Von meinen Besitztümern - Der Nister - E-Book

Von meinen Besitztümern E-Book

Der Nister

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Beschreibung

1929 veröffentlichte der jiddisch-russische Schriftsteller Der Nister seine letzte Sammlung symbolistischer Erzählungen, »Fun mayne Giter« (Von meinen Besitztümern), die zwischen 1923 und 1929 geschrieben wurden, in einer der kritischsten und instabilsten Perioden sowohl in Westeuropa als auch in der neu gegründeten Sowjetunion. Kurz danach wurde er wegen seines idiosynkratischen, symbolistischen Stils von sowjetischen Literaturkritikern scharf angegriffen, und ihm wurde für ein Jahrzehnt jede Veröffentlichungsmöglichkeit verwehrt. Das Aufeinanderprallen seiner elitären, beinahe religiösen Auffassung von Literatur mit der alltäglichen, rauen Realität des Literaturmarktes in der jungen Sowjetunion, zeichnet das Schaffen Des Nisters in den 1920iger Jahren aus. Im Mittelpunkt seiner damals heftig kritisierten Erzählung »Unterm Zaun« setzt er sich u.a. mit diesem Thema auseinander. Nisters Erzählung »Von meinen« Besitztümern wiederum ist die Auseinandersetzung mit einer gewalttätigen, unausweichbaren Macht, die das Individuum bedroht und ihm seine nackte Existenz abspricht, und somit eine erschütternde und nicht allzu verschlüsselte Anklage gegen den sowjetischen Staat. Doch finden sich auch unerwartete Themen in dieser Sammlung von Erzählungen, wie z.B. die leichtfüßige, märchenhafte Stimmung in der Geschichte vom »Grünen Mann«, die die emphatische Sensibilität des Autors für die Natur und ihre Kreaturen offenbart. Zum ersten Mal aus dem Jiddischen übersetzt, stellt »Von meinen Besitztümern« einen Höhepunkt im literarischen Schaffen des Nisters, der zweifellos einer der großen Protagonisten der jiddisch-russischen modernen Literatur ist, dar. Sein eigenartiger Stil bündelt archaische Formen der jüdischen literarischen Tradition mit den hypnotischen Rhythmen der Russischen Symbolisten und einer kafkaesken Modernität.

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Wir danken für die Förderung durch den Deutschen Übersetzerfonds und das Programm »NEUSTART KULTUR«.

© 2024 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gestaltung & Satz: philotypen/Dortmund

ISBN: 978-3-88423-705-2

Pinkhes Kahanovitsch

Der Nister

Von meinen Besitztümern

Jiddische ErzählungenÜbersetzt und mit einem Nachwort vonDaniela Mantovan

WUNDERHORN

Mit freundlicher Genehmigung des Russian State Archive of Literature and Art (RGALI)

Die Geschichte vom Grünen Mann

Unterm Zaun. Eine Revue

Von meinen Besitztümern

Zigeuner

Eine Geschichte von einem Kobold, einer Maus und von Dem Nister selbst

Betrunken

Nachwort

Die Geschichte vom Grünen Mann

Wie eine Versammlung Betender standen sie da, aufgereiht in einer geraden Linie, die Gesichter zur kühlen, erdigen, feucht schattigen Wand gerichtet, in jener tief im Wald gelegenen Senke.

– Wer?

– Die Mooswesen.

Regungslos, ohne ein Zeichen von Leben, wirkten sie ernst und bittend. Schon ein ganzer Orden hatte sich versammelt mit den Gesichtern zur Wand und ihr Gebet war ein einziges, ihr Begehren einte sie …

Offensichtlich wurde ihr Bitten erhört, denn hinter ihrem Rücken kam der Grüne Mann gemächlich angeschlendert. Er blieb stehen und blickte auf die Rücken der Mooswesen, wie sie so, in einem einzigen Verlangen vereint, zusammenstanden – und er rief laut:

»Mooswesen, warum seid ihr hier? Was ist euer Begehren?«

Weder drehten sich die Mooswesen um, noch beantworteten sie seine Fragen, aber beim erneuten Blick auf ihre Rücken, auch ohne eine Antwort ihrerseits, erahnte er doch ihr Anliegen …

Er löste einen Schlüssel von seinem Gürtel und stieg hinab in die Senke, er ging zu der Wand und fand dort eine Tür, die er öffnete, und während er zur Seite trat, deutete er schweigend auf diese Tür. Und die Mooswesen lösten sich von der Wand, vor der sie standen, und einzeln, einer nach dem anderen, schritten sie langsam durch die Tür, so langsam und tropfend, wie Mooswesen sich eben bewegen, und als alle drin waren, trat der Grüne Mann als letzter ein. Er schloss die Tür und verriegelte sie hinter sich, sobald er hindurchgeschritten war.

Der Grüne Mann führte die Mooswesen hinaus auf ein weites Feld, es war noch immer Morgen, und brachte sie genau in die Mitte zum wärmsten und sonnigsten Fleck und mit einer Bewegung seiner Hand bat er sie, sich in einem Kreis zu setzen. Die Mooswesen gehorchten, schweigend und ohne ein Wort zu sprechen nahm jeder seinen Platz ein, und der Grüne Mann schaute zu und wartete, bis sich alle gesetzt hatten. Dann verließ er sie, ließ sie in der Sonne trocknen und begab sich zu seiner Arbeit in den Feldern, in der grünen Landschaft.

Weit und breit bekleidete der Grüne Mann alle Ränder und Winkel der Felder mit leuchtend grünem Gras und Sonnenlicht, seine Aufgabe war, alles zu begrünen, nur ab und zu, alle paar Stunden, kehrte er zu denen zurück, die da im Kreis saßen, um nach ihnen zu schauen und zu überprüfen, wie weit sie schon getrocknet waren. So ging es, jede Stunde einmal und noch einmal und noch einmal und immer wieder bis zum Abend …

Als die Sonne tief herabgesunken war, bis dahin wo der Himmel die Erde berührt, und als der Grüne Mann sein Tagwerk beendet und alle Feldränder begutachtet hatte, müde davon, alles zu überwachen, begab er sich auf den Rückweg zur Mitte des großen Feldes. Als er dort ankam, sah er, dass die Köpfe der Mooswesen bereits getrocknet waren, wie frische Heuhaufen, dass die Nässe darunter ein wenig abgenommen hatte und dass ein Duft nach frischem Heu von ihren Köpfen emporstieg. Da wählte er sich einen Platz in ihrer Nähe, nah bei ihrem Kreis, und setzte sich, um sich auszuruhen und die Dämmerung und den Abend mit denen zu verbringen, die da saßen.

