Von Homer zu Jesus - Gregor Bauer - E-Book

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Gregor Bauer

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Beschreibung

Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens haben Dichter und Denker der klassischen und biblischen Antike sehr unterschiedlich geantwortet. Ihre Versuche, sich auf das Leben einen Reim zu machen, sind eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration - ob wir sie nun weise finden, verrückt oder unheimlich. (Unveränderte Neuauflage von "Der Weise und sein Schatten", Berlin und München 2014)

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Seitenzahl: 417

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Gregor Bauer

Von Homer zu Jesus

Sinnangebote der klassischen und biblischen Antike

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Von Homer zu Jesus

Hesiod: Im Anfang war kein Gott

Homer: Mord und Totschlag, dazu Hammelkeule mit Fladenbrot

Griechische Intellektuelle des fünften Jahrhunderts vor Christus: Gewalt geht auch ohne Religion

Sokrates: Wer nicht zweifelt, glaubt nicht

Platon: Ein Idealist verirrt sich in die Realpolitik

Aristoteles: Ein großer Mensch – aber nur für Seinesgleichen

Epikur: Rezepte gegen irrationale Ängste

Cicero und die Stoa: Philosophische Gelassenheit im Härtetest

Das Alte Testament: Du sollst keine Götter haben neben mir

Flavius Josephus: Chronist derer, die ihn hassen

Jesus: Gottessohn und Gesetzesbrecher

Nachwort

Anhang: Index: Abkürzungen, Fremdwörter, historische Quellen, Sekundärliteratur

Impressum neobooks

Widmung

Inhaltsverzeichnis

Widmung 2

Von Homer zu Jesus 3

Hesiod: Im Anfang war kein Gott 14

Homer: Mord und Totschlag, dazu Hammelkeule mit Fladenbrot 23

Griechische Intellektuelle des fünften Jahrhunderts vor Christus: Gewalt geht auch ohne Religion 44

Sokrates: Wer nicht zweifelt, glaubt nicht 101

Platon: Ein Idealist verirrt sich in die Realpolitik 134

Aristoteles: Ein großer Mensch – aber nur für Seinesgleichen 173

Epikur: Rezepte gegen irrationale Ängste 214

Cicero und die Stoa: Philosophische Gelassenheit im Härtetest 228

Das Alte Testament: Du sollst keine Götter haben neben mir 258

Flavius Josephus: Chronist derer, die ihn hassen 300

Jesus: Gottessohn und Gesetzesbrecher 324

Nachwort 381

Anhang: Index: Abkürzungen, Fremdwörter, historische Quellen, Sekundärliteratur 384

Für Dr.-Ing. Dieter Renner (1960 – 2000)

Von Homer zu Jesus

Inhaltlich unveränderte Neuauflage von „Der Weise und sein Schatten. Sinnstifter der klassischen und biblischen Antike“ (Berlin 2014)

Worauf kommt es an im Leben? Darüber waren sich die Menschen bereits in der griechischen, römischen und biblischen Antike nicht einig. Lässt sich auf das Leben ein Reim machen, und wenn ja, wie? Das haben damals Dichter, Philosophen, Spötter und Propheten in alle Richtungen ausgelotet. Wenn wir heute über den Sinn unseres Lebens nachdenken, dann denken wir wahrscheinlich etwas, das sie damals auch schon gedacht haben.

So, haben sie das? Wie kann das sein, wo sie doch in einer völlig anderen Welt lebten als wir? Selbst die genialsten Köpfe wussten damals noch nicht einmal, was ein gedrucktes Buch ist. Was sollen die uns lehren – uns, die wir jederzeit und überall auf eine unendliche Vielfalt an Medien zugreifen können?

Nun, so vielgestaltig die Möglichkeiten auch geworden sind, die wir früheren Generationen voraus haben – alles kreist doch weiter um die ewig gleichen Themen: Liebe, Hass, Angst, Geburt, Krankheit, Schmerz, Lust, Treue, Verrat, Lüge, Macht, Gerechtigkeit, Geld, Konkurrenz, Fürsorge, Gefahr, Freundschaft, Feindschaft, Tod. Zwar haben wir heute die überlegenen Mittel, um all das so wirkungsvoll wie möglich in Szene zu setzen. Aber unser Vorsprung bröckelt, sobald wir fragen: Wozu das alles? Dann zählt eine Stärke, die unter multimedialem Dauerfeuer nicht wächst, sondern verkümmert: Nachdenklichkeit.

Nachdenklichkeit? Können wir denn heute das Nachdenken nicht den Wissenschaftlern überlassen? Die sollen uns sagen, was der Sinn des Lebens ist. Doch die winken ab: „Nicht unser Thema.“ Kampflos überlassen sie das Feld denen, die sich trauen, unwissenschaftlich zu sein: Dichtern, Philosophen vom alten Schlag – und Geistlichen: Nach wie vor suchen die meisten Menschen auf dieser Erde den Sinn ihres Lebens in der Religion.

Dann ist die Frage nach dem Sinn also eine religiöse Frage?

Bereits in der Antike sahen das nicht alle so. Natürlich dominierte damals ein religiöses Weltbild. Aber es entstanden auch beeindruckende Alternativen.

Ernsthafte Konkurrenz erhielt die religiöse Sinnstiftung im fünften Jahrhundert vor Christus. Damals ereignete sich in Griechenland der geistesgeschichtliche Umsturz, der eine Wahl zwischen religiösen und anderen Sinnentwürfen überhaupt erst ermöglichte. In Athen entstand eine erstaunlich freie Diskussionskultur, die den religiös Konservativen arg zusetzte. Die Atomisten verbreiteten, alles bestehe aus Atomen, die keinen Göttern, sondern Naturgesetzen folgen. Agnostiker reisten durch die Lande und predigten ein selbstbestimmtes Leben frei von religiösen Zwängen. Alexander der Große und später die Römer ermöglichten die Verbreitung solcher Ideen in der gesamten damaligen Welt.

Diese frühen Aufklärer fanden durchaus Anklang. So erreichte Epikurs rein diesseitige Lebenskunst im Römischen Reich des ersten nachchristlichen Jahrhunderts einigen Einfluss. Aber wer eroberte am Ende die Köpfe und Herzen? Kein Genie der griechisch-römischen Aufklärung. Sondern ein frommer Handwerkersohn aus einem Dorf in der jüdischen Provinz: Jesus von Nazaret. Der stellte schließlich die größten Philosophen in den Schatten und wurde zum Stifter der Weltanschauung, zu der sich heute ein Drittel der Menschheit bekennt.

Aus Sicht der Religionskritiker ist dieser Befund vernichtend – und das umso mehr, als die meisten frühen Christen sich mit der griechisch-römischen Aufklärung kaum auseinandersetzen mussten. Dafür war sie dann doch nicht einflussreich genug. Wem die Zukunft gehören würde – das machten die Frommen der römischen, jüdischen und christlichen Religion unter sich aus.

Nein, die antiken Religionskritiker haben es nicht geschafft, die Religionen zu überwinden. Aber sie haben sie verändert. Der Philosoph Seneca, ein Zeitgenosse Jesu, fromm, aber mit skeptischen Positionen wohlvertraut, forderte, dass der Mensch dem Menschen heilig sein müsse. Da hatte acht Jahrhunderte zuvor ein Homer noch andere Vorstellungen.

Die Religionskritiker haben sich also nicht durchgesetzt. Das heißt aber nicht, dass sie unrecht hatten. Wie steht es damit? Ist die Religion eine zwar erfolgreiche, aber dennoch wahnhafte Massensuggestion, die klare Köpfe hinter sich lassen?

In diesem Buch gehe ich davon aus, dass sich die Religion ebenso wenig erledigt hat wie die Kritik an ihr. Der Riss, der Gläubige und Atheisten voneinander trennt, geht durch jede und jeden von uns: Wohl jeden Gläubigen ficht irgendwann der Zweifel an. Und wohl jede Atheistin ertappt sich früher oder später bei abergläubischen Vorstellungen, die nicht zu ihrem rationalen Weltbild passen.

