Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher - Hannah Arendt - E-Book

Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

Spätestens durch ihre Berichterstattung vom Prozeß gegen Adolf Eichmann und ihr Buch »Eichmann in Jerusalem« wurde sie weltbekannt. Doch schon die junge Hannah Arendt war in ihrem politischen Denken und Handeln eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Beiträge für den »Aufbau«, die in New York publizierte Zeitung des »German Jewish Club« für deutsche Emigranten, zeigen sie als wache Zeitzeugin und als engagierte Vertreterin des jüdischen Freiheitskampfes. Die Herausgeberin Marie Luise Knott hat die Texte ausführlich kommentiert und deren Bedeutung in ihrem Nachwort gewürdigt. »Arendts Kommentare zum Zeitgeschehen sind voller Leidenschaft und Verstandesschärfe.« Süddeutsche Zeitung

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Der Abdruck des Textes »Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?« in der Übersetzung von Eike Geisel erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Edition Tiamat, Berlin, bei der die Rechte an der Übersetzung liegen (vgl. dazu auch Kapitel »Vorbemerkung« und das Literatur- und Quellenverzeichnis).

 

© der Texte von Hannah Arendt: Hannah Arendt Bluecher Literatury Trust, New York 2000

Deutschsprachigen Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2000

Herausgegeben von Marie Luise Knott

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Ricarda Schwerin, Jerusalem

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

Vorbemerkung

I Der jüdische Krieg, der nicht stattfindet

»Aufbau«-Texte Oktober 1941 bis November 1942

Der Dank vom Hause Juda?

Die jüdische Armee – der Beginn einer jüdischen Politik?

Aktive Geduld

Ceterum Censeo …

Ein erster Schritt

Wer ist das »Committee for a Jewish Army«?

Moses oder Washington[36]

Cui Bono?[37]

Papier und Wirklichkeit

Ganz Israel bürgte füreinander

Des Teufels Redekunst

Die »sogenannte Jüdische Armee«

Ein christliches Wort zur Judenfrage

»Keinen Kaddisch wird man sagen«

Mit dem Rücken an der Wand

Wenn man dem kleineren Übel nicht widersteht

Für und gegen Paul Tillich[63]

Pro:

Konfusion

Die Rückkehr des russischen Judentums

I

II

Was geht in Frankreich vor?

Die Krise des Zionismus

I

II

III

II Zwischen Schweigen und Sprachlosigkeit

»Aufbau«-Texte Februar 1943 bis März 1944

Französische politische Literatur im Exil

I

II

Die wahren Gründe für Theresienstadt

Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?[93]

I

II

III Die politische Organisation des jüdischen Volkes

»Aufbau«-Texte April 1944 bis April 1945

Für Ehre und Ruhm des jüdischen Volkes

USA – Öl – Palästina

Balfour-Deklaration und Palästina-Mandat

Das Ende eines Gerüchts

Sprengstoff-Spießer

Gäste aus dem Niemandsland

Das neue Gesicht eines alten Volkes

Die Tage der Wandlung

Eine Lehre in sechs Schüssen

Neue Vorschläge zur jüdisch-arabischen Verständigung

Die jüdischen Partisanen im europäischen Aufstand

Von der Armee zur Brigade

»Frei und demokratisch«

Die Entrechteten und Entwürdigten

Völkerverständigung im Nahen Osten – eine Basis jüdischer Politik

Die jüdischen Chancen: Geringe Aussichten – gespaltene Vertretung

Nachwort der Herausgeberin

Von der Philosophie in die Politik

Der »Aufbau« – vom New Yorker Vereinsblatt zum weltweiten deutsch-jüdischen Forum

Der Freiheitskampf des jüdischen Volkes

Die Jungjüdische Gruppe – eine Neuorientierung jüdischer Politik

Die Bedrohung des Politischen – Von der Politik zur politischen Theorie

… nur noch auf dem Monde sicher

Anhang

Zur Minderheitenfrage

I

II

III

IV

V

VI

Anmerkungen

Literatur- und Quellenverzeichnis

Namenregister

Vorwort zur Neuausgabe

Der erste Beitrag, der im Oktober 1941 in der deutsch-englischen, jüdisch-deutschen Wochenzeitung »Aufbau« erschien, war rein förmlich betrachtet eine Reaktion. Ein offener Brief. Eine europäische Jüdin antwortet auf einen Aufruf eines europäischen Juden in einer europäischen Zeitung, die in New York erscheint. Der zweite Text war ein eigenständiger Aufruf zum bewaffneten Kampf der Juden aus aller Welt gegen Hitler, ein Aufruf zum Handeln also. Ein Aufruf dazu, Verantwortung zu übernehmen. Denn es ist »die Funktion jeden Handelns, im Unterschied zu einem bloß reaktiven Sichverhalten (behavior), Prozesse zu unterbrechen, die sonst automatisch und damit voraussagbar verlaufen würden.«

Ein derartiges Unterbrechen von Prozessen prägt die in diesem Band versammelten Texte, welche zwischen 1941 und 1945 im »Aufbau« erschienen, der sich damals als Sprachrohr, Sammelbecken, Forum und schwarzes Brett aller deutschsprachigen Juden in der »freien« Welt verstand. Und von New York aus auch in alle freien Länder verkauft wurde. Für Hannah Arendt war die Zeitung damals wohl beides: Einerseits las sie hier die so dringend benötigten Nachrichten aus aller Welt, vor allem zur Judenpolitik, versteht sich, insofern war der »Aufbau« eine wichtige Verbindung zum Weltgeschehen. Gleichzeitig brachte Arendt durch ihre Texte im »Aufbau« ihrer Mitwelt ihre eigenen Reflektionen und Einmischungen zu Gehör, noch bevor sie in anderen jüdischen und politischen Zeitschriften zu publizieren begann.