Die Mooswesen schwiegen, sie dünsteten die Abenddämmerung und die Sanftmut von Feld und Erde aus, und als der Grüne Mann sich zu ihnen herumdrehte und sie fragte

»Nun, Mooswesen, wie war euer Tag?«, blieben sie still, aber in ihrem Schweigen lag jetzt Zufriedenheit und in ihrer Zurückhaltung eine Antwort: Es könnte nicht besser sein …

Auch der Grüne Mann war zufrieden und weil es ein guter Tag gewesen war, hatte er Lust auf eine Pfeife, aber er hatte kein Feuer. Da die Sonne schon untergegangen war, konnte er sich auch nicht mit ihrer Hilfe seine Pfeife anzünden. Also wartete er eine Weile, bis sich der Tag in den Feldern niedergelegt hatte und die ganze Erde in Dunkelheit gehüllt war. Er erhob sich und drehte sich in eine bestimmte Himmelsrichtung, wo er den Abendstern erblickte, gütig und golden; er streckte seine Hand nach ihm aus und der Stern gab ihm eine winzige blaue Flamme auf die Fingerspitze. Er nahm sie und zündete mit ihr seine Pfeife an. Auch danach blieb die Flamme bei ihm und er brachte sie auch zu den Mooswesen und ihren Köpfen, er gab jedem der getrockneten Köpfe Feuer und alle Mooswesen rauchten ebenfalls …

In Zwielicht und Stille schmauchten die Köpfe aller Mooswesen, einige glommen bloß, aber hier und da fingen welche Feuer und flammten auf. Alle betrachteten den Grünen Mann mit Erstaunen, wie ruhig er dastand und wie ruhig er seine Pfeife rauchte, wie mühelos er das Feuer beschafft hatte und wie bereitwillig es ihm von den Himmeln gegeben worden war …

Und der Grüne Mann sah ihr Erstaunen und lächelte und nachdem er es sich wieder auf seinem Platz am Boden bequem gemacht hatte, drehte er sich zu ihnen und begann zu sprechen:

»Ich sehe, ihr wundert euch, wie ich Feuer vom Himmel bekommen habe und wie vertraut ich mit den Sternen am Himmel bin. Vielleicht sollte ich euch das erklären und euch das Ganze verständlich machen und da der Abend mild ist und die Nacht verspricht friedlich zu sein und ich noch nicht müde bin und ihr wohl auch nicht, könnt ihr mir zuhören und ich erzähle euch die Geschichte.«

Und die Mooswesen rauchten und waren einverstanden und der Grüne Mann begann:

»Als Kind war ich ein Dienstbote in den Feldern, ein Laufbursche für Gras und Grünzeug, und wenn die Winde aus den Städten und von anderen unreinen Orten zurückkamen, gaben sie mir Anweisungen, was ich tun solle, und ich goss Wasser auf ihre Hände.

Und die Winde waren dankbar und schlossen mich ins Herz, weil sie meine kindliche Verehrung für sie sahen, und im Gegenzug waren sie mir zugetan und liebkosten mich. Immer dachten sie an mich, wenn sie von weit entfernten Orten zurückflogen und immer, wenn sie zurückkamen, trugen sie Geschenke für mich in ihren Rockschößen, mal ein Spielzeug, mal etwas anderes – und wenn sie nichts mitbrachten, belohnten sie mich mit etwas anderem, mit einer Geschichte.

Besonders gern lag ich zu Füßen eines betagten Windes, der müde und ausgezehrt vom Fliegen war, angeschmiegt an den Saum seines zerschlissenen, fadenlosen Gewands, manchmal einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht lang. Ich blickte hoch zu seinem Mund und seinen Augen und hörte andächtig zu, staunend über seine abenteuerlichen Reisen und Erzählungen.

Und die Altehrwürdigen waren mir gegenüber nicht wortkarg, sondern ließen mich großzügig an ihren Erzählungen teilhaben, als ob ich ein Erwachsener wäre. Und immer nach solch einem Tag oder solch einer Nacht, wenn unsere Beine und Knochen vom langen Sitzen auf einem Fleck schmerzten, forderte der Geschichtenerzähler mich auf zu rennen, um zu sehen, wie leichtfüßig ich rennen konnte und wie viel ich gewachsen war.

Ich rannte und der alte Wind folgte mir mit seinen zwinkernden, verwitterten, alten Augen und wenn ich zurückkam und vor ihm stand, lächelte er, gab mir einen Klaps auf die Schultern, betrachtete mich genau, lobte mich und sagte: ›Gut! Wenn du erwachsen bist, wirst du als Bote der Winde taugen.‹ Ich jubelte insgeheim und sehnte mich danach, die Gunst der Winde zu erlangen. Ich arbeitete noch härter für sie und sie ihrerseits lobten mich immer mehr. Heimlich belauschte ich, wie sie sich flüsternd über meine Entwicklung und mein Schicksal unterhielten und wie sie alles dem Gras und dem Feld weitersagten, damit diese mich mit dem Besten ausstatteten, was sie hatten.

Und ich wuchs heran und diente ihnen mit meiner Jugend und Begeisterung; meine Tage verbrachte ich mit dem Gras und meine Nächte im Feld, Sonne und Honig waren meine Nahrung und die Winde waren meine fürsorglichen Lehrer.

Und schon bald bekam ich die erste Aufgabe. Eines Nachts versammelten sie sich in der Nähe des Platzes, den ich für mein Nachtlager ausgesucht hatte, und ich bekam mit, dass sie wegen irgendetwas besorgt waren, und als ich genauer hinhörte, verstand ich, dass vielleicht am nächsten Tag, vielleicht auch am übernächsten, ihr Herrscher vorbeikommen würde. Aber ihr Herrscher hatte ihnen nicht gesagt wann, sodass sie selbst jetzt noch nicht wussten, zu welcher Stunde genau, noch nicht mal den genauen Tag, an welchem sie ihn erwarten sollten – und sie hatten keine Möglichkeit das herauszufinden: Der Herrscher konnte plötzlich kommen und einen der hiesigen Winde einbestellen, um ihn nach seinem Lehen und seinen Feldern zu befragen – aber der Wind könnte anderweitig beschäftigt und weit weg sein – und dann würde der Herrscher niemanden haben, den er befragen konnte. Aus diesem Grund hatten sich die Winde versammelt; sie waren besorgt und beratschlagten miteinander, aber sie fanden keine Lösung, denn am nächsten Tag und auch am Tag darauf waren sie alle schon für unterschiedliche und entlegene Aufgaben eingeteilt, und es blieb keiner übrig, um das Feld und die Umgebung zu bewachen. Wo könnte man jemanden für diese Aufgabe finden?