Erst in der Zusammenschau religiöser und religionskritischer Haltungen treten die menschlichen Möglichkeiten in ihrer Vielfalt zutage. Warum sollten wir diese Möglichkeiten nicht kennenlernen? Was davon wir annehmen und was wir verwerfen, bleibt unsere eigene Angelegenheit. Wir entscheiden, worauf wir unser Leben setzen – genauer: worauf wir setzen, was uns von unserem angebrochenen Leben bleibt.

Egal wie unsere persönliche Antwort auf die Gretchenfrage nach der Religion lautet: Stellen wir unser Urteil über „die anderen“ ein wenig zurück. Entspannen wir uns, gewinnen wir Abstand – auch zeitlich. Die Antike bietet uns diese Chance.

Lassen wir uns anregen von den alten Dichtern und Denkern. Was von ihnen zu uns gelangt ist, hat einen jahrhundertelangen gnadenlosen Ausleseprozess überstanden. Dieser Prozess war oft ungerecht, vieles Wertvolle ist für immer verloren. Und doch können wir vermuten: Was übriggeblieben ist, hat Substanz.

Überliefert ist nur ein Bruchteil dessen, was damals geschrieben wurde. Aber für Sinnsuchende ist es eine Fundgrube.

Wie vielfältig wir uns zum Leben verhalten können: nüchtern wissenschaftlich oder enthusiastisch, ideologisch verbohrt oder pragmatisch offen, achtsam gegenüber allen Mitgeschöpfen oder rücksichtslos auf unseren eigenen Vorteil fixiert – all das haben die Menschen der Antike exzessiv ausprobiert. Und überliefert sind nicht nur ihre Ideen: Oft erfahren wir auch, was sie damit bewegt – oder angerichtet haben.

Im Altertum unsere eigenen Hoffnungen und Nöte wiederzufinden – das ist, wie wenn wir die Welt wieder durch die Augen eines Kindes sähen.

Krieg war bereits absurd, als Homer seine „Ilias“ anstimmte. Deshalb sitzen bei ihm die erbittertsten Feinde friedlich beisammen – und beweinen gemeinsam ihre sinnlos hingemordeten Lieben.

Den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft kannte Sokrates schon. Doch wie er Glaube und Zweifel miteinander verquickte – das ist heute so unverschämt neu, dass wir uns fragen: Sind wir für so viel Freiheit immer noch oder schon wieder zu borniert?

Positive Gedanken gaben bereits dem Stoiker Zenon die Kraft, den Verlust seines Vermögens locker wegzustecken. Doch heftigen Nierenschmerzen war auch damals mit Gedanken schwer beizukommen – weshalb sein Schüler Dionysius das stoische Gerede von ihrer alles bezwingenden Kraft zur Hölle wünschte.

Eine Lüge wurde auch im Königreich Juda nicht dadurch wahrer, dass viele sie nachplapperten. Deshalb schlug König Josaphat vor einer schweren Entscheidung über Krieg und Frieden den einhelligen Rat seiner bezahlten 400 Hofpropheten in den Wind – und verlangte nach dem einzigen Mann, von dem er wusste, dass er unbestechlich war.

Dieses Buch

In diesem Buch möchte ich antike Quellen für Sinnsuchende erschließen.

Kapitel 1 und 2: Hesiod, Homer

Ich beginne in einer Zeit, in der der Sinn des Lebens noch ganz selbstverständlich durch die Religion gesetzt war: im achten Jahrhundert vor Christus.

Kapitel 3: griechische Aufklärung

Für die Anhänger der überlieferten Religion waren die weltanschaulichen Kontroversen des fünften Jahrhunderts ein Schock. Damals begannen Athens Intellektuelle, alles zu hinterfragen: Warum lassen die Götter sogar ihre treuesten Anhänger so oft im Stich? Gibt es sie überhaupt? Wissen diejenigen, die das behaupten, überhaupt, wovon sie reden – und seien es auch die großartigsten Dichter? Wem können wir überhaupt glauben? Wer hält sich strikt an die Tatsachen, statt uns Märchen aufzutischen? Oder ist am Ende alles ein Märchen? Können wir uns denn verlassen auf das, was unser Verstand und unsere Sinne uns eingeben? Oder ist die Welt ganz anders, als sie uns erscheint? Radikal hinterfragt wurden auch die überlieferten Werte – teilweise mit fatalen Folgen.

Kapitel 4: Sokrates

Bei ihren Diskussionen machten die Athener eine beunruhigende Entdeckung: dass es zu jeder Position immer auch eine genauso plausible Gegenposition gibt. Da dem so ist: Was gilt dann überhaupt? Sokrates führte seine Gesprächspartner genau in diesen Zustand der Ratlosigkeit. Aber wer geduldig genug war, fand mit Hilfe des Sokrates auch wieder heraus. Denn radikale Skepsis war für Sokrates nur der Ausgangspunkt für eine persönliche Moral, die keine Fragen zu scheuen braucht. Das Trümmerfeld widerlegter Meinungen war für ihn der Ort, an dem das Leben in Wahrhaftigkeit gedeihen konnte.

Kapitel 5: Platon

Der Sinn des Lebens – das war für Platon das Eigentliche hinter dem Schein, in dem wir alle befangen sind. Aus diesem Schein können sich nur die Besten befreien. Die meisten Menschen dagegen verschwenden ihr Leben auf der sinnlosen Jagd nach Belanglosigkeiten. Doch warum wollte Platon für diese uneinsichtigen Menschen Politik machen – und was ist dabei herausgekommen?

Kapitel 6: Aristoteles

Es gibt keine ideale Welt der reinen Ideen, sondern nur die reale, in der wir nun einmal leben, vertrat Aristoteles gegen seinen Lehrer Platon. Da Aristoteles an kein Jenseits glaubte, wollte er diese Welt immer besser verstehen und in ihr seine Erfüllung finden. Realist, der er war, hat er naturwissenschaftliche und kulturelle Phänomene angemessener beschrieben als sein Lehrer. Aber angemessen und menschlich ist nicht dasselbe: Ein König kann es für angemessen halten, die Welt mit Krieg zu überziehen. Prominentes Beispiel: Alexander der Große. Hat sein feinsinniger Lehrer Aristoteles ihn brutalisiert?

Kapitel 7: Epikur

Aristoteles hielt das Glück für ein äußerst zerbrechliches Gut. In dieser Hinsicht war Epikur robuster. Auch er schloss ein Weiterleben nach dem Tod aus. Aber vor dem Tod kann glücklich sein, wer immer bereit ist, von maßlosen Wünschen und Begierden unbelastet den Augenblick zu genießen.

Kapitel 8: Cicero und die Stoa

Dass ein Philosoph in allen Lebenslagen seine Gemütsruhe bewahren müsse – dieser stoische Gedanke hat Cicero beeindruckt. Doch wie stand es um seine eigene Gemütsruhe, wenn es hart auf hart kam? Die Antwort gibt uns Cicero selbst. In dieser vielschichtigen Persönlichkeit gärten einige Widersprüche – darunter auch der zwischen Frömmigkeit und Skepsis. Generationen nach Cicero erlebte die Stoa als Lebensweisheit ihre vielleicht schönste Blüte, wie der Ausblick auf die beiden großen Tröster Seneca und Epiktet zeigt.

Kapitel 9: Altes Testament

Die biblische Kultur atmet einen völlig anderen Geist als die griechische. Ihr strikter Monotheismus ging einher mit einer radikalen Ablehnung fremder Kulturen, denen sie dennoch viel verdankte. Die positive Kehrseite der alttestamentarischen Intoleranz ist ein tiefer Ernst, der Sinnsuchende immer wieder angezogen hat. Einen solchen Ernst braucht, wer den Versuch wagen will, das Eigentliche vom Uneigentlichen zu scheiden. Auch beeindruckt der seelisch aufgewühlte Mensch der Bibel als Kontrast zu einem Ideal unserer Tage: zum persönlich distanzierten, innerlich unbeteiligten Wissenschaftler.

Kapitel 10: Flavius Josephus

Als Mittler zwischen griechisch-römischer und biblischer Kultur begegnet uns Flavius Josephus. Seinen jüdischen Zeitgenossen zutiefst verhasst, wurde er zur wichtigsten Quelle für die jüdische Geschichte zur Zeit Jesu. Vielleicht verrät uns sein Werk auch einiges über die Glaubwürdigkeit der Evangelien.

