Von Solidarność zur Schocktherapie - Florian Peters - E-Book

Von Solidarność zur Schocktherapie E-Book

Florian Peters

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Beschreibung

Wie der Kapitalismus nach Polen kam

Die Berliner Mauer stand noch, als die Transformation in Polen schon in vollem Gange war. Wie kam es, dass ausgerechnet das Land der Solidarność-Bewegung zum Vorreiter einer marktradikalen Schocktherapie wurde, die fast überall im östlichen Europa Nachahmer fand? Florian Peters erzählt, wie private Kleinunternehmer inmitten der tristen 1980er Jahre neue Märkte erschlossen, wie oppositionelle Gewerkschaftsaktivisten sich neue marktorientierte Selbstbilder aneigneten und wie kommunistische Funktionäre das Privateigentum für sich entdeckten. Zugleich erklärt er, warum die Privatisierung der staatseigenen Industrie östlich der Oder von langwierigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen begleitet wurde.

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Florian Peters

Von Solidarność zur Schocktherapie

Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt

Herausgegeben von Dierk Hoffmann, Hermann Wentker und Andreas Wirsching im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin

Florian Peters

Von Solidarność zur Schocktherapie

Wie der Kapitalismus nach Polen kam

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 317799707

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Aufbau Digital,

veröffentlicht in der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2023

Die Originalausgabe erschien 2023 im Ch. Links Verlag,

einer Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

www.christoph-links-verlag.de

Lektorat: Dr. Daniel Bussenius, Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Fotos von Witold Szulecki, Marktbuden vor dem Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau, 1990, im Hintergrund das im Vorjahr eröffnete Marriott-Hotel, EAST NEWS Sp. z o. o., Warszawa

ISBN 978-3-96289-190-9

eISBn 978-3-8412-3231-1

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Markt-Wirtschaft ohne Grenzen

Abschied von der sozialistischen Moderne

Historisierung der Transformationszeit

Dominierende Deutungen, alternative Zäsuren

Forschungskontext und Quellenbasis

I. »Niemand hat die Absicht, die Fabriken in kapitalistische Unternehmen zu verwandeln«: Solidarność 1980 – 1981

1. Hinter dem Grauschleier des Spätsozialismus

2. »Damit alle in denselben Schlangen stehen«: Verschuldungskrise und Revolte 1980

3. Lebensmittelkarten als Gesellschaftsvertrag

4. Der Auftakt zum »Kampf gegen die Spekulation«

5. Marktsozialismus von oben: Die Regierungskommission für die Wirtschaftsreform

6. Das Ringen um die Arbeiterselbstverwaltung

7. Jenseits von Kapitalismus und Staatsdirigismus: Das Programm der Solidarność

II. »Der Geist der kommenden Zeit«: Neoliberale Vordenker und unternehmerische Praktiker

1. »Wie die Macht in Polen behalten?« Ein unmoralisches Angebot

2. Die Militarisierung der Wirtschaft während des Kriegsrechts

3. Der Boom der privaten »Polonia-Firmen«

4. Bewegungs-Entrepreneure: Schwarze und graue Märkte im Untergrund

III. »Ich glaube nicht an den Sozialismus, ich glaube an mich«: Konturen eines Sinneswandels

1. Die Opposition zwischen »drittem Weg« und Marktpopulismus

2. Krisenerfahrungen und wirtschaftliche Leitbilder im soziologischen Blick

3. Wirtschaftsliberalismus im Parteiapparat und unter parteinahen Intellektuellen

IV. Auf dem Weg in den »sozialistischen Thatcherismus«? (1986–1989)

1. Der lange Anlauf zur »zweiten Etappe der Wirtschaftsreform«

2. Das gescheiterte Referendum im November 1987

3. »Eine ungeschriebene Übereinkunft unter dem Banner des Marktes«

4. Die Regierung Rakowski und die Anfänge der Nomenklatura-Privatisierung

V. Die marktradikale Schocktherapie als Westimport?

1. »Laboratorien des freien Marktes«: Graswurzelkapitalismus von unten

2. Vom Runden Tisch zur Kür Balcerowiczs

3. »Wer bereitet die Reform vor?« Der »Balcerowicz-Plan« und seine Väter

VI. Was tun mit dem Volkseigentum?

1. »Absolute Science-Fiction«: Ausgangspositionen der polnischen Privatisierungsdebatte

2. Vom umstrittenen Privatisierungsgesetz zur verzögerten Massenprivatisierung

3. Schlaglichter auf die Praxis der Privatisierung

Schluss: Wie der Kapitalismus nach Polen kam

Anhang

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalien

Presse

Audiovisuelle Quellen

Edierte Quellen, Erinnerungen

Literatur

Personenregister

Dank

Der Autor

Vorwort der Herausgeber

Noch in der Spätphase der DDR gegründet, entwickelte sich die Treuhandanstalt zur zentralen Behörde der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die rasche Privatisierung der ostdeutschen volkseigenen Betriebe (VEB). Sehr bald aber wies ihr die Politik zahlreiche weitere Aufgaben zu. Sukzessive sah sich die Treuhandanstalt mit der Lösung der Altschuldenproblematik, der Sanierung der ökologischen Altlasten, der Mitwirkung an der Arbeitsmarktpolitik und schließlich ganz allgemein mit der Durchführung eines Strukturwandels konfrontiert. In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch und einseitig, auch wenn die Bilanz der Treuhandanstalt niederschmetternd zu sein scheint. Denn von den etwa vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Das öffentliche Urteil ist daher ganz überwiegend negativ. Die Kritik setzte schon ein, als die Behörde mit der Privatisierung der ersten VEBs der DDR begann. Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Außerdem ist sie eine Projektionsfläche für politische Interessen und Konflikte, wie die Landtagswahlkämpfe 2019 in Ostdeutschland deutlich gemacht haben. Umso dringender ist es erforderlich, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und mit ihr die gesamte (ost-)deutsche Transformationsgeschichte der frühen 1990er-Jahre wissenschaftlich zu betrachten. Dies ist das Ziel der Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren Bände die Umbrüche der 1990er-Jahre erstmals auf breiter archivalischer Quellengrundlage beleuchten und analysieren.

Die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe brachte für viele Menschen nicht nur Erwerbslosigkeit, sondern auch den Verlust einer sicher geglaubten, betriebszentrierten Arbeits- und Lebenswelt. Insofern ist die Erfahrungsperspektive der Betroffenen weiterhin ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung ebenso zu integrieren wie in die gesellschaftspolitischen Konzepte. Der mit der Transformation einhergehende Strukturwandel hatte Folgen für Mentalitäten und politische Einstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Dabei wurden die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Erinnerungen stets von medial geführten Debatten über die Transformationszeit sowie von politischen Interpretationsversuchen geprägt und überlagert. Diese teilweise miteinander verwobenen Ebenen gilt es bei der wissenschaftlichen Analyse zu berücksichtigen und analytisch zu trennen. Der erfahrungsgeschichtliche Zugang allein kann die Entstehung und Arbeitsweise der Treuhandanstalt sowie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Relation zu setzen und analytisch zu verknüpfen, um so ein differenziertes und vielschichtiges Bild der Umbrüche der 1990er-Jahre zu erhalten.

Diese große Aufgabe stellt sich der Zeitgeschichte erst seit Kurzem, denn mit dem Ablauf der 30-Jahre-Sperrfrist, die für staatliches Archivgut in Deutschland grundsätzlich gilt, ergibt sich für die Forschung eine ganz neue Arbeitsgrundlage. Das öffentliche Interesse konzentriert sich auf die sogenannten Treuhandakten, die im Bundesarchiv Berlin allgemein zugänglich sind (Bestand B 412). Sie werden mittlerweile auch von Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten intensiv genutzt. An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass schon sehr viel früher Akten anderer Provenienz allgemein und öffentlich zugänglich waren – die schriftliche Überlieferung der ostdeutschen Landesregierungen oder der Gewerkschaften, um nur einige Akteure zu nennen. Darüber hinaus können seit einiger Zeit auch die Akten der Bundesregierung und der westdeutschen Landesverwaltungen eingesehen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei aller Euphorie über die quantitativ wie qualitativ immer breiter werdende Quellengrundlage (allein zwölf laufende Aktenkilometer Treuhandüberlieferung im Bundesarchiv Berlin) sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Historikerinnen und Historiker die Archivalien einer Quellenkritik unterziehen müssen. Dies gehört grundsätzlich zu ihrem Arbeitsauftrag. Da die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Aussagekraft vor allem der Treuhandakten hoch sind, sei dieser Einwand an dieser Stelle ausdrücklich gemacht. So gilt es, einzelne Privatisierungsentscheidungen der Treuhandspitze zu kontextualisieren und mit anderen Überlieferungen abzugleichen. Zur Illustration der Problematik mag ein Beispiel dienen: Treuhandakten der sogenannten Vertrauensbevollmächtigten und der Stabsstelle Recht enthalten Vorwürfe über »SED-Seilschaften« und »Korruption«, die sich auch in der Retrospektive nicht mehr vollständig klären lassen. Die in Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Annahme, die Wahrheit komme nun endlich ans Licht, führt daher in die Irre und würde ansonsten nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt eben nicht die historische Wahrheit. Stattdessen ist es notwendig, Strukturzusammenhänge zu analysieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Widersprüche zu benennen und auch auszuhalten. Dazu kann die Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie mit quellengesättigten und methodisch innovativen Studien den historischen Ort der Treuhandanstalt in der Geschichte des vereinigten Deutschlands bestimmt, gängige Geschichtsbilder hinterfragt und Legenden dekonstruiert.

Im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes »Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte« zu den rasanten Wandlungsprozessen und soziokulturellen Brüchen der Industriegesellschaften seit den 1970er-Jahren hat das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) im Frühjahr 2013 damit begonnen, ein großes, mehrteiliges Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt inhaltlich zu konzipieren und vorzubereiten. Auf der Grundlage der neu zugänglichen Quellen, die erstmals systematisch ausgewertet werden konnten, ging das Projektteam insbesondere folgenden Leitfragen nach: Welche politischen Ziele sollten mit der Treuhandanstalt erreicht werden? Welche Konzepte wurden in einzelnen Branchen und Regionen verfolgt, und was waren die Ergebnisse? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich ergeben? Wie ist die Treuhandanstalt in internationaler Hinsicht zu sehen?

Bei der Projektvorbereitung und -durchführung waren Prof. Dr. Richard Schröder und Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué unterstützend tätig, denen unser ausdrücklicher Dank gilt. Über Eigenmittel hinaus ist das IfZ-Projekt, das ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat kritisch begleitet hat, vom Bundesministerium der Finanzen von 2017 bis 2021 großzügig gefördert worden. Auch dafür möchten wir unseren Dank aussprechen. In enger Verbindung hierzu standen zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einzelprojekte von Andreas Malycha und Florian Peters.