›Ich!‹ Ich sprang von meinem Lager auf und unterbrach mit meinem Einwurf die Beratung der Winde.

Zuerst waren die Winde überrascht, weil sie nicht wussten, wer das war, doch als sie mich erkannten, freuten sie sich und alle versammelten sich um mich. Sie betrachteten mich prüfend von allen Seiten, sie lachten und erfreuten sich an meiner kindlichen Einfalt und Begeisterung.

›Nun, warum nicht?‹, sagten einige lachend, erst im Spaß, doch dann im Ernst,

und alle waren einverstanden, alle stimmten zu und verließen sich auf diesen Plan.

Weil ich klein und flink war, weil ich von grüner Farbe war und im Feld nicht leicht erkannt werden konnte, sollte ich aufpassen und achtgeben und wenn ich Anzeichen sähe, wie der Herrscher sich von Weitem näherte, sollte ich losrennen und berichten, sollte die Ankunft des Herrschers dem nächsten Wind zur Kenntnis bringen. So wurde es beschlossen. Und die Winde waren zufrieden, sie klopften mir auf die Schulter und lachten und vor dem Schlafen gaben sie mir Ratschläge und bevor ich mich niederlegte, gaben sie mir Anweisungen, wie ich Wache stehen sollte und was ich tun sollte und worauf ich achten sollte, wenn der Herrscher sich nähert. Und ich hörte zu und versprach, all ihren Anweisungen Folge zu leisten. Die Winde waren beruhigt, danach flog ein jeder an seinen Einsatzort und ich legte mich zur Ruhe und schlief die ganze Nacht. Am nächsten Morgen, noch vor Tagesanbruch, wachte ich auf und begann Ausschau zu halten …

Ich schaute und schaute, der Herrscher war nicht da. Eine Stunde ging vorüber, eine zweite, der Herrscher war nirgends zu sehen, dann eine dritte … und weil ich eben nur ein Junge war, ließ meine Aufmerksamkeit nach, denn es war kalt dort am frühen Morgen vor Sonnenaufgang. Später, nachdem die Sonne aufgegangen war, wurde mir wärmer und auch meine Freunde tauchten wieder auf. Ich hörte, wie meine Fliegen und Würmer in den Grasböschungen raschelten und auch meine Grashüpfer in den hohen Halmen – und ich lief ihnen nach, jagte hinter ihnen her und fing sie. Und sehr bald, als ich meinen ersten Grashüpfer in der Hand hielt, hatte ich die Wache und die Winde und den Herrscher der Winde völlig vergessen …

Vertieft ins Spiel, verbrachte ich den Morgen mit meinen Gefährten. Die Sonne stieg höher, sie brannte auf unsere Köpfe und Schultern herab und um uns abzukühlen, jagten wir uns gegenseitig. Wir sprangen barfuß von einem Flecken Gras zum nächsten und so, vertieft ins Spiel, alles um mich herum vergessend, entging mir, dass sich eine Ecke des Himmels völlig verdunkelt hatte und auch das Feld dort im Schatten lag. Plötzlich verspürten wir einen seltsamen Windhauch, die vertrauten Gräser drückten ihre Köpfe an meine Flanken und aus dem Himmel und der Sonne dort oben erstreckte sich ein Schatten über die ganze Erde. Mitten im Spiel brachen wir ab, wir hörten auf herumzurennen und schauten nach oben und sahen: In einer großen Staubwolke war an jenem Rand des Himmels der Herrscher der Winde erschienen, in einer geschlossenen Kutsche, begleitet von berittenen Vorposten und Dienern, die auf dem Kutschbock saßen, und einem Gefolge von Pferden. Man konnte unmöglich erkennen, ob die Reiter den ganzen Tross zurückhielten oder ihn vorwärtstrieben. Meine Spielgefährten hatten keine Angst, schließlich wussten sie nichts über den Herrscher, und deshalb waren sie sehr verwundert, als sie mich so ängstlich sahen und ich unser Spiel mittendrin unterbrach.

In dem Moment, als ich die Kutsche sah, fingen meine Knie an zu zittern. Die Winde hatten mich doch so gern und ich hatte ihnen am Tag zuvor ein Versprechen gegeben – und jetzt war ich heute so mit mir beschäftigt gewesen … Nun stand der Herrscher schon an der Pforte zum Feld und noch immer wussten die Winde nichts davon. Wie konnte ich sie erreichen? Wie konnte ich sie warnen und was würde ich ihnen später sagen, warum ich nicht losgerannt war, um sie zu suchen und zu benachrichtigen?

Ich nahm all meinen Mut zusammen, Kraft und Stärke kehrten zurück in meine jungen Beine und ich riss mich los, um von jener Ecke des Himmels direkt in die entgegengesetzte Richtung zu rennen, nur weg, weit weg, mit einer solchen Geschwindigkeit und Kraft, dass, wenn es nicht der Herrscher selbst sondern nur ein gewöhnlicher Wind gewesen wäre – da bin ich sicher – da würde ich mit dem jüngsten und flinksten Wind wetten, dass mich keiner eingeholt hätte und niemand das Rennen gegen mich gewonnen hätte!

Aber der Herrscher, der immer noch ruhig in seiner Kutsche saß, mit seinem Gespann schwarzer Pferde, seinen berittenen Vorposten und seinen Dienern auf dem Kutschbock, begann mich zu verfolgen und schon bald spürte ich seinen Atem in meinem Rücken. Ich rannte weiter und der Wind war immer schon da – von hinten, von oben, von der Seite bedrängte er mich und erschreckte mich und erschwerte mir das Atmen.

Und Wolken sammelten sich über mir, sie verfolgten und überholten mich, ein Wirbelwind erhob sich im Feld und eine große Dunkelheit überfiel uns. Meine Gefährten, die Grashüpfer, verstummten, sie liefen weg und ließen mich allein und ich bemerkte, wie auch die Gräser in ängstlicher Erwartung vor einem plötzlichen heftigen Regen erstarrten.