Kapitel 11: Jesus

Wie konnte Jesus alle Geistesgrößen der Antike überflügeln und zum einflussreichsten Sinnstifter der Menschheit werden? Das gehört zu den spannendsten Fragen der Ideengeschichte. In diesem Buch können wir auf diese Frage nur teilweise eingehen. Denn die Jahrhunderte, in denen sich die Kirche aus einer verfolgten zu einer verfolgenden Institution entwickelte, liegen bereits außerhalb unseres zeitlichen Rahmens. Hier konzentrieren wir uns auf die Anfänge, genauer: So weit es möglich ist auf Jesus selbst, aber auch auf die Evangelien als seine wichtigsten Quellen. Dabei fragen wir auch, wie die Bibelforscher diese Quellen beurteilen – und warum die Frommen über den wissenschaftlichen Zugriff auf ihre heiligen Schriften nicht immer glücklich sind.

Schattenseiten

So anregend die Dichter und Denker der Antike auch sind: Gelegentlich sagen sie ganz unerträgliche Dinge. Homer verherrlicht die Mordbestie Achill, Platon den Totalitarismus, das Alte Testament den – unhistorischen – Völkermord an den Ureinwohnern Kanaas. Auch das Neue Testament hält so manchen unverdaulichen Brocken bereit. Zwar lebt darin eine überwältigende Liebe, die alle einschließt: Arme, Sklavinnen, „Dumme“, Versager, Ketzer, Verbrecher, Prostituierte, Kollaborateure, Feinde – alle gehören dazu. Was für ein Quantensprung in der Entwicklung der Humanität! Und doch findet sich in diesem Buch der Liebe auch die grässlichste Ausgrenzung, die sich denken lässt: die Ausgrenzung in die ewige Verdammnis.

Solche schrecklichen Seiten des antiken Erbes werden hier nicht unter den Teppich gekehrt. Doch werden sie uns nicht daran hindern, die Schätze der Vergangenheit zu heben.

Ganz gleich, wie wir uns zu den antiken Dichtern, Philosophen, Historikern, Propheten und zu Jesus stellen: Sie sind – zumindest in der westlichen Welt – die Pioniere unseres heutigen Bewusstseins. Wenn wir ihnen begegnen, begegnen wir uns selbst.

Hesiod: Im Anfang war kein Gott

Hesiod (* vor 700 v. Chr.) ist neben dem älteren Homer die Hauptquelle der griechischen Mythologie.

Wie fühlte sich das Leben an, als der Himmel noch ein entmachteter Tyrann war, die Erde seine rebellische Gattin und die Unterwelt ein Ort voll grässlicher Ungeheuer?

Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Kultur ohne Fernrohre und Raumfähren. Vom Urknall hätten wir noch nie etwas gehört. Noch hätte die moderne Physik nicht unseren Planeten zu einem Staubkörnchen erklärt, verloren in einem viel zu großen All, das dem Leben nahezu überall feind ist. Stattdessen wäre unser Zutrauen in unsere eigenen Sinne ungebrochen: Aus dem, was wir um uns sehen und hören, würden wir unverdrossen schließen, wie es sich mit der Welt überhaupt verhält. Und was unsere Sinne nicht liefern, würden wir aus unserer Fantasie ergänzen. Wie würden wir wohl die Welt erleben, und wie uns selbst in dieser Welt?

Wer sich das vorstellen möchte, dem – oder der – sei die Lektüre Hesiods empfohlen, eines dichtenden Bauern im Griechenland des achten vorchristlichen Jahrhunderts.

Hesiod fühlte sich voller Leben, und überall um sich fand er Leben vor. Warum also sollte die Erde für ihn nicht das Zentrum eines Universums voller Leben sein?

Wenn Hesiod an einem schönen Sommerabend den aufsteigenden Mond auf sich wirken ließ, dann erblickte er keinen leblosen Gesteinsklumpen: Was dort am Himmel so herrlich strahlte, war eine Göttin. Wieso auch hätte Hesiod Sonne, Mond und Sterne für tot halten sollen? Sie sprachen nicht weniger lebhaft zu seinen Sinnen als Pflanzen, Tiere und Menschen.

Die Sonne gar war nicht nur lebendig, sie spendete großzügig Leben. Ihren allgegenwärtigen Strahlen entging nichts. Aus Respekt vor der erhabenen Gottheit begab sich Hesiod beim Verrichten der Notdurft ehrerbietig in den Schatten einer Mauer oder – mit umhüllendem Gewand – in die Hocke.

Im Anfang war das Chaos

Leben, das wusste der Bauer Hesiod, wird gezeugt und zeugt sich fort. Das galt natürlich auch für das göttliche Leben, von dem er sich umgeben glaubte. Sonne, Mond und Morgenröte waren Geschwister. Sie waren ebenso irgendwann geworden wie andere Gottheiten, etwa die Meeresstille, der Sieg, das Gedächtnis und die Nacht.

Doch wie hatte alles begonnen? Im Anfang war kein Leben: Hesiods „Schöpfungsgeschichte“ beginnt nicht mit einem Gott, der Himmel und Erde schuf, sondern mit dem Chaos (T  116). Dabei dachte Hesiod aber nicht an ein chaotisches Urgerümpel, sondern an den leeren Raum vor allen Dingen und Göttern. Auch dieser Raum ist entstanden, doch was davor war, sagt Hesiod nicht.

In dem leeren Raum entstand zuerst die Erde. Natürlich ist Hesiods Erde keine Kugel. Aber ist sie eine Scheibe? Das wäre kein schmeichelhafter Ausdruck für eine weit sich hinbreitende Göttin mit üppigen Brüsten.

Mangels Partner erzeugte die Erde eingeschlechtlich ihren späteren Gatten, den Himmel. Für Hesiod war also zuerst die Henne da, dann der Gockel. Allerdings nur, wenn man von dem Liebesgott Eros absieht, der möglicherweise zeitgleich mit der Erde entstanden ist.

Nacht für Nacht senkte sich nun der Himmel liebend auf die empfangende Erde. Lehrt das nicht schon die Anschauung? Schließen denn nicht Erde und Himmel am Horizont nahtlos aneinander an? In der Nacht gar sind sie überhaupt nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Und kommt der Regen, der die Erde befruchtet, nicht vom Himmel?

Aus der inzestuösen Verbindung von Erde und Himmel entstanden Kinder, an denen der Vater keine Freude hatte: die schrecklichen Titanen. Hundertarmige Riesen waren darunter, und grässlich anzusehende einäugige Monster. Angewidert sperrte der Vater diese Brut weg in der Erde – in ihrer eigenen Mutter also. Das konnte nicht lange gut gehen. Und tatsächlich reizte die Erde ihren Jüngsten, Kronos, zur Rebellion. Mit einer Sichel mähte er das väterliche Geschlecht und schleuderte es in hohem Bogen ins Meer, bei welcher Gelegenheit Giganten, Rachegöttinnen, Baumgeister und die Liebesgöttin Aphrodite entstanden.

Nun trat Kronos die Weltherrschaft an, freilich nur, um die Fehler seines Vaters zu wiederholen. Auch er ging nicht pfleglich um mit den Kinder aus seiner – ebenfalls inzestuösen – Ehe: Er verschlang sie. Und wieder rebellierte die Mutter, in diesem Fall die Kronos-Schwester Rhea. Es gelang ihr, Kronos zu überlisten und seinen Jüngsten – Zeus – vor dem Vater zu verstecken.

Zeus überwältigte schließlich seinen Vater und zwang ihn, die Geschwister zu erbrechen. Unter ihnen befand sich auch Hera. Mit ihr würde Zeus eines fernen Tages – in siebter Ehe – die Familientradition inzestuöser Verbindungen fortsetzen.

Der Weltenherrscher Zeus war also – anders als der Gott der Bibel  – nicht immer schon die Nummer 1 gewesen: Zur Macht gekommen ist er erst in der dritten Generation.