Dierk Hoffmann, Hermann Wentker, Andreas Wirsching

Einleitung

Markt-Wirtschaft ohne Grenzen

Die Berliner Mauer stand noch, als die Transformation schon in den Westen kam: Seit Januar 1989 überwanden erst Tausende, bald Zehntausende polnischer Gelegenheitshändler die Grenze zwischen dem Osten und Westen Europas und schufen auf der amorphen Brachfläche, die einst der Potsdamer Platz gewesen war, einen riesigen irregulären Markt. Mitten in Berlin, nur einen Steinwurf von Beton und Stacheldraht entfernt, der die Welt für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt hatte, boten sie zunächst an den Wochenenden, bald auch wochentags ihre mitgebrachten Waren feil. Zu haben war dort alles von Lebensmitteln bis zu Haushaltswaren, von billiger Unterwäsche bis zu billigen Zigaretten – unangemeldet, ungeordnet, steuerfrei.

Der abschätzig so benannte »Polenmarkt«, der rasch zum Anlaufpunkt für findige Schnäppchenjäger und zum bevorzugten Ärgernis für die West-Berliner Boulevardpresse wurde, erschien in der wohlgeordneten westlichen Konsum- und Warenwelt wie ein archaischer Anachronismus. Da die polnischen Händler morgens früher vor Ort waren als die meisten Nutzer der benachbarten Staatsbibliothek, belegten sie dort sämtliche Schließfächer mit ihren Waren, und an den Wochenenden brachte der Ansturm von Kauf- und Schaulustigen den Verkehr in den umliegenden Straßen zum Erliegen.1 In der »mit allen Mitteln, vor allem mit Bundesmitteln«, gegen ihre Insellage immunisierten Mauerstadt reagierten viele mit Abwehr und Ressentiments auf die ungebetene Konkurrenz und die chaotischen Verhältnisse auf dem improvisierten Markt.2 Der West-Berliner Senat ließ die von den Polen als Marktplatz genutzte Brache absperren und versuchte ansonsten, das Problem mit ausländerpolizeilichen Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Man errichtete also vor dem »antifaschistischen Schutzwall einen antipolnischen Gitterzaun«, wie die linksalternative taz frotzelte. Deren Berichterstatter stellte denn auch die Frage in den Raum, warum der Senat nicht gleich mit der DDR über eine »Übernahme der Mauer« verhandele, »um die Stadt vor kommenden polnischen Invasionen hundertprozentig sichern zu können«.3 Nur wenige Zeitgenossen sahen hingegen, was der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel damals notierte: »Die primitive Form ist entwicklungsfähig, aus der einfachen wird sich die komplizierte Wertform ergeben, aus den Transaktionen mit Babysachen werden solche mit Maschinen und Computern.«4 Tatsächlich war der Polenmarkt in der damals noch leeren Mitte Berlins ein untrügliches Zeichen dafür, dass auch hier bald eine neue Zeit anbrechen sollte. Kaum hundert Kilometer weiter östlich war sie längst in vollem Gange.

»Nehmt euer Schicksal selbst in die Hand«, hatte Mieczysław Wilczek, der Industrieminister der letzten kommunistischen Regierung Polens, seinen Landsleuten schon Ende 1988 öffentlich zugerufen.5 Mit Beginn des Jahres 1989 erlaubten die polnischen Kommunisten in einer handstreichartigen Geste der Liberalisierung nicht nur jegliche wirtschaftliche Betätigung, sondern gaben auch die zuvor auf dem Amt verwahrten Pässe frei. Damit war West-Berlin quasi über Nacht visafrei erreichbar – und Wilczeks Ruf blieb nicht ungehört. Vor den Grenzübergängen bildeten sich lange Schlangen schwer beladener polnischer Fiats, und die Nachtzüge zwischen Gdynia, Warschau und Ost-Berlin, die in Polen schon seit Jahren den Spitznamen »Schmugglerzug« (przemytnik) trugen, waren fortan hoffnungslos überfüllt. Kaum jemand war unterwegs, um einer plötzlich ausgebrochenen Reisefreude zu frönen; fast alle hofften, an dem informellen Handel partizipieren zu können, der zuvor ein Privileg gewiefter Profischmuggler, findiger Dienstreisender und in der DDR tätiger polnischer Vertragsarbeiter gewesen war. Nun mussten sich die Reisenden zwischen Unmengen von Warenpaketen einrichten, die Händlergruppen durch die Fenster in die Abteile luden, um sie überall und nirgends zu verstauen.6 Für die Strapazen der Reise entlohnte der Schwarzmarktkurs der D-Mark, noch mehr aber der Preis, den fortgeschrittene Schleichhändler auf den Basaren jenseits der Oder für westliche Elektronik erzielen konnten, die sie mit den erzielten Einnahmen in den Läden der Charlottenburger Kantstraße erwarben. In einem Land, in dem man nach zehn Jahren wirtschaftlichen Niedergangs für viele Waren des täglichen Bedarfs Schlange stehen musste und Fleischwaren noch immer rationiert waren, wurde der grenzüberschreitende Kleinhandel für viele zur Verheißung – mochte das Startkapital auch nur aus getrockneten Pilzen und einer Bahnfahrkarte bestehen.

Der Berliner Polenmarkt am Potsdamer Platz blieb zwar Episode, weil die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten für die polnischen Kleinhändler neue Zollvorschriften und das vorläufige Ende der Visumfreiheit mit sich brachte. Dennoch wurden Märkte zu einem charakteristischen Erfahrungsraum der Transformationszeit im östlichen Europa. Zum Inbegriff dieser neuen, grenzüberschreitenden Markt-Wirtschaft entwickelte sich der gigantische »Jarmark Europa« auf dem östlichen Ufer der Weichsel in Warschau: Auf den Ruinen eines Stadions aus staatssozialistischer Zeit entstand hier ein regelrechtes Labyrinth aus Buden und Marktständen, in dem nunmehr polnische Kunden auf Händler aus allen Ländern des zusammengebrochenen sowjetischen Imperiums trafen, um sich mit »original italienischer« Kleidung, raubkopierten Tonträgern und allen möglichen und unmöglichen Waren und Dienstleistungen zu versorgen.7

Doch nicht nur das alltägliche Handeln der Menschen in Polen und Ostmitteleuropa war während der Transformationszeit von Märkten geprägt, sondern auch die Welt der Ideen und der sozialen Sinnstiftung. Von einem profanen, nicht selten als chaotisch und vulgär empfundenen Ort des Warenaustauschs stieg der Markt zum idealisierten Ordnungsmodell des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wandels auf. Hatte der untergegangene Staatssozialismus seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit noch auf die rauchenden Schlote immer größerer Fabriken und Kombinate zurückgeführt, wurden die Ikonen des sozialistischen Fortschritts nun im öffentlichen Bewusstsein vom selbstbestimmten Treiben der Vielen verdrängt, die sich auf dem Markt zum scheinbar zwanglosen Geben und Nehmen trafen. Lange bevor großmaßstäbliche Einkaufszentren und Shoppingmalls amerikanischen Zuschnitts den westlichen Massenkonsum im Original ins östliche Europa brachten, prägten Markthändler und Basarfrauen das Gesicht des jungen osteuropäischen Kapitalismus. Mit ihren improvisierten Buden und Boutiquen gaben sie den um die industriellen Kerne gruppierten Hochhaussiedlungen der postsozialistischen Städte neue Mittelpunkte und Handlungsräume. Sie füllten damit weit mehr als nur die städtebauliche Leere, die der Niedergang der industriellen Moderne staatssozialistischer Prägung hinterlassen hatte.

Die Arbeiter und die vielgerühmten »Massen« mussten ihre privilegierten Plätze in der sozialen Sinnwelt räumen. An ihre Stelle trat das unternehmerische Individuum, das sich anschickte, auf eigene Faust zu schaffen, woran der osteuropäische Staatssozialismus so grandios gescheitert war. Nicht mehr kollektive Mobilisierung und gemeinsame Anstrengung erschienen jetzt als Schlüssel zu Wohlstand und Prosperität, sondern Eigeninitiative und privates Gewinnstreben. Dies war »der Geist der kommenden Zeit«, den polnische Marktradikale in der oppositionellen Untergrundpresse schon 1984 gewittert und mit heraufbeschworen hatten.8 Die private Betreiberfirma des »Jarmark Europa« bewies also nicht nur geschäftlich, sondern auch semantisch ein gutes Gespür, indem sie im Namen ihres Großbasars das Bild des mittelalterlichen Jahrmarktes mit der Idee eines neuen Europas zusammenführte, das sich im Handeln auf dem Markt materialisierte.9

Abschied von der sozialistischen Moderne

Dieses Buch geht der Frage nach, wie es zu diesem tiefgreifenden Wandel der wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Leitbilder kommen konnte. Es begreift die Transformation vom Staatssozialismus zum Kapitalismus nicht allein als Projekt von Ökonomen und Wirtschaftspolitikern, sondern richtet den Blick über deren Schreibtische und Rednerpulte hinaus auf die sozialen Praktiken und sinnstiftenden Horizonte, die sich mit dem Übergang zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung konstitutiv verbanden. Dabei schaut es nach Polen, in das Vorreiterland des Wandels im östlichen Europa, um die Wurzeln des Protokapitalismus von unten aufzuspüren, der dort schon lange vor dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft aufblühte. Es geht aber auch den Brüchen und Ambivalenzen auf den Grund, die gerade für den polnischen Weg in den Kapitalismus charakteristisch waren. Schließlich hatte es noch wenige Jahre vor 1989 nicht danach ausgesehen, als ob ausgerechnet Polen die Blaupause einer radikalen marktwirtschaftlichen Transformation für die anderen Länder des europäischen Ostens liefern würde. Obwohl der Niedergang der sozialistischen Planwirtschaft hier weitaus sichtbarer und schmerzhafter vonstattenging als anderswo, war er doch keineswegs gleichbedeutend mit einem reibungslosen Abschied von den egalitaristischen und kollektivistischen Ordnungsvorstellungen, die das kommunistische Modernisierungsprojekt für sich in Anspruch genommen hatte.