Und sie hatten Recht. Schon bald, noch im Rennen, spürte ich die ersten Regentropfen auf dem Kopf, dann ein flackernder Blitz vor meinen Augen, gefolgt von einem mächtigen Donnerschlag und ein wildes Gewitter brach über mir los. Nur einen Moment später vernahm ich hinter mir das Geräusch von Hufen, dann spürte ich den Atem der Pferde im Nacken und hörte, wie die Pferde zum Stehen kamen und wie mitten im Gewittersturm einer der Reiter abstieg. Er packte mich von hinten und brachte mich in meiner ganzen Nässe und Armseligkeit zur Kutsche, öffnete die Tür und schob mich hinein. Durchnässt und beschämt, wie einer eben ist, der wegrennt – aber nicht schnell genug –, wie einer der mitten im Rennen geschnappt worden ist, fand ich mich in der Kutsche wieder, von Angesicht zu Angesicht mit dem Herrscher …

Und der Herrscher schaute mich an, aber ich ihn nicht. Obwohl meine Schuld gering war und mein Versagen bei der Wache unbeabsichtigt und ungewollt – so hatte ich dennoch versagt und die Winde würden darunter zu leiden haben. Und was würden sie sagen und wie könnte ich ihren Blick erwidern? Ich senkte meine Augen voller Scham und weinte …

Der Herrscher tröstete mich, berührte mich und versicherte mir, dass er die Winde nicht bestrafen werde und dass sie nicht verärgert sein würden. Er habe gesehen, dass ich seinen Kindern, den Winden, treu ergeben sei – also würde ich ihm, ihrem Herrn gegenüber noch treuer sein – und deshalb werde er mich mitnehmen zu seinem Schloss, wo ich ihm von nun an dienen solle, unter seiner Obhut und Aufsicht. Und so geschah es. Bald hörte der Regen auf und die Kutsche kam zum Stehen. Einer der Diener kletterte vom Kutschbock und öffnete uns die Tür. Der Herrscher stieg aus und ich folgte ihm. Als ich draußen war, schaute ich mich um und sah, dass wir uns auf einer Hochebene befanden und vor uns ein altes, zweistöckiges Schloss lag. Das Schloss stand ganz allein hier oben, von Nebelschwaden wie von Mauern umgeben, und dieser Nebel verbarg es vor den Blicken Fremder und vor dem Tal unten. Und das war alles, was ich in diesem Moment sehen konnte. Ich hatte keine Zeit mich umzuschauen, denn der Herrscher wurde von seinen Dienern in Empfang genommen und folgte ihnen auf dem bequemen Pfad hinauf zum Treppenaufgang seines Schlosses. Ich blieb allein zurück, voller Erwartung, was als nächstes geschehen würde, und schon bald erschien ein Diener. Er führte einen Hirsch am Geweih herbei und trug einen Nachtvogel auf seiner Schulter, eine aufgeplusterte Eule, die sich in ihren Federn verbarg, hilflos und blind im Tageslicht. Er machte mich mit den beiden bekannt und unterstellte sie meiner Verfügung:

›Diesen Hirsch bekommst du, damit du des Tags im Tal umherreiten und unsere Grenzen bewachen kannst, und diese Eule soll dir helfen, des Nachts unser Zuhause und alle Besitztümer vor jedweder Gefahr zu schützen.‹

Der Diener hängte mir ein Jagdhorn um, gab mir Zunder und Feuerstein, um ein Feuer anzuzünden, und ging mit der Eule zurück zum Schloss. Ich blieb allein mit dem Hirsch, der erwartungsvoll und bereitwillig dastand, und bestieg leichten Mutes seinen Rücken. Ohne zu zögern, trabte er mit mir von der Höhe ins Tal hinab. Was genau ich bewachen sollte, wusste ich nicht, und wovor ich das Schloss verteidigen sollte, hatte man mir nicht gesagt, aber ich hatte Vertrauen in mich und den Rücken des Hirschs und war mir sicher, dass das nötige Wissen sich mir schon bald enthüllen würde.

Der Hirsch trug mich auf einem geschlängelten Pfad zwischen den Bäumen hindurch, hinab vom Berg ins Tal, und Blätter und Zweige streiften mein Gesicht. Der Hirsch stieg immer weiter abwärts, Geröll und Steine, die von seinen Hufen losgetreten wurden, folgten uns und bald kamen wir frei und wohlgemut unten an. Dort wartete schon ein Bote der Winde auf mich:

›Grüner‹, so sprach mich der Bote im Namen der Winde freundlich an, ›hab keine Angst. Die Winde haben deine guten Absichten erkannt und werden über die Nachlässigkeit deiner Wacht hinwegsehen. Du bist kein Gefangener unseres Herrschers, es macht ihm Freude, dich bei sich zu behalten, und weder wird er uns bestrafen noch machen wir dir irgendeinen Vorwurf. Also lebe wohl, diene treu und tue alles, was du tun musst, mit Freude. Mach’s gut!‹

Und ohne ein weiteres Wort verschwand der Wind und ich blieb still und allein mit dem Hirsch im Tal, da, wo wir stehen geblieben waren.

Ich begann mich umzuschauen und zu horchen, doch ich hörte keine fremden Stimmen und vernahm nirgendwo einen feindlichen Schritt, weder aus dem Tal noch von dem Steilhang her. Und auch der Hirsch, der ja die Wache gewohnt war, hielt still, den Kopf königlich emporgereckt, Augen und Ohren in voller Aufmerksamkeit, um nicht das geringste Zeichen oder Geräusch zu verpassen. So standen wir eine Weile und noch immer wusste ich nicht, was ich bewachen sollte und vor wem, und ebenso wenig wusste ich, wie ich die, die hier lebten, von denen unterscheiden sollte, die hier fremd waren. Aber der Hirsch wusste es. Gelegentlich, immer wenn wir glaubten hier oder dort ein Rascheln zu hören, näherte sich der Hirsch leise und vorsichtig jenem Ort oder jenem verdächtigen Geräusch und verharrte eine Weile an dieser Stelle. Aber da den ganzen Tag über nichts Ungewöhnliches geschah, standen wir einfach nur in absoluter Stille und warteten. Wir machten keine einzige schnelle oder unnötige Bewegung und nicht ein einziges Mal an diesem Tag musste ich mein Jagdhorn blasen …