Und Zeus war nicht unumstritten: Um seine Position zu sichern, musste er die rebellischen Götter der zweiten Generation, die Titanen, besiegen. Die überwundenen Aufrührer landeten in der Unterwelt. Danach nahm Zeus es mit seinem letzten Widersacher auf: dem grässlichen Typhoeus, den Oma Erde von dem finsteren Höllenfürsten Tartaros empfangen hatte. Als das Monster sich anschickte, die Zwingherrschaft über Götter und Menschen zu erringen, stellte sich ihm Zeus in einem gewaltigen Zweikampf, der das ganze Weltgefüge in Aufruhr brachte. Mit seinen Blitzen verbrannte Zeus die 100 Drachenköpfe des Typhoeus und warf ihn in die Unterwelt.

Das Weltbild vor der modernen Physik hatte also durchaus seine beängstigenden Seiten: Hesiod glaubte unter sich ein riesiges Gefängnis voller brandgefährlicher Ungeheuer, die die Weltordnung stürzen wollten. Da sie unsterblich waren, war auch ihre Verdammnis ewig – es sei denn, sie würden sich eines Tages befreien. Eine unheimliche Vorstellung. Es mag Hesiod beruhigt haben, dass die Finsterlinge von der Erde weit entfernt waren: Ein Amboss brauchte im freien Fall neun Tage, bis er dort ankam. Aber würde Hesiod den entmachteten Titanen nach seinem Ableben bei der Fahrt in die Unterwelt nicht gefährlich nahe kommen?

Zeus duldet andere Götter – aber nicht auf gleicher Augenhöhe

Hatte Hesiod Gottvertrauen? Seine Weltordnung war eine gewordene, mit einem Gott an der Spitze, der sich nicht ständig um alles kümmern konnte. Schließlich wollte er sich auch mal bei einem prächtigen Gelage gütlich tun oder mit einer Schönen zurückziehen. Aber wie der Gott des Alten Testaments, so duldete auch Zeus keine Götter neben sich: Niemand durfte es wagen, an seinem absoluten Herrschaftsanspruch zu rütteln.

Die Macht des Zeus war so weitreichend, dass sie sogar bereits vor seiner Geburt wirksam war: Das kosmische Geschehen lief auf seine Herrschaft zu und fand in ihr sein Ziel. Die rohe Gewalt hatte in dieser Ordnung nur so lange eine Existenzberechtigung, wie sie dem Recht diente. Und was die Macht des Schicksals angeht: Sogar die Schicksalsgöttinnen, die den Menschen Gutes und Schlimmes zuteilen, stammen bei Hesiod von Zeus ab und sind ihm deshalb untertan – eine in der griechischen Antike keineswegs selbstverständliche Vorstellung.

Der herrschende Olympier besaß also bei Hesiod eine geradezu monotheistische Machtfülle (Veyne  52). Das erinnert doch sehr an die Bibel – und es ist nicht die einzige Parallele: Auch bei Hesiod durchlebt die Menschheit zunächst eine paradiesische Urzeit. Dass diese zu Ende geht, hat auch bei ihm mit Ungehorsam gegen die göttliche Ordnung zu tun, und auch bei ihm spielt eine Urfrau in diesem Zusammenhang eine verhängnisvolle Rolle (WuT  60ff).

Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ der Bibel wäre Hesiod nicht genug: Er rät, erlittenes Unrecht doppelt heimzuzahlen (WuT  710). Doch biblisch klingt es wieder, wenn Hesiod das bevorstehende Ende des gegenwärtigen Menschengeschlechts beschreibt. Unwillkürlich denkt man dabei an die – viel späteren – apokalyptischen Visionen des Neuen Testaments. An die Goldene Regel der Bergpredigt erinnert Hesiods Mahnung: „Schlimmes bereitet sich selbst, wer anderen Schlimmes bereitet“ (WuT  264). Und wenn Zeus den Niedrigen erhöht und den Erhabenen schrumpfen lässt (WuT  5f), drängt sich der Vergleich mit dem Magnifikat auf, dem Loblied Marias.

Hesiods Vorsicht beim Verrichten der Notdurft ist nicht sein einziger Versuch, verschiedene Sphären der Reinheit auseinanderzuhalten. So rät er, den Göttern nicht mit ungewaschenen Händen zu opfern. Wer von einem Grab heimkehrt, soll den Beischlaf meiden, bis er ein Mahl für die Götter gehalten hat. So bleibt der Abstand zwischen den Sphären der Fortpflanzung und des Todes gewahrt (WuT  734f).

Tiefes Naturempfinden und frommer Respekt vor den Flussgöttern sprechen aus diesen Versen: „Setze nie den Fuß in das klare Nass stets strömender Flüsse, bevor du mit Blick auf die herrlichen Fluten gebetet und dir die Hände gewaschen hast im lieblichen Wasser“ (WuT  737ff).

Wer zweifelt, kränkt die Musen

Wie also kam Hesiod dazu, zu glauben was er glaubte? Wer sich an die eigene Kindheit erinnert, in der es noch ein Heiliger war, der an Nikolausi den Stiefel vor der Haustür füllte, ist wohl auf der richtigen Spur. Hesiod war wie ein Kind, das am Weihnachtsmann nicht zweifeln lernt, weil auch die Erwachsenen an ihn glauben. Hinzu gekommen sein dürfte in seinem Fall ein gewisser Hang zum Martialischen, wie er sich heute in finsteren Computerspielen austobt.

Aber hat es Hesiod nicht stutzig gemacht, dass ihm die Göttergeschichten, die er aufgriff, in widersprüchlichen Versionen vorlagen? Und muss er sich nicht als Lügner gefühlt haben, wenn er seinerseits die bekannten Geschichten veränderte?

Eine mögliche Antwort sind die Göttinnen, als deren Sprachrohr sich Hesiod verstand: Wenn sich dem Dichter eine Geschichte aufdrängte, dann war nicht etwa seine Fantasie tätig – dann sprachen die Musen zu ihm. Und die konnten auch lügen: „Wir können euch die reine Wahrheit verkünden“, lässt Hesiod sie sprechen, „wir können euch aber auch Erdichtetes auftischen und als Wahrheit ausgeben“ (T  26ff).

Doch ob sie nun täuschten oder die Wahrheit sagten – weitergeben musste Hesiod die Eingebungen der Musen so oder so. Sonst hätte er sich Ärger mit diesen mächtigen Töchtern des Zeus eingehandelt.

So konnte Hesiod nur hoffen, dass die Musen ihn nicht gar zu sehr hinters Licht führten. Dabei scheint er recht zuversichtlich gewesen zu sein. Offensichtlich hat er sich im Umgang mit den Musen an seine eigene Maxime gehalten: Nicht nur Vertrauensseligkeit kann einen Menschen zugrunde richten, warnt Hesiod, sondern auch übertriebenes Misstrauen (WuT  371).

Zum Schmökern

Was von Hesiod überliefert ist, lässt sich in zwei bis drei Stunden lesen. Die darin vorkommenden Götter und ihre Verwandtschaftsverhältnisse sich einzuprägen – das dauert freilich etwas länger. Vollständig erhalten sind:

Hesiod: Theogonie Gut tausend Verse über die Entstehung von Gott und Welt.

Hesiod: Werke und TageLandleben im alten Griechenland. Die „älteste zusammenhängende Überlieferung griechischer Religiosität“ (Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte  2,3,2).

Das Wort hat Hesiod

„Zwei Arten von Streit wirken in der Welt; die eine ist zu loben, die andere nicht. Gut ist der Wettstreit: Er treibt selbst die Faulen, ihre Nachbarn zu übertreffen. So grollt der Töpfer dem Töpfer, der Zimmerer dem Zimmerer. Doch schlecht ist der Streit, der den Sinn von der Arbeit abwendet zu Zänkereien“ (vgl.  WuT  12ff).

„Tiere fressen einander auf, denn bei ihnen herrscht kein Recht. Aber dem Mensch gab Zeus das Recht, das höchste Gut von allen“ (WuT  275).

„Schlimmes bereitet sich selbst, wer anderen Schlimmes bereitet“ (WuT  264).

Homer: Mord und Totschlag, dazu Hammelkeule mit Fladenbrot

Homer (2. Hälfte 8. Jahrhundert v.  Chr.) ist der erste Dichter des Abendlands. „Alle Literatur, die nach ihm kam, stand in seinem Bann“ (Latacz  1430). Manche Forscher vermuten mehrere Autoren hinter seinen Werken.