Zwar steht außer Frage, dass das kommunistische Regime in Polen von Anfang an nur auf eine vergleichsweise schmale Legitimationsbasis bauen konnte, zumal die polnische Gesellschaft von einer langen Tradition der Staatsskepsis und des Durchlavierens am Rande (und bei Bedarf auch jenseits) rechtlicher Rahmenbedingungen geprägt war.10 Diese Tradition fand gerade in der polnischen Landwirtschaft, die nach der gescheiterten Kollektivierung überwiegend kleinbäuerlich geprägt blieb, ein im osteuropäischen Vergleich ungewöhnlich großes Residuum. Auf der anderen Seite sollte man nicht unterschätzen, wie weitreichend die von oben oktroyierte Sinnwelt der staatssozialistischen Industriemoderne auch in Polen von unten angeeignet wurde, sei es über individuellen sozialen Aufstieg, als Folge der gesellschaftlichen Homogenisierung oder vermittelt durch attraktive lebensweltliche Integrationsangebote. Die grundlegende Akzeptanz der an die sozialistische Modernisierung geknüpften Wertvorstellungen und sozialen Integrationsmuster erwies sich nicht zuletzt in den wiederkehrenden Krisenmomenten der kommunistischen Herrschaft. Ob 1956, 1968, 1970 oder 1980 – immer wieder mussten sich die polnischen Kommunisten, gerade angesichts des heftigen Widerstands gegen die Methoden und mageren Ergebnisse ihrer Politik, an den von ihnen selbst formulierten sozialen und wirtschaftlichen Ansprüchen messen lassen.

Auch die beispiellose oppositionelle Massenbewegung, die sich 1980 – 1981 um die unabhängige Gewerkschaft Solidarność formierte, war weit davon entfernt, sich westlichen Individualismus oder gar Kapitalismus zum Vorbild zu nehmen. Die große Mehrheit ihrer sieben bis acht Millionen Mitglieder11 empörte sich vielmehr darüber, dass die proklamierte »führende Rolle« der Arbeiterklasse durch die Ausweitung der Privilegien für die Partei- und Wirtschaftsbürokratie sukzessive infrage gestellt worden war. Die dramatische Wirtschaftskrise, die das polnische Nationaleinkommen zwischen 1978 und 1982 erdrutschartig um 23,5 Prozent einbrechen ließ,12 führten die meisten Sympathisantinnen und Sympathisanten der Opposition nicht auf systemische Widersprüche der Planwirtschaft zurück, sondern auf das verbreitete Missmanagement und die unterstellte Kleptokratie der Parteieliten. Sie hofften darauf, die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem egalitaristischen Anspruch und der deprimierenden Wirklichkeit des »real existierenden Sozialismus« endlich zugunsten wirklicher »Vergesellschaftung« aller Lebensbereiche überwinden zu können.

Das mag auf den ersten Blick überraschen, wurde die polnische Oppositionsbewegung im In- und Ausland doch vorrangig durch das Prisma der intellektuellen Dissidenten wahrgenommen, die ihre Forderungen in der Sprache des transnationalen Menschenrechtsdiskurses formulierten und sich nur zu gern in die Tradition des polnischen Freiheitskampfs einreihten. Doch war die gewerkschaftliche Solidarność-Bewegung, die die kommunistische Parteiherrschaft in ihren Grundfesten erschütterte, jedenfalls in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht noch fest in der staatssozialistischen Sinnwelt verankert, die Wolfgang Engler mit Blick auf die DDR auf den Begriff der »arbeiterlichen Gesellschaft« gebracht hat.13 Diese Bewegung war nicht etwa angetreten, das sozialistische Versprechen von industrieller Modernität, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, sondern ganz im Gegenteil: um es zu verwirklichen. Insofern kann die Solidarność der Jahre 1980 – 1981 auch im europäischen Maßstab als eine der letzten politisch bedeutsamen Manifestationen der sozialen Ordnungsmuster der Industriemoderne gelten.14

Die daraus erwachsenden kollektivistischen Ansprüche machten aus der wirtschaftlichen Misere freilich erst recht eine existenzielle politische Krise, die mit der Zerschlagung der legalen Solidarność-Bewegung während des Kriegsrechts (1981 – 1983) keineswegs gelöst war. Alle Bemühungen um grundlegende Reformen der dahinsiechenden Planwirtschaft standen in Polen unweigerlich im Kontext dieses gesellschaftlichen Aufbegehrens. Überdies mussten sie noch die drückende Schuldenlast gegenüber dem westlichen Ausland ins Kalkül einbeziehen, die das Exportpotenzial des Landes weit überstieg und Polen an den Rand des Staatsbankrotts brachte.15 Für die polnischen Kommunisten stand folglich nicht weniger auf dem Spiel als die Überlebensfähigkeit des staatssozialistischen Systems. Den Ernst der Lage brachte wohl niemand besser zum Ausdruck als Staats- und Parteichef Wojciech Jaruzelski, der im September 1987 bei SED-Chef Erich Honecker um Verständnis für die polnischen Reformansätze warb. Während Honecker stolz von einem Treffen mit den »Bosse[n] der bundesdeutschen Industrie« im Rahmen seines ersten Staatsbesuchs in Westdeutschland berichtete und damit prahlte, »daß wir in der Leitung der Wirtschaft den großen [westlichen] Konzernen und Betrieben nicht nachstehen«, machte Jaruzelski kein Hehl aus der widrigen wirtschaftlichen und politischen Situation in Polen: Die »Spezifik der Lage«, so der General, erfordere dort ein Handeln nach dem Motto »Rette sich, wer kann«.16

In der Tat rangen sich Jaruzelski und seine Genossen nach langem Zaudern zu unkonventionellen Mitteln durch: Sie versuchten, um gesellschaftliche Unterstützung für ihre wirtschaftliche Reformpolitik zu werben. So war Polen das einzige staatssozialistische Land, dessen Regierung ihr marktorientiertes Reformprogramm und die damit verbundenen sozialen Einschnitte in einem freien und fairen Referendum zur Abstimmung stellte. Erst recht war das polnische Regime das einzige, das es schulterzuckend hinnehmen musste, ein solches Votum sang- und klanglos zu verlieren: Die Volksabstimmung im November 1987 scheiterte daran, dass das ungewöhnlich hoch angesetzte Zustimmungsquorum von 50 Prozent aller Wahlberechtigten verfehlt wurde. In der Geschichte des sowjetisch dominierten Ostblocks war eine solche offene Abstimmungsniederlage ohne Beispiel.

Da die Machtbasis der kommunistischen Regierung bereits zu fragil war, um Austerität und marktwirtschaftliche Reformen gegen gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen, sahen sich die polnischen Kommunisten schließlich zu Verhandlungen mit Vertretern der Opposition und zu deren Einbindung in das politische System gezwungen. Am Runden Tisch war es folgerichtig die Regierungsseite, die auf beschleunigte Marktreformen drängte, während die Oppositionsvertreter auf deren sozialpolitischer Flankierung bestanden. Dass sich nach dem erdrutschartigen Wahlsieg des Oppositionslagers in den teilfreien Wahlen vom 4. Juni 1989 ausgerechnet der bedächtige christdemokratische Intellektuelle Tadeusz Mazowiecki und der sozial bewegte Linke Jacek Kuroń für einen radikalen »Sprung in den Markt« starkmachen würden, lag wenige Monate zuvor noch jenseits jeder Vorstellungskraft. Zwar hatten wirtschaftsliberale Positionen in den vorangegangenen Jahren innerhalb des oppositionellen Spektrums deutlich an Boden gewonnen. Nichtsdestoweniger bedeutete die marktradikale Schocktherapie, die in Polen in erster Linie mit dem Namen von Mazowieckis Finanzminister und Vizepremier Leszek Balcerowicz verbunden ist, für das Oppositionslager eine dramatische politische Kehrtwende.

Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, wie die makroökonomische Rosskur des »Balcerowicz-Plans« trotz ihrer niederschmetternden sozialen Folgen in einer so streikerprobten Gesellschaft wie der polnischen mehrheitsfähig werden und weitgehend unangefochten bleiben konnte. Bereiteten etwa die widersprüchlichen Wirtschaftsreformen der letzten kommunistischen Regierungen dem ungebremsten Übergang zum Kapitalismus den Boden? Welche Rolle spielten endogene ökonomische Expertise und nationale Traditionen der Selbstorganisation jenseits des Staates? Wie weit reichte dagegen der Einfluss westlicher Einflüsterer wie Jeffrey Sachs, die im Sommer 1989 nach Warschau kamen, um der wirtschaftspolitisch unerfahrenen polnischen Opposition auf die Sprünge zu helfen? Lässt sich die polnische Transformation also als bloße Etappe des transnationalen Siegeszugs des Neoliberalismus verstehen, dessen Agenten die Welt im Geiste des »Washington Consensus« umzugestalten trachteten? Und warum folgte auf den makroökonomischen big bang von 1990 eine im Vergleich zu Polens Nachbarländern ausgesprochen zögerliche Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft?

Um diese Fragen zu beantworten, reicht es nicht aus, wirtschaftswissenschaftliche Expertendebatten, den Einfluss der internationalen Finanzinstitutionen und die politische Dynamik der polnischen Wirtschaftsreformen isoliert voneinander zu betrachten. Vielmehr kommt es darauf an, den wechselseitigen Beziehungen zwischen ökonomischen Leitbildern, wirtschaftspolitischem Handeln und der alltäglichen wirtschaftlichen Praxis einfacher Polinnen und Polen nachzugehen – also danach zu fragen, wie der Kapitalismus in die Köpfe und das Leben dieser Menschen kam.17 Denn erst im Zusammenspiel dieser Ebenen etablierten sich jene Deutungsmuster des Sozialen, die letzten Endes den Ausschlag für die gesellschaftliche Akzeptanz und die politische Durchsetzbarkeit dieses oder jenes wirtschaftspolitischen Leitbildes gaben. Ein solcher Zugang, der sich in Anlehnung an Anselm Doering-Manteuffel als Gesellschaftsgeschichte handlungsleitender Ideen bezeichnen lässt,18 setzt jedoch eine fundierte Historisierung der Transformationszeit voraus.