Nicht nur im »Aufbau« wurde diese Stimme, die den Zusammenbruch der »Alten Welt« reflektierte, schnell willkommengeheissen; und diese Willkommenskultur war keineswegs ein Ergebnis barmherziger Solidarität, sondern entsprang der Erkenntnis einer gemeinsamen, ja geteilten geistigen Not der Zeit. »I believe you have a great deal to teach us here in America; and with a little such expert collaboration (...) you’ll make more than one home run (as our saying is).« so formulierte es Henry Hurwitz von der Zeitschrift The Menorah Journal: Mit etwas sprachlicher Expertenhilfe werden Sie es hier weit bringen. Zeitgleich zu dieser Kolumne veröffentlichte Arendt mithilfe von englischen Muttersprachlern, die ihre Texte übersetzten oder ihr »Denglisch« verenglischten, in verschiedenen amerikanisch-jüdischen Zeitschriften längere, meist historische Abhandlungen: in den Jewish Social Studies, dem The Menorah Journal ebenso wie in der vom American Jewish Committee herausgegebenen Zeitschrift Commentary, um nur die wichtigsten zu nennen – Studien zur Bedeutung der Dreyfuss-Affaire, zu den Cremieux-Dekreten, zu Rassismus und zur Minderheitenfrage. Das Wissen und das Nachdenken, das sie sich hier, also in der »Aufbau«-Kolumne erarbeitete, ist zudem der solide Grundstock für ihren großen Essay »Zionism reconsidered« (dt. »Der Zionismus aus heutiger Sicht«), der bei seinem Erscheinen viel Aufsehen erregte – sowohl helle Zustimmung als auch heftige Ablehnung provozierte, und der ohne die Beiträge im »Aufbau« wohl nie in der gedanklichen Festigkeit möglich gewesen wäre.[1]

 

Im Jahr 2000 habe ich Arendts »Aufbau«-Beiträge für diesen Band erstmals in rein chronologischer Anordnung versammelt; für die vorliegende Neuausgabe wurde diese Sammlung um einen damals fehlenden Text (»Gäste aus dem Niemandsland«) ergänzt. Sicher – es hat im »Aufbau« noch sieben weitere Texte gegeben, die Hannah Arendts Namen tragen, doch bei diesen handelt es sich nicht um »Denkstücke«, sondern zumeist um Berichte und Aufrufe, die sie gemeinsam mit anderen aus tagespolitischen Anlässen verfasste. Die hier versammelten Beiträge sind von heute aus gesehen Aufrufe, sich mit Mut und Geistesgegenwart noch den finstersten Zeiten auszusetzen, Aufrufe dazu also, den eigenen Kopf zu gebrauchen und das Wort zu ergreifen, gerade auch gegen das Ausbreiten von Angst und Verlassenheit.

 

Berlin, Februar 2019 Marie Luise Knott

[1]Siehe hierzu die Sammlung ihrer Schriften zur Judenfrage: Hannah Arendt, Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966. Übungen im politischen Denken III, Herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz, München-Zürich: Piper, 2019.

Vorbemerkung

Die in diesem Band versammelten Texte schrieb die Philosophin Hannah Arendt, die 1941 aus Frankreich nach Amerika floh, zwischen 1941 und 1945 für den »Aufbau«. Die deutsch-jüdische Exilzeitung erschien in New York und fungierte als Sprachrohr, Sammelbecken und Forum aller deutschsprachigen Juden in der »freien« Welt. Für Hannah Arendt war es nach ihrer Ankunft in Amerika schwierig, im intellektuellen Leben Fuß zu fassen. Bald war der »Aufbau« ihre zentrale Verbindung zum Weltgeschehen: Durch ihn erfuhr sie, was in Europa, Palästina und Amerika geschah, und in seinen Spalten brachte sie sich selber der Mitwelt zu Gehör. Im »Aufbau« galt noch die vertraute deutsche Sprache.

Die Texte aus dem »Aufbau« sind nahezu Arendts einzige tagespolitischen Äußerungen der damaligen Zeit. Ihre politischen Positionen sind durch die Veröffentlichungen einzelner Texte[1] in Teilen bereits bekannt. Doch erst die chronologische Anordnung mitsamt der zeithistorischen Einbettung ermöglicht Einsichten in die Entstehung ihrer späteren politischen Theorie und in den Prozeß ihres politischen Denkens. Ferner erschließt sich durch diese Texte der Weg Hannah Arendts von der biographischen Studie über Rahel Varnhagen, die sie 1938 abschloß, hin zu der scharfsinnigen historisch-politischen Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die 1951 in New York erschien. Gerade durch ihre herausragende Geistesgegenwart – so erkennen wir – konnte sie fernab von Deutschland und der Sowjetunion Ende der vierziger Jahre zu einer derart luziden Erkenntnis über den Wirkmechanismus totalitärer Regime gelangen.

Doch zuvorderst sind die »Aufbau«-Texte der öffentliche Anfang der politischen Theorie, die Arendts Lebenswerk prägen wird: der Theorie des politischen Handelns. »Der Sinn von Politik ist Freiheit.« Sie hat die Freiheit in jener Zeit bei den Zionisten und in der Jungjüdischen Gruppe gesucht. Daß sie als Essayistin und Kolumnistin das Ideal der freien politischen Existenz – nämlich Demokratie und Meinungsstreit – so ernst nahm, wie die Politiker sie nie gemeint hatten, war anstößig, zumal in einer Welt, deren menschlicher Grundbestand durch Angst und Terror erschüttert war.