In der Abenddämmerung erhob der Hirsch sein Haupt zum Steilhang, der vom Nebel bedeckt war. Er sah ein Farbenspiel und wusste, die Sonne geht unter, der Tagdienst ist vorüber und es ist an der Zeit, den Steilhang wieder hochzuklettern und den Stall zur Nachtruhe aufzusuchen. Auf dem gleichen gewundenen Pfad, den wir früher am Tag hinabgestiegen waren, brachte er mich wieder nach oben zum Schloss zurück und wir sahen, dass er recht gehabt hatte: Die Sonne ging tatsächlich unter und teilte die Nebeldecke mit einem letzten Lichtstrahl. Und in diesem Moment konnte ich zum ersten Mal das Schloss und seine Umgebung in einer Lücke im Nebel sehen …

Das Schloss war wirklich alt, aus alten Backsteinen gebaut. Dach und Dachsparren waren in längst vergangenen Zeiten errichtet und durch Generationen hindurch weitergegeben worden – aber es hatte nichts Heruntergekommenes an sich, denn das Schloss selbst, die Außengebäude und die Ställe waren bewohnt und lebendig. Auf der einen Seite des Schlosses sah ich einen weitläufigen Park, in welchem der Herrscher mit seiner Tochter spazieren ging.

Und da begriff ich, warum das alte Schloss nicht alt aussah und warum der Steilhang – so hoch, so abgelegen und wild – bewacht werden musste und warum der Herrscher der Winde Angst hatte und warum seine Unruhe nicht unbegründet war, denn je ernster der Herrscher die Angelegenheit nahm, desto unbeschwerter konnte die Tochter sein … und egal, wie viele Diener und Winde der Herrscher auch zu seinen Diensten hätte, er bräuchte doch immer noch mehr … und noch mehr wäre auch noch nicht sicher genug!

Der Herrscher ging mit seiner Tochter unter den Bäumen im Park spazieren – und die Bäume freuten sich. Die Sonne, die schon fast untergegangen war, hielt noch einen Moment inne, bevor sie verschwand, und auch die Nebel, die immer um das Schloss lagerten, schienen ihr Erröten nicht der untergehenden Sonne zu verdanken, sondern dem Anblick von Vater und Tochter. Auch der Hirsch und ich, die wir gerade ankamen, verweilten, als wir die Spaziergänger erblickten, und so müde und erschöpft wir auch waren, konnten wir unseren Blick doch nicht von ihnen losreißen.

Der Diener, der schon am Morgen erschienen war, kam zu uns heraus und hieß mich vom Hirsch absteigen. Er gab mir zu essen und zu trinken und bald darauf näherte er sich mit der Eule. Anders als am Morgen war die Eule nicht mehr aufgeplustert und in ihre Federn vergraben, sondern sie hatte sich aufgerichtet und war bereit. Je dichter die Dunkelheit über dem Felsen wurde und das letzte Tageslicht verschwand, umso weiter öffnete die Eule ihre Augen. Stärker und stärker wuchs ihre natürliche Fähigkeit des Nachts zu sehen und sie starrte mich an, aber sie hielt Abstand zu dem Fremden. Sie schaute und schaute, unwillig mich anzuerkennen, bis der Diener sie schließlich von seiner Schulter löste und sie mir auf die Schulter setzte.

Der Herrscher und seine Tochter verließen den Park durch das Pförtchen und beide kamen an mir und dem Vogel auf meiner Schulter vorbei. Der Herrscher lächelte mir zu und ich schämte mich nicht mehr vor ihm, aber vor seiner Tochter war ich doch verlegen. Ich senkte meinen Blick, doch auch sie lächelte mir zu und von diesem einzigen Blick, von diesem einzigen Lächeln bekam ich genügend Licht, um die ganze Nacht hindurch mit der Eule Wache zu halten. Licht nicht nur für eine Nacht, sondern für viele …

Ihr Blick traf mich wie ein Sonnenstrahl und als der Herrscher mit ihr im Schloss verschwunden war, verharrten die Eule und ich für einige Minuten regungslos. Dann flatterte die Eule plötzlich mit ihren Flügeln und flog auf, weit weg, und ließ mich mit bloßer Schulter zurück.

Ich erschrak sehr und rannte der Eule hinterher. Einen kurzen Moment sah ich, wohin sie geflogen war, und eilte in jene Richtung. Sie war schnell hinter das Schloss geflogen und hatte sich auf dem Ast einer kleinen, einzeln stehenden Fichte niedergelassen, genau gegenüber einer der Mauern des Schlosses, einer Wand mit einem kleinen Fenster darin.

Aus Furcht, dass die Eule mich verlassen würde, und voller Sorge, dass ich bei meinen Pflichten gegenüber dem Herrscher wieder versagen würde, rannte ich zu dem Baum und wollte die Eule entweder mit Freundlichkeit anlocken oder mit Gewalt packen. Aber dann bemerkte ich gegenüber die Mauer mit dem kleinen Fenster und mir schien, ich sähe für einen kurzen Moment die Gestalt der Tochter darin. Sofort beruhigte ich mich und verstand, dass Mauer und Baum, Tochter und Eule, einander gegenüber, genau das waren, was wir bewachen sollten und dass genau hier der richtige Platz für die Eule war.

Ich beruhigte mich. Die Nacht hatte die Klippe schon eingehüllt und die Eule rastete im Baum, ihre Augen zum Fenster gewandt. Ich stand hinter der Eule, den Blick fest auf sie gerichtet. Im Schloss wurde es still, die Bediensteten in den Außengebäuden und Ställen brachten zuerst die Tiere zur Ruhe und zogen sich dann auch zurück und bald konnte man nur noch ab und zu das Stöhnen einer Kuh oder das Flattern von Federvieh in seinem Verschlag hören.