Historisierung der Transformationszeit

Wenn es um den rapiden Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus und um die postsozialistischen Transformationen geht, meinen wir im Rückblick sehr genau zu wissen, in welche Richtung die Entwicklung gehen musste. Das hat nicht nur damit zu tun, dass man es hinterher sowieso immer besser weiß – sondern auch mit dem Erbe der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, die den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel im östlichen Europa seit den 1990er-Jahren intensiv erforscht und unser Verständnis dieser Transformationen entscheidend geprägt haben. Diese Prägung spiegelt sich auch im Begriff der Transformation selbst wider, der ja zunächst einmal nicht viel mehr meint als Umwandlung, Verwandlung oder Veränderung. Im Kontext der damals florierenden sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung war er jedoch eng mit der Vorstellung verbunden, der komplexe Wandel in den Ländern Ostmittel- und Osteuropas ließe sich als beinahe technischer Prozess betrachten, dessen Ingenieure nur die richtigen Schalthebel umlegen müssten, um vom vorgefundenen Ausgangszustand zu einem vorgegebenen Ziel zu gelangen – etwa so, wie ein Transformator Gleichstrom zu Wechselstrom umwandelt.19

Die meisten Soziologinnen, Ökonomen und Politikwissenschaftler, die sich der wissenschaftlichen Analyse (und nicht selten auch der politikberatenden Mitgestaltung) des damaligen Wandels verschrieben hatten, interessierten sich also nicht so sehr für die spezifischen Eigenlogiken, für die Unfertigkeiten und Fragilitäten der Transformationsgesellschaften, sondern vor allem dafür, wie diese möglichst schnell vom Start zum Ziel gelangen könnten. Dabei orientierten sie sich im Hinblick auf den erwünschten Endpunkt der von ihnen konstruierten »Entwicklungspfade« meist wie selbstverständlich an vermeintlich erprobten westlichen Vorbildern. Die Kleinhändlerinnen, die mit ihren bunt zusammengewürfelten Waren und ihren unverwechselbaren sperrigen Plastiktaschen die improvisierten Märkte bevölkerten, kamen in diesen Modellen nur in den seltensten Fällen vor, ebenso wie die filigranen Risse und fundamentalen Erschütterungen, die der Verlust von industrieller Arbeit und sozialer Sicherheit in den Lebensentwürfen und Selbstbildern vieler Menschen in der Region hinterließ. Die hegemoniale Spielart der Transformationsforschung hatte nicht die Offenheiten, Halbheiten und Haltlosigkeiten der postsozialistischen Gegenwart im Blick, sondern zielte von vornherein auf die gläsernen Bürohochhäuser und Einkaufspaläste, die die provisorischen Verkaufsstände der Basarhändler sowohl am Potsdamer Platz in Berlin als auch in den Stadtzentren Warschaus und anderer osteuropäischer Metropolen längst zu Erinnerungen aus einer fernen Vergangenheit haben werden lassen.20

Zwar kam auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung recht bald Kritik an allzu teleologischen und deterministischen Ansätzen auf. So mündete die Einsicht, dass »der Westen« durchaus nicht überall gleich aussieht, in die Anerkennung distinkter Varieties of Capitalism, auf deren unterschiedliche Spielarten die Transformationsprozesse in den einzelnen Ländern zusteuern konnten.21 Diese Debatten innerhalb und außerhalb der Transformationsforschung sind inzwischen aber selbst Geschichte. Deshalb wäre es müßig, sich heute nochmals an den Modellen von damals abzuarbeiten. Stattdessen kommt es für eine Historisierung der Transformationszeit darauf an, diese nicht von ihrem Ende her zu betrachten, sondern als Epoche eigenen Rechts ernst zu nehmen. Es geht in diesem Buch also nicht darum, wohin das alles am Ende geführt hat – oder hätte führen sollen. Vielmehr setzt es sich zum Ziel, die sozialen, politischen und ökonomischen Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte freizulegen, vor die sich die Menschen seinerzeit gestellt sahen.

Das ist alles andere als trivial – schließlich ahnte selbst im Frühjahr 1989, als Tausende von Polinnen und Polen mit dem Verkauf von Butter, Wodka oder Bügeleisen am Rande des Berliner Tiergartens ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen versuchten, noch kaum jemand, welch epochale Umwälzungen in den folgenden Monaten und Jahren auf Mittel- und Osteuropa zukommen würden. Da der politische und gesellschaftliche Wandel in Polen dem Rest des östlichen Europas meist mindestens einen Schritt voraus war, betraten sowohl die Akteure der »großen Politik« als auch die Jan Kowalskis von der Straße immer wieder historisches Neuland. Wie schwierig es ist, sich im Nachhinein auf diese zeitgenössischen Perspektiven einzulassen, war sich schon Timothy Garton Ash bewusst, der damals immer zur rechten Zeit am richtigen Ort war, wenn die scheinbar so stabilen Mauern der staatssozialistischen Systeme in Ostmitteleuropa ins Wanken gerieten. Gerade weil er den rasanten, alle Erwartungen übersteigenden Wandel so hautnah miterlebt hatte, meinte er: »Für den Historiker ist es vielleicht am schwierigsten, zu rekonstruieren, was die Menschen in einem historischen Moment tatsächlich nicht über die Zukunft wußten.«22

Dennoch ist der polnische Fall für eine historische Würdigung der Transformationszeit und der mit ihr verbundenen, bis heute nachhallenden Hoffnungen und Enttäuschungen besonders aufschlussreich, vielleicht sogar paradigmatisch. Denn wegen der lang andauernden Krisenphase und des offenen politischen Konflikts zwischen kommunistischem Regime und Opposition im letzten Jahrzehnt des Spätsozialismus traten die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte der Zeitgenossen hier deutlicher als anderswo auseinander. Während etwa der von Honecker beschworene »Sozialismus in den Farben der DDR« unversehens implodierte und die spontan aufkeimende politische und gesellschaftliche Selbstorganisation im Osten Deutschlands alsbald in die etablierten Bahnen der bundesdeutschen Ordnung überführt wurde, erlebte Polen eine gedehnte Transformationszeit, die durch eine beinahe zehnjährige Inkubationsperiode und ein Nebeneinander konkurrierender Ordnungsmuster schon vor 1989, aber auch durch vergleichsweise harte Brüche und langwierige innergesellschaftliche Konflikte nach dem politischen Systemwechsel gekennzeichnet war. All dies ließ die Spezifika des Übergangs von der alten in die neue Ordnung vergleichsweise scharf hervortreten.

Wer vor dem Hintergrund profunder sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung und Forschung eine genuin zeithistorische Perspektive auf die Transformationszeit für sich in Anspruch nimmt und diese als eigenständige historische Epoche verstanden wissen will, steht freilich in der Pflicht zu benennen, was diese denn als solche auszeichne. Was ist also gemeint, wenn Zeithistoriker den Übergang vom Spät- zum Postsozialismus als »Transformation« bezeichnen? Philipp Ther, der mit seiner Geschichte der »neuen Ordnung auf dem alten Kontinent« eine erste historische Bilanz des »neoliberalen Europa« vorgelegt hat, schlägt vor, Transformation als »einen besonders tiefgreifenden, umfassenden und beschleunigten Wandel des politischen Systems, der Wirtschaft und der Gesellschaft« zu verstehen.23 Dies wirft allerdings die Frage auf, ob diese Definition hinreichend spezifisch ist, um die darunter subsumierten Veränderungsprozesse etwa von historischem Wandel im Zuge von Krieg und Revolutionen abzugrenzen. Bei Ther bleibt insbesondere vage, in welchem Verhältnis Transformation und Revolution zueinander standen: Für die politischen Umstürze der Jahre 1989 – 1991 im östlichen Europa übernimmt er weitgehend unhinterfragt den Revolutionsbegriff, wenngleich er explizit einräumt, dass es sich dabei um eine »eigentlich ahistorisch[e]« und erst ex post etablierte Sinnstiftung handelt.24 Daran anknüpfend bezeichnet Ther Transformation einerseits als im chronologischen Sinne »postrevolutionären Wandel«, andererseits verortet er den Beginn der transformatorischen Umbrüche aber (mit guten Gründen) bereits vor dem politischen Systemwechsel 1989.25

Dieser Studie liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Einstufung historischen Wandels als »Transformation« nicht allein an seiner Tiefe, seinem zeitlichen Ablauf und seiner sektoralen Reichweite festmachen lässt. Diese Kriterien mögen Transformationen von systemimmanenten, zeitlich und sektoral begrenzten Reformen auf der einen Seite sowie von langfristigem und nur eingeschränkt steuerbarem evolutionärem Wandel auf der anderen Seite unterscheiden.26 Der Begriff der Transformation trifft jedoch nicht nur Aussagen über den substanziellen Gehalt gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Er impliziert zugleich und vor allem eine bestimmte Vorstellung davon, wie diese verlaufen. Während Revolutionen immer »ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit, geringer Steuerbarkeit und Kontingenz« innewohnt, suggeriert der Transformationsbegriff, dass das Ziel des Wandels von vornherein bestimmbar und der Weg dorthin steuerbar – nicht jedoch planbar ist.27 Seine unübersehbare Konjunktur in den letzten Jahrzehnten ist nicht denkbar ohne die Fragmentierung und »Disaggregation« der Reflexion über das Soziale im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, die Daniel T. Rodgers unter das Rubrum des »Age of Fracture« gefasst hat.28 Die seither gehäufte Verwendung des Transformationsbegriffs steht in direktem Zusammenhang mit der von Rodgers herausgearbeiteten Verlagerung des Angelpunkts sozialer Ordnungsentwürfe von der gesellschaftlichen Makro- auf die Mikroebene, die sich in sozialwissenschaftlichen Rational-Choice-Ansätzen ebenso widerspiegelt wie in der Partikularisierung der Gesellschaftstheorie und im Siegeszug des neoliberalen Marktradikalismus.

Tiefgreifenden sozialen, politischen und ökonomischen Wandel als »Transformation« zu bezeichnen, bedeutet demnach, dessen rationale Steuerbarkeit durch das Setzen von Anreizen (incentives) zu suggerieren, die auf der Ebene individueller Akteure wirksam sind. Darin unterscheiden sich Transformationen von älteren, mit der sozialen Sinnwelt der Industriemoderne verbundenen Konzeptionen vergleichbaren Wandels, namentlich von Revolution und social engineering, aber auch von interventionsfreudigem Planungsdenken. An die Stelle des kollektivistischen Voluntarismus revolutionärer Bewegungen und des auf gesamtgesellschaftlicher und makroökonomischer Ebene ansetzenden Machbarkeitsdenkens, wie es für das social engineering und die keynesianische »Globalsteuerung« charakteristisch war, tritt bei transformatorisch gedachtem Wandel das Vertrauen in die segensreiche Wirkung individueller, partikularer Entscheidungen, die zu ihrer systemischen Entfaltung nur des richtigen Handlungsrahmens bedürfe. In diesem Sinne lässt sich Transformation in der Tat treffend als »postrevolutionärer Wandel« bezeichnen – nämlich als Resultat der Verdrängung revolutionärer Konzepte fundamentalen Wandels aus der sozialen und politischen Vorstellungswelt.