Selbst heute, sechzig Jahre danach, besitzen die Texte neben der zeithistorischen eine aktuelle Relevanz, insofern ihre Positionen, kraftvoll allen eingefahrenen Täter-Opfer-Dichotomien entgegenlaufend, das Ringen um eine politische Strategie im Kampf um Freiheit und Demokratie belegen. Hannah Arendts Denken birgt Hellsichtigkeiten ebenso wie Blindheiten. Hellsichtig etwa ahnte sie voraus, was nach der Gründung Israels geschah: Was es bedeutet, wenn man mit den Nachbarn nicht in Frieden zu leben versucht, wenn man statt dessen auf den Einfluß der Großmächte setzt … Eindringlich drängte sie deshalb 1945 auf die Gründung einer Föderation aller Mittelmeerstaaten. Zu den historischen Blindheiten dürfte gehören, daß sie der Stalinschen Nationalitätenpolitik Glauben schenkte und die Unfreiheit in der Sowjetunion in ihren Texten der damaligen Zeit nicht thematisierte.

»Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher« – dieses im Duktus recht typische, titelgebende Zitat ist ein Einwand: ironisch, rhetorisch, fast ein Nachsatz und doch eine ernste und grundsätzliche Kritik an der Vorstellung der Zionisten, wenn es erst einen jüdischen Staat gäbe, könne man dort vor Antisemitismus sicher sein. Doch dieser Nachsatz hat ironischerweise noch einen anderen Aspekt, denn Hannah Arendt erfuhr spätestens mit der Eichmann-Kontroverse am eigenen Leibe, daß auch sie – obwohl Jüdin – vor dem Vorwurf des Antisemitismus »nur auf dem Monde« sicher sein konnte.

Die vorliegenden Texte hat Hannah Arendt auf deutsch verfaßt, lediglich der zweiteilige Beitrag »Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?« aus dem Jahr 1943 wurde in englischer Sprache veröffentlicht. Die ursprüngliche deutsche Übersetzung von Eike Geisel[2] habe ich an einzelnen Stellen revidiert.

In den Anhang habe ich einen Text aufgenommen, den Hannah Arendt 1940 noch in Paris verfaßt hat. Auf dem Manuskript ist handschriftlich vermerkt, es handele sich um die Kopie eines Briefes an den Juristen Erich Cohn-Bendit, mit dem sie in der Pariser Zeit eng befreundet war. Dieses Memorandum dokumentiert präzise die politische Haltung, mit der Hannah Arendt 1941 Frankreich verließ und in New York ankam.

Bei der Erstellung der Anmerkungen habe ich mich darauf beschränkt, unmittelbare Anspielungen aus den Texten zu erläutern und dem Leser jene Bezüge und Hintergründe ins Bewußtsein zu rücken, welche für Hannah Arendt damals selbstverständlich Teil ihrer Gegenwart waren.

Mein besonderer Dank für die Überlassung von Materialien, für Hinweise und Hilfestellungen gilt Christiane Böhler-Auras (Berlin), Cecilia Gallagher (Washington), Bernd Oberschlick (Wien), Iris Pilling (Wiesbaden), die als erste jene politische Zeit im Leben Hannah Arendts systematisch untersucht hat, sowie der Library of Congress und dem Hannah Arendt Zentrum an der Universität Oldenburg. Ferner danke ich für Anregungen Bernd Cornely, Antonia Grunenberg, Wolfgang Heuer, Niels Kadritzke, Ursula Ludz, Ingeborg Nordmann und Uta Ruge.

 

Berlin, im Frühjahr 2000

Marie Luise Knott

I Der jüdische Krieg, der nicht stattfindet

»Aufbau«-TexteOktober 1941 bis November 1942

Der Dank vom Hause Juda?

Offener Brief an Jules Romains 24. Oktober 1941

Sehr geehrter Herr Romains,

es liegt mir ganz fern, mich in die Streitigkeiten der verschiedenen P.E.N.-Clubs oder in die Differenzen, die einige Mitglieder dieser Organisation untereinander zu haben scheinen, irgendwie einzumischen. Aber in Ihrem offenen Brief an Herrn Ferdinand Bruckner (»Aufbau« vom 17. Oktober[3]) kommen Sie merkwürdigerweise auf eine Sache zu sprechen, die diesen Streit der hohen Priester auch dem ganz laizistischen Kreis jüdischer Flüchtlinge sehr interessant macht. Sie beklagen sich nämlich laut und vernehmlich über die Undankbarkeit der Juden, für die Sie doch so viel getan haben. Nun sind wir Juden, wie Sie selbst mehrmals andeuten, in der Welt nicht sehr beliebt, und es wird sicher viele unter uns sehr traurig stimmen, wieder einmal einen Protektor verloren oder doch zum mindesten verärgert zu haben. Es wird aber auch einige unter uns geben, denen beim Lesen Ihrer Worte nicht die Trauer ans Herz, sondern die Schamröte ins Gesicht steigt. Ich würde mich freuen, wenn die folgenden Überlegungen Ihnen zeigen könnten, daß es auf diese Einigen unter uns allein ankommt – auf die Gefahr hin, daß Sie nie wieder einem jüdischen Kollegen das Visum für die Flucht oder die Genehmigung eines Innenministeriums für die Befreiung aus dem Konzentrationslager besorgen werden.