Was im Schloss selbst geschah, konnte ich nicht sehen, auch konnte ich nicht erkennen, wie die Diener ihrem Herrn aufwarteten oder ob der Herrscher sich schon zur Nachtruhe zurückgezogen hatte und ob seine Tochter schon schlief. Plötzlich flog die Eule vom Baumwipfel auf und hüpfte auf einen der niedrigeren Äste, blieb dort eine Weile sitzen, nur um noch einen Ast tiefer herab zu klettern, dann noch einmal, Ast um Ast, tiefer und tiefer, bis sie fast auf dem untersten Ast saß, nah am Boden. Nun drehte sie sich gemächlich zu mir um und aus ihrem Versteck im Baum, aus der Tiefe ihres Federkleids, hörte ich ihre Stimme:

›Die Nacht ist hereingebrochen und alle schlafen; nur wir werden wach bleiben und alleine Wache halten. Du bist ja noch fremd hier und weißt nicht, worauf du achten sollst, aber ich bin hier zu Hause und lebe hier schon seit vielen Jahren. Da unser Dienst jetzt ernstlich beginnt und wir viel Zeit haben, will ich dir deine Aufgaben erklären und dir die Notwendigkeit deiner Wache deutlich machen.‹

Sie schwieg ein Weilchen und begann:

›Auch du hast die Tochter des Herrschers in dem kleinen Fenster uns gegenüber gesehen; dort ist ihr Schlafzimmer und dort schläft sie nachts alleine, denn sie hat keine Mutter und ihr Vater hat kein Vertrauen in Diener oder Spielgefährten. Es ist ihm bewusst, dass der Herrscher der Wolken ein Auge auf sie geworfen hat; er ist schon seit einiger Zeit in sie verliebt und seit noch längerer Zeit hat er die Absicht, sie zur Frau zu nehmen. Schon viele Male hat er Boten zu ihrem Vater geschickt mit dem Auftrag, ihm zu sagen, dass er gewillt sei, alles bis aufs Letzte zu erfüllen, was die Tochter oder ihr Vater fordern würden. Er wird alle Perlen vom Meeresgrund holen und das ganze Gold der Erde zusammentragen, er wird in einer goldenen Kutsche kommen, um sie mitzunehmen, und ihr jeden Wunsch erfüllen, er wird ihr ein Schloss und einen Palast in den höchsten Wolken bauen. Aber ihr Vater, unser Herrscher, will nichts davon hören und weigert sich hartnäckig, die Gesandten der Wolken zu empfangen, und so kehren sie mit leeren Händen zurück.

Der Herrscher der Wolken ist verzweifelt, denn er ist verliebt und verzehrt sich nach ihr, und er wandert in großer Verstörung umher, obwohl sich das für ihn nicht geziemt. Und nun, seit ein paar Tagen, seitdem er seine Boten zum letzten Mal geschickt hatte und sie ein letztes Mal wieder abgewiesen worden waren, hat er eine Entscheidung getroffen und sich geschworen, dass er sie haben muss, tot oder lebendig …

Mit dem Blitz und dem Donner hat er sich abgesprochen, mit dem Sturzregen und dem Gewittersturm, er hat ihnen freie Hand gegeben: Nun können sie tun und lassen, was sie wollen, solange sie ihm und nur ihm helfen, sein Begehren zu stillen …

Und Blitz und Donner sind ihm zu Diensten, Sturzregen und Gewittersturm greifen uns immer wieder an; sie überfallen das Kliff in der Hoffnung, es so zu erschüttern, dass das Schloss zerstört und der Vater getötet wird und sie die Tochter für ihren Herrscher entführen können. Sehr wahrscheinlich wäre ihnen das schon gelungen und sie hätten gesiegt – wären da nicht wir gewesen, ich, der Wächter der Nacht, und mein Bruder, der Hirsch, der Wächter des Tags …

Du wunderst dich, warum ich den Hirsch meinen Bruder nenne? Wir beide kamen zur selben Zeit zum Herrscher, beide wurden wir ihm an seinem Hochzeitstag als Geschenk überreicht. Und weil Hoffnung, seine Frau, eine Waise war und weil Tag und Nacht für sie die Hochzeit arrangierten und ihr die Aussteuer besorgten, segneten sie sie auf dem Weg zu ihrem Ehemann und seinem Schloss und überhäuften sie mit vielen Geschenken. Doch der junge Ehemann wies alle Geschenke und guten Dinge zurück; er nahm seine Braut, setzte sie auf seine Flügel und unbehindert von jeglichem Gepäck reiste er mühelos, flog mit ihr schwerelos und nur der Hirsch und ich – ich als Geschenk der Nacht, der Hirsch als Geschenk des Tags – durften ihnen folgen. Ich fliegend, der Hirsch zu Fuß …

Doch die guten Wünsche vom Tag und von der Nacht hielten nicht lange an und Hoffnung übergab schon in jungen Jahren ihre Seele Gott. Sie ließ ein zartes, einjähriges Kind zurück und dieses Kind wuchs zu der Tochter von heute heran. Wir, der Hirsch und ich, sind ihr seit der Kindheit in Treue ergeben und haben in gewisser Weise schon früh den Platz ihrer Mutter und der Amme eingenommen. Nun, da sie herangewachsen ist und die ersten Gefahren sie bedrohen, sind wir ihr doppelt treu und hingebungsvoll ergeben, deshalb haben wir die Wache geteilt: In der Nacht passe ich auf und am Tag mein Bruder, der Hirsch …

Mehr als einmal hat der Herrscher der Wolken versucht, uns nachts zu überfallen, aber seine Angriffe waren nicht erfolgreich und heute, an der Stille der Luft spüre ich es, bereitet er wieder einen Angriff vor; vielleicht früher, vielleicht später, aber ganz sicher heute. Deshalb sollst du Wache halten und ganz besonders achtgeben, und wenn es zum Schlimmsten kommt, wenn die Gefahr ganz nah ist, musst du zum Schloss rennen, an all seine Türen und Läden klopfen und klopfen und den Vater aus dem Schlaf wecken, den Herrn des Schlosses, und … o, sieh mal!‹

Und genau in dem Moment bemerkte ich, dass nicht weit entfernt am Horizont ein warmes, kleines, helles Blitzlein aufleuchtete, so wie in manch einer Sommernacht nach einem heißen Tag, und wie sich danach der Wind ein wenig erhob. Der Zweig, auf dem die Eule saß, erzitterte und die Federn des Vogels kräuselten sich, obwohl alles um uns herum immer noch ruhig war. Auch das Schloss mit seinen Wirtschaftsgebäuden und Ställen und Gärten lag immer noch im Schlaf – nur die Eule spürte etwas in der stillen Luft.

Es wetterleuchtete am Horizont und obwohl es still blieb und nicht donnerte, wurde der Wind mit jedem Aufleuchten ein wenig stärker.

