoziationen, wenn Sie so wollen, aneinander zu reihen, und mir bewusst zu sein, dass diese Assoziationen ihre eigenen Vorstellungen darüber haben, wohin das alles führen soll.

Der Komponist Eric Satie bemerkte einmal, dass er »ein Stück gern ein paar Mal umkreise«, bevor er es niederschreibe. Ich umkreise eine Idee und mache mir dabei Notizen. Wenn mir unterdessen etwas in den Sinn kommt, dann lasse ich es zu Wort kommen. Neugierig will ich herausfinden, wohin jeder vermeintliche Umweg mich zum Schluss tatsächlich führt. Inzwischen gestatte ich es den Strukturen, sich nach eigenem Gutdünken zu offenbaren, anstatt von ihnen einen sofortigen logischen Fluss zu verlangen. Ich habe begriffen, dass mein logischer Verstand nicht für den Entwurf, sondern nur für die Überarbeitung taugt. Für das Legen der Spur ist meine reiche, verrückte, fruchtbare Gehirnhälfte verantwortlich.

Ich sorge mich nicht darum, ob ich in eine Sackgasse gerate. Die meisten Sackgassen führen schließlich doch irgendwohin, und falls es sich nur um eine Ausweglosigkeit handelt, mit der ich mich selbst in die Enge treibe und die mich veranlasst, etwas Unerwartetes zu äußern, dann ist das auch in Ordnung. Ich weiß, dass es Leute gibt, die gleichzeitig schreiben und am Feinschliff arbeiten. Ich mache es anders. Ich stelle mir vielmehr vor, dass ich eine Spur von Punkt A nach Punkt B lege. Jeden Tag versuche ich, mich wenigstens ein paar Minuten lang mit dem Legen meiner Spur zu befassen. Ich schreibe mir nicht vor, wie weit ich mit meiner Spur kommen muss. So hatte ich es früher gemacht, dabei aber mein Ziel nicht zu hoch gesteckt: drei Seiten für ein Theaterstück und anderthalb Seiten Prosa. Für mich war das ein erreichbares Ziel. Es bedeutete neunzig Seiten Entwurf für ein Theaterstück und fünfundvierzig Seiten Entwurf für einen Roman. Kurz gesagt, es bedeutete, dass ich eine Spur legte.

So mancher macht sich Sorgen, wie er denn wohl die beste Spur legen könnte. Für meine Begriffe geht das ein wenig zu weit. Um die »beste« Spur geht es erst bei der Überarbeitung. Im Entwurf gelangt man von A nach B, durchquert einfach das Gelände. Entwürfe, die ihre eigene Form finden dürfen, kommen der besten Spur häufig von ganz allein sehr nahe. Zu planvolles und zu elaboriertes Schreiben wirkt leicht kraftlos. Spätere Fassungen sorgen dann für das nötige »Fleisch«. Wie viel besser ist man doch dran, wenn man einen ungebärdigen, mit Details gespickten Entwurf hat, den man formen und zähmen kann, der uns zwingt zu entscheiden, was wir beibehalten wollen, und nicht, was wir noch hinzufügen müssen.

Falls Sie zweifeln, dann lassen Sie das Textstück drin: den Mann mit der berückenden Stimme, der Ihnen auf Ihren Anrufbeantworter spricht, den herrischen Eichelhäher, der am Vogelfutterplatz das Kommando hat, den Brief, den Sie heute nicht bekommen haben, obwohl Sie so sehr darauf warten. Lassen Sie es stehen. Verfremden Sie es, wenn es sein muss, aber lassen Sie es stehen. Schreiben ist groß – groß genug, um alles zu umfassen, was Ihnen in den Sinn kommt. Schreiben ist leidenschaftlich. Leidenschaftlich genug, um sich gegen jede beliebige Stimmung oder Laune, in der Sie sich gerade befinden mögen, zu behaupten.

Schreiben – und das ist das große Geheimnis – will gelebt werden. Das Schreiben liebt den Schriftsteller ebenso wie Gott einen wahren Gläubigen liebt. Das Schreiben wird Ihr Herz finden, wenn Sie ihm nur eine Chance geben. Es wird Ihre Seiten füllen und Ihr Leben bereichern.

Eine Spur legen

Initiation

Das Schreiben hilft uns, unser Innenleben zu erfassen. Bestandteil des Spurenlegens ist die phantasievolle Beschäftigung mit der Frage, in welche Richtung die Reise überhaupt gehen soll. Die nachfolgende Übung verschafft Ihnen einen Überblick über Ihre emotionale Geographie.

Wenn Sie nicht gezwungen wären, etwas Bestimmtes zu schreiben, was würden Sie dann gerne schreiben? Einen Krimi? Kurzgeschichten? Einen Roman? Lieder? Theaterstücke? Gedichte? Vielleicht fühlen Sie sich ja zu mehreren Genres gleich stark hingezogen – das ist in Ordnung. Ihr breit gefächertes Interesse macht Sie noch nicht zu einem oberflächlichen Dilettanten. Es bedeutet lediglich, dass Sie mehr als nur eine Facette haben. Nehmen Sie sich fünfzehn Minuten Zeit und schreiben Sie, so schnell Sie können, über Gattungen, die Ihnen am meisten Spaß machen würden.

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Schlechtes Schreiben