Um mit dem zu beginnen, was Sie glauben, für die Juden getan zu haben. Da ist erst einmal die von Ihnen beschriebene skandalöse Geschichte auf dem Prager Kongreß, auf dem Wells[4] sich weigerte, einer Resolution gegen Antisemitismus zuzustimmen, und Sie diese Resolution durchgesetzt und damit nach Ihrer eigenen Meinung die Ehre des P.E.N.-Clubs gerettet haben. Wofür soll man da eigentlich dankbar sein? Sie haben diesen politischen Schritt doch zweifellos nicht um der verfolgten Juden in Deutschland willen, denen diese Resolution weder nützen noch schaden konnte, noch gar um der jüdischen Mitglieder des P.E.N.-Clubs willen unternommen. Sondern einzig und allein darum, weil Sie der Meinung waren, daß Antisemitismus eine ungerechte und schlechte, ignoble und das politische Leben der Völker vergiftende Politik ist, also um Ihrer eigenen Ehre willen und um des Rufes der von Ihnen vertretenen Organisation. Die jüdischen Mitglieder der deutschen Sektion waren wahrscheinlich damals noch der Meinung, die sich inzwischen als irrig herausgestellt hat, daß sie in dieser Organisation als Vertreter des antifaschistischen deutschen Schrifttums gelten, und nicht als Schutzjuden, die unter Protektion stehen; und daß sie in Ihnen einen Mitkämpfer und Verbündeten erblicken können, und nicht einen Wohltäter.

Das Gleiche gilt mutatis mutandis von den Juden, denen Sie zu französischen Visen oder zur Erlangung einer kurzen Freiheit aus französischen Konzentrationslagern verholfen haben. Zufällig kannte ich einen dieser Glücklichen sehr gut. Wir haben auf Grund Ihres Beispiels uns oft darüber unterhalten, daß es ein gutes Zeichen für die Lebendigkeit des französischen Geistes ist, daß die französischen Schriftsteller über alle politischen Differenzen und Gefahren des Augenblicks hinweg noch Kollegialität üben könnten; in Frankreich schien gerade darum Europa noch nicht gestorben. Weder er noch ich hätten uns in diesen Gesprächen träumen lassen, daß dabei von Dankbarkeit hätte die Rede sein können.

Es spricht nicht gegen, es spricht für diese Juden, nicht für ihre Feigheit, sondern für ihren Mut, wenn diese Parias der ganzen Welt es wagten, sich gegen oder jedenfalls nicht für ihren Wohltäter einzusetzen, als sie mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren. Man mag zu der »Erstickungspolitik« stehen, wie man will, einige Kronzeugen, die Sie für Ihre Sache beibringen, können nur den beeindrucken, der französische politische Verhältnisse nicht kennt. Man soll gewiß dem toten Löwen keinen Fußtritt geben, aber man soll doch auch beileibe nicht vergessen, daß es Daladiers[5] enger Freund und späterer Propaganda-Minister Giraudoux war, der mit den »Pleins Pouvoirs«[6] zum ersten Mal seit der Dreyfus-Affäre den Antisemitismus wieder in Frankreich salonfähig machte; und daß es Sarrauts[7] zynischer und ganz ungeniert antisemitischer Erfindungsgabe zuzuschreiben ist, wenn heute Tausende junger jüdischer Menschen in der Sahara zugrunde gehen, nämlich unter der furchtbaren Zauberformel: libéré sous condition d’engagement dans la Légion Etrangère.[8]

Was nun uns Juden angeht und was uns in dieser ganzen Geschichte zum hundertsten Male die Schamröte ins Gesicht treibt, ist die verzweifelte Frage: Gibt es für uns wirklich nur die Alternative zwischen übelwollenden Feinden und leutseligen Freunden? Gibt es für uns nirgends echte Verbündete, die weder mitleidig noch bestochen verstehen, daß wir nur das erste europäische Volk waren, dem Hitler den Krieg angesagt hat? Daß in diesem Krieg unsere Freiheit und unsere Ehre genau so auf dem Spiel steht wie Freiheit und Ehre des Volkes, dem Jules Romains zugehört? Und daß uns die leutselige Geste wie der arrogante Anspruch auf Dankbarkeit von seiten eines Protektors tiefer treffen als die offene Feindschaft der Antisemiten?

Eine Antwort auf diese Fragen würde den Rahmen dieses Briefes sprengen und Sie schwerlich interessieren. Darf ich nur zum Schluß – um Mißverständnisse zu vermeiden – Ihnen die Haltung Clemenceaus[9] in der Dreyfus-Affäre ins Gedächtnis rufen? Clemenceaus, des einzigen, der in dieser ekelhaften gesellschaftlichen Skandalgeschichte, in welcher nach einem Worte Halévys[10] zwei Lügen miteinander stritten, um den Bestand seiner eigenen Sache, der Dritten Republik, gefochten hat, als er für den verurteilten Juden das Wort ergriff, und der niemals Dankbarkeit von jenen Juden erwartete, deren Feigheit er unzählige Male denunzierte und verachtete; der nämlich begriffen hatte, daß es in einem politischen Kampfe nur Feinde oder Freunde gibt, aber keine Wohltaten und keine Schützlinge. »Un des ennuis de ceux qui luttent pour la justice c’est d’avoir contre eux avec la haine des oppresseurs, l’ignorance, la faiblesse et trop souvent le lâche coeur des opprimés.«[11]

Die jüdische Armee – der Beginn einer jüdischen Politik?

14. November 1941

Die zionistischen Organisationen Amerikas haben anläßlich des Gedenktages der Balfour-Deklaration[12] in aller Öffentlichkeit die Forderung einer jüdischen Armee zur Verteidigung Palästinas erhoben. Forderungen und Resolutionen einer politischen Avantgarde, die nicht unmittelbar den Willen der Gesamtheit ausdrückt, können nur dann schöpferische Politik werden, wenn es gelingt, durch sie weite Kreise des Volkes zu mobilisieren. Gelingt das nicht, so gehen die besten Programme und die richtigsten Entschlüsse ein in die papierne Geschichte der verfehlten und verspielten Möglichkeiten. Was heute noch die isolierte Forderung der palästinensischen Judenheit und ihrer Vertretung im Ausland ist, muß morgen der lebendige Wille großer Teile des Volkes werden, als Juden, in jüdischen Formationen, unter jüdischer Flagge den Kampf gegen Hitler aufzunehmen. Die Verteidigung Palästinas ist ein Teil des Kampfes um die Freiheit des jüdischen Volkes. Nur wenn das jüdische Volk bereit ist, diesen Kampf ganz aufzunehmen, wird es auch Palästina verteidigen können.