Der Wind frischte auf, man konnte es im grauen Glanz der kleinen Fensterscheibe sehen, und die Wolken begannen sich am dunklen Himmel zu sammeln. Woher sie kamen und wohin sie zogen, konnte man noch nicht erkennen, aber das erste dumpfe Anzeichen, das erste noch ferne Donnergeläut rollte in der Dunkelheit von hinter dem Horizont heran. Nach dem ersten Donnerschlag senkte sich Stille über die Klippe und für einen Moment legte sich der Wind …

Wieder hörte man es donnern, aber jetzt näher und lauter, und nach dem zweiten Schlag schoben sich die Wolken über die Klippe, als ob sie mit schwerem Tritt durch die Dunkelheit stampften. Die ruhige und friedliche Stimmung, die bis dahin geherrscht hatte, schlug um und eine bedrohliche Düsternis legte sich über alles. Ich spürte den ersten Regentropfen, jetzt würde es gleich losgehen … Ich hob den Kopf und sah, wie

es ganz hinten am Horizont an einer weitentfernten Stelle hell flackerte, so als ob ein kleiner Schwelbrand sich entzündet hätte. Da wurde mir klar, dass der Herrscher der Wolken diese Stelle in Brand gesetzt hatte und dass sich von dort ein mächtiger Sturm nähern würde.

Und so war es: Schon bald rief mich die Eule zu sich und hieß mich unter dem Baum Schutz suchen. Kaum war ich untergeschlüpft, stürzte der Regen herab und ein Donnerschlag erschütterte die Luft. Die glühende Bresche in den Wolken kam näher und Klippe und Garten wurden einen Moment lang wie von einem Höllenfeuer erleuchtet.

Der erste Blitz tauchte die Klippe, den Baum und die Eule in gleißendes Licht. Ich sah, dass der Blitz sie nicht überrascht hatte, sie verbarg nur ihren Kopf in den Federn und beobachtete alles in unaufgeregter Ruhe.

›Das war noch gar nichts‹, sagte sie zu mir, ›das ist nur der Anfang. Mehr und Schlimmeres kommt noch.‹

Und dann wurde es noch dunkler und in der Finsternis kam ein Sturzbach an Regen herab; Donner und Blitze wetteiferten miteinander an Wut und das Schloss, von einem Blitz kurz erleuchtet, wirkte hingeduckt, allein und verloren, als sei es ganz verlassen. Der Herrscher der Wolken näherte sich wütend und in Waffen. Mit gespanntem Bogen starrte er aus seinem feurigen Winkel im Himmel fest auf sein Ziel, das kleine Fenster in der Mauer.

Da flog die Eule plötzlich los, als ob sie wüsste, dass dies der alles entscheidende Moment war. Sie flog durch den stürzenden Regen vom Baum zum Fenster in der Mauer. Der Herrscher der Wolken sah sie, erblickte seine ewige Feindin, die Beschützerin des Schlosses, und noch wütender stürmte und tobte er und schoss seinen ersten Pfeil ab.

Es schien, als ob die Erde barst, als ob die Klippe mitsamt ihrem Fundament, als ob das Schloss mit den Mauern und dem Dach zerspringen würden. Der Herrscher der Wolken sandte furchterregende Blitze und jeder Strahl ließ die ganze umgebende Dunkelheit noch etwas länger in gleißendem Licht verharren und all diese Blitze zielten auf das winzige Fenster …

Aber die Eule, die am äußeren Fensterrahmen Wache stand, fing jeden Strahl ab, kaum wurden ihre Federn davon versengt, und sie ließ nicht zu, dass auch nur ein Blitz das Fenster traf oder gar hineingelangte.

Als der Herrscher endlich bemerkte, dass er nicht nur einmal, sondern vielmals erfolglos gefeuert hatte, dass seine Wolken erschöpft waren, dass die Kraft des Regensturms nachgelassen hatte, der Regen schütter geworden war und er bald ohne Helfer dastehen würde, da sammelte er, im Angesicht seines Scheiterns, noch einmal alle Kraft zusammen. Er wandte seinen Blick vom Fenster und der Eule ab, hin zur Klippe und ihren Fundamenten. Er wartete ab und man hörte nur den Regen herabstürzen. Wir sollten glauben, er sei geschwächt und müsse ein paar Minuten ausruhen, aber seine Absicht war, dass wir denken sollten, der Angriff sei vorüber. Und wenn wir dann unvorbereitet wären, genau dann würde er mit seiner letzten Kraft die Klippe und die Festungsanlage entzweibrechen.

Die Eule wusste das, denn sie kannte den Herrscher der Wolken schon lange; sie kannte all seine Kniffe und Tricks beim Kampf und deshalb rief sie mich zu sich. Aus ihrem zerzausten Federkleid mahnte sie mich mit lauter Stimme zur Eile, nicht eine Minute Zeit zu verlieren, sondern schnell zu rennen, sofort zum Vater, unserem Herrn, zu eilen und ihn mit großem Nachdruck zu wecken. Ich rannte los und erreichte den entlegeneren Teil des Schlosses. Ich hastete zur verschlossenen Tür des Herrschers und begann in großer Angst mit meinen jungen Händen heftig zu klopfen und dagegen zu hämmern. Was Donner und Blitz nicht geschafft hatten, gelang meinen schwachen Händen: Ich weckte den Herrscher und bald trat er heraus.

Kaum einen Moment dauerte es und er war schon zum Kampf eingekleidet, eine Trillerpfeife war zu hören und seine Mannschaft stand bereit. Der Herr schwang sich hinauf zu den Wolken und trieb ihren Herrscher und auch das Glutnest zurück. Bald konnte man das Glutnest zwar noch am Rand des Himmels sehen, aber es lag nicht mehr unmittelbar dem Schloss gegenüber.

Der Herrscher der Wolken holte noch einmal mit dem Rest seiner Kraft zum letzten und mächtigsten Schlag aus, aber der verfehlte sein Ziel auf der Klippe und landete stattdessen in einiger Entfernung. Jetzt hatte er alle Kraft aufgebraucht und begann voller Verzweiflung an den Rand des Himmels zurückzuweichen.