Bei Hesiod steht Zeus für eine mehr oder weniger moralische Weltordnung. Nicht so bei dem älteren Homer: Dessen Götter und Menschen leben in einem Dickicht aus Hinterhalt, Lüge und Betrug. Doch Homer fragt auch, wie wir uns durch dieses Dickicht zur Wahrheit durchschlagen können. Nicht nur deshalb lohnt es sich für Sinnsuchende, dem Altmeister der dichterischen Illusion für eine Weile auf den Leim zu gehen.

Wie kann es sein, dass die Welt von einem Gott regiert wird, wo es doch in ihr so ungerecht zugeht? Dieses Problem hat die Frommen vieler Jahrhunderte in Verlegenheit gebracht. Homer hätte abgewunken: Ein Gott regiert, trotzdem geht es nicht gerecht zu auf der Welt? Stimmt. Aber was ist daran so sonderbar?

Bei Homer lügen und betrügen die Götter, dass es eine Pracht ist. Der Oberste aller Götter, Zeus, macht da keine Ausnahme: In Homers „Ilias“ verspricht er den Griechen für die nächste Schlacht einen triumphalen Sieg – aber nur, um sie in eine vernichtende Niederlage zu locken. In Homers „Odyssee“ erfreut sich die Göttin Athene an den raffinierten Lügengespinsten ihres Schützlings Odysseus. „Schon als Kind hast du Verstellung und erdichtete Worte geliebt“, bemerkt die inkognito Reisende augenzwinkernd, als er einmal ausgerechnet ihr etwas vorflunkern will. „Aber genug davon. Wir kennen beide diese Kunst.“

Eine Kunst ist die Lüge in der Tat. Schließlich braucht es Verstand und Geschicklichkeit, um die Unwahrheit glaubhaft zu machen. Athene hat es vorgemacht: Um den trojanischen Prinz Hektor endlich zur Strecke zu bringen, verwandelte sie sich in seinen Bruder und lockte ihn mit falschen Versprechen in einen aussichtslosen Kampf.

Wenn Götter und Helden lügen, warum sollte es ausgerechnet der göttlich inspirierte Dichter nicht tun? Da wäre er schlecht beraten. Schließlich hat er sich weit mehr vorgenommen als die getreue Wiedergabe nüchterner Tatsachen. Wenn Homer seinen Gesang anstimmt, dann will er in den Menschen die höchste Freude wecken, zu der sie fähig sind: „Ich kenne im Leben nichts Besseres“, lässt er seinen Odysseus schwärmen, „als wenn beim Fest im Schloss die Gäste den Liedern des Sängers lauschen, während die Tische von Gebackenem und Fleisch gefüllt sind und der Schenke fleißig den Wein schöpft“ (Od  9,3–11).

Homer will Verse dichten, die so herrlich sind, dass sie einer verwöhnten Gästeschar besser schmecken als Hammelfleisch, Fladenbrot und griechischer Wein. Da darf er nicht zimperlich sein, wenn seine Musen schwindeln, um ihm ihre schönsten Pointen und überraschendsten Wendungen zuzuspielen.

So überlässt sich Homer seinen aus Täuschung und Wahrheit gewobenen Geschichten – und wird darüber zum Entdecker einer dichterischen Kausalität, die seine Zuhörer mit geradezu naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit fesselt.

Wer sich nicht schämt zu lügen, kann erzählen was er will? Das gilt nur für Dilettanten. Nicht dafür hängt Homer die Wahrheitsfrage tiefer, dass er sich in die Beliebigkeit flüchten kann. Sondern er befreit sich vom Diktat der Tatsachen, um den Gesetzen der Dramaturgie zu folgen.

In der Ilias geht es streng folgerichtig zu. Alles was geschieht, ist Teil einer Kausalitätskette. Jedes Ereignis ist eine Kraft, die auf die Entwicklung der Handlung einwirkt. Wie wohlproportioniert dies alles aufeinander abgestimmt ist, kann nur fühlen, wer die Ilias liest. Eine Zusammenfassung kann bestenfalls eine Ahnung vermitteln.

Die Ilias: vom Zorn des Achill

Sei’s drum – fassen wir die Grundzüge der Ilias zusammen:

Die griechischen Belagerer Trojas haben das Mädchen Chryseis erbeutet. Ihr Vater, der Apollonspriester Chryses, sucht das Lager der Griechen auf und bittet um die Rückgabe seiner Tochter. Er ist bereit, reichlich für sie zu bezahlen. Doch der Besitzer des Mädchens, der oberste Heerführer Agamemnon, weist den Priester schroff ab. Der wendet sich an Apollon um Hilfe.

Apollon erhört seinen Priester und straft die Griechen mit einer Pest. Das wiederum ruft Achill auf den Plan, den stärksten Krieger Agamemnons und gleichzeitig seinen gefährlichsten Rivalen. Achill ermutigt den Seher Kalchas, frei heraus zu sagen, warum die Pest wütet – ob es dem Agamemnon passt oder nicht. Und Kalchas, der „heiße Draht“ der Griechen zu den Göttern, sagt gegen den Heerführer aus: Erst wenn Agamemnon seine Chryseis ihrem Vater zurückgebe, werde Apollon seine Pestpfeile im Köcher lassen.

Nun muss Agamemnon also doch seine Chryseis hergeben. Das macht ihn wütend auf Achill, der dem Seher Rückhalt verschafft hat. Agamemnon zahlt dem Achill mit gleicher Münze heim und nimmt ihm seine Kriegsbeute, das Mädchen Briseis.

Jetzt kann die Geschichte ihren Lauf nehmen, die Homer erzählen will: die Geschichte vom Zorn des Achill. Voller Schmerz über den Verlust der Geliebten und maßlos empört über die Demütigung durch den Heerführer, verweigert Achill seine weitere Mitwirkung im Krieg. Dass er nicht mehr mitmacht, sollen Agamemnon und sein Heer so empfindlich wie möglich zu spüren bekommen. Sprich: Je mehr seiner eigenen Landsleute im Krieg sterben, desto besser für Achill.

Das Kriegsglück soll sich nun also von den Griechen ab- und den Trojanern zuwenden. Zeus tut dem Achill den Gefallen, auf Bitten von dessen göttlicher Mutter. Von nun an enden die Schlachten der Griechen regelmäßig in verheerenden Niederlagen. Bis in einer dieser Schlachten ein Grieche fällt, an dem Achill etwas liegt: sein Freund Patroklos. Dessen Tod gibt Achills Zorn eine neue Wendung: Um Patroklos zu rächen, zieht er wieder gegen die Trojaner. Achills Zorn ist erst besänftigt, nachdem er Hektor, den Sieger über Patroklos, getötet und seine Leiche tagelang geschändet hat. Am Ende fügt sich Achill dem Willen der Götter und überlässt die Leiche Hektors dessen Vater Priamos.

Rauben, lügen, morden: Tugenden der Aristokratie

Homers festlich tafelnde Zuhörer werden diese Erzählung genossen haben, ohne sich lange mit der Frage aufzuhalten, ob denn das alles nicht erlogen sei. Ohnehin pflegten sie zur Lüge ein Verhältnis vornehmer Diskretion. Anders wären die aristokratischen Tugenden, die sie hochhielten, gar nicht lebbar gewesen. Wie sollte etwa ein Hausherr die Tugend der Gastfreundschaft in Ehren halten, wenn er nicht zuvor die Ressourcen ergaunerte, mit denen er seine Gäste verwöhnte? Es verriet das Herz eines mittellosen Knechts, wenn man wie Eteoneus beim Anblick fremder Männer fragte: „Sollen wir sie weiter schicken, damit sie ein anderer bewirtet?“ Dagegen hatte Eteoneus’ Herr, der König Menelaos, genügend Reichtümer an sich gerafft, um diese Frage entrüstet zurückzuweisen: „Wir haben ja beide in Häusern anderer Menschen viel Gutes genossen“, beschämte der Zerstörer Trojas seinen Knecht (Od  4,33f).

Auf die Lüge angewiesen war auch, wer die hoch angesehene Tugend der Rache üben wollte. Denn er musste wie Odysseus seine Opfer gelegentlich täuschen, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei der Ausführung war dann die Krone aller Tugenden gefordert: die Tapferkeit. Um sie zu üben, brauchte man zwar nicht zu lügen, aber eben auch nicht ehrlich zu sein.