Der jüdische Lebenswille ist berühmt und berüchtigt. Berühmt, weil er einen in der Geschichte europäischer Völker verhältnismäßig langen Zeitraum umspannt. Berüchtigt, weil er in den letzten 200 Jahren zu etwas ganz Negativem zu entarten drohte: zu dem Willen, um jeden Preis zu überleben. Unser nationales Elend beginnt mit dem Zusammenbruch der Sabbatai-Zwi-Bewegung[13]. Seither haben wir Dasein als solches, ohne nationalen und meist auch ohne religiösen Inhalt, als Wert an sich proklamiert. Das jüdische Volk begann einem Greise zu ähneln, der im Alter von 80 Jahren mit sich selbst die Wette abschließt, es auf 120 Jahre zu bringen, und der nun mit Hilfe einer ausgeklügelten Diät und unter Vermeidung jeder Bewegung mit dem Leben abschließt, um sich dem Überleben zu widmen; so lebt er von einem Geburtstag zum anderen und freut sich auf diesen einen Tag des Jahres, an dem er den erstaunten und nicht mehr ganz wohlwollenden Verwandten zurufen kann: Siehst Du, ich habe es wieder mal geschafft. Hitler ist augenblicklich damit beschäftigt, diesem Greis das Lebenslicht auszublasen. Es ist unser aller Hoffnung, daß er sich irrt: daß er es nicht mit Greisen, sondern mit Männern und Frauen eines Volkes zu tun bekommt.

Eine jüdische Armee ist keine Utopie, wenn Juden aller Länder sie verlangen und bereit sind, in sie als Freiwillige einzutreten. Utopisch aber ist die Vorstellung, wir könnten in irgendeiner Weise von der Niederlage Hitlers profitieren, wenn diese Niederlage nicht auch uns verdankt ist. Nur der wirkliche Krieg des jüdischen Volkes gegen Hitler wird dem phantastischen Gerede von dem jüdischen Krieg ein Ende – und ein würdiges Ende bereiten. Freiheit ist kein Geschenkartikel, lautet eine alte und sehr zeitgemäße zionistische Weisheit. Freiheit ist auch keine Prämie für ausgestandene Leiden.

Eine dem jüdischen Volk unbekannte Wahrheit, die es erst zu lernen beginnt, ist, daß man sich nur als das wehren kann, als was man angegriffen wird. Ein als Jude angegriffener Mensch kann sich nicht als Engländer oder Franzose wehren. Alle Welt kann daraus nur schließen, daß er sich eben nicht wehrt. Gelernt haben diese Regel des politischen Kampfes vielleicht jene Zehntausende französischer Juden, die auch Angst vor dem »jüdischen Krieg« hatten und glaubten, sich als Franzosen wehren zu müssen, um von ihren französischen Kampfgenossen getrennt in jüdischen Gefangenenlagern in Deutschland zu enden. Sicher gelernt haben es die Scharen jüdischer Freiwilliger, die glaubten, als Fremdenlegionäre der verschiedensten Abschattung ihren Kampf gegen Hitler mit dem Kampf um die Naturalisation verbinden zu können, und die heute in den französischen Internierungslagern sitzen oder beim Bau der Sahara-Bahn beschäftigt werden. Sie können noch von Glück sagen, wenn sie nicht direkt im Kampf gegen England und Rußland eingesetzt werden.

Wie im menschlichen Leben die Fixierung an einen Menschen das Zerrbild und der Ruin der Freundschaft ist, so ist in der Politik die bedingungslose Identifikation der eigenen Sache mit der Sache eines anderen das Zerrbild und der Ruin des Bündnisses. Das wissen die Juden in Palästina, die sich dagegen sträuben, in der englischen Sache ihre eigene Sache verschwinden zu lassen – und doch nichts sehnlicher wünschen, als den Engländern wirklich zu helfen. Sie wissen, daß sie weder sich noch dem englischen Volk helfen können, wenn sie nicht als Juden, in jüdischen Formationen, unter jüdischer Flagge, allen weithin sichtbar als Verbündete Englands sich für sich selbst schlagen.

Juden sind heute wie besessen von der fixen Idee ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. Teils hoffen sie damit noch einmal von der Bühne der Politik abtreten zu können, teils sind sie ehrlich verzweifelt, einer machtlosen und anscheinend völlig entpolitisierten Gruppe zuzugehören. Auch wir sind von der Krankheit, die die europäischen Völker befallen hatte, nicht verschont geblieben: von der Verzweiflung, der zynischen Enttäuschung und der eingebildeten Hilflosigkeit.

Der Sturm, den die Bildung einer jüdischen Armee mit Freiwilligen aus der ganzen Welt in unseren eigenen Reihen entfesseln wird, wird dem ehrlich Verzweifelnden klar machen, daß auch bei uns nur mit Wasser gekocht wird; daß es auch bei uns Politik gibt, wenn man sie sich auch meist mühevoll aus den dunklen Chiffern der Notabeln-Petitionen und der Wohltätigkeitsvereine zusammenbuchstabieren muß, und wenn diese Politik es auch besonders gut verstanden hat, das Volk der Politik zu entfremden. Wir sind aber keineswegs die Einzigen, die von einem plutokratischen Regime bis an den Abgrund des Verderbens geführt wurden. Der Krieg ist eine zu ernste Sache, meinte Clemenceau, um ihn den Generälen überlassen zu können. Nun, die Existenz eines Volkes ist bestimmt eine zu ernste Sache, als daß man sie reichen Männern überlassen könnte.