Wie Wandel als gesellschaftlicher Prozess gedacht wird, hat indes erhebliche Konsequenzen für seine mögliche Reichweite, für die als handelnde Subjekte daran beteiligten Akteursgruppen und für die Beschaffenheit des benötigten Steuerungswissens. So konnte die Vorstellung, die historische Zeit ließe sich in einem voluntaristischen Akt von oben gleichsam suspendieren, um mittels eines big bang das unüberschaubare Dickicht gewachsener struktureller Verwicklungen in den spätsozialistischen Gesellschaften schlagartig zu überwinden, nur in Abgrenzung von der immanenten Geschichtsmächtigkeit revolutionären Wandels plausibel erscheinen.29 Wenn sozialer Wandel aber in erster Linie in der Schaffung des passenden Handlungsrahmens bestand, der eine Vielzahl partikularer Einzelentscheider quasi hinter deren Rücken in Agenten der erwünschten systemischen Veränderung transformieren sollte, kam wiederum technokratischem Expertenwissen eine erstrangige Bedeutung für die Steuerung dieses Prozesses zu.30 Diese Transformationsexperten konnten sich zu ihrer Legitimation eben nicht auf kollektive Willensbekundung oder demokratische Aushandlung berufen, sondern stützten sich auf sozial- und wirtschaftswissenschaftlich abgesicherte Rationalität. Insofern verweist der Transformationsbegriff auf einen Modus tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, der sich seiner eigenen Historizität kaum bewusst ist oder diese sogar rundheraus negiert.

Anhand der Entwicklung in Polen lässt sich dieser Umbruch vom revolutionären zum transformatorischen Paradigma gesellschaftlichen Wandels beispielhaft nachvollziehen. Während sich in der jüngeren historischen Forschung immer mehr die Auffassung durchsetzt, dass der Durchbruch der Solidarność-Bewegung in den Jahren 1980 – 1981 mit guten sozial- und kulturgeschichtlichen Argumenten als revolutionäre Situation zu deuten ist,31 fehlten dem am Runden Tisch ausgehandelten Systemübergang von 1989 jegliche Kennzeichen massenhafter gesellschaftlicher Partizipation oder gar revolutionärer Aufbruchstimmung. Anders als in der Tschechoslowakei, der DDR oder in den baltischen Staaten, wo sich für den plötzlichen Zusammenbruch der staatssozialistischen Herrschaft zumindest im Nachhinein Bezeichnungen wie »samtene«, »friedliche« oder »singende« Revolution eingebürgert haben, ist dies für Polen mit Blick auf 1989 eher unüblich. Die Niederschlagung der Solidarność während des Kriegsrechts und der jahrelange politische und wirtschaftliche Stillstand hinterließen hier eine so tiefgehende, mit dem Gefühl abhandengekommener kollektiver Handlungsmacht verbundene Desillusionierung, dass eine revolutionäre Deutung des rasanten Umbruchs von 1989 schlicht fehl am Platze schien.32

Der auf kollektiven Fortschritt orientierte Ordnungsrahmen der staatssozialistischen Moderne hatte sich im Laufe der 1980er-Jahre endgültig erschöpft, doch es sollte noch eine Weile dauern, bis sich aus der Vieldeutigkeit der Übergangsperiode ein neuer hegemonialer Ordnungsentwurf herausschälte. Symptomatisch für die Wahrnehmung der in dieser Situation auf den Plan tretenden Transformationsexperten war die zwischen Spott und Bewunderung changierende Bezeichnung Brygada Marriotta, die sich im polnischen Volksmund für die seit dem Sommer 1989 aus dem Westen eingeflogenen Wirtschaftsberater einbürgerte. Dieser Spitzname spielte zum einen auf das bevorzugte Quartier der westlichen Experten in dem luxuriösen Marriott-Hotel im Zentrum Warschaus an. Zum anderen sprach aus ihm aber auch eine gewisse Irritation über den missionarischen Eifer der westlichen Gäste, der in der desillusionierten und ermüdeten polnischen Gesellschaft sichtlich aus der Zeit gefallen schien. Der selbstgewisse Enthusiasmus dieser marktradikalen Brigadisten, die sich anstelle des einst beschworenen »Aufbaus des Sozialismus« nicht weniger nassforsch dem »Aufbau des Kapitalismus« verschrieben, stieß bei vielen Polinnen und Polen auf gemischte Gefühle.33

Noch machte der eben erst mithilfe westlicher Investoren im Rahmen eines Joint Ventures fertiggestellte Rohbau des Marriott-Hotels dem stalinistischen Kulturpalast die Lufthoheit über die Warschauer Innenstadt nicht streitig. Noch ging das Gros der Beschäftigten seiner täglichen Arbeit in den maroden Betrieben der staatseigenen Industrie nach, obwohl die allgegenwärtigen privaten Kleinhändler die Spielregeln des staatlich geplanten Wirtschaftens längst schon links liegen ließen. Noch führten linientreue Parteiblätter den obligaten Aufruf »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« im Kopf, obwohl sie direkt darunter titelten: »Let’s talk about business«.34 Ebendieser eigentümliche, vielfach konfuse Schwebezustand macht den Kern dessen aus, was hier als Transformationszeit betrachtet wird.

Dominierende Deutungen, alternative Zäsuren

Die tiefen lebensweltlichen Einschnitte, mit denen vor allem die wirtschaftliche Dimension der Transformation für fast jeden und jede östlich der Elbe verbunden war, spiegeln sich bis heute in emotional höchst aufgeladenen individuellen und kollektiven Erinnerungen wider. Wer durch die von Swetlana Alexijewitsch literarisierten Erfahrungsberichte aus der postsowjetischen »Secondhand-Zeit« blättert, bekommt eine Ahnung von der biografischen Fallhöhe, die der Umbruch für das Leben von Millionen von Menschen im östlichen Europa bedeutete.35 Die Ambivalenz dieser individuellen Erfahrungen bildet einen, wie es scheint, unerschöpflichen Nährboden für polarisierende kollektive Deutungen. Auch die polnische Öffentlichkeit ist in der Bewertung der Transformationszeit noch immer tief gespalten, obwohl mittlerweile ein Vierteljahrhundert wirtschaftlicher Prosperität und wachsenden Wohlstands ins Land gegangen ist, von dem Polens östliche Nachbarn mehrheitlich nur träumen können.

Während sich der Widerspruch gegen die neoliberalen Prämissen der Transformation und ihre sozialen Kosten in Westeuropa meist aus linker Kapitalismuskritik speist, wird das liberale Erfolgsnarrativ in Polen, ebenso wie andernorts im östlichen Europa, in erster Linie von der politischen Rechten herausgefordert. Dort stehen sich im Wesentlichen zwei konkurrierende Erzählungen gegenüber: Die Liberalen verklären die polnische Transformation zu einem heroischen Sieg der Freiheit über das sowjetische Joch und führen den unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahrzehnte, der Polen zu »Europas Wachstums-Champion«36 gemacht und das Wohlstandsgefälle gegenüber Deutschland und Westeuropa spürbar reduziert hat, auf die kompromisslose Schocktherapie und die gelungene Selbstaneignung des Kapitalismus von unten zurück. Dagegen macht die Rechte den am Runden Tisch ausgehandelten Systemwechsel für das Ausbleiben einer wirklichen antikommunistischen Revolution verantwortlich und beklagt den vermeintlichen Ausverkauf der Wirtschaft an westliche Konzerne als Verlust nationaler Souveränität.37

Beide Deutungen verkennen jedoch auf je eigene Weise den Bruch zwischen dem revolutionären und dem transformatorischen Paradigma grundlegenden Wandels, der sich im Laufe der 1980er-Jahre vollzog. Das affirmativ-triumphalistische Narrativ der Liberalen setzt in der Regel mit der Entstehung der gewerkschaftlichen Solidarność-Bewegung von 1980/81 ein und zieht von dort eine gerade Linie zum Systemwechsel im Sommer 1989. Dem Kriegsrecht und der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre kommt in dieser Erzählung allenfalls die Funktion eines dramatischen Suspense zu, sodass der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft 1989 – 1990 als Erfüllung des revolutionären Vermächtnisses von 1980 erscheint. Der entscheidende blinde Fleck dieses Narrativs liegt darin, dass die Regierung Mazowiecki sich bei der Umsetzung des marktradikalen Balcerowicz-Plans weder auf das ideelle Erbe der Solidarność von 1980 – 1981 noch auf die demokratische Legitimation des Runden Tischs oder des Wahlsiegs vom Juni 1989 berufen konnte, denn eine radikale Schocktherapie stand weder am Runden Tisch noch in den teilfreien Wahlen zur Diskussion oder gar zur Abstimmung.

In diese Lücke stößt die politische Rechte, indem sie eine simple Erklärung für die Widersprüche der liberalen Meistererzählung anbietet: Der Elitenkompromiss am Runden Tisch, der der marktradikalen Schocktherapie vorausging, war aus ihrer Sicht nichts anderes als ein Verrat der liberalen Oppositionseliten an den Idealen und Interessen der »Nation«. Die überwiegend aus revisionistischen und linksliberalen Milieus stammenden Dissidenten hätten demnach gemeinsame Sache mit den Kommunisten gemacht und in Hinterzimmergesprächen grünes Licht für die Selbstbereicherung der Nomenklatura gegeben. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu der Vorstellung, der Runde Tisch sei von vornherein eine von der kommunistischen Geheimpolizei inszenierte (wahlweise auch direkt aus Moskau gesteuerte) Verschwörung gewesen, die dem Zweck gedient habe, die dräuende antikommunistische Revolution zu verhindern und die Machtpositionen der alten Eliten in neuem Gewand zu konservieren.

Dass das Ausbleiben revolutionären Wandels keineswegs gleichbedeutend mit Kontinuität sein muss, will den Verfechtern dieses Narrativs dagegen nicht in den Kopf. Zwar liegen sie völlig richtig mit ihrer Diagnose, dass der Umbruch in Polen 1989 wenig Revolutionäres an sich hatte und keinen über jeden Zweifel erhabenen demokratischen Gründungsakt hervorbrachte. Der jeglicher rechtskonservativer Neigungen unverdächtige Warschauer Soziologe Ireneusz Krzemiński beklagte schon in einem viel beachteten zeitgenössischen Artikel, dass die Oppositionseliten über die Köpfe der Menschen hinweg agierten und wenig Interesse an demokratischer Partizipation und Empowerment zeigten.38 Die von rechts lancierte Verratserzählung übersieht jedoch, dass fundamentaler Wandel sehr wohl auch in dezidiert nichtrevolutionärem Gewand vonstattengehen kann. Deshalb vermögen sich ihre Anhänger den Kompromiss zwischen den Regierenden und der oppositionellen Gegenelite nur in Form eines abgekarteten Spiels zulasten Dritter vorzustellen.