Waren Homers Zuhörer fromm? Ja, wenn man ihnen zugesteht, dass sie unter Frömmigkeit etwas anderes verstanden als ein braver Heilsarmist. Ihnen hatte kein Gott offenbart, dass gelten solle: „Eure Rede sei ja ja, nein nein“ (Mt  5,37). Sie verehrten Götter, die täuschten, betrogen und verführten und die ihnen die Lüge ausdrücklich erlaubten. Und sie verehrten diese Götter nicht, weil sie gut, sondern weil sie mächtig waren.

Wir können heute kaum noch nachfühlen, wie sehr sich die Menschen zu Homers Zeiten göttlichen Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlten. Bei kaum einer Situation beschreibt Homer dieses Lebensgefühl so anschaulich wie bei der Fahrt auf hoher See (Od  5,278ff). Jederzeit konnte ein ungnädiger Gott die friedliche See in eine mörderische Hölle aus feindseligen Stürmen und turmhohen Wellen verwandeln. Wer sich auf hohe See begab, hatte also allen Grund, sich mit dem Meergott Poseidon gut stellen.

Zwar konnte man in Homers Welt die Frömmigkeit auch übertreiben: Bei der Heimfahrt der Griechen nach der Zerstörung Trojas erwiesen sich diejenigen als erfolgreicher, die sich sofort auf den Weg machten, ohne sich lange mit umständlichen Gebeten und Opfern aufzuhalten (Od  3,141–146). Doch in der Regel war man besser beraten, den Göttern großzügig zu opfern: „Den Unsterblichen gebührend zu opfern, lohnt sich!“, sagte König Priamos, als er die Leiche seines Sohnes Hektor bei Achill abholte. Trotz übelster Schändungen war Hektors Körper für eine würdige Bestattung unversehrt bewahrt geblieben. Sein Vater führte dies darauf zurück, dass Hektor nie die Opfer für die Himmlischen versäumt hatte: „Nun denken die Götter sogar im Tod noch an ihn“ (Od  24,428).

Wer sich den Göttern ausgeliefert fühlt, macht ihnen keine Vorschriften, wie sie es mit der Wahrheit halten sollen. Sicherlich, die Götter machen sich gelegentlich ein Vergnügen daraus, uns Menschen trügerische Zeichen zu schicken. Aber sie schicken auch Zeichen, die zutreffen und auf die wir dringend angewiesen sind. Wir haben also keine Wahl: Wir müssen versuchen, die einen Zeichen von den anderen zu unterscheiden.

Hektor hat dafür ein einfaches Rezept: Er rätselt nicht über die Vorzeichen der Vögel, „ob sie rechts hinfliegen oder links“. Aber er vertraut sehr wohl dem „Ratschluss des erhabenen Zeus“, der das einzige Wahrzeichen gesetzt hat, das gilt: „Das Vaterland zu retten!“ (Il  12,243).

Das klingt gut, und tatsächlich kommt Hektor damit auch ziemlich weit. Doch am Ende erreicht er das genaue Gegenteil: Tragischerweise ist es ausgerechnet Hektor, der mit dem Sieg über Patroklos die Rache Achills entfesselt, die seiner Heimatstadt die Wende zum Verhängnis bringt.

Auch wer auf die Götter vertraut, kann also fehlgehen. Homers Götter lassen sich eben das Vergnügen nicht nehmen, ihre Helden immer wieder auf das Glatteis der Täuschung zu schicken.

Nur wer der Lüge glaubt, kann die Wahrheit finden

Kommt in einer solchen Welt die Wahrheit überhaupt noch vor? Oder war Homer ein duseliger Träumer, der die Frage nach der Wahrheit in ihrer heutigen Strenge gar nicht stellen konnte?

Wer so denkt, unterschätzt Homer. Zwar stehen seinen Figuren noch keine wissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, um die Wahrheit herauszufinden. Aber sie versuchen sehr wohl zu klären, „wie es wirklich ist“. Odysseus beispielsweise besteht gerade deshalb auf sicherer Gewissheit, weil er als Meisterlügner mit den Möglichkeiten der Täuschung bestens vertraut ist. So lässt er die Göttin Kalypso bei dem Unterweltsfluss Styx schwören, dass sie es aufrichtig mit ihm meint. Dieser Schwur ist mit einer schrecklichen Drohung verbunden: Ein Gott, der beim Styx einen Meineid schwört, muss ein Jahr reglos liegen ohne zu atmen, geschweige denn zu essen, und ist danach neun weitere Jahre vom Rat und allen Gastmählern der Götter ausgeschlossen (T  793–798).

In einer anderen Situation entlocken Odysseus und sein Mitheld Diomedes einem potenziellen Lügner vertrauliche Informationen, indem sie ihm eine Belohnung versprechen für den Fall, dass sich seine Aussage als wahr erweisen sollte. Der potenzielle Lügner ist der feindliche Spion Dolon, die Belohnung ist die Freiheit. Die Methode Zuckerbrot funktioniert: Dolon verrät den Griechen, was sie wissen wollten. Anschließend wird er dennoch umgebracht, denn, so Diomedes, „wenn ich dich umbringe, kannst du uns nicht mehr schaden“ (Il  10,  453).

So einfach wie im letzten Beispiel geht es bei der Wahrheitsfindung nicht immer zu. Oft müssen Homers Figuren lange in einem betrügerischen Lügengespinst umherirren, bevor sie die Wahrheit finden. Dann gilt: Wer partout nicht betrogen sein will, der dringt auch nicht bis zu den Tatsachen vor.

So ergeht es beispielsweise Telemachos, dem Sohn des Odysseus. Athene schickt ihn auf die Suche nach seinem vermissten Vater übers Meer, obwohl sie weiß, dass er seinen Vater so nicht finden wird. Dennoch tut Telemachos gut daran, dem eigentlich falschen Rat zu folgen. Denn die vergebliche Reise ist Teil eines Plans, der die beiden schließlich zusammenbringt.

Eumäos, der treue Sauhirt des verschollenen Odysseus, muss sich durch ein ganzes Labyrinth von Lügengeschichten hindurch kämpfen. Nur so hat er die Chance, bis zu dem entscheidenden Körnchen Wahrheit vorzustoßen: Dass sein geliebter Herr lebt und bereits in der Nähe ist. Was der Sauhirt nicht weiß: Die Lügengeschichten erzählt ihm niemand anders als Odysseus selbst. Denn der hat sich in Bettlerlumpen gehüllt, um von Eumäos nicht erkannt zu werden.

Odysseus will Eumäos zeigen, dass seine Ankunft kurz bevorsteht, jedoch ohne sich zu erkennen zu geben. Doch der Versuch misslingt: Zwar glaubt Eumäos dem „Bettler“ fast alle seine Lügen. Aber dass Odysseus bald heimkehre – ausgerechnet diese ersehnte Botschaft kauft ihm der Sauhirt nicht ab. Das, so meint er, habe der Bettler sich nur ausgedacht, um sich bei der Königin beliebt zu machen (Od  14,126f). Der Bettler bestreitet das aufs heftigste. Er beteuert seiner Aufrichtigkeit sehr glaubwürdig und tischt zur Bekräftigung eine beeindruckende Lügengeschichte auf – umsonst: Der Sauhirt lehnt jede Hoffnung ab, weil er keine Enttäuschung erleben will.