Die Bildung einer jüdischen Armee wird nicht in geheimen Besprechungen mit Staatsmännern und nicht auf dem Wege der Petition einflußreicher Juden entschieden werden. Wir werden diese Armee nie bekommen, wenn das jüdische Volk sie nicht fordert und wenn nicht Hunderttausende bereit sind, mit der Waffe in der Hand um ihre Freiheit und um das Lebensrecht des Volkes zu kämpfen. Nur das Volk selbst, jung und alt, arm und reich, Männer und Frauen, kann die öffentliche Meinung, die heute gegen uns ist, umstimmen; denn nur das Volk selbst ist stark genug für ein wirkliches Bündnis.

Aktive Geduld

28. November 1941

Die englische Regierung hat wieder einmal die Bildung einer jüdischen Armee abgelehnt. England ist also noch nicht bereit, die Sache der Freiheit ganz und gar zu der seinen zu machen. Und wir – wie die Inder[14] – werden uns noch einmal gedulden müssen.

Wenn es wahr ist, daß Politik mit dem langsamen Bohren sehr harter Bretter zu vergleichen ist (Max Weber), so ist Geduld in der Politik das beharrliche Fortsetzen dieses Bohrens. Und nicht das apathische Warten auf ein Wunder. Wunder geschehen nicht in dieser Welt, aber selbst sehr harte Bretter können durchbohrt werden.

Immerhin zwingt diese Ablehnung uns eine Pause auf, die wir geduldig benutzen sollten, uns besser und grundsätzlicher vorzubereiten. Dazu können einige theoretische Überlegungen dienen, deren unmittelbarer Zweck die Stärkung des jüdischen Selbstbewußtseins und die Schwächung des jüdischen Hochmuts ist. Das jüdische Minderwertigkeitsgefühl – was können wir schon tun, wir sind in dem heutigen Kampf ein ganz untergeordneter Faktor – würde sich nie so frei zu äußern wagen, wenn nicht hinter ihm der jüdische Hochmut stände: Uns kann nichts passieren, ohne Israel kann die Welt nicht leben.

Als am Ende des vorigen Krieges die Staatsmänner der europäischen Nationen glaubten, mit den Minderheitenverträgen die nationale Frage ein für allemal geregelt zu haben, ergoß sich bereits die erste Welle jenes Flüchtlingsstroms über Europa, der inzwischen Angehörige aller europäischen Nationen in seinen Strudel gerissen hat. Den Staatenlosen russischer Provenienz folgten die Staatenlosen aus Ungarn; ihnen die Flüchtlinge Italiens; nach einer kurzen Pause kamen die Deutschen und Österreicher an die Reihe; und heute gibt es keine europäische Nation mehr – außer England –, die nicht eine größere oder kleinere Anzahl ihrer Bürger der Staatsbürgerschaft beraubt, sie in die Fremde gejagt und ohne jeglichen konsularischen oder rechtlichen Schutz dem Wohl- oder Mißwollen anderer Staaten überlassen hätte.

Zukünftige Historiker werden vielleicht feststellen können, daß die Souveränität des Nationalstaats sich selbst ad absurdum führte, als er begann, souverän zu bestimmen, wer Staatsbürger ist und wer nicht; als er nicht mehr einzelne Politiker in die Verbannung schickte, sondern Hunderttausende seiner Bürger der souveränen Willkür anderer Nationen überließ. Keine internationale Gesetzgebung ist mit dem Problem der Staatenlosen fertiggeworden, das in einer Welt souveräner Nationen unlösbar ist. Die Minderheitenverträge von 1920 waren schon veraltet, als sie in Kraft traten, weil die Heimatlosen in ihnen nicht vorgesehen waren.[15]

Die Staatenlosen sind in der neueren Geschichte das neueste Phänomen. Keine der Kategorien, keine der Regelungen, die dem Geist des 19. Jahrhunderts entsprangen, trifft auf sie zu. Sie sind aus dem nationalen Leben der Völker ebenso ausgeschieden wie aus den Klassenkämpfen der Gesellschaft. Sie sind weder Minoritäten noch Proletarier. Sie stehen außerhalb aller Gesetze. Über diese fundamentale Rechtlosigkeit konnte in Europa keine Naturalisation mehr hinwegtäuschen. Es gab immer zu viel Naturalisierte, und keinem Einsichtigen war es verborgen, daß der geringste Regierungswechsel genügen konnte, alle Naturalisationen der vorhergehenden Regierung rückgängig zu machen. Naturalisiert oder nicht naturalisiert: Die Konzentrationslager standen immer bereit. Reich oder arm, man gehörte zu der wachsenden Schicht der europäischen Paria.[16]

Das 19. Jahrhundert hat rechtlich keine Paria gekannt: »Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen« (Anatole France). Die gesellschaftlichen Paria des 19. Jahrhunderts waren die Juden, die keinem Stand mehr angehörten und in keiner Gesellschaftsschicht vorgesehen waren. Aber aus diesem Paria-Dasein gab es den viel besprochenen individuellen Ausweg: Man konnte ein Parvenu werden. Der gesellschaftliche Parvenu ist eine der typischen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, wie der politische Paria eine der zentralen Figuren des Zwanzigsten wird. Aus dem politischen Schicksal gibt es keinen individuellen Ausweg mehr. Ob man gesellschaftlich ein Paria – und sei es in der Form des Rebellen – bleiben wollte, war noch mehr oder minder der persönlichen Entscheidung des Einzelnen überlassen. Seiner Entscheidung war es überlassen, ob er die ursprüngliche Menschlichkeit und Vernünftigkeit dessen, der unmittelbar, ohne Vorurteile und ohne Ehrgeiz, das Leben zu ertragen gezwungen ist, vertauschen wollte mit der Schlechtigkeit und Dummheit dessen, der sich prinzipiell und ausdrücklich von aller Natürlichkeit, aller menschlichen Solidarität und aller freien Einsicht in menschliche Verhältnisse hat lossagen müssen. Ob er mit seinem Realitätsbewußtsein, das geschult war an den primitivsten und daher wichtigsten Dingen des Daseins, zahlen wollte für den spekulativen Irrsinn dessen, der, von allen natürlichen Bindungen abgeschnitten, nur noch für sich selbst lebt, in der irrealen Welt der Finanztransaktionen und der Enge des gesellschaftlichen Kastengeistes.