Ungeachtet ihrer unversöhnlichen Frontstellung in der öffentlichen Geschichtskultur ist beiden konkurrierenden Meistererzählungen gemeinsam, dass sie sich fast ausschließlich auf die politikgeschichtliche Dimension der Transformation beziehen. Deren ökonomische und gesellschaftliche Dimensionen bleiben hingegen sowohl im liberalen Triumph-als auch im rechten Verratsnarrativ weitgehend außen vor. Außerdem konzentrieren sie sich chronologisch auf das vermeintliche annus mirabilis 1989, das entweder als alles entscheidende Zäsur zwischen Kommunismus und Freiheit mythologisiert oder als Ursünde der vermeintlich unvollendeten Gründung der neuen demokratischen Ordnung dämonisiert wird. Eine ähnliche Perspektivverengung prägt auch große Teile der bisherigen Forschung. Für eine kritische zeithistorische Annäherung an die Transformation liegt es deshalb nahe, das Blickfeld in thematischer und chronologischer Hinsicht zu weiten und die Aufmerksamkeit gerade für die bislang vernachlässigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte zu schärfen.39

Wenn man sich vom Primat der eng verstandenen Politikgeschichte freimacht, stellt sich auch die Frage ganz neu, wann die Transformation eigentlich begann – und wann sie ihrerseits zu Geschichte wurde. Bisherige Antworten auf diese klassische geschichtswissenschaftliche Frage fallen durchaus interessant aus. So schlug der Soziologe Jacek Kurczewski vor, die polnische Transformation mit der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst Johannes Paul II. im Jahr 1978 beginnen und mit dessen Tod 2005 enden zu lassen.40 Das von diesen Eckdaten umschlossene Vierteljahrhundert lässt sich mit gutem Grund als Transformationsperiode im weiteren Sinne begreifen, entspricht es doch recht genau der Zeitspanne vom Beginn der finalen politisch-wirtschaftlichen Krise des polnischen Staatssozialismus bis zur institutionellen Absicherung der neuen wirtschaftlich-politischen Ordnung durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004. Ähnlich argumentieren auch Wirtschaftswissenschaftler wie Kazimierz Z. Poznański und Politologen wie Besnik Pula, die die erhebliche Bedeutung der »sozialistischen Protoglobalisierung«, also der in Polen besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Öffnung zum Westen seit den 1970er-Jahren, für den späteren Verlauf der Transformation betonen.41

Einen engeren Begriff der Transformation hat die Kulturanthropologin Olga Drenda vor Augen, die sich mit der materiellen Kultur dieser Zeit befasst hat und sich somit primär auf die Mikro- und Alltagsebene bezieht. Sie datiert den Beginn der Transformationszeit auf die Jahre 1986 und 1987, als westliche Konsumgüter und Wertehierarchien immer ungehinderter ihren Weg in die polnische Alltagskultur fanden. Auch für deren Ende macht sie einen bedenkenswerten Datierungsvorschlag: Als Schlusszäsur gilt ihr die sogenannte ustawa antypiracka vom Februar 1994, also die Einführung eines Urheberrechts nach westlichem Muster, die der Kultur des billigen Nachahmens und den allgegenwärtigen Märkten, Basaren und Kioskbuden auf mittlere Sicht den Boden entzog.42 In der Tat war damit der Übergang von der oftmals chaotischen, ungeordneten Aneignung des Kapitalismus von unten zu einer Phase der Konsolidierung der neuen Wirtschaftsordnung eingeleitet, von der in erster Linie jene internationalen Konzerne profitierten, die Polens Hauptstadt Warschau mit zahllosen Wolkenkratzern und Shoppingmalls in eine glitzernde Boomtown verwandelten.43 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese ökonomische Konsolidierung in Polen mit der politischen Machtübernahme durch die marktwirtschaftlich geläuterten Postkommunisten einherging. Diese fand ihren symbolischen Abschluss Ende 1995 mit dem spektakulären Wahlsieg Aleksander Kwaśniewskis, der den letzten kommunistischen Regierungen als Jugendminister angehört hatte und nun Lech Wałęsa, die Ikone der Solidarność-Bewegung, aus dem Präsidentenamt drängte.

Diese Studie greift die Anfangszäsur am Ende der 1970er-Jahre auf, um zunächst die historischen Voraussetzungen der Transformation in den Blick zu nehmen. 1979 war nicht zuletzt das Jahr, in dem die polnische Steinkohlenförderung mit 201 Millionen Tonnen ihr historisches Allzeithoch erreichte – weit mehr als eine symbolische Wegmarke, wenn man die immense wirtschaftliche und politische Bedeutung der Kohle als zentraler Energieträger der industriellen Moderne bedenkt.44 Im Rückblick zeigt sich, dass dieser industriepolitische Erfolg auch für Polen den Anfang vom Ende des schwerindustriellen Entwicklungsmodells einläutete. Nur wenige Jahre später als in Westeuropa setzte auch hier eine langwierige und schmerzhafte Erosion industriegesellschaftlicher Vergemeinschaftungs- und Deutungsmuster ein, die durch den politischen Niedergang des Staatssozialismus noch zusätzlich beschleunigt und verschärft wurde. Damit begann zwar noch nicht »die Welt von heute«, wie Frank Bösch nahegelegt hat,45 wohl aber ihre unmittelbare Vorgeschichte.

Um die Spezifik dieser Übergangsperiode analytisch zu fassen und diese wiederum von den gesellschaftsgeschichtlichen Dynamiken der Gegenwart zu unterscheiden,46 bietet sich Drendas Schlusszäsur Mitte der 1990er-Jahre an, mit der die Transformation im engeren Sinne tatsächlich einen vorläufigen Abschluss fand. Das galt zwar nicht für die Privatisierung der größeren Staatsbetriebe – der Startschuss für das über 500 Betriebe umfassende »Allgemeine Privatisierungsprogramm« (Program Powszechnej Prywatyzacji, PPP) fiel sogar erst Ende 1994. Allerdings waren die politischen Grundsatzdebatten um die Privatisierung zu diesem Zeitpunkt entschieden. Auch makroökonomisch war 1995 die tiefe Talsohle durchschritten, in die der Balcerowicz-Plan die polnische Wirtschaft gestürzt hatte, und die Wirtschaftskraft vor Beginn der Schocktherapie wurde annähernd wieder erreicht. Erst danach begann jene Phase kräftigen wirtschaftlichen Wachstums, die viele bewundernd vom »polnischen Wirtschaftswunder« sprechen ließ und die den Grundstein für die beispiellose Annäherung Polens an das westeuropäische Wohlstandsniveau legte. Der Genealogie dieser neuen Ordnung nach dem Ende der sozialistischen Industriemoderne, die noch auf den historischen Begriff zu bringen ist, widmet sich dieses Buch.

Forschungskontext und Quellenbasis

Sowenig es an Debatten um die Interpretation und Bewertung der ostmitteleuropäischen Umbrüche von 1989 mangelt, so sehr fehlt es bislang an fundierten quellenbasierten Analysen zu Genealogie und Gesellschaftsgeschichte der Transformationszeit. Erst in jüngster Zeit hat sich die zeithistorische Forschung verstärkt den spät- und postsozialistischen Transformationen in Ostmittel- und Osteuropa zugewandt. Als wegweisend für den Trend zur kritischen Historisierung dieser Epoche hat sich die Überblicksdarstellung der »Geschichte des neoliberalen Europa« von Philipp Ther erwiesen, die zugleich das gestiegene Interesse an einer Einordnung der osteuropäischen Transformationserfahrungen in gesamteuropäische Entwicklungs- und Interpretationszusammenhänge belegt.47 In eine ähnliche Richtung weist die neue Studie eines Autorenkollektivs um James Mark, die den Wandel von 1989 in seinen globalen Dimensionen zu erfassen sucht.48 Diese übergreifenden Arbeiten werfen wichtige Schlaglichter auf die Entwicklung in Polen und untermauern dessen Rolle als Vorreiter und Schlüsselland der osteuropäischen Transformationen. Damit lenken sie das Augenmerk aufs Neue auf das Desiderat einer gesellschaftsgeschichtlich vertieften Auseinandersetzung mit dem Umbruch vom Spätzum Postsozialismus in Polen.

Zwar haben sich Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker des turbulenten polnischen Weges aus dem Staatssozialismus in die marktwirtschaftlich-demokratische Ordnung bereits intensiv angenommen. Sie taten dies jedoch von so unterschiedlichen »Sehepunkten« aus, dass die diskursiven Vorbedingungen und gesellschaftsgeschichtlichen Dimensionen des Wandels jeweils am Rande ihres Blickfelds blieben. Während geschichtswissenschaftliche Arbeiten die Umbrüche des Jahres 1989 typischerweise als Flucht- und Endpunkt der Geschichte des osteuropäischen Staatssozialismus begreifen, ist die Zeit nach 1989 bislang weitgehend Domäne von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern geblieben, deren Interesse für politisch-gesellschaftliche Dynamiken über den Epochenbruch hinweg meist begrenzt blieb.

Das Hauptaugenmerk der zeithistorischen Forschung zur letzten Dekade des polnischen Staatssozialismus liegt bislang auf Fragestellungen zur Geschichte der Oppositionsbewegung49 und zur politischen Überwindung der kommunistischen Diktatur.50 Auffällig ist dabei, dass dem gesellschaftlichen Wandel zwischen dem Kriegsrecht und dem politischen Durchbruch von 1989 vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, geschweige denn den wirtschaftlich und sozial krisenhaften ersten Jahren nach 1989. Entsprechend rudimentär erforscht sind die schrittweise Öffnung von Teilen der Opposition und der Parteieliten für wirtschaftsliberales Gedankengut in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre sowie die hitzigen Auseinandersetzungen um die Privatisierungspolitik nach der Implementierung der makroökonomischen Schocktherapie.51

Auch die wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen dieser Zeit haben bisher wenig Beachtung gefunden. Eine wichtige Ausnahme stellt die Pionierstudie von Dariusz Grala zu den ökonomischen Reformanläufen der polnischen Regierungen zwischen 1982 und 1989 dar.52 Zu den wirtschaftspolitischen Debatten innerhalb der Solidarność und der Opposition der 1980er-Jahre liegen zudem einige Beiträge des Wirtschaftshistorikers Jacek Luszniewicz vor.53 Gesellschaftsgeschichtliche Arbeiten von Jerzy Kochanowski, Małgorzata Mazurek und Andrzej Zawistowski liefern substanzielle Einblicke in verschiedene, für die zeitgenössische Alltagserfahrung prägende Aspekte des spätsozialistischen Wirtschaftslebens, namentlich den Schwarzmarkt, den permanenten Mangel an Konsumgütern und die Rationierung von Grundnahrungsmitteln.54 Der dominanten Erfahrung politisch-gesellschaftlicher Brüche im spätsozialistischen Polen mag es geschuldet sein, dass explizit auf Kontinuitäten über die Zäsur von 1989 hinweg ausgerichtete zeithistorische Studien, wie sie für die Tschechoslowakei neuerdings mit einem Schwerpunkt auf ökonomisch-juristischen Expertenkulturen vorliegen,55 für Polen bisher nicht in Angriff genommen wurden.