Die Götter sind nicht besser als wir

Wie der grundanständige Hesiod wohl über die Homerische Kultur der Lüge gedacht hat? Übernommen hat er sie jedenfalls nicht. Bei Hesiod hat die Überlegenheit des Herrschergottes Zeus bereits mit Moral zu tun (Schönberger  151). Bei Homer ist sie noch rein körperlicher Natur. „Ich bin der Mächtigste, ich zeigs euch!“, protzt er vor den versammelten Göttern des Olymp. „Auf, machen wir Kettenziehen! Ich ziehe auf der einen Seite im Himmel, und ihr zieht alle zusammen auf der anderen Seite auf der Erde. Dann versucht mal, mich vom Himmel auf die Erde zu ziehen. Keine Chance! Aber wenn ich will, ziehe ich euch alle zusammen hoch. Dann zappelt ihr alle an meiner Kette. So stark bin ich!“

Bei Homer klingt das natürlich viel majestätischer (Il  8,18–27). Nicht umsonst haben ihn die Griechen noch Jahrhunderte später wegen seiner erhabenen Sprache über alle anderen Dichter gestellt. Aber deshalb bleibt Homers Zeus doch ein Kraftmeier, den man besser nicht frontal angeht. Wer ihm missfällt, dem könnte es ergehen wie der Schuld: Zeus hat sie vom Olymp geschleudert mit dem Schwur, sie nie mehr zurückkehren zu lassen – Schuldbewältigung auf Olympisch (Il  19,126–131).

Für unbesiegbar halten die Götter ihren Göttervater freilich nicht. Überrumpeln lässt er sich allemal. So lockt ihn seine Frau Hera, von Aphrodite mit Liebreiz ausgestattet, in ein Liebesnest, wo ihn schließlich der Schlaf überwältigt. Damit hat Poseidon freie Hand, von Zeus unbemerkt den Griechen gegen die Trojaner beizustehen.

Derartige Kriegshändel gehören neben Liebesaffären und ausufernden Saufgelagen zu den bevorzugten Beschäftigungen der Götter. Von den Menschen unterscheiden sie sich zwar durch ihre überlegenen Fähigkeiten: Sie sind schneller und stärker, sie können fliegen, sich verwandeln und unsichtbar machen, sie sind unsterblich und frei von Sorgen – wenigstens solange sie sich nicht ernsthaft mit Zeus anlegen. Aber charakterlich haben sie den Menschen nichts voraus. Wie man von einem kindischen Erwachsenen sagt: „Der wird nie erwachsen“, so könnte man von den olympischen Göttern sagen: „Die werden nie Götter.“ Wie die Menschen sind sie eitel, parteiisch, launisch und nachtragend. Tag für Tag denselben irdischen Vergnügen hingegeben, ist ihre Unsterblichkeit ohne Transzendenz.

Da diese Götterhorde in sich zerstritten ist, kann man sich als Mensch durchaus einige Frechheiten gegen Götter herausnehmen, solange man andere Götter auf seiner Seite hat. Ungefährlich ist das allerdings nicht: Götter, die sich zurückgesetzt fühlen, können sich bitter rächen. Aber man kann Glück haben. So lästert Achill dem Flussgott Skamandros, weil der die Leichen seiner ermordeten Verehrer tragen muss: „Fleißig geopfert habt ihr ihm ja“, verhöhnt er die Toten, „aber genützt hat es euch nichts, als ich euch abgemetzelt habe!“ (Od  21,130ff). Daraufhin versucht der Strom zwar, Achill zu ersäufen. Aber der weiß, dass ihm ein anderer Tod bestimmt ist. Und tatsächlich helfen ihm Poseidon und Athene aus der Patsche.

Sind Polytheisten fairer?

Theologisch sind Götter irritierend, die einander in die Parade fahren, die sich gegenseitig beschimpfen und vor Lachen beeumeln, wenn ihnen ihr humpelnder Mitgott Hephaistos seine in flagranti ertappte Gattin Aphrodite mit dem Kriegsgott im Bett vorführt. Aber für den Dichter sind solche Götter ein Glücksfall.

Besonders in der Darstellung kriegerischer Konflikte erweist sich die polytheistische Brille als vorteilhaft. Wenn es nur einen Gott gibt, dann ist auch nur eine Seite im Recht: Nämlich die, mit der es dieser Gott hält. Deshalb kommt in den alttestamentarischen Kriegsschilderungen die Gegenseite praktisch nicht vor. Dort sind die Feinde nur und ausschließlich Feinde. Sie unbarmherzig zu vernichten ist Gottesdienst, Mitleid wäre Gotteslästerung. Wenn es aber viele Götter gibt, dann kann die Gegenseite ebenso unter einem göttlichen Auftrag stehen wie die eigene. Das versetzt Homer in die Lage, den Konflikt zwischen Griechen und Troern so darzustellen, dass man als Zuhörer mit beiden Seiten mitfiebern kann – wie im Fußball, wo ja auch beim selben Spiel der eine mit der einen, der andere mit der anderen Mannschaft zittert.

Ja, der Grieche Homer geht sogar so weit, den sympathischsten Charakter der ganzen Ilias auf der gegnerischen, der trojanischen Seite zu zeichnen: Es ist Achills Gegenspieler Hektor, ein gottesfürchtiger und friedliebender Familienmensch, der nur zur Waffe greift, um die Seinen zu schützen.

All das bedeutet aber nicht, dass die homerischen Helden weniger grausam wären als die gottbeseelten Kriegsverbrecher des Alten Testaments. Odysseus trägt den Ehrentitel „Städteverwüster“ mit gutem Grund. Der Unterschied zwischen Homerischer und alttestamentarischer Perspektive ist ein anderer: Während die Gewalt im Alten Testament stets höheren Zielen dient – der Eroberung des Gelobten Landes, der Durchsetzung göttlicher Gebote und später der Vertreibung götzendienerischer Besatzer –, braucht die Gewalt bei Homer keine solche Rechtfertigung. Der Krieg ist herrlich, denn er bietet dem Dichter Stoff für aufregende Geschichten. Ist das nicht Grund genug, um einen Krieg vom Zaum zu brechen?

Homer ist überzeugt, dass die Götter den Tod unzähliger Griechen und Trojaner beim Kampf um Troja verhängt haben, „damit die Enkel davon singen können“ (Od  8,580).

Kriege sind absurd

Der Krieg ist also als dichterischer Stoff bereits genügend motiviert. Da muss er nicht auch noch sinnvoll oder gar heilig sein. Dass er tatsächlich absurd ist, gehört bei Homer zum Reiz des Krieges. Es ist Teil der Dramaturgie.

Wer hat nicht schon beim Blick in die Geschichte gedacht: Warum machen die Mächtigen ihre Händel nicht einfach unter sich aus? Warum steigen sie nicht einfach in den Ring, verprügeln einander und entscheiden so ihre Streitsache unter sich? Müssen sie immer gleich eine ganze Generation junger Männer mit in den Tod reißen?

Homer hat genau das dargestellt: Die beiden Sturköpfe, die für das Trojanische Kriegsgemetzel verantwortlich sind – der um Helena betrogene König Menelaos und ihr Entführer, Prinz Alexander –, stellen sich dem Zweikampf. Und es wäre zu einer Entscheidung gekommen, wenn nicht Aphrodite zugunsten Alexanders eingegriffen hätte.

Mehr als einmal lässt Homer seine Kriegshelden sagen: Leute, wir schmeißen hin. Eigentlich sind wir verrückt, uns wegen einer Frau, noch dazu einer treulosen, hier gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, während zu Hause unsere eigenen Familien auf uns warten. Gerade Achill, der unerbittlichste Kämpfer der Griechen, äußert immer wieder, wie sinnlos der ganze Krieg sei. „Überredet mich nicht, in die Schlacht zurückzukehren“, weist er den bittenden Odysseus ab, „das Schicksal des Kämpfers und dessen, der zu Hause bleibt, ist ja doch dasselbe. Der Feige und der Tapfere sind gleich geehrt. Der Faule und der Fleißige müssen beide sterben. Ich habe mich abgeplagt und meine Haut zu Markte getragen, alles vergeblich“ (Il  9,315ff). Sinnlos ist auch die Genugtuung, die Zeus ihm auf Bitten seiner Mutter verschafft hat: die Demütigung Agamemnons und die Wiederherstellung seiner Ehre. „Was nützt mir das“, winkt Achill ab, „jetzt, wo mein bester Freund gefallen ist?“ (Il  18,80f).

Dieselbe Stimmung erfasst Achill, nachdem er das zweite Ziel seiner Rache erreicht hat: den Tod Hektors. Zum Entsetzen der Trojaner hat Achill die nackte Leiche Hektors an seinen Streitwagen gehängt und durch den Dreck geschleift. Doch am Ende der Ilias sitzt Achill weinend mit Hektors Vater im selben Zelt. Der greise König Trojas weckt in dem Krieger die Sehnsucht nach dem eigenen Vater. Da fällt ihm die Feindschaft wie Schuppen von den Augen. Der Zorn des Achill ist an sein Ziel gekommen.