Das Unglück der Juden, seit den Generalprivilegien der Hofjuden und der Emanzipation der Ausnahmejuden, ist es gewesen, daß der Parvenu für die Geschichte des Volkes entscheidender wurde als der Paria; daß Rothschild repräsentativer war als Heine; daß die Juden auf irgendeinen jüdischen Ministerpräsidenten stolzer waren als auf Kafka und Chaplin[17]. Nur in den seltensten Fällen rebellierte der Paria gegen den Parvenu als seiner eigenen Karikatur. In der Maske des Philanthropen vergiftete der Parvenu das ganze Volk, zwang ihm seine Ideale auf. Der Philanthrop machte aus dem Armen einen Schnorrer und aus dem Paria einen zukünftigen Parvenu.[18]

Die Ereignisse der letzten Jahre haben die Figur des Paria in den Vordergrund der Politik gerückt. Was nur die Juden anlangt, so sind alle Parvenus wieder Paria geworden, und diese Entwicklung ist endgültig: »On ne parvient pas deux fois«[19] (Balzac). Es hat sich ferner herausgestellt, daß man nicht ungestraft ein europäisches Volk rechtlich und politisch außerhalb des Gesetzes stellt. So wie das russische Rezept in wenigen Jahrhunderten von allen europäischen Nationen befolgt worden ist und eine Emigration der anderen auf dem Fuße folgte, so war das jüdische Volk nur das erste, das in Europa zu einem Paria-Volk erklärt worden ist: Heute sind alle europäischen Völker rechtlos. Damit sind die von Land zu Land gejagten Flüchtlinge aus aller Herren Länder zu der Avantgarde ihrer Völker geworden. Die Weltbürger des 19. Jahrhunderts sind im 20. die Weltreisenden wider Willen. Dieser Tradition sollte man sich bewußt bleiben. Denn das von uns entwickelte Minderwertigkeitsgefühl steht in diametralem Gegensatz zu unserer politischen Bedeutung.

Noch nie in der Geschichte der letzten hundert Jahre hat das jüdische Volk eine so große Chance gehabt, frei zu werden und aufzusteigen in die Reihe der Nationen der Menschheit. Alle europäischen Nationen sind zu Paria-Völkern geworden, alle sind gezwungen, den Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung neu aufzunehmen. Unser Schicksal ist zum erstenmal kein Sonderschicksal, unser Kampf zum erstenmal identisch mit dem Freiheitskampf Europas. Als Juden wollen wir für die Freiheit des jüdischen Volkes kämpfen, denn: »Wenn nicht ich für mich – wer für mich?«; als Europäer wollen wir für die Freiheit Europas kämpfen, denn: »Wenn ich nur für mich – wer bin ich?« (Hillel).[20]

Ceterum Censeo …

26. Dezember 1941

Juden kämpfen heute an allen Fronten der Welt: englische Juden in der englischen Armee, palästinensische Juden in dem libyschen Expeditionskorps, russische Juden in der Roten Armee und schließlich amerikanische Juden in Heer und Flotte. Aber, so berichtet die JTA[21], als nach einem gewonnenen Gefecht palästinensische Juden aus dem Kampf kamen und eine kleine jüdische Flagge zu hissen wagten, wurde sie sofort entfernt.[22] So wird man nach diesem Kriege unsere Delegierten aus dem Sitzungssaal der Mächte, der großen und der kleinen Nationen, entfernen. Und wir werden uns nicht beklagen können: Es wird unsere Schuld gewesen sein.

Seit dem Entstehen des politischen Antisemitismus am Ende des vorigen Jahrhunderts bereiten jüdische Theoretiker der verschiedensten Schattierungen das jüdische Volk auf diesen Defaitismus vor. Die einen erzählen ihm, daß es sie gar nicht gäbe, daß sie nur eine Erfindung der Antisemiten seien; die anderen, daß der Antisemitismus nur der »Überbau« eines notwendigen ökonomischen Prozesses sei, durch den sie notwendigerweise ihre augenblicklichen ökonomischen Positionen verlieren und ebenso notwendigerweise dann aufhören würden zu existieren; die dritten schließlich, daß der Antisemitismus naturnotwendig sei, der irrationale und daher unbekämpfbare Ausdruck der Abstoßung einander fremder Volkskörper, daß es also vor ihm nur Flucht gäbe. So entscheidend die moralische Wirkung des Zionismus auf einzelne Menschen, so großartig die Eroberung Palästinas durch Arbeit war, so katastrophal wirkt sich heute aus, daß er nie eine politische Antwort auf die für die Juden zentrale Bewegung unserer Zeit gefunden hat, auf den Antisemitismus.

Entsprechend diesen Schemata stellen Juden sich heute zu dem großen Kampf um ihre Existenz. Die einen überzeugt, daß »keiner weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß«. Die anderen selig in dem Bewußtsein, den Zeitgeist zu personifizieren, indem sie ausgerottet werden. Und die dritten ängstlich darauf bedacht, nicht mehr zu verteidigen und nicht mehr zu fordern als jüdisches Territorium in Palästina, als Sicherheit für den Jischuw[23] von 500000 Seelen, als das Stückchen Erde, auf dem man hofft, vor Antisemitismus sicher zu sein. Vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher; und der berühmte Ausspruch Weizmanns[24], daß die Antwort auf den Antisemitismus der Aufbau Palästinas sei, hat sich als ein gefährlicher Wahn erwiesen.