Dem vergleichsweise dramatischen polnischen Ringen um Sozialismus und Demokratie sowie der relativen Regimeferne großer Teile der polnischen Soziologie ist es dagegen zu verdanken, dass die dortige Systemtransformation schon zeitgenössisch zu einem bevorzugten Studienobjekt der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde. Sowohl polnische Soziologen als auch westliche Bewegungsforscher wie Alain Touraine widmeten sich seit Beginn der 1980er-Jahre der Solidarność- und Oppositionsbewegung, und sie taten dies mit ebenso großem Engagement wie politischer Sympathie.56 Diese zeitgenössischen Studien können inzwischen zu Recht Klassikerstatus beanspruchen und stellen im Vergleich zu den im marxistisch-leninistischen Korsett gefangenen Gesellschaftswissenschaften anderer staatssozialistischer Länder ein polnisches Alleinstellungsmerkmal dar. Dem Historiker bieten sie mit ihrem Fokus auf gesellschaftliche Mobilisierungsprozesse und den Wandel ökonomischer und politischer Einstellungen wertvolles Quellenmaterial.

Zugleich markieren sie den Auftakt für eine Tradition politisch engagierter Sozialwissenschaft, die sich während der Wendejahre vor und nach 1989 keineswegs auf die Rolle des passiven Beobachters beschränkte, sondern den Wandel mit ihren Analysen und Deutungen aktiv mitzugestalten trachtete. Die in diesem Kontext entstandenen Ergebnisse der polnischen Soziologie57 und Politikwissenschaft58 sind insofern als Ausdruck zeitbedingter Wahrnehmungsmuster und Erkenntnisziele zu historisieren.59 Gleiches gilt für die größere Zahl zeitnah oder retrospektiv verfasster Berichte zentraler Akteure, von denen insbesondere die Tagebücher von Mazowieckis Wirtschaftsberater Waldemar Kuczyński und die umfangreichen publizierten Materialien des Ökonomen Stanisław Gomułka von großem Erkenntniswert sind.60 Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehören der kenntnisreiche kritische Rückblick auf die Wirtschaftspolitik der Transformationszeit aus der Feder des Wirtschaftswissenschaftlers Tadeusz Kowalik61 sowie die Standardwerke seines Fachkollegen Maciej Bałtowski zur Privatisierung und Transformation der Eigentumsstrukturen.62

Um die zumeist auf die Makroebene bezogene, normativ grundierte Perspektive der politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Transformationsforschung mit Wahrnehmungen »von unten« zu kontrastieren, bietet die anthropologische und alltagssoziologische Postsozialismus-Forschung wertvolle Anknüpfungspunkte.63 Wichtige Einsichten in die Erfahrungswelt und die betriebliche Praxis der Transformationszeit sind den Feldstudien von Elizabeth Dunn und David Ost zur polnischen Privatisierungs- und Gewerkschaftspolitik aus den 1990er-Jahren zu verdanken, aber auch einer Reihe neuerer polnischer Studien von Arbeitsgruppen um Joanna Wawrzyniak, Agata Zysiak und Kaja Kaźmierska zur Erinnerung (ehemaliger) Beschäftigter an den Wandel der betrieblichen Arbeitswelt.64 An diesen Forschungsstrang knüpft auch die jüngst erschienene vergleichende Mikrostudie eines Autorenkollektivs um Ulf Brunnbauer zur Transformation einer polnischen und einer kroatischen Werft an.65

Dagegen erweitern wissenssoziologische und ideengeschichtliche Studien zu den Hintergründen der wirtschaftlichen und sozialen Leitbilder der Transformationszeit die Perspektive in diachroner und räumlicher Hinsicht. Hier ist neben substanziellen Beiträgen zum Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus in Polen seit den 1980er-Jahren66 und zur Geschichte wirtschaftswissenschaftlichen Denkens in der Region67 die thesenstarke Studie von Johanna Bockman zu ostmitteleuropäischen Entstehungs- und Aneignungskontexten der neoklassischen Wirtschaftstheorie zu nennen.68 Während manche kritische sozialwissenschaftliche Studie zur polnischen Transformation ihrerseits nicht frei von reduktionistischen Prämissen ist,69 liegt mit der Dissertation von Dorothee Bohle eine umsichtige politikwissenschaftliche Analyse des Ineinandergreifens von internen und externen Faktoren im polnischen Transformationsprozess vor.70

Eine wesentliche Herausforderung für die noch junge Zeitgeschichte der Transformationszeit besteht darin, zwischen übergreifenden Epochendeutungen und lokalen Mikrostudien anthropologischen Zuschnitts einen neuen Blick auf die Transformationen im östlichen Europa zu entwickeln, der auf der Ebene des Nationalstaats als zentraler Ebene politischer und wirtschaftlicher Regelsetzung ansetzt und eine fruchtbare Verflechtung der national spezifischen gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Befunde mit transnationalen Kontexten ermöglicht. Nur ein solcher Balanceakt zwischen Vogelperspektive und empirischer Tiefenschärfe macht es möglich, die endogenen Wurzeln und Voraussetzungen des Wandels herauszuarbeiten, ohne zugleich exogene Einflussfaktoren und Rahmungen aus dem Blick zu verlieren.

Dieses Buch unternimmt den Versuch, sich der Transformation in Polen mit einem Fokus auf ihre in der Breite der Gesellschaft dominierenden ökonomischen Leitbilder zu nähern und den tiefgreifenden Wandel jener Übergangsepoche als ergebnisoffenen, vielfach widersprüchlichen und hochgradig situativ beeinflussten Prozess zu rekonstruieren. Es zieht die Befunde der sozialwissenschaftlichen Forschung als Quellen heran, stützt sich aber im Wesentlichen auf archivalische Quellen sowie auf eine umfangreiche Auswertung der zeitgenössischen Presse. Die Recherchen im Warschauer Archiv Neuer Akten (Archiwum Akt Nowych) konzentrierten sich vornehmlich auf die Hinterlassenschaften der wirtschaftspolitischen Abteilungen des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) und auf die Unterlagen des Ministerrats (Urząd Rady Ministrów, URM), die dort für die Zeit bis 1990 vorliegen. Für die Jahre 1990 – 1993 konnten weitere Materialien im Archiv des Ministerrats (ARM) eingesehen werden. In geringerem Umfang wurden Dokumente des staatssozialistischen Sicherheitsapparats herangezogen, die im Archiv des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) zugänglich sind. Ergänzt wurde die Quellenbasis durch punktuelle Recherchen in online zugänglichen Archivbeständen des Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie der polnischen Meinungsforschungsinstitute Ośrodek Badania Opinii Publicznej (OBOP) und Centrum Badania Opinii Społecznej (CBOS).

Der auf der Reflexion wirtschaftlicher Alltagserfahrungen beruhende Wandel ökonomischer Deutungen und Leitbilder spiegelt sich in besonderer Breite in der zeitgenössischen Presse wider. Für die Zeit bis 1989 gilt dies sowohl für die offiziell erscheinende Presse, die wirtschaftspolitische Debatten und Probleme trotz der Zensur in erstaunlicher Vielfalt abbildete, als auch für die im Untergrund publizierte oppositionelle Presse des sogenannten Zweiten Umlaufs (drugi obieg). Bei der Recherche war das Pressearchiv des Herder-Instituts in Marburg mit seiner systematisch sortierten Presseausschnittsammlung außerordentlich hilfreich; darüber hinaus wurden Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin, der Biblioteka Narodowa in Warschau und des zivilgesellschaftlichen »Karta«-Zentrums in Warschau konsultiert.

Die folgende Darstellung orientiert sich an der Chronologie der Ereignisse; zugleich lenkt jedes Kapitel den Blick auf eine bestimmte Problemkonstellation. So beginnt das erste Hauptkapitel mit einer knappen Darstellung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangssituation Polens am Ende der 1970er-Jahre, bevor es sich den ökonomischen Wertvorstellungen innerhalb der Solidarność-Bewegung von 1980 – 1981 und den damaligen, auf das Leitbild des Marktsozialismus gerichteten wirtschaftspolitischen Reformdebatten zuwendet. Anschließend verfolgt das zweite Kapitel, wie unter den Bedingungen des Kriegsrechts und in den Folgejahren marktliberale Stimmen innerhalb der Untergrundopposition an Resonanz gewannen. Dabei werden nicht zuletzt die Professionalisierung der alternativen Verlagsszene sowie der Boom privater »Polonia-Unternehmen« als erfahrungsbezogene Einflussfaktoren für die Wahrnehmung kleinkapitalistischen Wirtschaftens unter die Lupe genommen.

Im dritten Kapitel wird die Reichweite des schleichenden Paradigmenwechsels zugunsten des Marktes auf drei Ebenen ausgelotet. Neben den von Soziologinnen und Soziologen untersuchten Gerechtigkeitsvorstellungen in der polnischen Gesellschaft stehen hier die einschlägigen Debatten in parteinahen Kreisen sowie der zunehmende Einfluss wirtschaftsliberaler Stichwortgeber auf den Mainstream der Oppositionsbewegung im Mittelpunkt. Das darauffolgende vierte Kapitel wendet sich stärker der politischen Entscheidungsebene zu. Am Vorabend des Systemwechsels zeichneten sich mit der von der kommunistischen Regierung in Angriff genommenen »zweiten Etappe der Wirtschaftsreform« und dem gescheiterten Referendum von 1987 immer deutlicher die Bruchlinien zwischen Demokratisierung und ökonomischer Liberalisierung ab. Vor dem Hintergrund einer partiellen Konvergenz der wirtschaftspolitischen Positionen von Oppositions- und Parteieliten geht das Kapitel der Frage nach, inwieweit die polnischen Kommunisten am Ende der 1980er-Jahre einen »sozialistischen Thatcherismus« anstrebten.