Nicht umsonst war es der Gedanke an die eigenen Lieben, der Achill besänftigt hat. Denn in der Welt Homers kommt es vor allem darauf an, zu den Seinen zu halten. In der Ilias, verfasst von dem jungen Dichter, bedeutet das: für die eigene Seite in die Schlacht ziehen, egal wer im Recht ist. Anders in der altersweisen Odyssee.

Die Odyssee: Heimat ist kostbarer als Unsterblichkeit

In der Odyssee haben sich die Helden in der Sphäre des Kriegs bereits behauptet. Nun bedeutet ihnen die Rückkehr in die Heimat, zu den Ihren, mehr als alles andere.

Seine Heimat ist dem Odysseus sogar teurer als die Unsterblichkeit. Das zeigt sich, als ihm die Göttin Kalypso die Unsterblichkeit anbietet: Wenn er ihr Mann werde, könne er ewig sorglos mit ihr dahinleben. Einzige Bedingung: Er muss auf die Heimkehr verzichten. „Wenn du wüsstest“, lockt sie, „wie viel Elend dich da draußen erwartet! Dann würdest du lieber hier bei mir bleiben, als zu deiner Frau zurückzukehren.“ Warum nur, wundert sich Kalypso, ist Odysseus so wild auf die Heimat? Dort erwartet ihn seine welkende Jugendliebe Penelope. Was will er denn von der, wo er doch Kalypso haben kann, eine Göttin, deren überaus attraktiver Körper niemals altern wird? Odysseus gibt ihr ohne Weiteres zu, dass sie viel schöner ist als seine Frau, die ja mittlerweile 17 Jahre älter geworden ist: „Sie ist nur sterblich, und dich schmückt ewige Jugend“ (Od  5,218). Doch das beeindruckt ihn nicht: Odysseus will nicht mit der Göttin die Freuden ewiger Jugend teilen. Er will nach Hause zu seiner Frau.

Dabei weiß Odysseus genau, was es heißt, das Geschenk der Unsterblichkeit auszuschlagen. Denn er war bereits am Ende der Erde, dort, wo das Reich der Toten beginnt (Od  11). Von Opferblut angezogen, näherten sich ihm die Seelen der Toten „mit grauenvollem Geschrei“. Die Seele des Sehers Teiresias kam und nannte die Unterwelt „einen Ort des Entsetzens“. Von Achill erfuhr Odysseus, dass die Toten „nichtig und sinnlos hausen, als bloße Schatten Gestorbener“. Um Achill zu trösten, gab ihm Odysseus zu bedenken, dass er doch nun im Totenreich ein Herrscher sei. Doch das bedeutet Achill nichts: „Lieber wollte ich auf der Erde der geschundene Tagelöhner eines ärmlichen Bauern sein, als unter den Verstorbenen der König.“

Tot sein ist also äußerst deprimierend. Trotzdem bleibt Odysseus dabei: Lieber will er später eine Ewigkeit lang einer der trauernden Schatten in der Unterwelt sein, als jetzt auf die Rückkehr in seine Heimat und zu seiner Frau zu verzichten.

Ist Odysseus also das Musterbild eines treuen Ehemanns? Nun, er hat nicht die Absicht, seiner Frau so treu zu sein, wie er es umgekehrt von ihr erwartet. Natürlich genießt er vor seinem Abschied von Kalypso noch einmal eine Liebesnacht mit der Göttin. Zuvor, auf einer anderen Zwischenstation seiner Irrfahrten, hatte sich Odysseus mit Kirke vergnügt. Die Göttin hatte seine Gefährten in Schweine verwandelt. Als er sie deshalb mit dem Schwert bedrohte, rief sie ihn auf ihr Lager, „damit wir, versöhnt durch die Freuden der Liebe, künftig einander vertrauen“ (Od  10,  333–335).

Vertrauen? Tatsächlich: Eine skrupellose Zauberin verführt einen Ehemann, um sein Vertrauen zu gewinnen – und die vertrauensbildende Maßnahme gelingt. Es hat wohl doch seine Richtigkeit, dass Homer nicht als großer Moralist in die Geschichte eingegangen ist.

Oder vertritt Homer eine Moral, die wir heute nicht mehr verstehen? Immerhin ist Kirke eine Göttin. Da gelten andere Regeln: Göttern willfährig zu sein, ist sogar für verheiratete Frauen eine Ehre. Noch aus der Zeit Jesu wird berichtet, dass ein verschmähter Liebhaber eine ehrbare Frau verführen konnte, indem er sich im Schutz der Dunkelheit als liebender Gott Anubis ausgab.

Dass sich Odysseus nach Hause sehnt – daran können auch liebestolle Göttinnen nichts ändern. Doch für Odysseus selbst wäre es ein Leichtes, seine quälende Sehnsucht nach der Heimat für immer loszuwerden. Dazu hat er während seiner Irrfahrten mehrmals Gelegenheit. Auf der Insel der Lotophagen müsste er nur von der Lotosfrucht kosten, um „nicht mehr an die Heimkehr zu denken“. Die derart Berauschten wollen nur noch in der Gesellschaft der freundlichen Lotophagen bleiben und Lotos pflücken. Warum nicht? Doch Odysseus ist entsetzt über dieses und jedes andere derartige Angebot. Offenbar fürchtet er, mit der Sehnsucht nach seiner Heimat alles zu verlieren, was ihn ausmacht.

Doch was findet Odysseus, als er schließlich zu Hause ankommt? Gibt es seine Heimat überhaupt noch? Ist nach 20 Jahren so etwas wie eine Rückkehr nach Hause überhaupt noch möglich?

Odysseus erreicht den Hafen seiner Heimatinsel Ithaka schlafend. Die Matrosen, deren Auftrag es war, ihn zurückzubringen, legen ihn und seine Habe an Land und verschwinden. Als er erwacht, erkennt er seine Heimat nicht wieder; Athene muss ihm sagen, wo er ist.

Die Seinen sind zwar geradezu besessen vor Sehnsucht nach ihm. Aber offensichtlich sehnen sie sich nach einem Menschen, den es nicht mehr gibt, denn sie erkennen ihn nicht wieder. Als sich Odysseus schließlich seinem Sohn Telemachos und später seiner Gattin Penelope zu erkennen gibt, wollen ihm beide nicht glauben. Am längsten weigert sich Penelope, den heimgekehrten Odysseus zu akzeptieren. Ob sie sich zu sehr daran gewöhnt hat, einem Traumbild nachzutrauern?

Der einzige, der Odysseus sofort wieder erkennt, ist sein greiser Hund: „Er wedelte mit dem Schwanz und senkte die Ohren, aber er war zu schwach, sich seinem Herrn zu nähern.“ Kurz darauf stirbt er, „nachdem er im zwanzigsten Jahr Odysseus wiedergesehen hat“ (Od  17,  291ff).

Homer lässt Odysseus also nach seiner langen Abwesenheit nicht mehr die Heimat vorfinden, die er kannte. Der Rückkehrer muss stattdessen seine Heimat neu erfinden. Muss er sie auch mit Gewalt zurückerobern?

Odysseus ermordet die zahlreichen Freier, die während seiner Abwesenheit um seine Frau warben, sein Haus belagerten und sein Vermögen aufzehrten. Wozu? Hätte der „Städteverwüster“ die Freier nicht einfach davonschicken können? Hätte nicht auch Penelope sie schon längst aus dem Haus jagen können, wo sie doch keinen von ihnen heiraten wollte? „Sie hielt uns hin“, erklärt einer der ermordeten Freier im Totenreich, „zur Hochzeit sagte sie weder ja noch nein“ (Od  24,  125).

Doch wieder erspart Homers Begeisterung für Gewalt seinem Helden die Mühe, sein Morden zu begründen. Odysseus bekommt sein Blutbad. Mit hartem Realismus schildert Homer, wie die Mägde, die sich mit den ermordeten Freiern eingelassen hatten, deren Leichen wegtragen, den Ort des Verbrechens von Blut reinigen und anschließend selbst erhängt werden.