Wir können den Antisemitismus nur bekämpfen, wenn wir mit der Waffe in der Hand gegen Hitler kämpfen. Aber dieser Kampf wiederum muß getragen sein von bestimmten theoretischen Einsichten, deren Konsequenzen wir verwirklichen wollen. Die erste dieser Einsichten ist, daß wir in den Krieg als ein europäisches Volk gehen, das zu Glanz und Elend Europas so viel beigetragen hat wie jedes andere auch. Das heißt, daß wir in unseren eigenen Reihen alle die bekämpfen müssen, die behaupten, daß wir seit eh und je nur Opfer und Objekt der Geschichte gewesen seien. Es ist nicht wahr, daß wir immer und überall die unschuldig Verfolgten sind. Wäre es aber wahr, so wäre es furchtbar: Es würde uns nämlich endgültiger ausscheiden aus der Geschichte der Menschheit als alle Verfolgungen. Die zweite Einsicht ist, daß, weil der »Zionismus das Geschenk Europas an die Juden ist« (Kurt Blumenfeld[25]), Palästina nur als Siedlungsgebiet der europäischen Juden betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: daß die Politik Palästinas von einer Gesamtpolitik des europäischen Judentums aus zu leiten ist und daß nicht umgekehrt die Palästinapolitik die gesamte jüdische Politik bestimmen kann. Denn es gibt drittens keine Lösung der Judenfrage in einem Lande, auch nicht in Palästina. Für die Juden Amerikas kann Palästina jenes europäische Mutterland werden, das nur sie von allen Völkern Amerikas bisher entbehren müssen. Für die Juden Europas kann Palästina das Siedlungsgebiet einer der Kristallisierungspunkte einer jüdischen Politik im internationalen Maßstab wie der Kernpunkt ihrer nationalen Organisation bilden.

Politische Bewegungen entstehen nicht im luftleeren Raum. Wir haben nur einen einzigen wirklichen politischen Organismus: die zionistische Organisation. In ihr müssen wir gegen die Apathie eines Apparatus, der so bürokratisch, so kompromißsüchtig und so der Realität entfremdet ist wie alle anderen politischen Apparaturen unserer Zeit, auf die ursprünglichen nationalrevolutionären Parolen der Bewegung zurückgehen und sie, so gut wir können, in konkrete Forderungen verwandeln. Die erste dieser Parolen ist die vom innerjüdischen Kampf: gegen die Schnorrer- und Philanthropen-Internationale, für eine nationale Gesundung des Volkes. Die zweite ist die alte Parole von der Auto-Emanzipation: die Gleichheit, für die »generalprivilegierte« Münz- und Hofjuden in bar hatten zahlen können, empfing die Masse des jüdischen Volkes als Geschenk aus den Händen seiner Notabeln. Auto-Emanzipation heißt: Gleichberechtigung für ein Volk, das mit seiner Hände Arbeit diese Erde reicher und schöner macht; Freiheit für ein Volk, das durch seinen Kampf bewiesen hat, daß es den Tod der Sklaverei vorzieht.

In diesem Zusammenhang ist das wichtigste Ereignis der letzten Wochen die Washingtoner Konferenz des »Committee for a Jewish Army«[26], über die der »Aufbau« in seiner letzten Nummer kurz berichtete. Die Konferenz hat zwei positive Ergebnisse gehabt: Sie hat erstens bewiesen, daß die nichtjüdische öffentliche Meinung die Idee einer jüdischen Armee als eine selbstverständliche Forderung der Juden anerkennt und akzeptiert. Sie hat zweitens – und dies ist noch wichtiger – die B’nai Brith Hillel Foundation[27], die in 62 Städten Amerikas Studenten-Organisationen hat, dazu bewogen, eine »National Panel Discussion« über das Thema zu veranstalten: »Should a Jewish Army be organized for Service to the allied cause to fight alongside of the Polish, Czech, Norvegian and other similar legions?«

Wir haben trotz dieser Ereignisse, und obwohl jeder Schritt auf diesem Wege zu begrüßen ist, zwei Einwände gegen die Konferenz und gegen das Komitee: Es ist für jüdische Politik immer verhängnisvoll, wenn sie sich ihre Forderungen zuerst von nichtjüdischen Kreisen attestieren läßt. Und auf dieser Konferenz hat kaum ein Jude gesprochen. Das hat eine fatale Ähnlichkeit mit den Methoden der Petitionspolitik der Notabeln, die man auch jederzeit hätte fragen können: Im Namen von wem sprecht Ihr eigentlich? Und diese unsere nichtjüdischen Freunde haben noch dazu teilweise zweifellos im Namen von Leuten gesprochen, die sie kaum vom Hörensagen kannten, nämlich im Namen der Revisionisten.[28] Was zweitens die Revisionisten selber anlangt, so werden wir unser Mißtrauen so lange nicht beschwichtigen dürfen, als sie nicht klipp und klar erklären: erstens, daß ihre Terrorpolitik in Palästina zur Zeit der Unruhen[29] ein verhängnisvoller Fehler war, und daß sie zweitens bereit sind, nicht nur sich mit der Arbeiterschaft zu verständigen, sondern daß sie anerkennen, daß unsere Rechte in Palästina prinzipiell nur von den Arbeitern vertreten werden können. Denn wenn Juden in Palästina kraft Rechts und nicht aus Duldung leben, so nur kraft des Rechts, das ihre Arbeit dort geschaffen hat und jeden Tag aufs neue schafft.