Wie es im Zuge des ausgehandelten Systemübergangs zur Durchsetzung einer marktradikalen Schocktherapie kam, ist Gegenstand des fünften Kapitels. Dieses arbeitet deren Genese vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Dynamik des Jahres 1989 heraus und fragt nach dem Einfluss westlicher Berater und Finanzinstitutionen auf die Formulierung der polnischen Transformationsstrategie. Im abschließenden sechsten Kapitel richtet sich der Blick auf den Umgang mit dem bisherigen »Volkseigentum«, das erst im Laufe des Jahres 1989 in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, warum sich die Konflikte und Aushandlungsprozesse um die Privatisierung der staatseigenen Betriebe in Polen trotz der frühen Durchsetzung des Marktparadigmas bis in die Mitte der 1990er-Jahre hinzogen, während andere Transformationsstaaten des östlichen Europas vergleichsweise zügige Privatisierungsstrategien wählten. Das Buch endet mit einem resümierenden Ausblick auf die längerfristig wirksamen sozialen und kulturellen Frakturen, die auf die Schocktherapie zurückgingen und die seither von illiberalen Populisten als politische Ressource genutzt wurden – und werden.

1 Vgl. Weber: Der Polenmarkt in Berlin, S. 72.

2 Schlögel: Das Wunder von Nishnij, S. 276, 263.

3 C[laus] C[hristian] Malzahn: »Berlin, freie Stadt – Ha Ha!«, in: die tageszeitung vom 6. 3. 1989, S. 18. – Vgl. auch Weber: Der Polenmarkt in Berlin, S. 158 – 163.

4 Schlögel: Das Wunder von Nishnij, S. 263.

5 Bierzcie swój los w swoje ręce. Z Mieczysławem Wilczkiem, ministrem przemysłu, rozmawia Andrzej Mozołowski, in: Polityka, Nr. 48 vom 26. 11. 1988, S. 4. – Soweit nicht anders vermerkt, wurden alle polnischen Zitate vom Autor aus dem Original übersetzt. Bei polnischen Ortsnamen wurde, soweit deutsche Varianten geläufig sind, der Lesbarkeit der Vorzug gegeben.

6 Siehe Irek: Schmugglerzug, S. 14, 30; Klaus Bachmann: Ein Zug verschwindet hinter einer Nebelwand, in: die tageszeitung vom 3. 11. 1989, S. 10 f. – Vgl. zum deutsch-polnischen Schleichhandel vor 1989 die akribische Lokalstudie von Logemann: Das polnische Fenster, S. 265 – 334.

7 Vgl. Kurczewski / Cichomski / Wiliński: Wielkie bazary warszawskie, S. 24 f., 212; Grala: Rozwój turystyki handlowej, S. 111 – 113.

8 Mirosław Dzielski: Duch nadchodzącego czasu, in: »13«, 1984, Nr. 7/34, S. 1 – 9, Nachdruck in: ders.: Odrodzenie ducha, S. 249 – 264.

9 Der im August 1989 eröffnete Basar hieß zunächst »Jarmark Saski«, also Sächsischer Jahrmarkt, und ließ damit an die Wendung »na saksy« denken, die im Polnischen pars pro toto für Saisonarbeit in Deutschland und überhaupt im Ausland verwendet wird. Die Umbenennung in »Jarmark Europa« erfolgte 1996. – Vgl. Kurczewski / Cichomski / Wiliński: Wielkie bazary warszawskie, S. 210 f.

10 Vgl. etwa Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft.

11 Die Solidarność gab ihre Mitgliederzahl zeitgenössisch mit zehn Millionen an, was in der Historiografie oft unkritisch übernommen wird. Tatsächlich dürften es etwas weniger gewesen sein. Zum Zeitpunkt des Gewerkschaftstags im September 1981 zählten die Regionalverbände zusammen knapp 9,5 Millionen Mitglieder. Die Größenordnung sieben bis acht Millionen geht auf den Soziologen Jacek Kurczewski zurück, der 1981 für die Mitgliederzählung der Gewerkschaft zuständig war, und wird von den Ergebnissen retrospektiver sozialwissenschaftlicher Befragungen von 1984 bestätigt. – Siehe Członkowie »Solidarności« / w tys. osób/, in: AS. Agencja Prasowa Solidarności. Biuletyn Pism Związkowych i Zakładowych [künftig: AS], Nr. 38 vom 14. – 20. 9. 1981, S. 1; Kurczewski: Ścieżki emancypacji, S. 251; Wenzel: Estimating Trade Union Membership, S. 187.

12 In staatssozialistischen Ökonomien wurde die Wirtschaftsleistung anders berechnet als im Westen. Der Einbruch von 23,5 Prozent bezieht sich auf das produzierte Nationaleinkommen (dochód narodowy wytworzony), wohingegen das verteilte Nationaleinkommen (dochód narodowy podzielony) im selben Zeitraum sogar um 27,5 Prozent zurückging. – Siehe Grala: Reformy gospodarcze, S. 39.

13 Siehe Engler: Die Ostdeutschen, S. 173 – 208.

14 Mit dem Begriff der »Industriemoderne« folge ich Dipper: Moderne. – Christof Dippers Begriff nimmt wiederum Lutz Raphaels kulturgeschichtliche Anreicherung des von Ulrich Herbert vorgeschlagenen Konzepts der »Hochmoderne« auf. Vgl. Raphael: Ordnungsmuster der »Hochmoderne«?; Herbert: Europe in High Modernity.

15 Vgl. Bartel: Triumph of Broken Promises, S. 201 – 232.

16 Stenografische Niederschrift des Gesprächs zwischen dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Erich Honecker, und dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und Vorsitzenden des Staatsrates der Volksrepublik Polen, Wojciech Jaruzelski, am 16. September 1987 im Jagdschloß Hubertusstock, BArch-SAPMO, DY 30/2479, Bl. 195 – 257, hier Bl. 237 f., 215 f.

17 Vgl. auch die grundsätzlichen Überlegungen zur prekären Abgrenzung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bei Dejung: Einbettung.

18 Vgl. Doering-Manteuffel: Deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, S. 324.

19 Vgl. einführend Merkel: Systemtransformation; Segert: Transformationen in Osteuropa; stellvertretend für die angelsächsische Forschung Åslund: Building Capitalism.

20 Für eine wortmächtige Kritik der Transformationsforschung aus alltags- und kulturgeschichtlicher Perspektive siehe Schlögel: Bilder einer Ausstellung.

21 Vgl. etwa Dobry: Paths, Choices, Outcomes, and Uncertainty; für die Forschungsrichtung der Varieties of Capitalism grundlegend Hall / Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism; mit Blick auf Osteuropa Bohle / Greskovits: Capitalist Diversity on Europe’s Periphery.

22 Garton Ash: Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 348.

23 Ther: Die neue Ordnung, S. 28.

24 Vgl. ebd., S. 80.

25 Ebd., S. 26 – 29.

26 Vgl. den systematisierenden Überblick bei Wagener: Transformation als historisches Phänomen.

27 Vgl. Pollack: Das unzufriedene Volk, S. 13; zur ideengeschichtlichen Genealogie des eng verwandten Konzepts der »transition« Guilhot: »The Transition to the Human World of Democracy«.

28 Rodgers: Age of Fracture.

29 Vgl. ebd., S. 247 – 255.

30 Vgl. für Ostdeutschland Böick: Berater in »blühenden Landschaften«.

31 So eher deklamatorisch bei Friszke: Rewolucja Solidarności; konzeptionell fundiert bei Kozłowski: Anatomia rewolucji, insbes. S. 8 – 35; mit Blick auf die geschichtskulturelle Dimension Peters: Revolution der Erinnerung, S. 443 – 466.

32 Vgl. Przeperski: Sytuacja nierewolucyjna.

33 Vgl. die explorative Annäherung bei Wedel: Collision and Collusion, S. 45 – 82.

34 So in der als dogmatisch-nationalkommunistisch verschrienen Wochenzeitung Rzeczywistość, Nr. 24 vom 14. 6. 1987, S. 1.

35 Alexijewitsch: Secondhand-Zeit.

36 Piątkowski: Europe’s Growth Champion.

37 Siehe zum Folgenden ausführlicher Peters: »Nach 1989 wurde nur die Dekoration geändert«; vgl. auch Bernhard / Kubik: Roundtable Discord; Janiszewski: Historiograficzne interpretacje przemian ustrojowych.

38 Ireneusz Krzemiński: Dlaczego jest tak źle, skoro jest tak dobrze? Kilka uwag o opozycji w bieżącej sytuacji, in: Tygodnik Solidarność, Nr. 1 vom 2. 6. 1989, S. 11.

39 Vgl. das gleichlautende Plädoyer von Przeperski / Wicenty: Nie tylko historia polityczna.

40 Siehe Kurczewski: Ścieżki emancypacji, S. 248 f. – Anders als national-katholische Stimmen, die Johannes Paul II. zum globalen Bezwinger des Kommunismus verklären, führt Kurczewski die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in dieser Zeit allerdings nicht ursächlich auf das Pontifikat Wojtyłas zurück.

41 Vgl. Poznański: Poland’s Protracted Transition; Pula: Globalization under and after Socialism.

42 Vgl. Drenda: Duchologia polska, S. 13 f.

43 Vgl. Grala: Rozwój turystyki handlowej, S. 109; Makowski: Świątynia konsumpcji; Ther: Die neue Ordnung, S. 205 – 214.

44 Vgl. Brüggemeier: Grubengold, Tabelle 4, S. 453.

45 Bösch: Zeitenwende 1979.

46 Vgl. (mit Blick auf Westeuropa) Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl, S. 475 – 477.

47 Ther: Die neue Ordnung; zuvor bereits Wirsching: Der Preis der Freiheit, S. 27 – 152.

48 Mark u. a.: 1989. A Global History.

49 Den Maßstab setzen hier die monumentalen und quellengesättigten Werke von Andrzej Friszke, siehe u. a. Friszke, Andrzej: Czas KOR-u; ders.: Rewolucja Solidarności.

50 Siehe u. a. Kenney: Carnival of Revolution; Dudek: Reglamentowana rewolucja; Skórzyński: Rewolucja Okrągłego Stołu; Kowal: Koniec systemu władzy.

51 Siehe aber Knoch: Pisma liberalne; Dudek: Od Mazowieckiego do Suchockiej.

52 Grala: Reformy gospodarcze.

53 Siehe etwa Luszniewicz: Koncepcje ekonomiczne »Solidarności«.

54 Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft; Mazurek: Społeczeństwo kolejki; Zawistowski: Bilety do sklepu.

55 Kopeček (Hg.): Architekti dlouhé změny.

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