Unser Herrscher nahm die Verfolgung auf und trieb die geschwächten Verbündeten auseinander. Dann wendete er sich gegen den Herrscher der Wolken selbst, er kam ihm immer näher und nachdem er ihn eingeholt hatte, drang er in sein feuriges Glutnest ein und fiel wütend über ihn her. Und dann zogen sich beide an ihren Bärten und Haaren …

Die Gefahr war vorüber und nach vollbrachtem Kampf kehrte der Herrscher nach Hause zurück. Die Eule, die immer noch am äußeren Fensterkreuz hockte, war erschöpft, doch sie hatte das Fensterchen vor dem nächtlichen Angriff verteidigt. Nachdem alles sich beruhigt hatte und keine Spur des Angriffs mehr zu sehen war, wurde der Himmel wieder heiter und klar. Unser Herr war zurück und hatte sich in sein Schlafgemach begeben und auch seine Streitkräfte gingen wieder auseinander. Nun schüttelte auch die Eule die Nässe aus ihren Federn und kehrte zum Baum zurück und als sie mich sah, hieß sie mich auch schlafen gehen.

›Geh nur‹, sagte sie, ›die Gefahr ist vorüber, zumindest heute Nacht müssen wir nichts mehr befürchten. Der Herrscher der Wolken hat ziemlich viele Barthaare verloren und wird uns eine Weile in Ruhe lassen, ganz sicher wird er für den Moment auf weitere Attacken verzichten. Geh nur!‹

Ich ging zum Stall, wo ich die Tür ein wenig geöffnet vorfand, und als ich den Stall im Dunkeln betrat, stieß ich versehentlich gegen das Geweih des Hirschs und störte ihn im Schlaf. Aber der Hirsch merkte, dass es nicht in böser Absicht geschehen war und nahm es mir nicht übel, sondern rückte leise ein bisschen zur Seite, damit ich es mir im Stroh neben ihm bequem machen konnte, und sagte: ›Leg dich hin …‹

Und ich legte mich neben dem Hirsch zur Ruhe und schlief friedlich die ganze Nacht an seiner Seite.

Am Morgen wurden wir beide von einem Diener geweckt, der Hirsch erhielt sein Morgenmahl und ich meins. Dann deutete der Diener auf den Rücken des Hirschs und ich stieg auf. Als wir unten im Tal ankamen, sagte der Hirsch zu mir:

›Grüner, letzte Nacht konntest du sehen, wie der Herrscher der Wolken uns angreift und wie es ihm nicht gut bekommen ist, wie wir all seine Anstrengungen vereitelt haben. Aber seine Mittel sind noch nicht ausgeschöpft und er verfügt noch über eine geheime Waffe, die vielleicht die gefährlichste ist. Und so, wie meine Schwester, die Eule, sich gegen seine erkennbaren Angriffe gewehrt hat, so müssen wir uns gegen seine geheime Waffe wehren. Unser Feind ist das Moos und die schiere Menge an Mooswesen. Du wunderst dich? Auf den ersten Blick kann man es tatsächlich nicht verstehen und es klänge lachhaft, wenn jemand behaupten würde, Moos sei ein Feind; aber die Wahrheit ist: Man muss es ernst nehmen – und wie ernst, wirst du gleich verstehen.

Wenn es kommt, kommt es leise, von seinem Wesen her ist es ein Söldner der Wolken, denn es ist ihr Kostgänger und lebt von dem, was sie wegschütten, und es dient ihnen treu und ergeben das ganze Jahr über. Wenn es herankommt, wie gesagt, kommt es leise, manchmal nur bis zum Fuß der Felsklippe, manchmal auch ein bisschen höher. Sein Gesicht ist fromm, seine Bedürfnisse erscheinen gering, es schmiegt sich an den Felsen, nur um sich auszuruhen, denn von Natur aus ist es schwach und kann nicht auf eigenen Füßen stehen. Und der Fels verweigert ihm das nicht, weil es genug Platz gibt, weil es ihm nichts ausmacht, und das Moos ist ja so zart und gebrechlich …

Das Moos ist bescheiden und seine sanfte Bescheidenheit zeigt sich darin, dass es sich zunächst nur auf dem Zehennagel der Klippe ansiedelt. Und ganz langsam und behutsam wird es vertrauter mit dem Felsen und dieser gestattet ihm, noch einen Tag länger zu bleiben, noch eine Nacht. Der Fels ist groß und freundlich in seiner Erhabenheit, mächtig und naiv zugleich. Das Moos siedelt sich unten am Rand an, es liebkost den mächtigen Felsen und manchmal, wenn der mächtige Fels nicht schlafen kann, lullt das Moos ihn mit Geschichten ein und so erlangt es sein Vertrauen und heftet sich immer fester an und schon bald kann man es nicht mehr vertreiben und es klettert höher und höher, sogar bis über die Spitze der Felsenklippe.

Der Herrscher der Wolken sieht das mit Vergnügen, er beobachtet alles genau und lacht sich dabei in den Bart. Er lässt sich Zeit, bis das Moos den ganzen Felsen bedeckt hat, bis zur obersten Spitze, und er wartet sogar noch länger, bis endlich eine große Hitzewelle kommt, mit glühend heißen Tagen, und dann wird er den Wolken verbieten, Regen zu bringen. Und an einem dieser Tage könnte es geschehen, dass der Herr der Winde den Entschluss fasst, in seiner Kutsche eine Ausfahrt zu machen und das Schloss sich selbst zu überlassen. Seine Tochter wird er zu Hause lassen, weil er um ihre Gesundheit besorgt ist und sie vor der sengenden Sonne bewahren will – und genau in diesem Moment, zur richtigen Stunde und Minute, wird der Herrscher der Wolken auftauchen. Und wenn unser Herr auf seiner Reise weit weg ist, wird sich der Herrscher der Wolken in einer Regenwolke der Klippe nähern und blitzschnell, in einem Wimpernschlag, mit einem Blitzstrahl zuschlagen. Überall werden sich die Holzspäne entzünden und weil das Moos nach all den sengenden Tagen trocken wie Zunder ist, wird es rasch Feuer fangen und die Flammen werden das Schloss und die Ställe umzingeln. Und dann, so hofft der Herrscher der Wolken, wird das Schloss von den Flammen verzehrt werden und er kann die Tochter mit größter Leichtigkeit packen … Und wie du weißt, ist meine Schwester, die Eule, tagsüber nicht zu gebrauchen; sie kann nur in der Nacht den Blitzen Widerstand leisten, aber sie ist schwach am Tag und hilflos gegenüber dem Moos. Deshalb hat sie mir diese Aufgabe übertragen, dafür bin ich verantwortlich.